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Letze Tage in Ostpreußen - Der Sturm zieht auf

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Die Zanders lebten in Insterburg, einer 40.000-Einwohnerstadt im Norden Ostpreußens, die genau dort lag, wo Angerapp und Inster sich zum Pregel vereinten. Karl und Anna Zander waren seit 1920 verheiratet und hatten zwei Töchter, die 1923 geborene Rosemarie und die 1930 geborene Helga. Anna Zander war Hausfrau, Karl Zander leitete die Lohnbuchhaltung der Insterburger Stadtwerke. Die Kleinfamilie war eingebettet in einen großen Verwandtenkreis, Karl Zander hatte vier Geschwister, Anna Zander, die Älteste unter den Sallowsky-Geschwistern, hatte fünf Schwestern und einen Bruder. Vor allem die Sallowsky-Schwestern waren eine Riege von außergewöhnlichen Frauen, stark, duchsetzungsfähig und lebensfroh. Man war gesellig, traf sich oft und feierte gern zusammen. In diesem Umfeld wuchs Rosemarie heran.


Foto: Ansichtskarte, gemeinfrei, Archiv B.Jäger-Dabek

Rosemarie Zander - jung wie sie war – zeigte sich trotz aller Indoktrination nicht als Anhängerin des Nazireiches. Von der gleichgeschalteten Volksgemeinschaft, die wie gleichzeitig an Fäden gezogen „Heil“ brüllte und den Arm hochriss, hielt sie nichts, vom Bund Deutscher Mädel noch weniger. Ihre Freiheit ließ sie sich freiwillig nicht einengen und schon ihre Sportverletzung am Knie vor und erfand immer neue Ausreden, um nicht zum BDM zu müssen. Der Preis: Weiter lernen und Lehrerin werden durfte sie nicht. Karl Zander gelang es, nach langen Suchen über einen Bekannten, seine Tochter in der Bank der Ostpreußischen Landschaft unterzubringen.

Als frisch gebackene Bankkauffrau lebte Rosemarie Zander nun weiter mit ihrer sieben Jahre jüngeren Schwester Helga bei ihren Eltern Anna und Karl Zander in Insterburg/Ostpreußen, als im Herbst 1944 die Front anfing unaufhaltsam näher zu rücken. Der Anfang vom Ende Ostpreußens nahte, als die Rote Armee erstmals die Reichsgrenze überschritt und ostpreußischen Boden betrat. Längst war am Horizont im Osten der große Sturm aufgezogen, als die ersten Flüchtlinge kamen.

Zum ersten Mal beschlich Rosemarie ein mulmiges Gefühl, als am Freitag, den 20.10.1944 viel zu spät der Räumungsbefehl für den Kreis Gumbinnen kam, und eine planlose Flucht einsetzte. Viele Gumbinner stürmten auch in die Bank der Ostpreußischen Landschaft in Insterburg und versuchten an ihr Geld zu kommen. Sie erzählten natürlich von ihren Erlebnissen, das mulmige Gefühl wurde intensiver, Angst kroch kalt den Rücken hoch. Noch einmal traf sie sich mit ihrem Fast-Schwiegervater, einem pensionierten Lehrer aus Gumbinnen. Sie wollte den Vater ihres gefallenen Verlobten dazu bewegen, Ostpreußen zu verlassen, doch nach dem Tod des einzigen Sohnes und dem folgenden Selbstmord der Ehefrau wollte er einfach nicht mehr. Er hatte keine Angst vor den Machthabern, sowohl er, als auch Rosemaries Verlobter hatten die junge Frau immer wieder um Vertrauen gebeten, wenn sie ihr manche Dinge zu ihrem eigenen Schutz verschwiegen. So sprachen die beiden nun ein letztes Mal ganz offen miteinander.

Als am 18.10. Hitlers Aufruf zum Volkssturm an alle waffen­fähigen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren erfolgte, betraf das auch Rosemaries Vater Karl Zander, der zwischenzeitlich über 50-jährig von der Wehrmacht entlassen worden war. Er hatte keine Uniform mehr und bekam zu seinem Entsetzen be­kam eine "Goldfasanuniform" mit allerdings schönen Stiefeln und einer bombasti­schen Mütze verpasst. Er beneidete Schwager Leo Sallowsky, der zwar ebenfalls zum Volkssturm eingezogen war, aber die lächerliche Seite der Angelegenheit betonte. Leo Sallowsky nämlich war recht beleibt, kein Uniformstück passte und so exerzierte er im Fleischerkittel, das Gewehr, für das es ohnehin keine Munition gab, benutzte er als Krückstock, denn er hatte war gehbehindert seit dem vorigen Weltkrieg.


Volkssturm – Das letzte Aufgebot

Bundesarchiv, Bild 146-1979-025-20A / Falkowski / CC-BY-SA

Am 6.11.1944 feierte Rosemarie zum letzten Mal Geburtstag in Insterburg, den 21., sie war nun volljährig geworden, also eigentlich ein besonderer Tag, aber an große Feiern war schon längst nicht mehr zu denken.

Am 12.11.1944, dem Hochzeitstag von Karl und Anna, fuhr die resolute Anna Zan­der zu ihrem Mann, der immer noch beim Volkssturm war und konnte ihn gleich mit zurück nach Insterburg nehmen, die Stadtwerke hatten endlich seine Freistellung erreicht. Was er während seiner Volkssturmzeit erlebt und gesehen hatte, trug nicht eben zu seiner Beruhigung bei.

