Читать книгу Gang ohne Wiederkehr - Bärbel Junker - Страница 4

PROLOG

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Voller Angst hastet die kleine, schmale Gestalt durch den schummrigen Wald, der schon sehr bald in tiefer Dunkelheit versinken wird.

Dornige Ranken schlagen nach der vorwärts eilenden jungen Frau, dicke Baumwurzeln lassen sie straucheln.

Doch nichts und niemand, noch nicht einmal Schmerzen vermögen ihre Hast zu unterbrechen.

Der Teufel in Menschengestalt ist hinter ihr her, lässt sie verfolgen.

Und wehe ihr, sie fällt ihm wieder in die Hände!

Sie rennt, ohne zu wissen wohin, will nur fort, sucht verzweifelt die Sicherheit vor dem Bösen, vor den Schmerzen, vor der Grausamkeit und vor der Verzweiflung.

Sie denkt voller Sehnsucht an ihr kleines Dorf in Vietnam. An die lauen Nächte. Das Kreischen der Affen. Den exotischen Gesang der Vögel. Das Rauschen in den dicht belaubten Baumgipfeln.

Sie sieht die Wasserbüffel vor sich wie sie die einfachen Pflüge ziehen, mit denen die sich in der Ferne verlierenden Reisfelder oder die Reisterrassen für den Reisanbau vorbereitet werden.

Und sie steht gebückt in den unter Wasser gesetzten Feldern und setzt stundenlang mit schmerzendem Rücken Sämlinge in den schlammigen Boden. Sie hat diese Arbeit gehasst und würde jetzt alles dafür geben, in diesem Moment dort zu stehen mit dem Bündel junger Pflanzen in ihrer nassen Hand.

Und Chung, was wird er denken, wenn er aus Hanoi zurückkehrt und ich so plötzlich verschwunden bin? Wird er jetzt eine andere heiraten? Wird er nachforschen, wo ich abgeblieben bin?

Ja, das wird er.

Nur finden kann er mich hier am anderen Ende der Welt sicherlich nicht.

Sie sehnt sich so sehr nach Daheim, nach ihrem Land, nach der Wärme, den bunten Märkten, dem Leben an sich, wünscht sich mit ihrem ganzen, ängstlich schlagenden, Herzen dorthin zurück und weiß doch, dass sich dieser innige Wunsch niemals mehr erfüllen wird.

SIE HABEN SIE VERRATEN!

Alle haben sie verraten!

Einzig Chung nicht.

Chung von dem sie so wenig weiß, nur, dass sie ihn liebt.

Sie ist in diesem Land gestrandet, das ihr so fremd, so unheimlich ist. In dem es nichts gibt, an dem sie sich orientieren kann, nichts, dass ihr Hoffnung gibt, ihr irgendwann vielleicht Hilfe verspricht.

Ihr Heute und ihre Zukunft bestehen nur noch aus Verzweiflung, Ekel und Schmerz. Und niemand ist da, um sie aus diesem Albtraum zu erlösen.

Sie ist ganz auf sich allein gestellt.

Sie weiß nicht wohin und doch ist alles besser, als zurückzukehren in diesen schrecklichen Albtraum!

Wie konnte meine Familie mir das nur antun, denkt sie zum millionsten Mal. Eine Antwort findet sie nicht.

Sie haben sie verkauft! Einfach wie irgendeinen x-beliebigen Gegenstand verkauft.

„Komm, ich möchte dir etwas zeigen“, hat ihr Onkel sie so freundlich wie immer aufgefordert mit ihm zu gehen. Er hat ihre Hand genommen und sie zum Wasser geführt, dem Fluss, der Vietnam und China trennt.

Und sie hat ihm vertraut!

Dabei warteten sie dort bereits auf sie!

Drei Chinesen sind es, die ihrem Onkel einen dicken Stapel Dong in die Hand drücken. Geld für sie, seine Nichte, denn China hat durch die Ein-Kind-Bestimmung mittlerweile zu wenige Frauen. Wohlgemerkt zu wenig erschwingliche Frauen, Frauen die hauptsächlich nur dafür gedacht sind, einen Nachkommen, natürlich einen Sohn, in die Welt zu setzen.

Und da die einfachen Chinesen nicht das Brautgeld für eine Chinesin aufbringen können, wird eben einfach eine Vietnamesin beim Nachbarn gekauft.

