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Wahrnehmung - nichts ist, wie es scheint
ОглавлениеStellen wir uns einmal vor, wir würden in Frankfurt in ein Flugzeug steigen, um eine Reise nach Neuseeland anzutreten. Nach einem Zwischenstopp in Bangkok, befinden wir uns einen Tag später im Zentrum von Auckland, vielleicht in einem Café. Wir blicken sinnierend in unsere Tasse, lehnen uns ganz entspannt in den Sessel zurück und denken einmal darüber nach, wo wir uns befinden und was sich gegenüber zu Hause verändert hat.
Mal sehen, also, wir haben unsere Uhren um 10 Stunden vorstellen müssen, da wir auf unserer Reise der Sonne entgegen geflogen sind und wir freuen uns darauf, Neuseeland zu entdecken, aber ansonsten hat sich nach unserem Empfinden nichts geändert, absolut nichts. Das ist für uns vollkommen normal, etwas anderes haben wir auch nicht erwartet. Aber was ist denn aus physikalischer Sicht tatsächlich passiert? Betrachten wir uns doch einfach einmal von oben, von weit oben, also aus dem Weltraum.
Aus dieser Perspektive sehen wir, wie wir in Neuseeland mit den Füßen an der Erde kleben, mit dem Kopf nach unten. Für den Physiker ist das ganz normal. Er weiß, dass wir wie jede Form von Materie, und zum Glück auch unser Kaffee, den Gravitationskräften unterliegen und diese wirken nun mal an jedem Ort der Erde in Richtung Erdmittelpunkt. Deshalb ist für uns von der Gravitation her die Erdoberfläche immer unten, ganz gleich an welchem Ort auf der Erde wir uns auch befinden. Aber wieso bemerken wir nichts davon? Und auch nichts von der Drehung der Erde?
Planet Erde
Die Erde ist eine Kugel mit einem Umfang von rund 40.000 km. Diese Kugel dreht sich 1-mal am Tag um ihre eigene Achse. Wenn wir uns am Äquator befinden, zum Beispiel in Ecuador oder in Kenia, dann legen wir 40.000 km an diesem einen Tag zurück, 40.000 Kilometer in 24 Stunden, ohne dass wir uns selbst auch nur einen Millimeter bewegen. Unsere Bahngeschwindigkeit beträgt hier also rund 1.660 km/h.
In Köln beträgt der Umfang um die Erdachse nur noch 25.000 km. Dort sind wir also mit einer Bahngeschwindigkeit von rund 1.040 km/h unterwegs, ohne dass wir das Geringste davon bemerken. Wenn wir uns auf dem Nordpol oder dem Südpol befänden, dann würden wir uns ganz gemächlich nur 1-mal in 24 Stunden um unsere eigene Achse drehen. Darüber hinaus bewegen wir uns noch einmal pro Jahr mit unserem ganzen Planeten um die Sonne, was immerhin einer Geschwindigkeit von rund 108.000 km/h entspricht. Aber auch hiervon bemerken wir natürlich nichts, weil unser Gehirn unsere Wahrnehmung ständig korrigiert.
Alles, was wir wahrnehmen, also für uns als „wahr“ annehmen, ist eine Konstruktion unseres Gehirns. Wenn wir zum Beispiel an einem Bahnübergang stehen und einen vorbeifahrenden Zug anschauen, nehmen wir mit unseren Sinnesorganen physikalische Signale auf. Das vom Zug reflektierte Sonnenlicht trifft als elektromagnetische Strahlung auf Rezeptoren in unserer Netzhaut. Dort wird diese Strahlung in bioelektrische Energie umgewandelt, in Feuerungsraten von Neuronen.
Die so kodierten Informationen werden an die Sehareale im Gehirn weitergeleitet. Von dort aus werden dann wieder andere Hirnregionen in den Prozess mit einbezogen, wodurch Komponenten wie Vorerfahrung oder Aufmerksamkeit mit einfließen. Parallel hierzu werden andere Umweltsignale wie Luftdruckschwankungen oder mechanische Schwingungen in ähnlicher Weise prozessiert, bis aus dem komplexen Feuerwerk von Neuronen schließlich die individuelle Wahrnehmung des Zuges entsteht, der mit farbigen Wagen ratternd vorbeidonnert, so dass die Erde erzittert. Wie genau aus dem ganzen Neuronen-Feuerwerk die Wahrnehmung und die damit verbundenen Gefühle entstehen, ist ein bis heute ungelüftetes Geheimnis der Natur, das in der Philosophie auch als „Leib-Seele-Problem“ bezeichnet wird.
