Читать книгу Der Strafplanet - Brigitte Kainz - Страница 5
EIN GUTES HERZ
ОглавлениеShara schlug den gewohnten Arbeitsweg ein. An der Ecke des zweiten Blocks tauschte sie noch einmal liebevolle Bilder mit Grü aus. Sharas Fähigkeiten waren nicht so gut ausgeprägt, und je weiter sie sich entfernte, umso schwächer wurde ihre Verbindung zueinander.
Wehmütig, still und farblos wurde es in ihrer Seele ohne die Nähe des Elf. Wie immer winkte sie dem asiatischen Obsthändler freundlich zu und trank Kaffee an der Ecke bei ihrer Kioskhändlerin. Hier erfuhr man immer den neuesten Tratsch.
Seit Jahrzehnten war der Konsum von Zeitschriften zurückgegangen. Die Papierform war schon lange verpönt, aber auch der digitale Kauf hatte nachgelassen. Man wurde ja automatisch über Mindpad informiert und für all die Vermutungen und Fantasiegeschichten hatte ohnehin keiner mehr Zeit.
So haben die Kioskhändler aus der Not eine neue Geschäftsidee geboren. Die schauspielerisch Talentierten unter ihnen machten aus den Geschehnissen des täglichen Lebens kleine Geschichten und präsentierten diese den Passanten. Die Passanten wiederum dankten dies mit einigen Münzen, die sie ihnen zuwarfen, oder kauften ein Getränk am Kiosk.
Die Kioskhändlerin in Sharas Viertel war sehr talentiert und normalerweise erfreute sich Shara täglich daran, wie ausgeschmückt und fantasievoll sie jede Art von Tratsch wiedergeben konnte. Heute jedoch hatte sich eine düstere Stimmung um den Kiosk breit gemacht. Es ging um Politik. Um wichtige Entscheidungen. Und darum, diese Entscheidungen einem leichtgläubigen Volk schmackhaft zu machen.
„Unser Präsident wird das auf alle Fälle durchziehen. Es kann ja auch nicht mehr so weitergehen. Warum sollten wir braven ehrlichen Bürger die Kosten für ein Strafsystem auf uns nehmen? Haben wir uns jemals etwas zuschulden kommen lassen?! Diese bösen Verbrecher kosten zu viel und sie essen uns zu viel Nahrung weg. Verhungern lassen können wir sie nicht, das wäre nicht menschlich. Viele sind ja für die Todesstrafe, aber das ist auch keine billige Lösung!
Nein, der Präsident hat absolut recht mit seiner Entscheidung. Diesen alten Planeten am anderen Ende des Universums braucht ohnehin keiner. Da schicken wir sie alle hin. Und jeder, der hier bleibt, wird sich gut überlegen, ob er in Zukunft nach unseren Regeln leben will, oder ob er als Straftäter verbannt wird.
Das wird die Kriminalität auf unserem Planeten endgültig in die Schranken weisen. Dann können wir frei und ohne Angst leben, ist das nicht schön?!“
„Ihr leichtgläubigen Lämmer!“ Eine kräftige Stimme erschallte ganz in Sharas Nähe. „Und wer sind die nächsten, die dem System unbequem werden?! Die Kranken, die Alten, die Behinderten? Die Armen, die Künstler, die Querdenker?! Sie alle kosten uns ebenfalls ein Vermögen. Werden wir sie auch auf einen anderen Planeten verdammen?“
Erschrocken fuhr Shara herum und suchte nach dem mutigen Idioten, der es wagte solch einen Satz in die Menge zu rufen. Jetzt bitte bloß keinen Tumult, keine Polizei! Ihr Herz schlug bis zum Hals.
Als die Menge reagierte und im allgemeinen Trubel alle anfingen zu streiten, um ihre Meinung kundzutun, wurde sie am Arm gepackt und sanft aber sehr bestimmt an den Rand des Mobs geführt. Dort angekommen, konnte sie sich umdrehen und sehen, wer sie in so große Gefahr gebracht hatte.
