Читать книгу Isis - Brigitte Riebe - Страница 5

W
E
R
D
E
N

Оглавление

Ich kenne das Gestern und habe das Morgen gesehen. »Die Augen des Nil«, so nannten sie mich, als ich noch die Gabe besaß, wenngleich ich nur das verborgene Schicksal anderer sehen konnte, jedoch blind war bei allem, was mich selbst betraf. Aus Liebe habe ich diese Gabe schließlich aufs Spiel gesetzt – und verloren. Seitdem gibt es für mich nur noch die Leere und darin, eingebettet wie in einen Kokon, die Vergangenheit, vorsichtig atmend, damit kein Unbefugter sie aufspüren kann.

Bei den Tränen der Isis: Nichts ist so schmerzlich wie die Liebe, die im Herzen aller Geschöpfe wohnt. Ich habe für diese Erfahrung einen hohen Preis bezahlt. Erst nach und nach lernte ich zu begreifen, dass Vergessen und Erinnern keine Gegensätze sind. Man muss sich erinnern können, um zu vergeben – und zu vergeben bedeutet auf seine Art zu vergessen.

Dabei wäre es mir noch immer am liebsten, es gäbe gar keine Geschichte zu erzählen. Lange Zeit habe ich daher eifersüchtig über sie gewacht, um sie wenigstens zu beschützen, wenn ich sie schon nicht ungeschehen machen konnte. Nun jedoch hat sich etwas ereignet, was niemand vorhersehen konnte, und ich werde nicht länger schweigen. Denn das Wort allein, das der Schöpfergott Ptah uns geschenkt hat, ist stärker als jede Waffe, mächtiger sogar als der Tod: das Einzige, was uns Menschen helfen kann, den Schmerz unserer Existenz im Angesicht der Endlichkeit zu begreifen.

Der Morgen, der alles für mich verändern sollte, begann wie gewohnt. Das Jahr ging zur Neige und die Tage zwischen den Zeiten waren angebrochen, die Isis und ihren göttlichen Geschwistern geweiht sind. Längst hatten die Bauern ihre Arbeiten an den Bewässerungsanlagen beendet. Auch ihre Tiere waren bereits vor der Flut evakuiert. Überall sah man gereinigte Kanäle mit ihren aufgeschütteten Dämmen, die sich wie ein exaktes Muster durch die rissige Erde zogen. Sie würden das Nilwasser zunächst aufstauen, um es später nach dem Durchstich auf die Felder zu leiten.

Natürlich hatte die allgemeine Unruhe vor dem Neujahrsfest, das mit dem Einsetzen der Flut gefeiert wird, auch mich ergriffen. Wir alle auf der Insel Philae fieberten dem Tag entgegen, an dem die Tränen der Isis den großen Fluss endlich über die Ufer treten lassen würden. Ein paar Gänse schnatterten im Schilf; ein Reiher stieß seine heiseren Schreie aus. Noch schliefen die anderen Bewohner der Tempelanlage, die große Hitze würde sich erst später auf das Flussufer legen. Eine kurze Nacht lag hinter mir, die ich auf dem Flachdach verbracht hatte, um der Schwüle drinnen zu entfliehen.

Vor Tagesanbruch stieg ich hinunter. Meine Knöchel waren geschwollen, als hätte ich im Traum eine weite Strecke zurückgelegt; mein Zehenstumpf pochte. Ich dehnte und streckte mich, um die Steifheit aus meinen Gliedern zu vertreiben. Die Morgentoilette verrichtete ich ohne den Kupferspiegel, der irgendwo herumlag. Mein Gesicht mit dem Leberfleck interessierte mich schon lange nicht mehr. Nicht einmal meinen Körper hasste ich noch, einst in seiner Besonderheit ebenso verstörend wie verlockend für mich und andere. Ich war schon zufrieden, wenn das Feuer in meinem Magen schwieg. Dass der ungleiche Gang, zu dem die Behinderung mich zwang, die linke Hüfte stärker belastete, war mir zur lästigen Gewohnheit geworden.

