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Der Krankheitsverlauf
ОглавлениеJeder Krankheitsverlauf ist anders.
Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz, diese Phrase im Laufe der Zeit von Rudis Krankheit gehört habe. Und ja, natürlich, es stimmt. Trotzdem war es jedes Mal ein Schlag ins Gesicht, das wieder zu hören.
Nach der Diagnose und der kurzen Frist, die es gebraucht hat, die Nachricht einmal sickern zu lassen, wollte ich wissen, womit ich – ungefähr – zu rechnen hatte. Wie die bevorstehenden Krankheitsstadien aussehen würden. Welche Verläufe möglich sein würden. Auf welche Zeithorizonte ich mich einstellen konnte.
In dieser Situation, in der sich mein Leben überschlug, hatte ich das Bedürfnis, so schnell wie möglich wieder eine Art Orientierung zu finden. Wo ist oben, wo ist unten? Wie soll ich mich verhalten? Wie kann ich wieder so etwas wie Halt finden? Wie wird sich das Ganze auf meinen Beruf auswirken, der eben nicht unbedingt von 9 bis 17 Uhr in einer Kanzlei stattfindet und mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks vorhersehbar ist.
Fehlanzeige!
Soweit ich als Angehörige überhaupt ernst genommen wurde, sofern meine Fragen überhaupt das Ohr der Adressaten erreichten (nicht selten waren das psychologisch erschreckend inkompetente Ärzte), bekam ich jedes Mal diesen Satz zu hören: Jeder Krankheitsverlauf ist anders.
Jetzt, rückblickend, lässt sich natürlich sagen, was geschehen ist, wie sich die Krankheit entwickelt hat, welche Phasen es gegeben hat. Um einen Überblick zu geben, wie so ein Verlauf aussehen kann, möchte ich hier diesen Prozess zusammenfassen.
Die definitive Diagnose kam am 31. August 2017. Darauf folgten verschiedene Arzttermine, an denen ich teilnahm. Zum Teil war das für mich durchaus aufschlussreich. Der niedergelassene Urologe und die in seiner Praxis mitarbeitende Frau waren empathisch, nahmen sich Zeit, reagierten auch positiv auf meine Bitte, keine lateinischen Fachausdrücke zu verwenden.
Wir beide konnten unsere Fragen stellen. Es war eine Atmosphäre des Mitgefühls und der ehrlichen Betroffenheit angesichts der für uns beide so ausweglosen Situation. Medizinisch wurden zunächst keine besonders komplexen Maßnahmen getroffen.
Rudi bekam Schmerzmittel und Hormonpräparate, die das Wachstum des Tumors eindämmen sollten – beides in Tablettenform. Dann traten wir, wie geplant, im September unseren Urlaub in Kroatien an. Die Stimmung war durchwachsen. Manchmal gelang es uns, den Moment zu genießen. Das Meer, die Sonne, das gute Essen – in der Hoffnung, es würde sich eine Stabilisierung des Tumorgeschehens erreichen lassen, einige Jahre in guter Lebensqualität. Wobei dieser Ausdruck schon auch etwas Zynisches hatte. Denn – das hatten mir nicht die Ärzte gesagt, das hatte ich selber recherchiert – Sexualität im herkömmlichen Sinne würde es nicht mehr geben. Für ihn (der andere Sorgen hatte) nicht, und für mich an seiner Seite auch nicht. Ich prägte damals für mich eine Formulierung, die ich immer noch als stimmig empfinde: Ich bin ein menschlicher Kollateralschaden.
Also … gute Lebensqualität (mit entscheidenden Abstrichen) erschien im Bereich des Möglichen. Und darauf hofften wir in diesem Urlaub noch. In den guten Momenten. Andererseits war da die große Angst vor dem, was jetzt auf ihn, auf uns, auf mich zukommen würde. Und das unausweichlich, auch wenn es vielleicht eine Art Galgenfrist gab. So waren diese beiden Wochen am Meer von einem Auf und Ab geprägt. Und genau in diesem Stil, zwischen Angst und Hoffnung schwankend, sollte mein Leben noch lange weitergehen.
