Читать книгу Im Irgendwo der Jahre - Brigitte Bosch - Страница 9
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Eine Dampfmaschine
„Und nun, zehn Jahre später, wieder dieser Schrei der Guste. Es klingt wie damals, nur noch unbändiger und durchdringender. Wer sonst im Dorf sollte so schreien? Ich öffne das Fenster und schaue auf die Dorfstraße hinaus. Nichts ist zu sehen. Bei Guste kommt kein Kind. Und bei den Geburten der drei Buben, die nach der Wilhelmine geboren sind, hat sie nicht geschrien. Was ist da los? Ich werde mal nach ihr schauen.“
Wie jeden Morgen besteigt Fritz um halb fünf in der Früh den Zug nach Lage. Dort ist die große Ziegelei. Er klemmt sich auf die rechte Bank neben Johann. Die Sitzordnung ist festgelegt. Im nächsten Dorf steigt Gustav zu, später Martin. Fritz hockt auf der Holzbank am Fenster. Das Rattern der Waggonräder auf den Gleislücken klopft und rüttelt monoton in seinem müden Körper.
Seine Gedanken wandern zu den Lieben daheim. Er schließt die Augen in der Erinnerung an die vergangene Nacht und an die Dinge, die Guste und er zusammen in wilder Gier taten. Seine Frau ist keine Schönheit und ihr Naturell eher spröde. Doch sie liebt ihn abgöttisch und zeigt es ihm mit ihrem drahtigen Körper immer wieder leidenschaftlich und unverblümt.
Der Kirchenmann braucht das nicht zu wissen.
Heute ist Samstag. Es wird Lohn geben. Er wird später in den Dorfkrug gehen, bis seine Frau Guste ihn aus dem
Schankraum holen und nach Hause zerren wird. Sie wird schimpfen, auch wenn er nie wirklich betrunken ist, und sie werden sich am Abend wieder gut sein. Fritz lächelt.
Der Dampf der schnaubenden Lokomotive dringt durch alle Ritzen und brennt in seinen Augen. Der gleiche Geruch und der Ruß werden ihn bei der Arbeit umfangen und bis heute Abend in seinen Kleidern hängen. Fritz schließt die Augen. Sein Kopf sinkt zur Seite und er döst weg.
Um halb sechs ist die Eisenbahn mit den Männern in Lage. Fritz muss sehr zügig gehen, wenn er pünktlich bei der Ziegelei sein will. Er verfällt in einen Laufschritt. Schließlich muss er vor den anderen da sein, um die Zahnräder und Treibriemen, die die Revolverpressen mit der Dampfmaschine verbinden, zu kontrollieren. Alles muss bis zum Arbeitsbeginn rund laufen. Der Koloss muss bereits fauchen, beben und schnaufen, wie die Lokomotive, nur dass seine Dampfmaschine nicht fährt. Aber größer ist sie und seit kurzem sein ganzer Stolz.
Fritz ist zwanzig Minuten vor sechs Uhr da, legt seine Stullen in den Schuppen. Mit einem freundschaftlichen Knuff begrüßt er den Heizer, der wie jeden Morgen vorgearbeitet hat. Für Fritz beginnt dieser Arbeitstag, wie alle Tage. Und doch wird es heute anders sein.
Erschreckend anders.
Minna spürt es, auch wenn sie weit weg ist von dem grauenhaften Geschehen. Später sagen die Menschen im Dorf, das Kind habe das zweite Gesicht, sei hellsichtig und niemand wisse, ob das gut oder schlecht sei.
Mit einem halb gefüllten Eimer steht sie zwischen den Johannisbeersträuchern und ist von einem Moment auf den anderen elektrisiert.
Ihr Blick flackert, ihr Körper zittert.
Wortlos macht sie kehrt, rennt los und stürzt in die Stallungen, in der Hoffnung ihre Mutter dort zu finden. Guste schaut überrascht von der Arbeit auf.
„Minna, was ist mit dir?“
Stammelnd bricht es aus dem Kind hervor: „Vater. Blut. An Arm und Brust. Er atmet nicht mehr!“
Gustes Augen weiten sich und das Weiße in ihnen wird übermächtig.
„Es muss Einbildung sein. Anders kann es nicht sein.“
„Du hast zu viel Phantasie! Geh' wieder pflücken, Kind!“, die Mutter will ihre Stimme fest klingen lassen, aber es klappt nicht. Sie ist beunruhigt, erahnt sie doch die Fähigkeiten ihres Jahrhundertkindes, die ihr gehörig unheimlich sind, besonders in diesem Moment.