Ich knüpfte das Lederband auf, das die Holzprothese hielt, und massierte meinen Stumpf, bevor ich sie erneut anlegte und fester verschnürte. Inzwischen bewegte ich mich damit so behände, dass Fremde meine Beeinträchtigung oft nicht einmal bemerkten. Wie gewöhnlich zog ich eines der frischgescheuerten weißen Leinengewänder an und trank etwas Wasser, weil meine Eingeweide in letzter Zeit sogar gegen stark verdünnten Wein rebellierten. Dann wandte ich mich der Nische zu, die das Kostbarste meines bescheidenen Zuhauses barg: eine kleine Statue der Herrin der zehntausend Namen, der Mutter aller Mütter.

Die Göttin kniete auf einem Sockel, den Kopf nach links gewandt. Ein Pektoral lag um Ihren Hals, Reifen schmückten die erhobenen Arme, die in gefiederten Schwingen ausliefen. Das Kleid, das nach der herrschenden Mode die Brüste freigab, erinnerte an einen Schuppenpanzer, Huldigung an die allmächtige Herrin der Schlangen. Je nach Lichteinfall ließ der Schiefer, aus dem die Statue gefertigt war, Sie einmal grau, dann wieder eher grünlich erscheinen, ein schweres Material, aber so perfekt bearbeitet, dass es bei der Berührung wie seidiger Stoff wirkte.

Unzählige Male hatte ich vor diesem Isis-Bild schon mein Ritual verrichtet, hastig und dann wieder gelassen, voller Zweifel, den Tränen nah oder erfüllt mit Freude. Ich war sicher, die Göttin kannte meine Stimme, die sich manchmal schlaftrunken zu Ihr erhob, während die Sonnenscheibe sich im Leib der Nut vom Greis in ein Neugeborenes zurückverwandelte. Am liebsten waren mir jedoch jene intimen Momente der Dämmerung, wenn der Himmel in durchsichtigem Dunkelblau über der Wüste stand und den Morgen ankündigte. Dann hatte ich das Gefühl, Sie ganz direkt zu erreichen.

Ich räusperte mich und wollte mit dem ersten Satz meiner Anrufung beginnen. Doch zu meinem Erstaunen konnte ich nicht sprechen. Meine Zunge lag rau im Mund, der Hals war wie zugeschnürt.

Göttliche Mutter, was haben wir getan?

Auf einmal war alles wieder gegenwärtig, als wäre es erst gestern gewesen. Wir hatten uns angemaßt, Schicksal zu spielen. Und waren dafür bestraft worden – meine Brüder mit dem Tod, ich mit Verbannung, was mir, je länger ich lebte, als das härtere Los erschien. Denn die Lebenden mögen ihre Toten vergessen, die Toten aber lassen die Lebenden niemals ruhen, solange alte Schuld noch offen ist. Ich hatte schon zu hoffen gewagt, der Schmerz würde nach und nach an Schärfe verlieren. Jetzt aber war die Wunde plötzlich wieder offen.

Gebrauche nicht den Kopf, gebrauche dein Herz …

Kam diese Aufforderung von Ihr, der Beschützerin aller Frauen, die den Sternen ihre Wege weist und die Bahnen von Sonne und Mond ordnet? Aber durfte ich mich überhaupt zu den von Ihr Beschirmten zählen? Und wusste Isis nicht besser als jede andere Gottheit, dass es gerade das Herz gewesen war, das mich vom Weg abgebracht und in Verzweiflung geführt hatte?

Hilf mir, Isis!, bat ich stumm. Was soll ich tun, um Frieden zu finden?

Die Statue blieb regungslos, und doch glaubte ich plötzlich einen Lufthauch zu spüren, als hätten die steinernen Schwingen sich leicht bewegt. Und ich begann zu weinen, endlich. Die Feuchtigkeit verlor sich in meinen Haaren, die noch immer lang und lockig waren, wenngleich seit jener unvergessenen Nacht von silbernen Fäden durchzogen. Ich hatte nicht einmal geahnt, dass ich so viele Tränen in mir barg, denn meine Augen waren all die Jahre trocken geblieben: als Ruza starb, meine Mutter, die mich niemals geboren hatte, als wir Anu im Wüstensand betrauerten; sogar als Bewaffnete Khay in Fesseln abgeführt hatten. Tränen wie die ewigen Fluten des Nil, die das verdörrte Land aus seiner Erstarrung erlösen.

