Читать книгу Dorsche haben traurige Augen. Geschichten aus Island - Brigitte Bjarnason - Страница 6
Der Unfall
ОглавлениеDer Tag, an dem der Unfall geschah, begann wie jeder andere Frühsommertag am Fjord. Aufdringliche Sonnenstrahlen blinzelten durch einen Spalt zwischen den Vorhängen und kitzelten mich an der Nase. Die Zeiger auf dem Wecker zeigten auf vier Uhr. Beleidigt zog ich mir die Bettdecke über den Kopf und versuchte, wieder einzuschlafen. Im Halbschlaf döste ich vor mich hin, bis es Zeit zum Aufstehen war.
„Nonni! Wach auf!“
„Muss ich heute in den Kindergarten gehen?“
Ich nickte. Zwei warme kleine Arme legten sich fest um meinen Hals.
„Ich will aber nicht“, flüsterte mein Sohn mir ins Ohr. Tränen stiegen in meine Augen. Ich wusste, dass Nonni ungern in den Kindergarten ging. Als wir beide vorigen Sommer in das Dorf kamen, wurden wir auf der Straße von den Leuten freundlich begrüßt. Das war alles. In die fest geschlossene Dorfgemeinschaft wurden wir nicht aufgenommen. Wir waren Fremde. Mein Akzent irritierte die an Ausländer nicht gewöhnten Einheimischen. Nonni bekam zu der Zeit einen hartnäckigen Hautausschlag im Gesicht und an den Armen. Das war Grund genug für die anderen Kinder, ihn nicht an ihren Spielen teilnehmen zu lassen. Wir blieben geduldig. Einige Monate später heiratete ich einen Mann aus dem Dorf, Sveinn Sigurdsson. Ich hoffte, man würde mich und meinen Sohn nun endlich akzeptieren.
Im Arbeitssaal der Fischfabrik schaltete die Vorarbeiterin die Lampen unter den milchigen Glasplatten beiderseits des Fließbandes an. Inga, Júlía und Hafdís standen vor ihren Plätzen und banden sich weiße Gummischürzen um. Björg wetzte ihr Messer. Sie lachten und schwatzten. Ich wünschte ihnen einen guten Morgen. Nur Júlía zischelte ein fast lautloses „hei“. Auf meinem Platz lag schon das Messer bereit. Ich griff nach dem ersten Dorschfilet. Das Herauspicken der farblosen Ringwürmer im grellen Licht der Glasplatte war ermüdend. Schon nach einer halben Stunde tat mir der Rücken weh. Für ein paar Sekunden schloss ich die Augen. Irgendwann läutete es zur Pause. Ich folgte den anderen hinaus auf den Vorplatz, setzte mich auf einen umgestülpten Fischbehälter in die Sonne. Nicht weit von mir entfernt standen Inga und Björg und rauchten. Ihre heiseren Stimmen klangen zu mir hinüber.
„Wo ist Júlía?“
„Sie wollte kurz nach Hause fahren, um nach ihrer Tochter zu sehen.“
„Ist Sara nicht in der Schule?“
„Vielleicht ist sie krank.“
„Vielleicht braucht ihre Mutter auch nur einen Schluck Cognac“, kicherte Björg.
„Glaubst du, Júlía trinkt wieder?“
„Es soll Geldprobleme geben, seit Pétur sich das neue Boot angeschafft hat.“
Ich hasste dieses Geschwätz, denn ich wusste, sie redeten auch über mich, wenn ich außer Sicht- und Hörweite war.
Mein Blick schweifte über den Fjord. Selten sah man, so wie heute, das Spiegelbild der umliegenden Berge auf der glatten, grauen Meeresoberfläche. Der kühle Seewind hielt das Wasser die meiste Zeit in ständiger Bewegung. Oft waren es kleine in der Sonne silbern glitzernde Kräuselwellen, bei Sturm meterhohe Brecher, die donnernd gegen die Klippen schlugen.
Die Fischfabrik lag am Ende der Dorfstraße auf einer Anhöhe. Um diese Tageszeit fuhr selten ein Auto die Straße entlang. Ich entdeckte, nicht weit vom Lebensmittelladen, eine kleine Gruppe Kinder in gelben Westen, die Hand in Hand am Straßenrand entlang marschierten. Ob Nonni unter den Kindern war?