Zurück in den Johannisbeeren hat das Mädchen seine schreckliche Erscheinung fast vergessen. Sie steckt sich einige Früchte in den Mund.
Ist sie doch nur ein Kind.
„Der Fritz, der war ein guter Kumpel. Seit vier Jahren bin ich mit ihm auf der Ziegelei. Auf den Fritz konnt‘ man sich verlassen. Hat nie einen der Unsrigen angeschwärzt beim Aufseher. Hat sogar mal was für die Arbeitsleute getan, wenn die zu lang auf dem Donnerbalken waren oder sonst wie zu spät kamen. Nicht immer hat er so viel Güte und Großherzigkeit zurück bekommen, aber das hat ihn nicht geschert. Der Fritz, das war ein Guter. Schade drum. Ach, was red‘ ich… Weiß auch nicht so recht, wie das passieren konnte. Die Maschinen sind halt gefährlich. Ich pass‘ immer auf wie ein Schießhund. Und seit gestern noch mehr… Ich hab‘ nicht gesehen, wie sein Ärmel Fritz in die Maschine zog. Das hat Willem erzählt. Der stand direkt daneben. Hat gesehen, wie die Maschine den Ärmel zu fassen hatte und den Fritz mit einsog, auffraß sozusagen. Als ich mich umdrehte, sah ich aus einiger Entfernung, wie die Maschine den Fritz zerstückelt hat. Ich sag dir, ich wünschte, ich hätte das nicht gesehen. Ich wünschte, ich hätte mich nicht umgedreht. Nein, ich wünschte, der Fritz tät‘ noch leben. Einige vom Arbeiterverein haben gesagt, wir müssten besser geschützt werden vor solchen Unfällen. Dies sei immerhin der siebte Unfall in fünf Jahren an dieser Maschine. Weiß nicht so recht, wie das gehen soll, aber zu wünschen wär‘ das schon. Macht aber den Fritz nicht wieder lebendig.“
Es herrscht ein gewaltiges Durcheinander auf der Ziegelei. Männer zerren den Körper oder das, was von ihm übrig ist, von der Maschine weg. Draußen legen sie ihn auf einem Holzstapel ab. Der rechte Arm fehlt. Die übrigen Gebeine staksen verdreht in falsche Richtungen. Fritz ist nicht mehr als solcher zu erkennen. Es ist, als sei er zerrissen. Sein Gesicht ist zerstört. Nur noch sein Mund ragt geöffnet hervor aus dem, schräg zur Seite gefallenen, Kopf. Alles ist in Rot getunkt. Eine Gruppe Ziegler versammelt sich vor dem Leichnam. Sie bilden eine Körperwand, als ließe sich das Grauen abschirmen. Als könne der Alltag weiter gehen.
Die Dampfmaschine steht still.
Minna bricht von den Johannisbeeren auf.
Die Sträucher haben gut getragen. Der dritte Eimer ist schon prall gefüllt. Sie stellt ihn zu den anderen auf den Küchentisch. Am Abend werden sie gemeinsam die Früchte von den Stielen trennen. Das Mädchen geht zu den Schweinen in den Stall, greift sich die Forke um zu misten, so wie jeden Tag vor dem letzten Ausputzen des
Hühnerstalls. Danach will sie zum Weiher hinunter und ein wenig baden, den Geruch von den Schweinen wegspülen. Gedankenverloren summt das Mädchen vor sich hin. Vielleicht sind die Walchener Kinder nachher auch dort und sie können noch spielen und herumtollen.
„Mach die Schweine eben allein fertig!“, ruft die Mutter ihr zu, als eine massige Männergestalt in der Stalltür steht. Minna nimmt sie nur schemenhaft war.
Eines weiß sie: sie kennt diesen Mann nicht.
Guste wendet sich dem Fremden zu. Sie kneift die Augen eng zusammen. Das gleißende Sonnenlicht hinter dem Mann taucht seine Schattenansicht in dunkles Grau. Ein Lichtkranz zeichnet seine Kontur nach.
Ihr Herz krampft. Sie bittet ihn in die Küche.
Das knarrende Geräusch der Küchentür ist Minna vertraut. Die plötzliche Stille ist es nicht. Minna hält inne und horcht. Sie stellt die Forke auf dem Stallboden ab und umfasst den senkrechten Stiel mit beiden Händen. Ihre Hände klammern sich um das Holz und die Haut an ihren Knöcheln erbleicht. Jetzt hört sie die Mutter schluchzen, erst ganz leise. Bald beginnt die Mutter gellend zu schreien.