Auf den ersten Blick sah er zerlumpt und schäbig aus, die zu langen Strähnen seines dunklen Haares hingen ihm ins Gesicht. Er hatte das Outfit eines Penners. Einer von denen, die sich mit Alkohol dem Zugriff des Systems entzogen. Aber etwas an ihm war doch anders. Seine Augen strahlten eine Klarheit und Tiefe aus, die Shara den Atem verschlug. Und das Gesicht selbst, sowie der durchtrainierte Körper passten nicht zum restlichen Erscheinungsbild. Er hatte edle Züge, war ganz offensichtlich hoch intelligent und gebildet. Zudem roch er wider Erwarten nicht vergammelt, sondern durchaus gepflegt und frisch geduscht.
Trotzdem stieg in Shara eine so unbändige Wut auf, wie sie sie an sich nicht kannte. Die Ängste und Sorgen der letzten Wochen kamen hoch und verliehen ihr eine Kraft, mit der er offensichtlich nicht gerechnet hatte.
Als sie begann vor blinder Wut auf ihn einzuschlagen und ihn zu beschimpfen, brauchte der völlig verblüffte Kerl einige Augenblicke, bis er sich wehren konnte. Schließlich gelang es ihm doch, sie festzuhalten und sie langsam mit seinen Gedanken zu beruhigen.
Ein neuer Schreck fuhr Shara tief in die Knochen, denn außer mit Grü hatte sie noch niemals auf diese Weise mit jemandem kommuniziert. Und dann ausgerechnet ein dahergelaufener Vagabund! „Was! Was willst du von mir!“, schrie Shara in Gedanken mit jeder Faser ihres Körpers.
Der Fremde drückte seinen zusammengerollten Schal auf Sharas Mindpad, um seine Stimme für das Mikrofon zu dämpfen und flüsterte: „Bitte hör mir zu. Wir müssen reden. Es ist unglaublich wichtig, um dem Chaos zu entgehen, das hier in wenigen Tagen ausbrechen wird. Bitte. Du findest mich am Brunnen des Blumenplatzes. Komm einfach hin, sobald du kannst.“ Beinahe zärtlich flehend sah er sie mit seinen blauen Augen an.
„Und jetzt geh! Ich wünsche dir viel Glück für diesen wichtigen Tag.“
In Gedanken fügte er ein freundliches „Sharalieb Sharastark“ hinzu, schob Shara, ohne dass sie es bemerkte ein kleines gefaltetes Blatt in die Tasche und verschwand so schnell in der Menge, wie er aufgetaucht war.
Shara blickte sich ängstlich um. Waren sie beobachtet worden? Aber erleichtert bemerkte sie, dass so viele Menschen auf diesem Platz sich stritten und anschrien, dass sie niemand beachtet hatte.
Die Kioskhändlerin bemühte sich, die Situation in Griff zu bekommen. Immerhin hing ihre Platzzulassung davon ab, dass hier alles geordnet und ruhig verlief. So konnte sie endlich die Menge laut rufend beruhigen und von neuem für ihre Darstellung der Geschehnisse begeistern.
Als ein zustimmendes Jubeln die umstehende Menge ergriff, zog sich Shara verstört zurück. Sie hatte schon Erfahrung damit gemacht, welche Flut an Bildern und Gedanken auf sie einstürmte, wenn sie die Tabletten für ein oder zwei Tage absetzte. Aber heute war das erste mal, dass sie dies auch am dritten Tag gewagt hatte.
Und ihr wurde klar, wie sehr sie sich zusammennehmen musste, um noch unauffällig zu funktionieren. Auch hatte sie schon viel zu viel Zeit vertrödelt. Also setzte sie ihren Weg fort und eilte zielstrebig zu dem Bürogebäude, in dem sie schon so lange tätig war.
Was würde dieser Tag noch mit sich bringen? „Egal. Jetzt nur nicht über mögliche Konsequenzen nachdenken, denn es gibt keine Alternative, mir bleibt nur diese eine Chance.“, dachte Shara.
Sie hatte nur noch ein Ziel vor Augen. Diesen Tag exakt wie geplant hinter sich zu bringen. Abends würde sie mehr wissen und könnte mit Grü gemeinsam eine Entscheidung treffen.