Auf einmal konnte ich den niedrigen Raum nicht mehr ertragen. Fast blind vom Weinen stolperte ich nach draußen.


Ich wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, der warme Wind jedoch, der von Süden kam, hatte mein Herz gereinigt.

»Da bist du ja endlich!«

Es war Maram, die mich rief, anmutig und geheimnisvoll wie alle ihres Volkes. Als sie vor drei Sommern zu uns gekommen war, damals eher noch Kind als junge Frau, bedeckten lange Tuchröcke ihre Hüften und Beine, braun gefärbt mit dem Extrakt der Mimosenrinde, wie sie erklärte, nachdem sie sich einigermaßen in unserer Sprache ausdrücken konnte. Ihre Heimat war Punt, das Land Gottes, wie wir in Kernet es nennen, wo eine der zahlreichen königlichen Goldexpeditionen sie aufgegriffen und nach Sunu verschleppt hatte. Dunkelhäutige Schönheiten wie sie erfreuen sich auf dem hiesigen Sklavenmarkt so großer Beliebtheit, dass sie in Silber aufgewogen werden; kaum einer gelingt jemals die Flucht. Maram jedoch hatte entkommen können und war, halb verhungert und erschöpft, schließlich bei uns im Tempel aufgetaucht. Niemals hatte sie sich über Einzelheiten ausgelassen. Aber trotz der Qualen und Gefahren, die sie gewiss hatte überstehen müssen, war sie fröhlich geblieben. Außerdem war sie so jung, dass sie meine Tochter hätte sein können – wäre ich jemals in der Lage gewesen, ein Kind zu gebären.

Tatsächlich schien sie töchterliche Gefühle für mich zu empfinden und leistete mir freiwillig kleine Dienste, die ich dankbar annahm. Auch jetzt glättete sie mir mit ihren geschickten Fingern die Haare und drückte mir einen Kranz aus blauen Lotosblüten auf den Kopf, wie sie ebenfalls einen trug. Außerdem hatte sie an mein Instrument gedacht, das ich in meiner Verwirrung vergessen hatte.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte sie beiläufig, obwohl ihr Blick verriet, dass ihr die Tränenspuren auf meinem Gesicht nicht entgangen waren. »Die anderen sind alle längst bei der Anlegestelle.«

Ich erhob mich und folgte ihr.

Die silberne Barke der Isis erreichte gerade den kleinen Quai im Südwesten der Insel. Tared, der Oberste Priester, stand frisch geschoren und mit einem gefältelten Schurz bekleidet ein Stück entfernt vor der Schar der anderen Gottesdiener. Einige der Musikantinnen schüttelten ihre Sistren. Maram, die sich niemals anstrengen musste, um den Takt zu halten, fiel mit ein. Andere schlugen Rahmentrommeln oder bliesen auf Rohrflöten. Darüber erhob sich die reine Mädchenstimme unserer jüngsten Priesterin:

Leih mir Deine Worte der Kraft Dein Lied zu singen vor aller Welt. In den Tiefen der Ozeane weilst Du, Herrin der Meere, in den Höhen der Berge weilst Du, Gebieterin der Berge. Dein Leib umfasst uns mit liebenden Armen, in Dir, mit Dir und durch Dich leben wir …

Eine stattliche schwarze Kuh, zwischen den Hörnern eine Mondscheibe aus poliertem Silber, wurde von Tared ans Ufer geführt. Freudenschreie erklangen. Überall wurden Fackeln entzündet. Isis, die ferne Göttin, war endlich nach Ihrem Zuhause zurückgekehrt!

Mir jedoch stockte der Atem. Befand ich mich bereits im Land der Schatten? Hatte ich all die Jahre in einem Traum gelebt, der soeben jäh endete?