Minnas drahtiger, schmaler Körper wird steif. Ihr ist, als schieße ihr ganzes Blut auf einmal durch den Körper. Wieder sieht sie den Vater. Er ist über und über mit Blut beschmiert. Ein Arm baumelt herab. Neben ihm sieht sie den Sensenmann.
Das Mädchen wirft die Mistgabel beiseite, trifft dabei ein Schwein, das quiekend zur Seite springt, und bewegt sich hölzern hinaus. Die schweren Holzkloben, die nur im Stall getragen werden, vergisst sie auszuziehen und stolpert in das Wohngebäude hinein, stürzt hin zur Küchentür und wirft sie auf.
Es ist, als erzeuge der unvermindert schrille Schrei der Mutter einen Druck, der Minna wieder aus der Tür heraus schiebt. Erschrocken wendet sie sich ab und tritt aus dem Haus.
Für einen Augenblick hält sie vor dem Küchenfenster inne und starrt in den Raum hinein. Der Mann dreht sich zu ihr um, erhebt sich und schließt das Fenster. Sein Gesicht ist ihr fremd, aber ihr ist auch so, als erkenne sie ihre Mutter nicht mehr.
Mechanisch setzt sich ihr Körper in Gang. Die Kloben bleiben an der Haustür stehen. Minna spürt ihre Füße unter sich, wie sie den Boden berühren, die Steine der Stufen, die zum Weg hinunterführen, den Lehm unter den Fußsohlen, mal Grassoden, mal Geröll, dann wieder Lehm. Minna geht und geht und rennt und rennt. Ihr Kopf ist leer. Ihre Beine arbeiten wie ein Uhrwerk. Längst spürt sie ihre eigenen Schritte nicht mehr.
Als sie stehen bleibt, horcht sie. Sie hört das Summen der Bienen, das Vogelgezwitscher und ferne Plätschern des Baches. Das Dorf ist weit weg, auf der anderen Seite des Hügels. Von hier aus sieht sie das Nachbardorf in der Senke liegen. Ihr wird klar, dass sie so weit weg von zu Hause ist, wie sie es noch nie war. Hier ist der Schrei der Mutter nicht mehr zu hören. Vielleicht ist es zu weit weg. Vielleicht schreit sie auch nicht mehr. Minna findet eine Höhle, sinkt auf den Boden und legt sich schlafen.
„Ja, furchtbar war‘s. Ein Drama. Die verfluchte Teufelsmaschine. Wie sie den Fritz zugerichtet hat. Aber es war ein schneller Tod. Hat auch sein Gutes. Der Johann Pensger hatte auch einen Unfall. Hat überlebt. Anders als der Fritz. Gott hab‘ ihn selig…ist nun beim Herrn. Was wollt ich sag’n, alle Tage sitzt der Johann mit seinen verstümmelten Beinen und seinem steifen Arm in der Küche herum und ist zu nichts nutze. Wenigstens kann er nicht in die Wirtschaft gehen und alles versaufen. Aber das Maul will halt gestopft sein. Und so ‘n Mann, der hat Hunger, ob er nun mal arbeitet oder nicht. Da hat‘s die Guste fast noch besser. Aber was red‘ ich. Ein Drama war‘s. Die Frau hat völlig den Verstand verloren, nachdem ihr die grausige Wahrheit überbracht wurde. In ihrer Küche getobt hat sie und ist dann zusammen gebrochen. Da lag sie auf dem Boden. Ich habe sie gefunden. War das eine Schweinerei. Alles voller Blut. Sie hat Hand an sich gelegt. Mit dem Küchenmesser. Ein Drama! Sie ist dann ins Spital. Hab‘ mich gekümmert, um die Buben. So nebenher kein Zuckerschlecken, sag‘ ich. Die Guste weg und dann noch die Minna verschwunden. Aber nach drei Tagen kam die Kleine wieder, war völlig verdreckt und zerzaust. Hab‘ sie erst einmal in die Zinkwanne gesteckt. Danach roch sie wieder menschlich. Sie nahm sich dann nach Kräften der Buben an. Ich schaute nur einmal am Tag vorbei. Nach zehn Tagen kam die Guste. Aber viel anzufangen war nicht mit ihr.“
Krankenakte :
Auguste Blohm, geb. 24.2.1881 in Sonneborn
aufgenommen 11.8.1910
Diagnose: Schnittwunden an den Armen, 5 cm breit und 2 cm tief, erheblicher Blutverlust, lebensbedrohlich
Erkenntnisse des Polizeiamtsrathes: Versuch einer Selbsttötung Zieglerkrankenversicherung, Ehemann am 10.8.1910 verstorben Patientin ist nicht mehr versichert und unterliegt der Armenhilfe Entlassung zum nächstmöglichen Termin
Medicinalrath Lamprecht
Hospital der Wolfschen Stiftung in Lemgo
So steht es da in akkuratem Sütterlin. So fein.