Nach der Heimkehr vom Urlaub stand ein kleinerer chirurgischer Eingriff an. Der Tumor als solcher war inoperabel, es war eine kleine OP, gewissermaßen ein Nebenschauplatz: Man wollte ermöglichen, dass Rudi sich wieder freier bewegen konnte, nicht dauernd darauf achten musste, ob ja in unmittelbarer Umgebung eine Toilette war.
Der Urologe, der den Eingriff vornehmen sollte und zu dem ich Rudi zum Vorgespräch begleitete, erwies sich nicht eben als sensibel. Das begann damit, dass er mir keine Sitzgelegenheit anbot, meistens während des Sprechens in seinen Computer schaute und nicht in das Gesicht seines Patienten. Ich denke heute noch mit sehr unangenehmen Gefühlen an diese Situation zurück.
Den Eingriff konnte er nicht zu Ende bringen, er musste ihn abbrechen, sehr zu Rudis Enttäuschung, der sich eine Besserung davon erhofft hatte.
Diese trat dann trotzdem ein. Die Hormontherapie (nach dem Urlaub kamen Injektionen dazu) schlug gut an, die Situation entspannte sich.
Wir lebten also weiter, wie bisher – zumindest nach außen. Er ging weiter arbeiten. Ich versuchte, mich auf das zu konzentrieren, was mir als halbwegs sicher erschien: meine Arbeit, meine sozialen Beziehungen.
In unserem gemeinsamen Umfeld, zum Beispiel im Chor, sagten wir weiterhin nicht Bescheid. Wir wollten als ganz normale Menschen behandelt werden, ohne Mitleid, ohne beobachtende Blicke, ob einer von uns schlecht aussah.
Freunde und Bekannte, die mit ihm nichts zu tun hatten, weihte ich ein. So konnte ich ab und zu mein Herz ausschütten. Allerdings: Wenn ich jemanden traf, sprachen wir auch viel über andere Themen – die Dinge halt, die vor der Diagnose wichtig gewesen waren. Die jeweilige Arbeit, gemeinsame Interessen und Pläne, auch Scherze. Diese Gespräche taten mir gut, sie brachten Normalität in mein Leben.
An dieser Stelle die ausdrückliche Empfehlung: nicht aus den Augen verlieren, wie vielfältig das Leben auch in einer derartigen Situation ist. Es gibt die Krankheit. Ja. Sie nimmt manchmal mehr Raum ein, manchmal weniger. Aber es ist absolut kontraproduktiv, sie zum einzigen Thema zu machen. Nicht in Gesprächen mit Freunden und Bekannten und auch nicht im eigenen Erleben. Je mehr man sich auf die schwarze Wolke am Lebenshimmel konzentriert, desto größer wird sie und desto weitere Bereiche verdunkelt sie. Je mehr Raum ihr gegeben wird, desto mehr gewinnt sie an Macht.
Ende Oktober brach ich mir dann den Knöchel. Es klingt vielleicht komisch, aber wer sich je mit einem Spaltgips und zwei Krücken durch das Leben bewegt hat, weiß wohl, dass es kaum etwas gibt, das einen mehr ins Hier und Jetzt bringt. Wie komme ich über diese Stufe, über die Straße? Wie schaffe ich es, ohne freie Hände eine Tasse Tee von der Küche ins Wohnzimmer zu transportieren?
In gewisser Weise tat es gut, mit Herausforderungen wie diesen konfrontiert zu sein. Es waren kleine Probleme, die plötzlich im Vordergrund standen – und die ich bewältigen konnte. Jedes Mal dann ein kleines Erfolgserlebnis: der erste Teller Suppe, den ich zubereitet hatte und so weiter.