Denn vom Tempel her näherte sich auf der Prozessionsstraße eine junge Frau, mit Knochen, die für den Rest des Körpers zu groß erschienen. Sie war hoch gewachsen, mit mageren Beinen, die eher zum Weglaufen taugten als zum Anlocken. Ein unverwechselbarer Gang, den ich nicht vergessen werde, solange ich atme: Schritte, ungleichmäßig, mal schnell, dann wieder langsamer, als drohe sie hinzufallen, was natürlich nicht geschah.

Sie blieb stehen und schaute sich um, als wolle sie alles in sich aufnehmen. Dann fiel ihr Blick auf mich.

Unaufhaltsam kam sie näher.

Für einen Moment empfand ich Abneigung, ja geradezu Hass. Wer gab ihr das Recht, so auszusehen wie jenes Mädchen namens Isis, das wir alle geliebt hatten – Khay mit verzehrender Leidenschaft, Anu hingebungsvoll und ich voller Entzücken? Selbst wenn unsere Isis noch am Leben war, konnte sie kein Mädchen mehr sein. Seit jenen Tagen hatte der große Fluss viele Male die Ufer überspült. Aber wer war sie dann, diese rätselhafte Doppelgängerin, diese Wandlerin zwischen den Zeiten?

Inzwischen war sie nah genug, dass ich Einzelheiten erkennen konnte: staubiges Haar, volle Lippen, leicht angespannt verzogen, eine schmalrückige Nase. Augen, nicht hell wie das große Grün jenes Mädchens, das uns alle in seinen Bann geschlagen hatte, sondern dunkel wie Schwarzdornbeeren. Furchtlos bohrten sie sich in meine, als wollten sie ihnen alle Geheimnisse entreißen. Und dann sah ich das Muttermal, exakt an der gleichen Stelle wie in meinem Gesicht.

Eine schreckliche Gewissheit stieg in mir empor. Was, wenn unser Versuch, in das Schicksal einzugreifen, doch geglückt war?

Inzwischen waren offenbar auch die anderen auf unseren wortlosen Dialog aufmerksam geworden. Die Sängerin verstummte, einige der Musikantinnen hatten die Instrumente bereits sinken lassen. Auf einmal klang dünn, ja fast schon jämmerlich, was eben noch als heiteres Loblied zum Himmel gestiegen war. Schließlich schwiegen alle. Und starrten uns neugierig an.

Tared ließ das rote Seil sinken und sah mit gerunzelter Stirn zu mir herüber. Was, wie ich wusste, Konsequenzen haben konnte. Denn ich war im Tempel nur geduldet.

»Ich suche Meret«, sagte die junge Frau.

Was sahen ihre Augen? Konnten sie hinter den Spiegel schauen, wie ich es einst vermocht hatte?

Ich versuchte, Ruhe zu bewahren. Die Gabe war ein göttliches Geschenk. Es gab keinerlei Anspruch auf sie, das hatte ich am eigenen Leib erfahren müssen. Oder täuschte ich mich auch darin, wie ich mich in so vielem getäuscht hatte?

Ihr Ton wurde fordernd. »Bist du Meret?« Ich senkte meinen Kopf, was ihr offenbar als Antwort genügte. »Dann ist meine Reise zu Ende.«

Hör auf!, flehte ich stumm. Bitte sprich nicht weiter, sonst stürzt du uns beide ins Unglück! Aber sie schien mich nicht zu verstehen. Und plötzlich traf es mich wie ein Schlag: Es gab kein Zurück – weder für sie noch für mich.

»Was ist mit meinem Vater?«, sagte die junge Frau, und ich entdeckte in ihrem eben noch so forschen Blick einen alten Schmerz, der mich erst recht befangen machte. »Ich muss wissen, wer er war. Du bist meine letzte Hoffnung, Meret.«

Sogar die Stimme war zum Verwechseln ähnlich!

Jetzt zitterte sie leicht, was sie plötzlich verletzbar aussehen ließ. Ich spürte fast körperlich, wie sehr sie sich anstrengen musste, um die Fassung nicht zu verlieren, und empfand einen Anflug von Mitgefühl.