So aufrecht in den Buchstaben.
Als sie im Hospital aufwacht, versucht Guste sich zu erinnern, was geschehen ist, aber es gelingt ihr nicht. Der Schmerz ist überall, am meisten jedoch in ihrer Brust. Dort brennt ein Feuer, dort will es sie zerreißen. Sie bemerkt, dass Arme und Beine an das Metallbett gebunden sind und sie versinkt in Teilnahmslosigkeit. Nur einmal bäumt sie sich auf und schlägt mit dem Körper scheppernd gegen die Lagerstatt.
Eine Schwester kommt und drückt ihr einen merkwürdig riechenden Lappen auf das Gesicht. Die Tobende sinkt zurück und fällt in tiefen Schlaf.
Minna freut sich auf die Wiederkehr der Mutter. Sie hat allerlei Besonderheiten vorbereitet, wie Blumen und einen Kuchen, den sie nach der Anleitung der Nachbarin gebacken hat. Saubergemacht ist im Haus und die Tiere sind versorgt. Sogar die Jungen tragen saubere Wäsche. Minna hat mit ihren zehn Jahren Wunder vollbracht.
Zwar ist die Martha einmal am Tag gekommen, hat Essbares gebracht und ihr zugeredet, aber Minna mag sie nicht so arg, weil sie laut und besserwisserisch daher kommt. Aber geholfen hat sie halt doch, die Nachbarin. Und das ist gut.
Schwer ist es trotzdem, aber seit Minna weiß, wann die Mutter heimkehren wird, hat sie alles daran gesetzt, das Notwendige gar recht zu machen.
Zur Schule ist sie nicht mehr gegangen.
Noch ahnt sie nicht, dass dies lange so bleiben wird.
„Die Minna in meiner Klasse ist ein aufgewecktes Kind, schaut genau hin und hört genau zu und schon weiß sie, wie‘s geht. Aber mit dem Lesen und Schreiben kommt sie nicht so recht voran, weil‘s zu Haus nie übt. Muss gleich im Stall, auf dem Feld und im Gemüsebeet schaffen. Ist auch nicht jeden Tag in d‘ Schul‘, die Minna. Hat auch oft nicht ihre Schuh‘ dabei. Kommt manchmal barfuß, wenn die Füß‘ wieder gewachsen sind. Einige kommen nicht, wenn`s keine passenden Schuh mehr ha‘m. Nicht so die Minna. Die kommt trotzdem. Aber helfen daheim muss‘s halt oft. So ist‘s bei vielen. Dann hapert‘s eben am Lernen. Die Kinder werden g‘braucht daheim. Hab auch nur selten mal was bekommen von den Blohms, nur mal eine Mettwurst, aber dann auch wieder lange nichts. Gott sei Dank gibt‘s auch noch Bauern, wie die Heuers, die Bachmeiers und die Lohmüllers. Ohne sie hätt‘ ich die Dorfschul‘ net weiter führe‘ könne in diesem Kaff. Muss ja was zum Kaue haben. Wissen macht net satt. Aber das ist eine andere Sach‘. Einmal hab ich arg g’staunt über die Minna. Wir haben an der Deutschlandkart' g'sess'n. Ich hab über die deutschen Kolonien erzählt in Afrika und, dass unser Kaiser da Pläne hat und welche. Da war die Minna Feuer und Flamme, hat alles in sich rein gefressen, alle Städte gewusst, alle Orte, alle Meere. Ich geh‘ mal fort, hat das Mädel gesagt, weg von hier…
In letzter Zeit kommt sie nicht mehr. Grässlich, das Unglück mit ihrem Vater…“
Die Kinder holen die Mutter von der Poststation ab, wo das Pferdefuhrwerk hält.
Es ist ein milder Tag, schon etwas spätsommerlich, aber wolkenlos. Die Sonne steht schräg, als das Gefährt die Landstraße hinauf ruckelt und quietschend hält. Das Holz des Fuhrwerkes knirscht gedehnt.