Der schrille Klang der Glocke beendete die willkommene Pause. Ich band meine nach Fisch stinkende Gummischürze wieder um und betrat die vom kühlen Neonlicht erhellte fensterlose, kalte Halle. Gerade wollte ich nach einem Dorschfilet greifen, da hörte ich jemanden meinen Namen rufen.
„Alexandra, komm schnell! Im Dorf ist etwas passiert!“
Es war Inga. Sie stand am Ausgangstor und winkte mir aufgeregt zu. Diese ungewohnte Aufmerksamkeit für meine Person erstaunte mich. Ohne Eile ging ich über die nassen Fliesen auf die offene Tür zu. Auf dem Vorplatz waren sämtliche Angestellten der Fischfabrik versammelt. Einige Männer liefen eilig davon. Die Frauen starrten mit zu Tode erschrockenen Gesichtern die Dorfstraße hinunter. Dort, nicht weit vom Kindergarten, stand mitten auf der Straße ein roter Jeep. Júlías Jeep. Männer standen vor dem Wagen oder kamen gerade angelaufen. Dann erschien ein Unfallwagen. Plötzlich schnürte mir dieser Anblick die Kehle zu. Jemand war überfahren worden.
In diesem Augenblick kam Ingas Tochter die Anhöhe zur Fischfabrik angelaufen. Ein hübscher Teenager mit langen dunklen Haaren.
„Daníel ist überfahren worden“, schluchzte sie und warf sich in die Arme ihrer Mutter. Daníel war im gleichen Alter wie Nonni. Er wohnte mit seinen Eltern und einem älteren Bruder schräg gegenüber von unserem Haus.
„War es … Júlía?“, fragte Inga ihre Tochter.
Der Teenager nickte.
„Daníel ist ganz plötzlich auf die Straße gelaufen, direkt vor ihr Auto.“
Einer der dagebliebenen Männer hatte irgendwoher ein Fernglas aufgetrieben, das reihum gereicht wurde. Ich bekam es als Letzte in die Hand und sah eben noch, wie Katrín, Daníels Mutter, in den Unfallwagen stieg, der Sekunden später mit Blaulicht davonraste. Irgendeiner der Männer kümmerte sich um Júlía und brachte sie von der Unfallstelle fort.
Eine unheimliche Stille legte sich nach dem Unfall über das Dorf. Wie in Trance stolperte ich wieder in die Halle. Auch den anderen Frauen war der Unfall auf das Gemüt geschlagen. Schweigend und routiniert machte jede ihre Arbeit. Nach der Mittagspause blieben einige der Frauen zu Hause. Dann rief die Kindergärtnerin an und bat mich, Nonni abzuholen. Dort erfuhr ich, dass Daníel auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben war.
Nonni hatte von dem Unfall nichts mitbekommen. Seine Gruppe war zur Zeit des Unglückes im Kindergarten. Auf dem Nachhauseweg erzählte ich ihm, warum Daníel nun nicht mehr in den Kindergarten kommen würde. Gemeinsam pflückten wir ein paar Blumen am Straßenrand und als wir an der Unfallstelle vorbeikamen, legten wir sie schweigend und mit Tränen in den Augen auf den inzwischen regennassen Asphalt.
Zum Abendessen erschien Sveinn. Er hatte im Hafen von Daníels Unfall gehört.
„Júlía hat wohl wieder mit dem Trinken angefangen“, war sein Kommentar, bevor er den Fernseher anschaltete und sich auf das Sofa fallen ließ.
Ich brachte Nonni ins Bett. Er schlief schnell ein. Die Vorhänge waren nicht ganz zugezogen und ich konnte durch den offenen Spalt zur anderen Straßenseite hinüber sehen. Es standen mehrere Autos vor Daníels Haus. Leute aus dem Dorf und Menschen mit mir unbekannten Gesichtern trotteten mit Blumensträußen in den Händen auf das Haus zu. Katrín und ihr Mann waren im Dorf aufgewachsen, heirateten jung. Júlía war Katríns Freundin.
Ich fühlte mich schlecht. Wie wäre es gewesen, wenn Nonni vor den Jeep gelaufen wäre? Das Wohnzimmerfenster von gegenüber hatte sich inzwischen in das Schaufenster eines Blumengeschäftes verwandelt. Immer noch kamen Männer und Frauen, die kurz ein paar Worte mit denjenigen wechselten, die das Haus verließen.