»Wirst du mir helfen? Du musst!«

Ein Befehl, keine Bitte. So hatte auch Isis geklungen, als sie von mir den größten Liebesbeweis forderte. Wie damals schnürte mir Entsetzen die Kehle zu, als ich die gefürchteten Worte vernahm, und mir war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggerissen. Eine jähe Welle schoss durch meinen Körper, als sei der glühende Ball in meinem Inneren explodiert. Ich schwankte, tastete vergeblich nach einem Halt und sah gerade noch, wie Maram die Arme ausstreckte, um mich zu stützen.

Dann fiel ich ihr bewusstlos zu Füßen.


Lehnte sich mein Körper gegen meine Seele auf, oder war es umgekehrt? Was ich hörte, bevor fiebriges Dämmern mich erneut umfing, waren Stimmen aus der Vergangenheit, die sich zögernd im Dunkel des Zimmers verloren. Die Krankheit bewegte sich wie ein gefangenes Tier in mir, verursachte Schweißausbrüche, Übelkeit, Schüttelfrost. Das Feuer in meinem Magen brannte. Manchmal glaubte ich förmlich zu sehen, wie es mich von innen unaufhaltsam zerfraß.

Unfähig aufzustehen, wurde ich zunächst von Maram versorgt, die mir Wasser einflößte und dünnen Tee, aus der Wurzel des Granatapfelbaumes, mit einer Prise Natronsalz versetzt. Als ich nach drei Tagen noch immer keine feste Nahrung zu mir nehmen konnte, holte sie trotz meines Protestes den Vorlesepriester an mein Krankenlager.

Djedi stellte ein Figürchen der löwenköpfigen Sachmet neben mich, um die Schlange in meinem Bauch zu töten, die er nicht zum ersten Mal als Ursache der Erkrankung vermutete. Nachdem er mich eine Weile eingehend betrachtet hatte, wiegte er bedenklich den Kopf. Ich ahnte trotz meiner Schwäche, dass er als Nächstes Maram hinausschicken würde, und tatsächlich befahl er ihr, uns allein zu lassen.

»Sie bleibt.« Ich versuchte mühsam, mich aufzurichten.

»Und keinerlei Untersuchungen!«

»Wie soll ich dir dann helfen?« Nicht einen Moment ließ er mich aus den Augen. »Du musst dich schon fügen, wenn du wieder gesund werden willst!«

Aber an diesem Tag hatte ich offenbar gewonnen, denn er entschied sich für keine seiner widerlich schmeckenden Arzneien, sondern begnügte sich damit, einen Zauberspruch zu murmeln und heiße Hühnerbrühe zu verordnen.

»Ich spüre die Anwesenheit eines Dämons«, sagte er, als er am nächsten Tag wiederkam und mich ein wenig lebhafter vorfand. »Als hätte man verbotenerweise eine Grabkammer geöffnet.« Ich erstarrte, versuchte aber, es nicht zu zeigen. »Gibt es jemanden aus jener anderen Welt, den du fürchtest?«

»Ich habe noch niemals erlebt, dass Tote sich rächen«, erwiderte ich schnell. »Komm lieber zur Sache! Ich habe das Gefühl, dass mein Magen sich gleich nach außen stülpt.«

»Wer weiß?«, erwiderte er. Seine dünnen Brauen zogen sich zusammen. »Manchmal reicht das Silber der Haare nicht aus, um das Herzensfeuer zu löschen. Gibt es etwas, was du loswerden möchtest, Meret? Mein Ohr ist allzeit für dich bereit. Aber das weißt du ja längst.«

Ja, ich wusste, worauf er lauerte, ebenso wie er wusste, dass ich niemals etwas freiwillig preisgeben würde. Oder hoffte er, meine Schwäche ausnützen zu können? Dazu würde er keine Gelegenheit erhalten! Er widerte mich an mit seinem wabbeligen Bauch und dem feisten, neugierigen Gesicht, das mir viel zu nah kam. Ein schwerer Duft stieg mir in die Nase, Djedi musste förmlich in Moschusöl gebadet haben. Außerdem hasste ich seine ölige Ausdrucksweise – und das war nicht alles, was ich hasste.