Dann neue Termine mit Rudi im Krankenhaus. Stundenlange Wartezeiten in der onkologischen Ambulanz im Souterrain. Alte Menschen, junge. Manche ausgemergelt, kahl von der Chemo, andere sahen fit und gesund aus. Als wir endlich an der Reihe waren, eröffnete uns eine Turnusärztin (die sich auch als solche vorstellte), dass Rudi zusätzlich zu seinem Prostatakarzinom eine (gut behandelbare) Form von Leukämie habe. Die junge Frau machte einen überforderten Eindruck und klärte uns ausführlich über die Leukämie-Therapie auf. Die, wie sich in der Folge herausstellen sollte, nicht notwendig war. Das verdächtige Blutbild hatte andere Gründe. Wir bekamen schlechte Nachrichten, dann gab es manchmal Entwarnung, manchmal nicht. Wir waren verunsichert, eingeschüchtert, auch von dem, was das Leben uns da zumutete. Darüber offen zu sprechen, gelang uns nur selten. Wir waren ein Paar und doch beide sehr allein.
Äußerst positiv war der Besuch bei einem weiteren Onkologen, der allerdings nicht im Krankenhaus tätig war, sondern ehrenamtlich bei der Krebshilfe. Er saß uns in einem freundlichen Zimmer gegenüber, sprach gut verständlich, humorvoll und war geduldig, auch wenn wir zweimal dieselbe Frage stellten.
Und endlich einmal jemand, der sich nicht um die Frage nach den Zukunftsperspektiven drückt. Er sagte uns klipp und klar: Entscheidend sei, ob und wo es (abgesehen von den Knochen) Metastasen gebe. Die Untersuchungen waren noch nicht zur Gänze durchgeführt, CT, MRT … all das brauchte Zeit – und wurde offenbar nicht als so dringend eingeschätzt: Einerseits, weil eine Heilung ja ausgeschlossen war, und andererseits war die Behandlung des Primärtumors bereits in Angriff genommen worden. Die Behandlung, in dem Stadium arm an Nebenwirkungen, zeigte durchaus ihre Erfolge. Der PSA-Wert sank deutlich und nachhaltig.
Den Ausführungen des Onkologen zufolge gab es die realistische Chance, eine nicht unerhebliche Zeit lang ein halbwegs normales Leben zu führen. Erstmals seit der Diagnose hatte ich das Gefühl, mich zumindest halbwegs entspannen zu können. Im Gespräch mit Menschen aus meinem Umfeld habe ich es dann so formuliert: Ich habe das Gefühl, ich habe mein Leben zurückbekommen.
In den darauf folgenden Wochen trat die Krankheit tatsächlich in den Hintergrund. In der Arbeit und privat konnte ich mich den Vorbereitungen auf Weihnachten widmen, es war eine Phase der Erholung.
Nach Weihnachten dann die Hiobsbotschaft: Der Tumor hatte sehr ausgiebig gestreut.
Die Metastasen in der Wirbelsäule waren auch der Grund für den Leukämie-Verdacht gewesen: Das Rückenmark war angegriffen. Und angegriffenes Rückenmark kann kein „normales“ Blut produzieren.
Damit war klar: Das von dem freundlichen Onkologen gezeichnete Positivszenario würde es so wohl nicht geben.
In dieser Situation war ich sehr froh, dass ich gleich nach der Diagnose psychologische Begleitung in der Krebshilfe in Anspruch genommen hatte. Das erwies sich als wichtige Stütze; in Krisensituationen war es möglich, öfter hinzukommen, auch zwischen den regulär 14-tägig stattfindenden Gesprächen.
Vieles musste ich aber auch mit mir selber ausmachen. Das ging ein Stück weit. Meine Erfahrung ist, dass sich da durchaus einiges machen lässt (es ist ja nicht immer Hilfe da), aber dass man sich damit auf keinen Fall überfordern soll. Es gilt, die richtige Balance zu finden. Und das ist durchaus möglich. Wie so vieles andere ist auch das ein Lernprozess.
Als Paar haben wir weiterhin nicht allzu viel über die Krankheit gesprochen. Und eigentlich haben wir weitergemacht wie bis dato. Im Guten wie im Schlechten. Schwierige Gefühle wie Wut, Angst, Trauer, wechselseitige Vorwürfe etc. konnten wir nicht ansprechen. Vieles blieb ungesagt. Aber es gab auch Schönes, das wir miteinander genießen konnten: eine Reise nach Barcelona etwa (nachdem sich die Lage im Februar etwas stabilisiert hatte), gutes Essen, Besuche auf dem Markt oder die gemeinsame Freude am Singen.