Nach Nemmersdorf nahm die Beunru­higung unter der Bevölkerung weiter zu.

Dabei hatten die Insterburger noch Glück, denn in Insterburg regierten besonnene und zugleich mutige Männer um den Bürgermeister Dr. Gert Wander, die gegen jedes Verbot und einen tobenden Gauleiter Erich Koch, der die Todesstrafe für alle Beteiligten androhte, die Stadt rechtzeitig und planmäßig räumen ließen. Noch im November fuhren Lautsprecherwagen durch die Stadt, die verkündeten, dass Frauen mit Kindern und alte Leute die Stadt verlassen sollten, Züge stünden am Bahnhof bereit. Helga und Anna Zander verließen Insterburg darauf noch im November 1944. Sie fuhren nach Köslin, zu Klara Richter, der Schwester von Anna Zander.

Karl Zan­der ging mit dem ausgelagerten Teil der Stadtwerke zunächst nach Heiligenbeil und später zusammen mit Bürgermeister Dr. Gert Wander über Köslin und Berlin nach Schwarzen­berg in Sachsen, der zugewiesenen Auffanggemeinde.

Die Familie war auseinandergerissen, Rosemarie musste allein in Insterburg bleiben.

Es wurde durch die allgemeinen Auflösungserscheinungen zunehmend gefähr­lich in der Stadt. Einzelne Soldaten, aber auch ganze Einheiten wurden hin und her geschoben und neu gruppiert, viele blie­ben nur kurz, Insterburg war Durchgangsstation. Die Disziplin ließ nach, es kam so­gar zu Ver­gewaltigungen. Auch Rosemarie wurde eines Abends von einem deutschen Solda­ten angegriffen, konnte sich aber wehren, riss dem "Du willst Dich wohl für die Russen aufsparen!" grölenden Soldaten das Ohrläppchen ein und erreichte die rettende Haustür. Ihre leicht behinderte Kollegin war von einem Soldaten fürch­terlich zugerichtet worden.

Die Bankarbeiten korrekt zu erledigen, wurde immer schwieriger. Etwa am zehnten Dezember erfuhr Rosemarie, dass ihre Bank zum 18. nach Königsberg verlegt werden würden und sie mitgehen müsste.

Die Hauptstelle der Bank in der Landhofmeisterstraße war schon im Sommer 1944 durch die Luftangriffe vernichtet worden, nur der Tresor stand noch, daher wurde in einer Privatvilla in der Hufenallee gearbeitet. Man stellte ein paar Tische zusammen, stapelte die Akten an den Wänden auf und arbeitete so gut es ging mit dem mitgebrachten eigenen Material, geschafft wurde nicht mehr viel.


Königsberg nach dem 2. Luftangriff 1944

Foto: Sendker, gemeinfrei, CC-PD-Mark, PD Old

Über Weihnachten 1944 beka­men sowohl Rosemarie als auch ihr Vater noch einmal Urlaub, die Familie konnte sich in Köslin zu den Feiertagen treffen. Rosemarie fuhr mit dem Zug über Heiligenbeil, wo der Vater zustieg. Der Zug war total überfüllt und sie konnte ihm nur mühsam einen Platz freihalten, sie saßen halb aufeinander. Auch Leo Salowsky, der noch in Insterburg war, konnte kommen, er hatte denselben Zug genommen, man traf sich in Köslin auf dem Bahnhof und fuhr nach den Weihnachtstagen zurück nach Ostpreußen, als ob das alles ganz normal wäre. Bis zwei Wochen vor dem Untergang der ganzen Provinz Ostpreußen herrschte dort im Ostern des Deutschen Reichs eine Mischung von zur Schau gestellter krampfhafter Normalität und Endzeitstimmung mit dem Tanz auf dem Vulkan.

Und so lebte man seinen Alltag so gut wie möglich weiter, als ob das alles ganz normal wäre, an den Geschützdonner war man längst gewöhnt. Man lachte, man stöhnte, arbeitete, feierte, ging ins Kino, existierte in einer Götterdämmerungsatmosphäre der Vorapokalyse… Und viele Ostpreußen bereiteten sich vor, manche ganz bewusst und alle Anzeichen versteckend, andere eher unbewusst und andere Gründe vorschiebend.

Rosemarie hatte noch in Insterburg Vorbereitungen getroffen. Sie hatte eine große, feste Kapuze für ihren Mantel genäht, unter der auch die Pelzmütze Platz fand. Mit Möbelgurten hatte sie aus einer Tasche einen Rucksack gebastelt. An ihren Muff hatte sie ebenfalls feste Kordeln genäht, um ihn um den Hals gesichert tragen zu können und eine Tasche eingepasst, in der die Dokumente untergebracht werden konnten und Lebensmittel vor Frostschäden bewahrt werden konnten. Die festen Winterstiefel wurden überholt und standen stets gut gefettet bereit.

Vom 1. Januar 1945 bis zur Kapitulation führte Rosemarie Jäger das folgende stichwortartige Tagebuch. Ihre Originaltexte sind mit Erläuterungen und Anmerkungen zum Kriegsverlauf in kursiver Schrift ergänzt, die ihre Geschichte in den historischen Kontext stellen und dem besseren Verständnis dienen.

Niemand wollte uns haben.

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