Trotz meines Verbots griff er nach meinem Arm, um den Puls zu fühlen. Die Berührung war mehr, als ich ertragen konnte. Jetzt besaß ich keine Macht mehr über das Fieber, das jäh anstieg, mich eine heiße Woge wegspülte und mir Bilder zutrug, Fetzen von Gesichtern und Stimmen, Gerüche, die ich längst schon vergessen geglaubt hatte …

Es ist wieder Sommer, und es ist sehr heiß. Ich bin ein zu schnell gewachsenes Kind, das nachts nicht mehr schlafen kann und tausend Fragen hat, auf die es keine Antworten gibt.

Wer bin ich? Woher komme ich?

Mein Grübeln findet kein Ende.

Langsam gehe ich hinunter zum Fluss, wie immer allein, weil Ruza mir eingeschärft hat, mich niemals nackt vor anderen zu zeigen. Ich weiß längst, weshalb. Auch wenn weder sie noch ich den Mut aufbringen, darüber zu reden.

Das Wasser ist erfrischend, winzige Sonnenflecke tanzen auf der grünlichen Oberfläche. Ich liege flach auf dem Rücken; kurze Wellen laufen über meinen Bauch. Mit geschlossenen Augen lasse ich mich treiben. Stirn und Augen sinken immer tiefer ins Wasser, bis nur noch Mund und Nase zum Atmen frei sind. Auf einmal klingt das Quaken der Ochsenfrösche und das Rauschen des warmen Windes wie eine ferne Melodie. Alles ist köstlich: die heiße Sonne auf meinem Körper und die Kühle darunter. Ein Fisch berührt meine Schulter, ich erschrecke kurz, aber entspanne mich wieder.

Plötzlich Rennen, Schreien, Spritzen – da sind sie, eine Schar Halbwüchsiger, die mir schon seit langem nachstellen. Älter als ich, grob und wild. Djedi ist darunter, und ein paar andere, vor denen ich mich fürchte, weil sie noch gemeiner sind als er. Sie zerfetzen mein Gewand, das am Ufer liegt, und lauern darauf, dass ich nackt aus dem Fluss kommen muss.

Ich aber schwimme flussabwärts, so weit ich kann, angstvoll, außer Atem. Schließlich verstecke ich mich im Gebüsch, bis sie endlich die Lust verlieren und verschwinden. Mücken zerstechen meine Haut, mein Schädel brummt vor Durst und Hitze, aber sie dürfen mich nicht kriegen, niemals, weil sie sonst …

»Sind wir nicht alle Grabräuber, sobald wir uns anschicken, Türen zu öffnen, die andere aus gutem Grund geschlossen haben?« Ich zog meinen Arm zurück, befriedigt darüber, dass jetzt Djedi jäh nach Luft schnappen musste. »Außerdem bin ich müde«, fuhr ich fort. »Ich möchte schlafen.«

Er ließ mich allein.

Ich wusste, er würde seine Vermutungen weiterplaudern. Es gab im ganzen Tempelbezirk keinen schwatzhafteren Mann als ihn. Und so war es nach wenigen Tagen ausgerechnet er, der meine Ahnungen bestätigte: Die Fremde, die sich noch immer auf der Insel aufhielt, hieß tatsächlich Isis.

Ich fühlte mich zu mutlos, um die Göttin anzurufen. Ich hatte Maram sogar gebeten, die Isis-Statue zu verhüllen, weil Ihr Anblick mir zum ersten Mal keinen Trost spendete.

Aber Mauern allein können das Leben nicht aussperren. Und draußen hatte die Flut bereits eingesetzt. Der große Fluss sang von Veränderungen, vom ewigen Wechsel, den kein Sterblicher jemals aufzuhalten vermag.


Ich spürte ihre Anwesenheit, noch bevor ich sie sah. Plötzlich schämte ich mich, dass der Raum nach Krankheit und Schlaf roch.

»Wieso bist du gekommen?«, fragte ich leise. Ein schneller Blick, dann Erleichterung. Das Laken verhüllte meinen verschwitzten Körper.