Er ging immer noch arbeiten. Als wir uns endlich entschlossen, Gespräche mit dem Caritas-Hospizteam zu führen, begründete er das Festhalten an seiner Berufstätigkeit mit ganz einfachen Worten so: „Es ist ein Stück Normalität, das ich nicht missen möchte.“
Klar war, dass ihm seine Arbeit weiterhin viel Freude gemacht hat, die Wertschätzung der Kollegen, die kleinen Scherze, gemeinsame Erfolgserlebnisse und so weiter.
Ein paar Monate in einem – wenn auch sehr prekären – Gleichgewicht waren uns noch vergönnt. Zu den Kartagen 2018 kam allerdings eine große Krise: schier unbewältigbare Schmerzen. Es war fast unmöglich, ihn zu überzeugen, dass es jetzt Zeit für Hilfe war. Dann: Rettung anrufen, Diskussionen führen, bis das Rettungspersonal endlich sein Kommen zusagte. Ich fühlte mich so hilflos, weil ich ihm nicht helfen konnte, und ausgeliefert, weil plötzlich die Abhängigkeit vom guten Willen anderer so deutlich wurde.
Damals war es noch möglich, die Symptome mit einer Infusion und einer Erhöhung der Tablettendosis in den Griff zu bekommen. Am Ostermontag gingen wir gemeinsam ins Kino, dann miteinander essen. Trotzdem: Es war so etwas wie ein Auftakt. Die Schmerzen sollten in der Folge immer wieder zum vordringlichsten Problem werden. Auch, weil es unter den Ärzten keine Einigkeit gab, wie weit man in diesem Krankheitsstadium mit Schmerzmitteln gehen konnte. Als die behandelnde Onkologin wechselte, entspannte sich die Situation.
Schließlich war es ihm nicht mehr möglich, in die Arbeit zu gehen. Ab Juni war er im Krankenstand. Musste immer häufiger ins Spital, um Infusionen zu bekommen. Auch Untersuchungen standen immer wieder an. Meine Gefühlslage wechselte zwischen verzweifelt – ängstlich – wütend und dann wieder recht gleichmütig. Meiner Erfahrung nach gibt es auch in schweren Zeiten so etwas wie eine Normalität. Sie zeigt sich zum Beispiel in Diskussionen, was man am Wochenende kocht, was man XY zum Geburtstag schenkt, welchen Film man am Abend sehen will. Oder doch lieber eine Dokumentation?
Immer noch spielten wir übrigens Tennis miteinander. Wenn er auch nicht mehr so viel laufen konnte, eine Stunde, vergleichsweise gemütlich – das ging. Das war wichtig. Uns beiden. Das letzte Mal, dass wir miteinander spielten, war am 16. Juli 2018.
Bald danach ein neuerlicher Tiefschlag: Eine Schwellung im Bauchbereich musste untersucht werden – und erwies sich nach einer Biopsie als Leberzellenkarzinom. Mir sagten die Ärzte wenig dazu. Es wirkte auf mich, als sei es ein neuer Tumor, unabhängig von der Primärgeschwulst, keine Metastase. Es war ein ausgesprochen unheimliches Gefühl, irgendwann ging es mir durch den Kopf: Dieser Organismus befindet sich im Selbstzerstörungsmodus.
Behandelt wurde dieser neu entdeckte Tumor mit Tabletten. Offenbar wurde er als zweitrangiges Problem betrachtet. Was er wohl auch war.
Unmittelbar vor seiner Entdeckung hatte ich einen Urlaub für September gebucht. Lange, lange hatten wir gehofft, zu zweit verreisen zu können. Immer wieder hatte es ja gute Tage gegeben. Und ein Hotel am Strand, viel liegen und entspannen – wir hätten es uns beide sehr gewünscht. Aber je mehr Zeit verging, desto zögerlicher wurde er. Schließlich war es soweit: Er konnte sich eine Reise nicht vorstellen. Gleichzeitig sagte er mir aber immer wieder, ich solle doch fahren, ich solle Urlaub machen, ich solle mich erholen.