Ich konnte diesen Anblick nicht länger aushalten, lief ins Schlafzimmer, zog mir die Bettdecke über den Kopf und heulte. Hätte das Schicksal meinen Sohn getroffen, wäre niemand für mich dagewesen. Vielleicht wären anstandshalber oder wegen Sveinn ein paar Dorfbewohner gekommen und hätten mitleidsvoll ihr Beileid ausgedrückt. Ich hätte ihrem Mitgefühl misstraut. Auch ein tragischer Unfall würde die Wand, die zwischen uns stand, nicht zum Umfallen bringen.
Irgendwann öffnete mein Mann die Schlafzimmertür und teilte mir mit, er wolle mal eben zu Katrín und ihrem Mann hinüberschauen. Wut stieg in mir hoch. Sah er nicht, wie elend es mir ging? Gerade jetzt hätte ich ihn gebraucht. Mit verweintem Gesicht schlich ich wieder in Nonnis Zimmer. Obwohl es spät war, standen noch immer fünf oder sechs Autos vor dem Haus gegenüber. Ich zitterte. Ich war eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit, die diese Familie erhielt und die mir so sehr fehlte. Gleichzeitig fühlte ich das Bedürfnis, Trost zu spenden. Doch der Wunsch, hinüberzulaufen, Katrín in die Arme zu nehmen und ihr zu sagen, wie leid mir alles täte, brachte meine gelähmten Beine nicht in Bewegung. Mir fehlte Kraft und Mut. Erschöpft legte ich mich wieder ins Bett. Kurz vor Mitternacht kam Sveinn. Er sagte nichts und auch ich mochte nicht reden. Als ich am frühen Morgen erwachte, war er schon zum Fischen gefahren.
An diesem Samstag wurde in der Fischfabrik nicht gearbeitet. Bis zum Mittag konnte ich mich mit der Hausarbeit ablenken. Am Nachmittag überkam mich wieder das gleiche elende Gefühl wie am Abend zuvor. Ich blickte aus dem Fenster. Heute stand nur ein Auto vor dem Haus. Sollte ich hinübergehen? Wahrscheinlich würden mir die Worte im Halse stecken bleiben. Was sagte man in diesem Land zu Leuten, die ein Kind verloren hatten? Vielleicht würde ich etwas Falsches sagen oder man würde mich nicht verstehen. Ich fühlte mich hilflos und verzweifelt.
Seit Jahren hatte ich nicht in der Bibel gelesen. Plötzlich spürte ich ein Drängen, das Kapitel mit den Psalmen aufzuschlagen. Der 23. Psalm. An diesen Psalm konnte ich mich erinnern. „… Und geht es auch durchs dunkle Tal – ich habe keine Angst! Du Herr, bist bei mir; du schützt mich und führst mich, das macht mir Mut.“ Ich las diese Zeilen einige Male. Dann suchte ich mir ein Blatt Papier, nahm das Wörterbuch hervor und schrieb einen Brief an Katrín. Ich fühlte mich etwas besser.
Sveinn kam früher als erwartet nach Hause, aß sein Essen und wollte noch einmal in den Hafen fahren. Ich bat ihn, den Brief bei Katrín vorbeizubringen. Sobald der Brief aus meinen Händen war, bekam ich Gewissensbisse. Würde man mich missverstehen, mich als feige und unhöflich betrachten? Nachdenklich beobachtete ich Nonni, der mit ernstem Gesicht vor dem Fernseher saß. Ich hätte es nicht ertragen können, wenn er statt Daníel überfahren worden wäre. Bevor die Tränen aus meinen Augen strömten, rannte ich ins Schlafzimmer. Versunken in meinen Schmerz hatte ich nicht gehört, wie jemand an der Haustür läutete. Auf einmal stand Katrín im Zimmer. Sie ging wortlos auf mich zu und nahm mich in die Arme. Schluchzend brachte ich kein Wort heraus. Katrín hatte am Tag zuvor ihren Sohn verloren, doch sie schien gefasst und redete mir freundlich und teilnahmsvoll zu. Es war, als hätten wir die Rollen getauscht. Ich hätte sie trösten müssen in ihrem Leid. Stattdessen tröstete sie mich.
Obwohl nach dem Unfall lange ein dunkler Schatten der Trauer über dem Dorf lag, kehrte irgendwann wieder der Alltag ein. Júlía machte eine Therapie. Sie litt sehr, und es dauerte Monate bis sie sich wieder hinter das Steuer eines Autos setzte. Niemand hatte damals geglaubt, dass Júlía und Katrín Freundinnen bleiben würden.