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Die Lawine

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Der frischgefallene Schnee knirscht wie Pappe unter meinen Schneestiefeln. Nach dem Schneesturm, bei dem man gestern nicht einmal einen Hund nach draußen getrieben hätte, herrscht heute Abend eine fast beunruhigende Windstille. Der Schnee dämpft die Geräusche aus dem Ort, sodass es ungewöhnlich friedlich auf der Zufahrtstraße ist. Ich hielt es nicht mehr aus in meinem beengten Hotelzimmer, musste mich bewegen und frische Luft atmen.

Es hat mich beruflich nach Neskaupstad verschlagen, denn seit ein paar Monaten arbeite ich als Vertreter für Elektrogeräte. Meine Firma wollte, dass ich dem Inhaber des kleinen Elektrogeschäftes vor Ort unsere Artikel vorstelle. Dass ich ausgerechnet Anfang Dezember hierher geschickt wurde, gefiel mir gar nicht.

Die Straße ist leer. Ich bin allein unterwegs. Von Weitem sehe ich die Lichter der Häuser und Straßenlaternen. Die meisten der knapp 1400 Einwohner haben schon ihre bunten Weihnachtslichterketten draußen in den Gärten oder drinnen in den Fenstern aufgehängt, um die Dunkelheit des Winters erträglicher zu machen. Hier auf der Straße hellt nur der Schnee notdürftig die Schwärze der einbrechenden Nacht auf. Ich bleibe stehen. Über mir tanzt das Nordlicht in seinem Regenbogenkleid einen wilden Tanz. Dieses Spiel der Lichterstreifen nimmt mich auf magische Weise gefangen. In eleganten Bewegungen und mit leisem Zischen schwirrt es über den rabenschwarzen Nachthimmel. Außerhalb des Lichtermeeres der Stadt kann man das Nordlicht besonders gut beobachten. Ja, jetzt hätten sich die Touristen gefreut, die für viel Geld eine Nordlichtreise gebucht haben. Da sich aber nicht einmal im Sommer Urlauber in diesen abgelegenen Ort verirren, ist es unwahrscheinlich, heute hier einen Ausländer zu treffen. Die Touristen hätten sowieso ein falsches Bild zu sehen bekommen. Sie würden denken, dass es immer so still und friedlich an diesem Fjord im Osten ist: Nordlicht, Schnee, ein klarer Sternenhimmel und Berge, die sich idyllisch im Mondlicht auf der Wasseroberfläche spiegeln. Ich aber weiß es besser. Ich bin in Neskaupstad aufgewachsen und kenne die Gnadenlosigkeit der isländischen Natur.

Es war der 20.Dezember 1974. Ein Tag wie jeder andere. In der Fischfabrik war gegen Mittag der letzte Fisch verarbeitet worden. Die Angestellten, die an den Fließbändern die Filets nach Würmern durchleuchteten oder, wie ich, Dorschen und Kabeljau den Bauch aufschlitzten und sie von ihren Innereien befreiten, wurden nach Hause geschickt. Es lag Schnee. Viel Schnee. Seit Tagen hatte es geschneit. In der Nacht zuvor tobte ein schwerer Schneesturm. Ich hatte mich, nachdem ich von der Arbeit gekommen war, nach dem Mittagessen kurz hingelegt. Als ich aufstand und aus dem Fenster schaute, hatte das Leben der Menschen in dem sonst eher ereignislosen Neskaupstad eine Kehrtwendung genommen. Panikartig liefen Erwachsene und Jugendliche mit Schaufeln bewaffnet in Richtung Fischfabrik, die ein Stück außerhalb des Ortskernes lag. Ich spürte plötzlich ein Unwohlsein in der Magengegend und schaltete das Radio ein. Zwei Lawinen waren kurz hintereinander den Berg hinuntergestürzt. Die erste hatte die Fischfabrik erwischt, die zweite hatte ein Wohnhaus getroffen und es in das Meer gefegt. 800 bis 900 Meter soll die Lawine breit gewesen sein. Ein Augenzeuge berichtete, dass es aussah, als ob ein Teil der Bergkette in den Fjord gerutscht wäre. Kurz darauf fiel der Strom aus. Meine Mutter und ich waren wie gelähmt, während wir stundenlang auf Nachricht von meinem Vater warteten. Er arbeitete in der Autowerkstatt dicht bei der Fischfabrik. Erst gegen Abend rief das Krankenhaus an. Er war am Leben. Sein Kollege hatte ihn kurz nach der ersten Lawine warnen können. In dem Moment, wo er die Werkstatt verließ, zerstörten die heranstürzenden Schneemassen das Haus. Er selbst wurde mitgerissen, konnte sich aber, nachdem die Lawine stoppte, selbst aus dem Schnee graben. Mein Cousin wurde erst zwanzig Stunden später geborgen. Er war mit Aufräumarbeiten in der Fischmehlfabrik beschäftigt gewesen, die, wie die Fischfabrik, in nur einem Augenblick dem Erdboden gleich gemacht wurde.