Und genau das habe ich auch gemacht. Nach ausgiebiger Rücksprache mit allen: mit seiner Ärztin und unserer Begleiterin des Hospizteams, mit der Krebshilfe, mit ihm, mit meiner Tochter, mit der Ärztin, bei der ich wegen meiner Schlafstörungen in Behandlung war. Alle ermutigten mich. Und so flog ich tatsächlich für eine Woche nach Valencia. Ans Meer. In dem Wissen, dass ich jederzeit zurückfliegen könnte und das auch selbstverständlich machen würde, sollte es sich so ergeben. Es war ein Urlaub auf Abruf, den ich angetreten habe. Und als ich mein Hotelzimmer am Meer bezog, spürte ich: Ich hatte ihn bitter, bitter nötig.
Am Abend des ersten Tages dann der Anruf: „Du, ich habe ein Bett.“ Ich versuchte noch trotz meines seltsamen Gefühls zu scherzen und sagte: „Ja, ich weiß – im Schlafzimmer.“ Seine Antwort: „Nein, ich bin im Spital.“ Er hatte Schmerzen bekommen. Unter den gegebenen Umständen war ich zunächst erleichtert. Ich wusste ihn in guten Händen, nicht allein. Er ermutigte mich, den Urlaub zu genießen. Worum ich mich auch redlich bemühte.
Am dritten Tag meines Aufenthaltes konnte ich ihn telefonisch lange nicht erreichen. Als er dann endlich abhob, klang er sehr schwach, die Stimme schmerzerfüllt. Er hatte eine Bestrahlung gehabt.
„Nein, bleib in Spanien, komm nicht zurück – du kannst nichts für mich tun, auch wenn du da bist …“
Ich rief meine Begleiterin vom Caritas-Hospizteam an. Sie sagte dasselbe. Und so verbrachte ich einen sehr unruhigen Tag. Am Abend wieder ein Telefonat mit ihm. Er klang noch schlechter. Dann sprach ich mit einer Krankenpflegerin. „Ich kann Ihnen nichts sagen“, bedauerte sie, „nur dass er heute eine extrem anstrengende Behandlung hatte. Wenn es Ihnen recht ist, bitte ich die diensthabende Ärztin, Sie nachher zurückzurufen.“
Es war mir recht.
Der Rückruf kam wenig später. Er habe eine anstrengende Behandlung gehabt. Da sei es nicht ungewöhnlich, wenn Patienten so reagierten. Aus ihrer Sicht sei keine Gefahr im Verzug. Freilich, in die Zukunft könne man nie sehen …
Sie war sachlich und trotzdem nett. Ich suchte Flugverbindungen für die kommenden Tage heraus. Es beruhigte mich zu sehen, dass es viele Möglichkeiten gab. Irgendwann schaffte ich es einzuschlafen.
Am nächsten Tag dann die Entwarnung: Es ging ihm besser, er klang stärker und zuversichtlich. Wieder ein Telefonat mit dem Hospiz-Team. Ich blieb in Valencia. Verbrachte noch einige sehr schöne Tage am Meer. Nach der Ankunft in Schwechat führte mich mein erster Weg zu ihm ins Spital, den Reisekoffer ließ ich inzwischen in einem Schließfach am Bahnhof.
Um es kurz zu machen: Er sollte nie wieder nach Hause kommen. Er blieb einige Wochen auf der Onkologie, kam dann auf die Remobilisierungsstation. Sein Gehvermögen war nach der Strahlenbehandlung stark eingeschränkt, die ohnehin durch die Metastasen schon geschädigten Knochen zusätzlich geschwächt. Er ging mit einem Rollator. Machte diszipliniert seine Übungen. Genoss es, ein modernes Einbettzimmer zu haben. Auf der Onkologie hatte es eine Viererbelegung gegeben, keine Privatsphäre, ständig der Blick auf Leiden und Schmerzen anderer. Oder auch auf das Gegenteil: Sie erholten sich, wurden entlassen – und selber konnte man nicht heimgehen.