Aufgeregt und erwartungsvoll umrundet die kleine Schar Blohm’scher Kinder den Wagen. Aber nichts rührt sich. Keine Mutter entsteigt dem Karren.
Der Kutscher springt vom Bock und geht wortlos zur Pumpe, um Wasser für die Pferde zu holen.
Minna steht unschlüssig herum. Dann fasst sich das Mädchen ein Herz und klettert die Stufen zum Wagen hoch, lugt unter die Plane in den Karren hinein und nimmt wahr, dass auf einer Bank ineinander versunken ein älteres Paar schläft. Sie halten sich umschlungen, so dass keiner umfallen kann. Ihr leises Schnarchen dringt an Minnas Ohr.
Auf der gegenüber liegenden Bank liegt die Mutter. Sie ist eingewickelt in helles Leintuch. Ihr Gesicht ist bleich und sie regt sich nicht.
Minna zwängt sich an dem Paar vorbei und berührt die Mutter an der Schulter. Das Herz des Kindes ist klamm, fürchtet es doch, die Mutter sei tot. Seine vorsichtig ausgestreckte Hand spürt, wie Wärme durch das Tuch dringt, und das Kind atmet auf. Minna legt ihren Kopf an der Mutter Kopf und spricht im Flüsterton zu ihr, dass sie nun zu Hause sei und solcherlei. Aber ihr eingewickelter Körper verharrt regungslos und die Augen der Mutter bleiben geschlossen.
Als Minna ratlos wieder hinaus tritt, kommt ihr der Kutscher entgegen. Sein wütender Blick im hochroten Gesicht verheißt nichts Gutes: „Was machst du da, Göre? Mein Wagen ist kein Platz für Diebsgesindel!“
Minna hebt an zu erklären und die drei Jungen bilden flugs einen schützenden Kreis um sie. Der Kutscher besteigt den Wagen und zerrt das Leinenbündel samt Mutter unsanft heraus.
„Los, fasst mit an!“, kommandiert er. „Die Reise der Dame endet hier.“ Er bugsiert die Last auf die Arme der Kinder, die sie halten, fast so wie bei einem Begräbnis, wenn mehrere den Sarg tragen.
Trotz der Blässe der Mutter ist ihr Körper weich und gibt nach. In den Gesichtern der Kinder machen sich zugleich Erleichterung und Hilflosigkeit breit, denn die Last lebt, ist aber unverhofft schwer.
Sie entgleitet den Kleinsten und die Buben stolpern und stürzen. Die Beine der Mutter liegen verdreht auf ihren. Den anderen entfährt ein Prusten, das sie sofort unterdrücken, schon aus Pietät.
Es herrscht Schweigen.
Eines, in dem nicht gedacht wird.
In der Tat sind die Vier restlos überfordert. Der Blick der Jungen liegt ratsuchend auf der älteren Schwester. Minna denkt nach. Sie beißt sich auf die Unterlippe, die schon heftig blutet, bis sie den rettenden Einfall hat: „Hans, geh‘ du zum Engererhof und frag‘, ob wir den Handkarren haben können. Los, mach schon!“
Gesagt, getan.
Doch das Hochhieven des schlaffen Körpers auf den Karren entkräftet die Kinder aufs Neue. Die Steigung von der Landstraße zum Dorf hoch, geht es einen mühsam einen halben Fuß voran, dann stockt das Gefährt wieder. Es hilft, dass sich die Kinder kleine Kommandos zuflüstern. Dennoch droht ihnen der Karren mit der Mutter einmal gänzlich zu entgleiten. Und fiele ihnen die Mutter jetzt vom Karren, wäre sie sicher gänzlich tot. Da sind sich die Kinder einig.
Minnas verkniffenes Gesicht hellt sich auf, als sie Heiner, den Dorfdeppen, forschen Schrittes auf sich zusteuern sieht. Er ist zwar blöd im Kopf, aber stark wie sonst keiner. Als solches ist er durchaus wohlgelitten im Dorf, denn er hilft nach Kräften bei einfachen Dingen und er tut es gern.
„Lass mich!“, röhrt seine blecherne Stimme. Er packt entschlossen an und der Karren nimmt spürbar Fahrt auf. Das Gefährt wird schneller und geradliniger, nachdem Heiner den zentralen Platz zum Schieben eingenommen hat und seine großen Hände die beiden Gabeln sicher halten. Sofort schaukelt das Mutterpaket nicht mehr so.
Es beruhigt sich auf der Ladefläche. Nur noch die herunterhängenden Beine der Mutter schwingen gleichmäßig hin und her im Rhythmus von Heiners weit ausholenden Schritten.