Das kurz darauffolgende Weihnachtsfest war überschattet von der Trauer um die Verstorbenen und dem Schock über die Katastrophe. Der Ort war tagelang über den Landweg von der Außenwelt abgeschnitten. Per Schiff kamen die Rettungs- und Aufräummannschaften, denn noch immer wurde nach Vermissten gesucht. Die anhaltenden Schneefälle erschwerten die Bergungsarbeiten. Für insgesamt zwölf Menschen kam jedoch die Rettung zu spät. Einen Tag vor Silvester wurden die Toten beerdigt. Fast alle Einwohner nahmen an der Trauerfeier teil, die anstatt wie üblich in der Kirche, im Festsaal des Versammlungshauses stattfand.

Bis Ostern lag die so unschuldig wirkende weiße Pracht wie eine schwere Decke über dem Ort, drohte das Leben unter ihr zu ersticken, raubte den Menschen den Schlaf. Die Berge, an deren Füßen die Häuser klebten, waren plötzlich zu einer Bedrohung geworden. Der Stolz und die Bewunderung der Schönheit dieser imponierenden Landschaft verwandelten sich in Hass und Angst.

Nach dem Unglück schauten die Menschen jeden Herbst bei den ersten Schneefällen mit Sorge hinauf in das mit Schluchten und Spalten durchzogene Felsmassiv, in dem sich zuerst der Schnee sammelte. Der Berg war ihr Feind geworden.

Zwei Jahre nach der Lawinenkatastrophe zogen meine Eltern mit mir nach Reykjavík. Viele waren geblieben, versuchten mit der Angst zu leben, sie zu verdrängen. An der Oberfläche schien das Unglück mit der Zeit vergessen, doch die Erinnerung blieb wie ein schmerzender Splitter in den Herzen der Menschen stecken.

Vor fünf Jahren machte ich auf einer Reise durch das Land mit meiner Frau und den Kindern einen Abstecher nach Neskaupstad. Es war Sommer. Nachdem wir den in groben Fels gehauenen Tunnel durch den Berg passiert hatten, lag eine atemberaubende Aussicht vor uns. Die Sonne tauchte den Fjord und die umliegenden Berge in ein warmes Licht. Neben der Straße grasten einträchtig Schafe und Pferde. Ich spürte Heimweh, als ich an die Sommer meiner Kindheit dachte, in denen ich die Tage bis spät in den hellen Abend draußen in den Bergen verbracht, das frische Wasser der Gebirgsbäche getrunken hatte und durch Wiesen und Weiden gestreunt war . Auch das Haus meiner Eltern stand noch auf seinem Platz. Die Fischfabrik war wieder aufgebaut worden. In der Cafeteria der Tankstelle traf ich meinen ehemaligen Vorarbeiter. Er erkannte mich sofort und setzte sich zu uns. Von draußen hörte man in regelmäßigen Abständen das Geräusch eines Hubschraubers.

„Die bauen jetzt da oben einen Lawinenschutzwall. Wurde auch Zeit”, fügte er hinzu. Dann erzählte er uns, wie er von der Lawine verschüttet und ins Meer gefegt worden war. Er hatte sich aus eigener Kraft retten können und hatte keine körperlichen Verletzungen davongetragen. Doch ich wusste und sah es in seinen Augen, dass seine Seele den Schock nie überwinden würde. Meine Kinder fanden die Geschichte natürlich spannend und fragten mich danach stundenlang aus. Meine Antworten blieben knapp. Ich wollte nicht über das Lawinenunglück reden.

Jetzt bin ich wieder hier und es liegt Schnee. Für Morgen hat der Wetterbericht erneut Schneefall angesagt. Ich weiß, es hat sich viel geändert seit der Zeit. Nur selten kommt es vor, dass die Straße zum Pass unbefahrbar ist. Auch wird seit der Katastrophe der Berg im Winter ständig beobachtet. Der Lawinenschutzwall oberhalb des Ortskernes ist fertig. Dennoch steht ein Großteil der Häuser auf lawinengefährdetem Gebiet. Theoretisch kann auch heute noch überall in und außerhalb des Ortes eine Lawine heruntergehen. Ich will nicht daran denken und beschleunige mein Tempo. Der Frost beißt mir ins Gesicht, meine Hände und Füße sind klamm vor Kälte. Als ich an der Fischfabrik vorbeikomme, schaue ich kurz hinauf auf den Berg. Ein dunkler Schatten hebt sich bedrohlich vom sternenhellen Nachthimmel ab.

Dorsche haben traurige Augen. Geschichten aus Island

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