Читать книгу Die Wiederentdeckung des Körpers - Gerbrand Bakker, Bregje Hofstede - Страница 11

III

Оглавление

Den Wochen danach fehlen die Worte. Wenn ich etwas lesen will, verschwimmen die Buchstaben, und zum ersten Mal seit Jahren klafft eine große Lücke in meinem Tagebuch. Gleichzeitig traue ich meinem Körper nicht mehr. Ich hole mir ständig blaue Knie: Wenn plötzlich das Licht ausgeht, stürze ich die Treppe hinunter. Die meiste Zeit verbringe ich auf einem Stuhl am Fenster. Während ich den Passanten auf den Kopf gucke und Arnikasalbe auf meine Prellungen auftrage, wird mir bewusst, dass die mentale Bulimie, die ich seit Jahren praktiziere, genauso krankhaft ist wie die körperliche Variante meiner Freundin.

Um mich langsam wieder ans Lesen heranzutasten, beginne ich mit Gedichten. Die sind schön kurz. Vielleicht liegt es daran, dass ich so selten aus meinem Sessel hochkomme, dass es so still ist in meinem Zimmer und der Staub das Einzige, was sich bewegt, aber zum ersten Mal fällt mir auf, wie körperlich ich auf bestimmte Strophen reagiere. Von Hendrik Marsmans «Sonniger Septembermorgen» bekomme ich Gänsehaut: «Das Licht hängt in den Honigwaben / der Fenster wie ein feuchtes Vlies». Dann mache ich mit den Kurzgeschichten von Isaak Babel weiter, bei dem die Beine des sechsfach vergewaltigten Dienstmädchens riechen wie «frisches Hackfleisch» – eine Beschreibung, bei der sich alles in mir zusammenzieht. Und die pornografische Parodie von Louis Paul Boon Die obszöne Jugend der Mieke Maaike entpuppt sich als wirkungsvoller (und witziger) als so mancher durchschnittliche Liebhaber.

Einen gesunden Körper spürt man normalerweise nicht. Ungesunde Körperteile hingegen machen auf sich aufmerksam: eine pochende Wunde, ein tränendes Auge. Nach seinem Generalstreik wird mein Körper noch monatelang Aufmerksamkeit einfordern, während ich mich mit meinem sogenannten «Burnout» herumschlage und allmählich wieder anfange zu schreiben.

Zum ersten Mal spüre ich, wie ich den Text regelrecht aus meinem Inneren freischaufeln muss, wie eng meine körperliche Verfassung mit dem zusammenhängt, was ich produziere. Beim Lümmeln oder im Liegen schreibe ich anders als an meinem Schreibtisch. Mit dem Füller schreibe ich kürzer und pointierter als am Computer. Im Zug schreibe ich schneller als in meinem Zimmer. Laufen kann einen Text in Gang bringen, der mir bereits seit Tagen Rückenschmerzen bereitet.

Kurzum: Mein Körper glaubt nicht länger an den Dualismus. Die zentrale Annahme in der traditionellen abendländischen Philosophie lautet, dass der Körper ein Ding ist, und der Geist etwas völlig anderes. Die zwei verhalten sich zueinander wie gute Nachbarn. Der heftige Wildwuchs des Körpers wagt es normalerweise nicht, auch nur einen Spross über den Gartenzaun des Geists zu strecken. Sprache, der völlig abstrakte Code, mit dem zivilisierte Tiere kommunizieren, wird wie selbstverständlich radikal in die Domäne des Geistes verbannt.

Aber ist Sprache wirklich so abstrakt? Der erste Text, der mich vom Gegenteil überzeugte, war das legendäre Buch Leben in Metaphern von George Lakoff und Mark Johnson. Die beiden Autoren belegen, dass Metaphern nicht nur ein sprachliches Stilmittel sind, sondern unser Denken und Handeln völlig durchdringen, ganz einfach weil unsere Wahrnehmung der Welt grundlegend metaphorischer Art ist. Wir versinnbildlichen abstrakte Begriffe wie Zeit, Liebe und Streit immer in ganz konkreten Bildern. Deshalb sind unser Denken und unsere Sprache im Grunde etwas höchst Sinnliches und Körperliches.

Lakoff und Johnson gehen sogar noch weiter. Da alle Menschen einen Körper besitzen, und alle Körper denselben Naturgesetzen unterliegen, sind viele unserer Metaphern sowohl systematischer als auch universeller Natur. Hier ein einfaches Beispiel: Wer verwundet, müde oder tot ist, liegt flach. Was stark und gesund ist, steht aufrecht. Fazit: alles, was aufwärts gerichtet ist, ist gut. Nicht umsonst ist man «down» oder niedergeschlagen; man schaut zu jemandem auf; gute Neuigkeiten sind aufbauend; man ist in Topform, hat eine Hochphase oder ist hervorragend. In allen Sprachen der Welt ist Feuer eine Metapher für Liebe, weil wir sie mit Körperwärme assoziieren und so weiter. Seit Leben in Metaphern 1980 erschien, ist eine eigene Fachrichtung dazu entstanden. Die sogenannte grounded oder embodied cognition erforscht, inwiefern unser Denken in unserem Körper verankert ist. Zum Beispiel wird beim Lesen des Wortes treten dasselbe Hirnareal angesprochen, wie wenn man tatsächlich tritt. Das heißt, dass auch jener Ort, an dem ich glaubte, meinem Körper gänzlich entfliehen zu können – der Text – der Schwerkraft unterliegt, Wärme und Kälte, Lust und Schmerz empfindet, aus Fleisch und Blut, aus Nerven und Synapsen besteht. Man denkt mit dem Darm. Man liest mit den Beinen. Man spricht mit den Händen. Man schreibt mit seinem Leib.

Um noch einmal auf Sartre zurückzukommen: Der Mensch mag zwar frei in einem Meer aus Möglichkeiten dahintreiben, ist aber an den Körper, mit dem, und an das Wasser, in dem er schwimmt, gebunden. Freiheit beginnt damit, diese Gebundenheit zu akzeptieren. Wer sich ständig nur über die Flecken auf der Fensterscheibe ärgert, hat keinen Blick für den Himmel mehr.

Lange habe ich geglaubt, dass gerade Körperlosigkeit Freiheit bedeutet – denn was ist freier als ein Geist ohne Körper? Erst als beide gleichzeitig streikten, verstand ich, dass mein Schreiben ohne meinen Körper unvollständig ist. All die behutsam gehütete Wärme, die verletzliche Hülle, die Gänsehaut, die Lust, das Bauchweh – sie gehören untrennbar dazu. Genau wie all die seltsamen Schrauben und Federn, die übrig blieben, als ich mit meinem sorgfältig auf Vordermann gebrachten Tacker fertig war. Solange ich es nicht wage, diesen Körper zuzulassen, bleiben meine Euphemismen die verbale Verlängerung meiner Nackenschmerzen. Ich kann nur dann frei durch die beiden benachbarten Gärten meiner Sprache streunen, wenn ich den Zaun einreiße, der sie voneinander trennt.

Was diese Erkenntnis alles so mit sich bringt, schreibe ich später auf. Jetzt ist erst mal Zeit für einen langen Sommer voller Düfte, die niemand festhält. Für Abende, an denen Tanzen die einzige Stilübung darstellt. Erst will ich noch die tantrische Poetik studieren. Die Grammatik der Nerven, den Mittel- und Endreim der Körper, Ernährungsempfehlungen gegen literarische Verfehlungen.

Mit blauen Flecken hat noch niemand einen beschwingten Roman geschrieben.

Die Wiederentdeckung des Körpers

Подняться наверх