In den folgenden Tagen und Wochen erinnern sich die Kinder gern an diesen ereignisreichen Tag, an dem am Ende Heiner Guste auf die Küchenbank legt. Von da an werden die Tage lang und trist. Sie gleichen einander und atmen eine Schwere anderer Art.
Sie sind vier Kinder. Doch in diesen Tagen sind sie es nicht. Das gilt besonders für Minna. Sie ist die Älteste. Sie muss es richten. Sie ist das einzige Mädel.
„Der Pastor sagt, die Guste sei wegen der Sünde vom Kirchgang ausgeschlossen. Dem Herr’n ins Handwerk pfuschen, sei eine schwere Sünd‘, auch wenn der Tod sich nicht von der Guste hätte überlisten lassen. Da sei der Herr dazwischen gewesen. Der Herr hätte sich ihrer erbarmt und sie leben lassen, aber mit ihrer Schande müsse die Selbstmörderin nun allein leben. Na ja, ist schon hart vom Herrn Pastor. Aber er spricht das Wort des Herrn. Da kann man nichts machen. Jedenfalls hat er mir erlaubt, der Guste und den Kindern weiterhin einmal am Tag zu helfen. Die Frau ist noch schwach. Sie spricht auch nicht, liegt nur so da und schaut an die Decke. Na hoffentlich kommt sie wieder zu Sinnen. In dem Zustand kann sie eh nicht in die Kirch‘.“
Minna bringt die ersten Nächte bei der Mutter auf der Küchenpritsche zu, lauscht ihrem Atem und dann und wann befeuchtet sie ihre aufgesprungenen Lippen mit einem nassen Tuch. Meistens sind die Augen der Mutter geschlossen. Minna ist es lieber so.
Öffnet sie die Augen, schaut sie ihre Tochter nicht an und sieht auch sonst niemanden, der an ihr Lager tritt. Sie schaut mit starrem Blick durch jeden hindurch.
Minna hat sich überlegt, dass möglicherweise die Mutter nach Gott schaut oder auch nach dem Vater. Da muss sie eben durch die Erdendinge hindurch schauen. Aber unheimlich ist ihr doch irgendwie.
Manchmal schläft sie erschöpft bei der Mutter ein und legt dabei ihren Kopf auf deren Busen. Ist doch das vertraute Atemgeräusch der Mutter gleich geblieben.
Tagsüber findet Minnas Leben in der Küche statt. Sie kocht, meistens Suppe mit Brot. Das Brot will dem Kind noch nicht so recht gelingen. Es kommt als steinharter Klops aus dem Ofen, an dem alle lange herum nagen.
Die Mutter erhält nur Suppe oder Brei. Minna füttert sie. Das ist ausgesprochen schwierig. Manchmal öffnet die Mutter den Mund nicht, ein anderes Mal läuft es ihr seitlich wieder heraus. Minna hat irgendwann aufgehört ihr zuzureden. So vollführen beide schweigend diese Zeremonie, in der die Mutter das Kind ist und das Kind die Mutter.
Von der Küche aus gibt Minna den Buben Aufträge für Garten und Ställe. Martha hat ihr geraten, immer nur eine einzige Aufgabe zu geben. So verfährt Minna und es klappt leidlich. Franz ist acht, Hans ist sieben und Friedrich erst vier Jahre alt. Aber auf Friedrich, den jüngsten ist Verlass, während Hans die Zeit gern mal hinauszögert oder gar in irgendeiner warmen Ecke der Stallungen hockt und dort schnitzt.
Er schnitzt Engel. Sie sind sich ähnlich, doch sie gleichen sich nicht. Alle kleinen Holzengel stellt er entweder zu Füßen der liegenden Mutter oder auf das Regalbrett über der Bank. Die Engelsarmada soll die Mutter beschützen und ihr beim Gesundwerden helfen.
Und tatsächlich sind sie an einem Fortschritt im Zustand der Mutter durchaus segensreich beteiligt.
Es ist die Zeit für Erntedank.
Nach Monaten mit Gemüsesuppen soll es zu diesem Anlass Fleisch geben: einen Hahn. Tagelang streiten die Kinder, ob sie den alten Hahn oder den jungen Hahn schlachten sollen und schon beim Nennen vieler Gründe für den einen oder den anderen Hahn läuft ihnen das Wasser im Mund zusammen.