Fast eine Million Dong hat ihr Onkel für sie bekommen, das hat er ihr noch triumphierend gesagt, bevor die drei Chinesen sie in ein Boot zerrten.

Aber sie ist nicht in China geblieben. Der Auftraggeber der drei Chinesen hat sie zusammen mit acht anderen jungen Frauen nach Deutschland weiter verkauft, weil das für ihn lukrativer war.

Für etwa vierzig Euro hat ihr Onkel sie, seine Nichte, ohne zu zögern, ohne Skrupel, ohne Mitleid an Fremde in eine ungewisse, sicherlich nicht erstrebenswerte Zukunft verkauft.

Oh ja! Sie alle, ihre ganze Familie, haben sie verraten.

Denn ALLE! haben es vorher gewusst,

Und sie ist für vierzig Euro in der Hölle gelandet!

Sie stolpert. Ihre Erschöpfung nimmt zu. Immer häufiger strauchelt sie, stürzt zweimal und schlägt sich dabei die Knie blutig.

Sie hat keinen Plan, hat einfach die Unaufmerksamkeit ihres Bewachers genutzt und ist Hals über Kopf vor dem täglichen Grauen davon gerannt.

Und vor dem langen, unheimlichen Gang ist sie geflohen, dem Gang, in den sie hätte gehen müssen und aus dem es für keine der Frauen, die dort jemals hineingingen, eine Wiederkehr gab. Jedenfalls flüsterten sich das ihre Leidensgenossinnen ängstlich hinter vorgehaltener Hand zu.

Sie trägt weder geeignete Kleidung für ein solches Unterfangen wie ihre Flucht, noch hat sie eine wirkliche Vorstellung davon wie und wohin sie entkommen könnte.

Sie ist einfach in den Wald gelaufen.

Und dann?

Es grenzt schon an ein Wunder, dass es ihr überhaupt gelungen ist, die freie Fläche vor den Gebäuden unbemerkt zu überwinden. Wie hat sie sich darüber gefreut in dem Wald untertauchen zu können. Hier fühlt sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder sicher.

Aber es ist eine trügerische Sicherheit.

Denn was kommt danach?

Was, wenn sie den Wald wieder verlässt?

Wer könnte, wer würde ihr helfen, wenn sie ihre Geschichte erzählt?

Wo könnte sie überhaupt jemanden finden, der sie versteht?

Während ihr das alles durch den Kopf geht, ist sie immer langsamer geworden. Jetzt bleibt sie keuchend stehen. Orientierungslos sieht sie sich um.

Bäume so weit das Auge reicht und Gebüsch, viel Gebüsch, auch mit stachelbewehrten Zweigen die ihr zusetzen. Und dahinter ist ein Fluss wie sie bei ihrer Ankunft zufällig bemerkt hat.

Sie blickt an sich herunter, mustert die schwarze Kutte, die man sie gezwungen hat anzuziehen, weil ihre Bewacher es für einen Besucher, eine sogenannten Interessenten, so wollten.

Jetzt ist sie an vielen Stellen zerrissen.

Ihre langen schwarzen Haare hängen feucht und schwer auf ihrem schmalen Rücken. Ihr Gesicht ist ebenso zerkratzt wie ihre Arme und ihr linker Schuh hat den Absatz verloren.

Aber wenn schon.

Sie muss weiter!

Im Begriff sich wieder in Bewegung zu setzen, erstarrt sie.

Hundegebell!

Sie sind ihr bereits dicht auf den Fersen.

Mit Hunden!

Es gibt kein Entkommen!

Sie werden sie finden.

Und sie werden sie töten!

Und niemand wird je erfahren, warum. Denn keiner kümmert sich darum, was in dem Anwesen und den anderen Unternehmungen dieser gnadenlosen Frau geschieht.

Und von den Betroffenen erhält nie jemand die Gelegenheit sich um Hilfe von außen zu bemühen. Vielleicht würde sich in diesem Land die Polizei darum kümmern. Jedoch hat die vermutlich nicht die geringste Ahnung davon, was hier unter ihren Augen passiert.

EIN ZEICHEN!

Ich muss zumindest ein Zeichen hinterlassen, welches vielleicht anderen hilft; denn mein Leben ist verwirkt, wird hier und jetzt zu Ende gehen.

Und warum auch nicht!