Wie dem auch sei, die Wahrnehmung ist ein sehr komplexer Prozess, in den alles im Leben Erlernte und jede jemals gemachte Erfahrung unbewusst mit einbezogen werden. Somit ist nicht davon auszugehen, dass 2 Menschen, die dasselbe sehen, auch dasselbe wahrnehmen. Jedes Gehirn erzeugt hierbei seine eigene Wahrheit. Allerdings kann man bei Menschen, die im gleichen Kulturkreis aufgewachsen und somit ähnlich geprägt sind, systematisch gleiche Fehlleistungen in der Wahrnehmung erkennen, zumindest, wenn das Gehirn vor außergewöhnliche Aufgaben gestellt wird.
So ist zum Beispiel das Lesen in unserem Kulturkreis hoch trainiert. Diese Vorerfahrung versucht das Gehirn in den Vordergrund zu stellen. Wenn wir die Farben der folgenden Wörter benennen wollen, bemerken wir erstaunt, wie schwer uns das fällt. Könnten wir allerdings noch nicht lesen, wäre es kinderleicht.
rot gelb grün blau schwarz grau orange
Gar nicht so einfach, oder? Dieses Phänomen, das in der Experimentalpsychologie als „Stroop-Effekt“ bekannt ist, tritt bei mentalen Verarbeitungskonflikten auf. Es zeigt, dass gut trainierte Vorgänge, wie in diesem Fall das Lesen, nahezu automatisch ablaufen, während ungewöhnliche Aufgaben, wie hier das Benennen der Farben, deutlich mehr Aufmerksamkeit erfordern. Entspricht die Farbe der Buchstaben nicht der Bedeutung des Wortes, so verlängert sich die Reaktionszeit und die Fehlerquote steigt.
Der gleiche Effekt tritt auf, wenn wir vor die Aufgabe gestellt werden, von 2 Zahlen, die uns jeweils paarweise im Sekundentakt auf einem Bildschirm präsentiert werden, zum Beispiel 3 und 5, die jeweils höhere zu benennen. Insbesondere bei einstelligen Zahlen stellt das überhaupt kein Problem für uns dar. Schwierig wird es aber sofort, wenn die Schriftgröße der Zahlen unterschiedlich ist. Wird hierbei die höhere Zahl nach dem Zufallsprinzip kleiner dargestellt als die niedrigere, steigen die Reaktionszeiten und Fehlerquoten sprunghaft an. Offensichtlich setzt unser Gehirn voraus, dass die Zahlen, wenn sie schon in unterschiedlichen Schriftgrößen dargestellt werden, zumindest so dargestellt sind, dass die 5 bitteschön in größerer Schrift zu erscheinen hat als die 3.
Wir haben an jedem Tag unseres Lebens vieles erlernt, wobei sich Strukturen und Programme in unseren Gehirnen entwickelt und fest verankert haben, die durch Signale aus der Umwelt automatisch abgerufen werden.
Das Gehirn produziert so seine eigene Wahrheit und bietet uns diese als unumstößliche Tatsache an. Ob diese Realität auch objektiv messbar, also tatsächlich real existent ist, interessiert unser Gehirn hierbei herzlich wenig.
Wenn wir uns die folgende Abbildung anschauen, dann sind wir uns alle sofort einig, dass die Figur auf der rechten Seite deutlich größer ist als die auf der linken. Die mittlere liegt irgendwo dazwischen. Das ist die Realität, die jedes unserer Gehirne wahrnimmt. Wenn wir allerdings nachmessen, stellen wir verblüfft fest, dass alle 3 Figuren gleich groß sind.
Einfluss des Kontextes auf die Wahrnehmung
Betrachten wir das Bild allerdings aus einiger Entfernung, so können wir uns das Messen ersparen.
Von weitem verschwindet der Einfluss der Linien, die den Kontext, also die Umgebung bilden. Jetzt löst sich die Perspektive auf und die Figuren werden in ihrer wahren Größe erkannt.