Martha sorgt am Ende resolut für Schluss der Debatte: „Wollt’s ihr noch Eier ha’m, dann lasst den Alten leben. Der bespringt gut und der Junge ist noch net so weit.“ So ist die Sache klar. Martha kommt nur noch dann und wann und die Prozedur des Schlachtens obliegt den Kindern allein. Genaugenommen betrachten es die Jungen quasi als ihre männliche Pflicht.
Minna kommt die Idee, den Deppen Heiner nochmals um Hilfe zu bitten, schließlich habe der ja Riesenkräfte. Die Jungen finden das unnötig, aber als Heiner am Schlachttag mit einer Axt vor dem Haus steht, sind sie doch froh. Aus allen Ecken kommen sie angerannt. Franz taucht vom Schweinestall auf, Hans legt noch schnell die vierunddreißigste Schnitzfigur der Mutter zu Füßen, was von ihr unbemerkt bleibt, und der kleine Friedrich kriecht hinter dem Abtritt hervor, recht zögerlich, denn angesichts des Bevorstehenden, ist er sich seiner Männlichkeit nicht mehr so sicher.
Einzig Minna hat sich, hocherhobenen Hauptes, in der Tür aufgebaut, die Arme in die Seiten gestemmt und gibt Anweisungen: „Ihr geht zum Hauklotz. Packt den Hahn am Hals und schleudert ihn kräftig, solange bis er ohnmächtig ist. Dann legt ihr den Hals des Hahnes auf den Hauklotz und hackt ihm den Kopf ab.“ Ihr fällt nicht auf, dass sie damit ihre Regel – eine Anweisung zurzeit – deutlich überschritten hat.
Die drei Buben und der Kraftprotz Heiner stehen mehr oder weniger unschlüssig beisammen.
„Hahn“, konstatiert Heiner schließlich, der den Geist eines Dreijährigen besitzt und sich mit Einwortsätzen durch’s Leben schlägt. Das inspiriert die Buben, gemeinsam zum Hühnerstall zu rennen, um den Hahn zu holen. Die Drei sind erregt ob der Aufgabe. Beide Hähne sehen sich unglücklicherweise zum Verwechseln ähnlich und in dem Durcheinander der Jungenbeine zwischen den aufgescheuchten Hennen, fliegenden Federn und mit dem mehrfachen Entschlüpfen der Beute aus den Händen der Kinder wird es dann unbemerkt doch der alte Hahn, den Franz und Hans da gemeinsam in den Händen halten, der aber durchaus zappelt wie ein junger.
Die Verwechslung entgeht auch Minna, die froh ist, nur noch sich überschlagende Stimmen von Hahn und Mensch unter dem Küchenfester zu hören sind, wo der Hauklotz steht. Da das Geschrei des Hahnes allerdings immer panischer wird und sich mittlerweile der ganze Hühnerstall wie im Chor beteiligt, beugt Minna sich aus dem Fenster und ruft so laut sie kann: „Schleudern!“
Instinktiv hat sie zum Einwortsatz gegriffen. Ebenso instinktiv schreitet Heiner zur Tat. Er packt den Hahn entschlossen am Kopf und beginnt das Tier wie ein Lasso, das ausgeworfen werden soll, über seinem Kopf zu schleudern.
Heiner ist eine mitfühlende Seele und, um nicht die Todesangst in den Augen des verzweifelten Hahnes sehen zu müssen, hat sich seine Schleuderhand um die Augen des Tieres gelegt. Der nächste, darauf folgende Arbeitsgang ist ihm keineswegs gegenwärtig und so schleudert er geraume Zeit, ohne an Kraft und Entschlossenheit zu verlieren. Von Fliehkraft hat Heiner aber tatsächlich noch nie etwas gehört. So ist der Kopf des luftig routierenden, elenden Federviehs seiner Faust unmerklich mehr und mehr entglitten. Hilflos gekrampft umklammern Heiners Knöchel den Hahnenschnabel.
Dass der Hahn unverhofft und in beachtlicher Geschwindigkeit aus Heiners festem Griff entfleucht und durch das offene Küchenfenster saust, mag der eine als Unglück, der andere als Glück betrachten.
Mit Schwung und einem Geräusch dumpfen Aufpralls landet der ohnmächtige Hahn auf dem Leib der reglos liegenden Mutter und streckt dort alle Viere, also auch die Flügel, von sich. Für einen Moment tritt Stille ein, selbst im Hühnerstall.
Die überraschende Wendung wird den vier Jungen langsam bewusst. Franz ist es, der sich als erster an den nächsten Arbeitsgang erinnert. „Kopf abschlagen“, spricht er mehr zu sich. Heiners Konzentration indes ist in Hochform und er rennt los, allerdings ohne Axt, wird aber von Minna abgefangen, die gerade zur Haustür hinaus tritt.