Kurz vor Weihnachten war es dann so weit: Der Umzug in eine Einrichtung für betreutes Wohnen stand ins Haus. Sein Zustand war so weit stabil, aber klar war – für uns alle, ausnahmslos –, eine Entlassung nach Hause war nicht möglich. Die Wohnräume waren nicht behindertengerecht, ich war tagsüber außer Haus und brauchte in der Nacht meinen Schlaf. Und das wie einen Bissen Brot. Den Oktober hatte ich im Krankenstand verbracht, krankgeschrieben zur Burnout-Prävention. In der ersten Zeit war ich nur dagesessen, ohne etwas zu tun. Ich hatte Wäsche gewaschen, aus der Maschine geräumt – und dann keine Energie mehr gefunden, sie aufzuhängen. Mein eigener Gesundheitszustand war alles andere als gut: hoher Blutdruck, ständig fing ich Infektionen ein, Schlafstörungen usw.
Es war nicht ganz einfach, einen passenden Ort für ihn zu finden. Ich musste in dieser Zeit oft lange, organisatorische Telefonate führen, wurde zurückgerufen, in meiner Arbeit unterbrochen. Das war sehr belastend, denn vor Weihnachten ist in der Abteilung Religion das Arbeitsaufkommen sehr hoch, schließlich muss ja das Feiertagsprogramm gestaltet werden. Mitten im Vorbereiten einer Sendung wurde ich dann herausgerissen, nach allen möglichen Details gefragt, zu kurzfristigen Terminen „gebeten“, musste für meine eigenen Fragen oft mühsam Ansprechpartner suchen, wurde weiter-, herum- und wieder zurückverwiesen.
Wenn ich heute an diese Phase zurückdenke, dann würde ich sie unter dem Titel „Augen zu und durch“ zusammenfassen. Einfühlsam und umsichtig begleitet von Hospizteam und Krebshilfe, verständnisvoll unterstützt sowohl am Arbeitsplatz als auch im privaten Umfeld schaffte ich es irgendwie, mich aufrecht zu halten, von einem Tag auf den nächsten meinen Aufgaben nachzukommen.
Den Heiligen Abend verbrachte ich bei einer Chorfreundin, den Christtag in Rudis neuer Wohnung im Kolpinghaus. Er war so glücklich über den Balkon und die tolle Aussicht, die er hatte, hoch über Wien mit all den Lichtern …
Dann hatte ich wieder einen Infekt. Den Rest der Weihnachtsferien verbrachte ich krank im Bett.
Rudis Gesundheitszustand verschlechterte sich. Er bekam in der Tagesklinik Chemotherapien, die er zunehmend schlechter vertrug. Schließlich musste er vom betreuten Wohnen auf die Pflegestation wechseln. Gemeinsam mit der Hospizärztin erstellten wir eine Patientenverfügung, in der ganz stark auf eine Priorität hingewiesen wurde: die Linderung von Schmerzen und anderen Symptomen. Alles darin Festgehaltene wurde übrigens vom ganz großartig arbeitenden Team im Kolpinghaus sehr ernst genommen und zu 100 % respektiert und umgesetzt.
Rudis 65. Geburtstag konnten wir noch im Clubraum des Kolpinghauses feiern, mein Bruder hatte zahllose Brötchen gemacht, der ganze Chor war da mit Liedern, Geschenken, einer Torte. Es war ein Abschiedsfest (das war allen klar) mit sehr traurigen, aber auch durchaus heiteren Momenten. Die Kinder unserer Chorleiterin brachten Fröhlichkeit und Lebendigkeit in das Geschehen, Erinnerungen wurden ausgetauscht.
Er hatte sich so auf das Fest gefreut, es mit so viel Engagement mitgefeiert, mitgesungen. Ich hatte den Eindruck, als hätte er darauf seine letzten Kräfte verwendet.
Knapp zwei Wochen später starb er. An einem Freitag, ganz früh am Morgen. Davon werde ich später noch ausführlicher erzählen.
Für mich war es ein Abschied, der sich lange angekündigt hatte. Den ich gefürchtet hatte, gegen den ich gekämpft hatte, den ich mir ausgemalt hatte – in der Hoffnung, irgendwie damit zurechtzukommen.
Als er dann da war, dieser Abschied, konnte ich zum Glück ja dazu sagen. Eine große Gnade, die längst nicht allen gewährt wird.