Mit der nächsten Abbildung, die eine unlogische Konstruktion darstellt, verwirren wir unser Gehirn dergestalt, dass wir förmlich bemerken, wie es versucht, uns eine sichere Wahrnehmung zu präsentieren, diese aber immer wieder zurückzieht. Es kennt eben keine unlogischen Konstruktionen und kommt so mit seinen Lösungsansätzen immer wieder ins Schleudern.
Unlogische Konstruktion
Beim nächsten Bild wird es noch verrückter. Das Gebilde dürfte bei jedem Betrachter die Assoziation eines Riesenrades auslösen, wenngleich es nur schemenhaft dargestellt und die Tragkonstruktion nur angedeutet ist. Und was macht ein Riesenrad? Es dreht sich. Und was versucht unser Gehirn uns vorzugaukeln? Die Drehung des vermeintlichen Riesenrades.
Das assoziierte Riesenrad dreht sich
Hiermit ist unser Gehirn nun völlig überfordert. In seinem Bemühen, uns eine passende Wahrnehmung zu präsentieren, sucht es nach unbewussten Erfahrungen, denen es die unten stehende Abbildung zuordnen kann. Natürlich findet es keine, da wir nichts gelernt haben, was zu der abstrakten Darstellung passen könnte. Bei der ständigen Suche nach einer Interpretation der Sinneseindrücke entsteht der Eindruck einer Dynamik, die selbstverständlich in der Realität nicht existiert.
Dynamik durch Interpretationsversuche des Gehirns
Insgesamt sehen wir also nur das, was wir zu sehen gelernt haben, und das nur in einem sehr kleinen Frequenzbereich der elektromagnetischen Strahlung des Lichts. Das Gleiche gilt natürlich analog für unsere anderen Sinne, also für das Hören, Riechen, Tasten und Schmecken.
Ohne, dass wir das Geringste dagegen machen können, ist unsere Wahrnehmung also sehr stark beeinflusst von den individuellen Vorerfahrungen, die jeder für sich in seinem Leben gemacht hat. Dabei ist es vollkommen unerheblich, ob diese Vorerfahrungen bewusst erinnert werden oder nicht. Sie sind tief in unserem Unterbewusstsein abgespeichert und rufen im Prozess der Wahrnehmung unwillkürlich Gefühle hervor. Diese können, je nach Art der Vorerfahrung, neutral sein, aber auch Gefühle höchsten Glücks oder tiefsten Leids, und natürlich auch die gesamte übrige Palette dazwischen.
Stellen wir uns einmal vor, dass 3 Menschen ein und denselben Gegenstand betrachten, sagen wir mal, einen roten Sportwagen. Physikalisch gesehen, handelt es sich um ein einziges Objekt, das aber nun Auslöser ist für 3 grundverschiedene Wahrnehmungen. Der erste denkt: „Schönes Design, ganz nett.“ Seine Wahrnehmung ist eher neutral. Der zweite ist vor Begeisterung ganz aus dem Häuschen. Er ist Motorsport begeistert und kennt jedes Detail dieses Autos. Dem dritten ist der Schreck in alle Glieder gefahren. Er war einmal in einen Unfall mit einem solchen Auto verwickelt und die damaligen Bilder und Gefühle sind ihm sofort wieder präsent. Bei der Wahrnehmung verknüpft unser Gehirn die Sinnesreize also immer mit unseren individuellen Vorerfahrungen und erzeugt so die hiermit einhergehenden Gefühle.
Unsere individuelle Vorerfahrung beeinflusst auch den Fokus, mit dem wir die Welt betrachten. Wenn wir durch eine Fußgängerzone schlendern, sehen wir Leute aller Couleur, ohne dass uns etwas Besonderes auffällt. Erwarten wir aber ein Kind, so sehen wir plötzlich überall schwangere Frauen und Kinderwagen, die uns vorher nie aufgefallen sind. Der unbewusste Fokus ist nun ein anderer. Wenn sich die Lebenssituation verändert, nehmen wir plötzlich etwas wahr, das vorher auch schon da gewesen ist, von uns aber nicht bemerkt wurde. Dieses hatten wir zwar gesehen, aber nicht wahrgenommen, weil unser Unterbewusstsein unsere Aufmerksamkeit nicht darauf gerichtet hatte. Die diesbezüglichen Sinnesreize wurden vom Gehirn ignoriert.