Trotz der Ereignisse war Shara wie immer pünktlich im Office. Routinemäßig verrichtete sie einige Arbeiten, während sie innerlich immer unruhiger wurde, je näher die verordnete Mittagspause kam.
Absichtlich tat sie so, als wäre sie zutiefst in ihre Arbeit versunken, als Elli den Kopf zur Türe herein steckte und mit strengem aber lächelndem Blick darauf hinwies, dass Shara um zwei Minuten überzogen hatte.
Oh, du verlässliche und berechenbare, liebe Elli. Shara atmete auf. Elli war der Inbegriff von Disziplin und Anpassungsfähigkeit. Wenn sie wüsste, dass sie Teil eines wohlüberlegten Plans war, was würde sie dann tun? Sie würde sich tausendmal bei Shara entschuldigen, aber sie würde ihre Pflicht erfüllen und sofort den zuständigen Aufsichtsdienst benachrichtigen.
Aber das war auch gut so. Da Elli so sehr in dieser heilen Welt lebte, in der alles für sie vollautomatisch entschieden und geregelt wurde, wäre sie auch nie auf die Idee gekommen, dass Sharas überzogene Minuten beabsichtigt waren. „Um dahinter zu kommen müsste man ja eigenständig denken. Man müsste zuallererst den Gedanken zulassen, dass Systeme manipulierbar sind und das ist in Ellis Geist nicht gespeichert.“, dachte Shara, während sie nun so tat, als sei sie völlig überrascht.
„Was, schon so spät“, hauchte sie. Sie ließ alles stehen und liegen, schnappte sich ihr Outdoorjaket und drängte Elli zum Ausgang. „Jetzt aber schnell, bevor wir Ärger bekommen.“
Als sie den Aufzug im Erdgeschoß verließen, atmete Shara erneut erleichtert auf. Elli hatte nicht bemerkt, dass Shara ihr Mindpad am Tisch liegen gelassen hatte und nur mit dem Outdoorjaket unterwegs war.
Elli wollte den gewohnten Weg zu ihrem gemeinsamen Lieblingsrestaurant einschlagen, doch Shara blieb zerknirscht stehen.
„Was ist denn?“ fragte Elli
„Oh Mensch Elli. Das tut mir jetzt leid! Ich habe ja völlig vergessen, dir Bescheid zu geben! Ich habe doch neulich auf dem Büroseminar diesen wundervollen gutaussehenden Mann kennengelernt. Erinnerst du dich?“
„Ja, natürlich. Und? Hat er sich tatsächlich bei dir gemeldet?“
Shara dachte im Stillen an die schönsten Momente mit ihrem geliebten Marc. So gelang es ihr, trotz aller Anspannung, einen wirklich verliebten Gesichtsausdruck zustande zu bringen.
„Okay, ich verstehe. Nun will er mit dir zum Essen gehen?“
„Viel besser“, kicherte Shara mit übertriebener Miene, „er will mit mir in den Park, er sagt er finde mich unwiderstehlich und würde gerne ein wenig Zeit mit mir allein verbringen. Oh Elli! Ist das nicht wunderbar? Es fühlt sich so schön an!“
Elli war nicht einmal beleidigt. Ganz im Gegenteil. Sie freute sich für Shara, denn es war wirklich an der Zeit, dass sie diesen Taugenichts Marc endlich vergessen konnte. Also wünschte sie der Freundin lächelnd viel Spaß. „Dann sehen wir uns in zwei Stunden“, trällerte Shara, während sie sich auf den Weg Richtung Park machte.
Elli blickte Shara nach. Gerne wäre sie so schlank und hübsch wie Shara gewesen. Ihr langes rotbraunes Haar schimmerte in der Mittagssonne und irgendwie schien Shara in den letzten Tagen ein geheimnisvoller Glanz zu umgeben. Sie strahlte etwas aus, das Elli nicht erklären konnte.
„Ach die Liebe“, seufzte Elli, als sie den Weg zum Restaurant einschlug. Nun war sie beruhigt. Das erklärte auch, warum Shara die letzten Tage so zerstreut war und warum sie heute nicht das Bürokostüm trug. Sie wollte den neuen Mann in ihrem Leben wohl mit den engen Jeans beeindrucken.