Ich bin so müde, so erschöpft, so ohne jede Hoffnung. Sie haben mich zerstört, meine Seele befleckt und mir meine Ehre genommen.

Ich will nicht mehr in ständig neue Gesichter sehen, fremde Körper spüren, wie erstarrt vor Ekel sein.

Es muss endlich ein Ende haben!

Und dann kommt ihr eine verzweifelte Idee.

Sie reißt eine Dornenranke von einem Busch. Einen Moment lang setzt sie sich auf einen Baumstamm um ihr Vorhaben auszuführen.

Sie muss sich dabei beeilen.

Das Bellen kommt näher.

Sie erschrickt. Was tun?

Sie grault sich vor den schrecklichen Kampfhunden, die alle und jeden anfallen.

Ich muss den Fluss erreichen. Ertrinken ist das kleinere Übel, denkt sie fatalistisch.

Geschafft. Sie ist fertig!

Sie wirft die blutverschmierte Dornenranke hinter sich und mobilisiert die letzten, ihr noch verbliebenen Kräfte.

Wie von der Sehne geschnellt eilt sie davon, weiter, immer weiter, auf den Fluss zu.

Doch ihre schwachen Kräfte erlahmen schon sehr bald. Sie wird langsamer. Glaubt schon nicht mehr daran es zu schaffen.

Doch da ist er!

Da ist der Fluss.

Leise gluckernd zieht er seine Bahnen, schert sich nicht um die Sorgen der Menschen um sich herum.

Sie steht am Ufer, zögert sekundenlang den letzten Schritt zu tun.

Da durchbricht ein dunkles Knurren die Stille der Nacht.

Sie dreht sich langsam um.

Der riesige Hund steht geifernd sprungbereit vor ihr. Dicke Speichelfäden rinnen aus seinem Maul, hellblaue, fast durchsichtig wirkende Augen wenden keine Sekunde lang den Blick von ihr.

Sie zittert vor panischem Entsetzen, vermag ihren Blick nicht von dem Furcht einflößenden Gebiss des Tieres zu wenden.

Der Mann, der Hundeführer, lacht.

„Na, jetzt fürchtet sich das kleine Schlitzauge wohl“, höhnt er. „Hast du Schlampe wirklich geglaubt, du könntest uns entkommen? Wenn nicht ich, dann hätte dich mein Kumpel geschnappt und dessen Hund ist noch gefährlicher.“

Sie sieht ihn nur an, versteht diese Sprache kaum, nur wenige Worte, die ihr Chung beigebracht hat. Sie hat sich mit diesem deutschen Alphabet unheimlich schwer getan, bis sie es schreiben konnte und einigermaßen begriffen hatte. Auch jetzt versteht sie die Worte kaum, erkennt jedoch den darin enthaltenen Hohn.

Langsam weicht sie vor ihren Mördern zurück.

„Noch ein Schritt, dann stürzt du da runter. Aber wahrscheinlich wäre das ein angenehmerer Tod“, meint er grinsend.

Sie sagt nichts, starrt ihn nur aus schreckgeweiteten Augen an, bis es ihm zu viel wird.

„Fass, Bazoo!“, befiehlt der Mann.

Da spannt sich der sehnige Körper des Tieres. Wie ein Pfeil fliegt es auf sein schreiendes Opfer zu, krallt sich fest an dessen Brust, beißt einmal so kräftig zu, dass es der Frau fast die Schulter wegreißt, bevor beide zusammen den steilen Abhang hinunter ins Wasser stürzen.

Die junge Frau knallt unglücklich auf ein wurmstichiges Boot, das verborgen inmitten des dichten Pflanzenteppichs dümpelt.

Genickbruch. Sie ist sofort tot.

Der Hund schwimmt zurück zum Ufer, wo er mit einem Tritt von seinem Herrn empfangen wird.

„Wo ist das verdammte Weib?

Du hast sie doch wohl hoffentlich umgebracht“, knurrt er wütend darüber, dass er das blutige Gemetzel nicht mit ansehen konnte.

Er läuft noch eine Weile suchend am Ufer entlang.

Doch die Leiche findet er nicht.

„Ist wahrscheinlich abgesoffen“, murmelt er rüde. Dann dreht er sich um und geht gefolgt von der missbrauchten Kreatur davon.

Gang ohne Wiederkehr

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