Читать книгу Die Wiederentdeckung des Körpers - Gerbrand Bakker, Bregje Hofstede - Страница 10

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Bei mir zu Hause hing statt einer Surferin ein Schwarz-Weiß-Portrait von einer kurzhaarigen jungen Frau an der Wand, die mit energisch vorgerecktem Kinn in die Kamera blickt. Ein Werbeplakat aus den 1980er Jahren zum Thema Frauenförderung an Universitäten: «Studeren, niet alleen voor heren» (Studieren ist nicht nur was für Männer). Und während bei meiner Freundin übermäßiger Süßigkeitenkonsum verboten war, war bei uns zu Hause Eitelkeit tabu. «Sich anmalen», wie meine Mutter das Schminken nannte, war verpönt.

Ich war neun oder zehn Jahre alt, und mein erstes Klassenfest stand bevor. Nach einiger Überzeugungsarbeit durfte ich ein bauchfreies Oberteil tragen, denn das war damals der letzte Schrei, ein schwarzes Tanktop, das ich oberhalb des Bauchnabels abgeschnitten hatte. Von meinem Taschengeld hatte ich Wimperntusche und blauen Nagellack gekauft. Als ich angemalt und verunsicherter denn je aus dem Bad kam, musterte mich meine älteste Schwester mit verschränkten Armen von oben bis unten, seufzte und sagte: «Na ja. Vielleicht verliebt sich ja jemand in deine Augen.»

Mit siebzehn hatte ich mir dann zum ersten Mal Dessous gekauft und damit begonnen, die ausgeleierten Sloggis zu ersetzen, die seit Jahr und Tag unseren Wäscheständer dominierten. Heimlich rief ich eine Reizwäsche-Revolution aus. Da ich es nicht wagte, die Slips in den Wäschekorb zu tun, wusch ich sie von Hand aus. Eines Tages wurde mein gesamtes Untergrundnetzwerk ausgehoben. Meine Familie hatte meine grazilen Höschen im ganzen Wohnzimmer verteilt, über den Lampenschirm und an die Türklinke gehängt; ein Stringtanga baumelte an einem Bilderrahmen. Als ich hereinkam, gaben meine Familienmitglieder plötzlich eine thematisch passende Version von Aaron Souls Ring, Ring, Ring zum Besten.

Es wurde nie laut ausgesprochen, aber ich begriff auch so, dass ich mich entscheiden musste: books oder looks. Letztlich fühlte ich mich für Bücher besser geeignet. Als es in der Orientierungsstufe darum ging, auf welche weiterführende Schule ich kommen sollte, schrieb mein ernsthaftes elfjähriges Ich: «Ich werde niemals eine Sechs schreiben. Nie!» (In der Grundschule war mir das nicht gelungen; meine Kompetenz im «Umgang mit Enttäuschungen» war eher unterdurchschnittlich.)

Durch ungeheuren Fleiß schaffte ich es, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Nach intensiven Prüfungswochen schrieb mir meine Mutter manchmal eine Entschuldigung, damit ich zu Hause bleiben konnte: Ich war so müde, dass ich bei den Abendnachrichten in Tränen ausbrach. Bei der allerletzten Klassenarbeit, die ich bei einem verhassten Wirtschaftslehrer schreiben musste, hätte es auch gereicht, wenn ich nur einen leeren Zettel mit meinem Namen darauf abgegeben hätte, um in seinem Fach mit einer 1,7 zu bestehen. Ich malte mir aus, wie es wäre, triumphierend mit dem leeren Blatt nach vorne zu gehen und mich ein einziges Mal wie eine Sechzehnjährige zu verhalten. Aber nein, stattdessen wurde es am Ende eine 1,0.

Auch was das Thema looks anging, war ich extrem. Bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr ging ich unbekümmert in Latzhosen zur Schule, Schminke fand ich ordinär und ich hatte eine Kurzhaarfrisur. Als ich mich zum ersten Mal ins Amsterdamer Rotlichtviertel verirrte, als mir zum ersten Mal ein Mann gegen meinen Willen unter den Rock griff, als zum ersten Mal eine Freundschaft zu Bruch ging, weil sich ein guter Freund in mich verliebt hatte, waren das alles Erlebnisse, die mich in meiner Überzeugung bestärkten, es sei das Beste, möglichst viel Kopf und möglichst wenig Körper zu sein. Damit schien mir die Frage (Wie geht das eigentlich, Frau sein?) ein für alle Mal elegant gelöst zu sein. Meine Freundin biss sich an ihrem Körper fest, während ich ganz und gar Text werden würde. Meine Haare blieben kurz, ich absolvierte zwei Studiengänge parallel, las alles, was ich in die Finger bekam und kritzelte innerhalb von zehn Jahren stapelweise Notizbücher voll. Mein stummer Reizwäscheprotest wurde durch eine regelrechte Wörterflut bereits im Keim erstickt.

Ein Nachmittag im September: Ich bin fast fünfundzwanzig und sitze auf einer Bank ganz hinten im Park. So weit das Auge reicht, nichts als rostrote Baumkronen. Ich bin spazieren gegangen, weil ich müde war und gehofft habe, dass mir die frische Luft gut tun wird. Aber als ich erst mal sitze, kann ich nicht mehr aufstehen. So sehr ich auch auf meine Beine starre und denke, Los, lauft schon! – , sie verweigern mir den Dienst. Meine Beine sind schwer wie Sandsäcke. Es war mir schon öfter passiert, dass ich so lange stillgesessen hatte, bis ich meinen Körper nicht mehr spürte und, ohne mich mit einem Blick zu vergewissern, nicht hätte sagen können, ob meine Beine ausgestreckt oder übereinandergeschlagen waren. Dasselbe Gefühl habe ich jetzt wieder, nur dass mir kein vergewissernder Blick mehr hilft, in meinen Körper zurückzufinden. Mein Kopf ist ein dunkler Dachboden, auf dem ich umherirre, ohne die Luke mit der Leiter nach unten zu finden. Langsam gerate ich in Panik.

In der Jackentasche klingelt mein Handy. Meine eingeschlafenen Hände zittern und werden allmählich wach, und irgendwann schaffe ich es, den Reißverschluss aufzuziehen. Der verpasste Anruf stammt von einer unbekannten Nummer. Ich rufe meinen Vater an und erzähle ihm unter Tränen, dass ich nicht mehr laufen kann.

Die Wiederentdeckung des Körpers

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