Der aufgelöste Heiner ist schwerer zu verstehen als je zuvor. Minna zerrt ihn zum Hauklotz und lässt sich von den Jungen berichten. Da aber alle durcheinander reden, ist der Informationsgehalt gering.
Unterdessen hat sich der Hahn seinen wundersam unversehrten Hals zurecht gerückt und kommt langsam wieder zur Besinnung, rappelt sich auf und, um nicht abzurutschen, krallt er sich fest in Gustes Leib, das Leinentuch mühelos durchdringend.
Der Apathischen entfährt ein Schmerzenslaut, gefolgt von einem Krächzen der Empörung, als ihr der Hahn von oben geradewegs in die Augen blickt, soweit dies bei seiner Augenanordnung denn möglich ist.
Augenblicklich schnellt Guste in eine Sitzposition.
Der Hahn flattert in neuerlicher Panik ungestüm um sie herum und reißt dabei sämtliche Schnitzengel, die Hans aufgestellt hat, vom Regal.
So finden die Kinder beim Betreten der Küche die Mutter im Bett aufrecht sitzend und kreuz und quer von Holzengeln umgeben vor. Zwei befinden sich sogar im Haar der Mutter. Ein Engel baumelt an ihrer Halskette, die das Kreuz hält, hin und her.
Die Kinder trauen ihren Augen kaum und gehen, als sei die Situation zerbrechlich, auf leisen Sohlen auf die Mutter zu. Guste schaut auf ihre Kinder, als sähe sie sie zum ersten Mal.
Das flatternde Federvieh lässt jedoch keine Andacht aufkommen und Heiner auch nicht. Er trägt mittlerweile die Axt in der Hand und hechtet hinter dem Hahn her, als gehe es um sein Leben und nicht um das des Hahnes. Als er den Hahn schließlich packt, hinterlässt die wilde Jagd eine Spur zerschlagener Teller.
Das Getön scheppernder Töpfe hallt schrill nach.
Dieser Lärm ruft nun die Mutter so sehr auf den Plan, dass sie ihre Füße auf den Boden setzt und sich erhebt. Hans und Franz stehen ihr zur Seite.
Es ist kaum vorstellbar, dass Kinder sich jemals so sehr über das Schimpfen ihrer Mutter gefreut haben, wie diese vier Kinder in diesem Augenblick.
In einem wüsten, kaum verständlichen Wortschwall gebietet die Auferstandene dem fuchtelnden Heiner Einhalt.
„Lass von meinem besten Hahn ab, du Depp!“, endet ihre Tirade.
Heiner hält inne und trollt sich ohne ein Wort des Grußes. Er ist beleidigt und grummelt noch auf der Dorfstraße düster vor sich hin. Aber als er daheim ist, hat er die Unbill schon vergessen und am folgenden Tag freut er sich über von Minna gebrachte Eier.
Schweigend hocken die Kinder noch eine Weile bei der Mutter, die sich, sichtlich erschöpft, wieder hat auf ihre Liegestatt fallen lassen.
Hans beginnt die Engel einzusammeln und sorgsam wieder aufzustellen, nicht ohne jedem noch einen Kuss aufzudrücken als Dank für ihr segensreiches Werk.
Minna schneidet eine Scheibe Brot für jeden ab, die sie schweigend, bei der Mutter hockend, verzehren. Diese schenkt jedem noch einen Blick, kurz nur, bevor sich ihre Augen wieder schließen.
In den folgenden Tagen bessert sich der Zustand Gustes von Stunde zu Stunde, und es scheint, als sei der Hahn die Inkarnation des Heilands gewesen, der die Mutter ins Leben zurück geholt hat.
Da es sich nicht bis ins Letzte feststellen lässt, ob es zwischen Hahn und Heiland eine, wie auch immer geartete, Verbindung gibt, wird sicherheitshalber auch in der Folgezeit darauf verzichtet, diesem Federvieh zu nahe zu treten, so dass er sich noch lange des Daseins und an seinen Hennen erfreuen darf.
Unterdessen führt Guste den Hof wohl rechtens, aber ohne jede Begeisterung. Holz für den Winter ist nicht eingelagert worden und es wird bald arg kalt. Guste schickt Franz zu ihrem Bruder Wilhelm ins Nachbardorf, dass er um Holz bitte.
Der Fußweg des Jungen ist lang und Franz bleibt viele Tage weg.