Jetzt sind wir beim präfrontalen Cortex, dem individuellen Filter der Sinnesreize. Dieser entscheidet ganz allein, ob wir etwas wahrnehmen oder nicht. Der präfrontale Cortex ist, vereinfacht ausgedrückt, ein Hautlappen, der den vorderen Teil des Neocortexes, der Hirnrinde, bildet. Er wird aktiv, wenn wir etwas planen oder komplexe Probleme lösen. Hier ist unser Ich-Bewusstsein, also unser Ego, unsere Persönlichkeitsstruktur und somit unser ganzes Weltbild angesiedelt.
Es dauert bis zu 25 Jahren, bis sich der präfrontale Cortex vollkommen ausgebildet hat, da dieser Prozess mit der Persönlichkeitsentwicklung einhergeht.
Symbolisch: präfrontaler Cortex – Filter der Sinnesreize
Im präfrontalen Cortex werden die Signale aus der Umwelt selektiert, wodurch unser Gehirn noch schneller und leistungsfähiger wird. Die Entscheidung, ob ein Signal aufgenommen und somit zu einer Information wird, trifft der präfrontale Cortex blitzschnell und ohne unser bewusstes Zutun. Wenn hier ein Sinnesreiz ankommt, der nicht zu unserem Weltbild passt, dann wird er einfach ignoriert, ohne dass wir das Geringste davon bemerken. Auf diese Weise werden alle unsere Sinneseindrücke unbewusst gefiltert, so dass wir eine bewusste Wahrnehmung nur dann machen können, wenn die aufgenommenen Umweltsignale zu unseren Vorerfahrungen passen.
Durch den Neocortex, und hier vor allem durch den präfrontalen Cortex, ist der Mensch mit der phänomenalen Eigenschaft des bewussten und zielgerichteten Denkens ausgestattet. Durch sein Bewusstsein ist er in der Lage, sein Leben kreativ zu gestalten. Er ist kulturfähig und kann so die niedergeschriebenen und abgespeicherten Erfahrungen vorangegangener Generationen nutzen und weiterentwickeln. Er kann über sich selbst nachdenken, über den Sinn des Lebens philosophieren und Zukunftspläne schmieden. Der Mensch ist aktiver, kreativer Teil der Schöpfung, und das alles nur durch einen kleinen Hautlappen an der Hirnrinde. Genau diese Fähigkeit, in unbegrenztem Umfang bewusst kreativ zu denken und zu handeln, macht den Unterschied zum Tier aus, das im Gegensatz hierzu fast ausschließlich instinktiv, also unbewusst, agiert.
Natürlich verfügt der Mensch ebenso über ein Unterbewusstsein, aus dem heraus er intuitiv agiert, wobei unbewusste Vorgänge etwa eine Million mal schneller ablaufen als bewusste Entscheidungen getroffen werden können. Das Unterbewusstsein steuert alle Körperfunktionen, vom Herzschlag bis zum Immunsystem, jede einzelne Zelle unseres Körpers. Hier sind zudem alle jemals gemachten Erfahrungen enthalten, die im Prozess der Wahrnehmung zu Gefühlen führen und so unsere gesamte Lebensqualität direkt beeinflussen.
Nur maximal 5 Prozent aller Entscheidungen werden bewusst getroffen, während das Unterbewusstsein vollkommen unbeachtet die restlichen 95 Prozent wie von selbst erledigt. Und dennoch ist sich der Mensch jederzeit absolut sicher, dass er vollkommen bewusst und rational handelt, und zwar auf der Grundlage seiner Lebenserfahrung und seines angelernten Wissens. Selbst wenn er wollte, so könnte er hierüber gar nicht anders denken, weil er durch seinen eigenen präfrontalen Cortex, der sein Ego bildet, eingeschränkt ist.
Vielleicht findet die Taube ja gerade deshalb ihren Weg, weil sie kein Ego hat. Vielleicht kommen die Tiere gerade deshalb in ihrem Lebensraum so gut zurecht, weil sie kein Ego benötigen, sondern einfach ihren Instinkten folgen. Für uns stellt sich nun die Frage, wie sich die inneren Überzeugungen entwickelt haben, die den Filter des präfrontalen Cortexes bilden.