»Ich tue, was ich tun muss.« Sie schwieg eine Weile. »Kann ich auf dich zählen?« Ohne zu fragen, hatte sie sich neben mein Bett gesetzt. Sie war dünn, von einer noch jugendlichen Schlaksigkeit, die ihr eine eigenwillige, fast jungenhafte Anmut verlieh. »Du warst sehr krank«, fuhr sie fort.

»Meinetwegen?«

»Heute ist kein guter Tag für Antworten. Außerdem erfordern manche Fragen zu komplizierte Erklärungen. Bitte geh!«

Sie starrte gedankenverloren auf ihre Zehen: schmal, lang, makellos. Meine Prothese lag neben dem Bett, Seite an Seite mit dem scharfen Steinmesser, das ich immer in meiner Nähe hatte, und plötzlich schämte ich mich. Nichts an mir war vollkommen – nicht einmal die Füße. Ich spürte, wie mein Widerwille wuchs. Niemand konnte mich zwingen etwas preiszugeben. Selbst Isis nicht.

»Aber ist das wirklich vorzuziehen?« Ein einschmeichelndes Flüstern. Vom wem hatte sie ihre Klugheit geerbt? »Ein Leben lang mit einem Wissen herumzulaufen, das nichts als Schmerzen bereitet? Wo doch Worte trösten und heilen können!«

»Worte können aber auch gefährlicher als Steine sein«, entgegnete ich absichtlich barsch. »Hat man sie erst einmal geschleudert, verletzen sie. Oder töten sogar. Denn nichts von dem, was einmal gesagt wird, lässt sich jemals wieder rückgängig machen.«

»Ach, es gibt nichts, was sich nicht rückgängig machen ließe«, entgegnete sie altklug.

»Außer Zeugung und Tod.«

Jetzt hatte ich sie getroffen. Ich sah, wie das Licht in ihren Augen erlosch, und hasste mich im gleichen Atemzug dafür.

Schweigend starrten wir uns an.

Schließlich drehte ich mein Gesicht zur Wand, als sei die Unterhaltung für mich beendet. Vielleicht hatte ich Glück und sie gab auf.

»›Die Augen des Nil‹«, begann sie erneut, »so hat man dich genannt …«

»Das ist vorbei – lange schon! Meine Augen sind blind, verstehst du, vollkommen nutzlos. Wenn du deshalb gekommen bist, muss ich dich enttäuschen.«

»Dann ihretwegen«, beharrte sie. »Tu es für meine Mutter. Du hast sie doch geliebt.«

Der glühende Ball in meinem Inneren ließ Feuerfunken fliegen. »Was weißt du von Liebe? Nichts, gar nichts! Oder hast du schon am eigenen Leib erfahren, dass sie schnell und scharf ist? Brennend und verzehrend? Dass Liebe sogar vernichten kann?«

»Und sie, sie muss dich auch geliebt haben«, fuhr sie fort, als habe sie meinen Ausbruch nicht gehört.

»Woher weißt du das?«, flüsterte ich. »Hat sie es dir gesagt?«

»Nicht, solange sie lebte. Aber …«

»Isis ist tot?«

Wir alle sind Tiere, hatte Khay gesagt, als er die Gefahr schon spüren konnte, die uns schließlich alle vernichten sollte. Wir alle müssen sterben. Jeden Tag werden die Schatten länger. Ich fürchte mich, Meret, ich fürchte mich so sehr …

Er hatte Recht gehabt, mein Bruder Khay, der so leidenschaftlich gern gelebt hatte und so lange schon tot war. Ebenso wie Anu und wie ich soeben gehört hatte, auch Isis. Alle waren sie vor mir gegangen.

»… drei Tage nach ihrem Begräbnis habe ich von ihr geträumt.« Die Stimme des Mädchens rief mich in die Gegenwart zurück. »Sie sagte deinen Namen, so warm und herzlich, und dass ich dich auf Philae finden könne. Seltsamerweise jedoch war Mutter in meinem Traum kein Mensch. Und was noch seltsamer war: Ich konnte sie genau verstehen, obwohl sie ein flatterndes Sperberweibchen …«

»Schweig!«, verlangte ich heiser.

»Nur wer sich schuldig fühlt, windet sich vor der Wahrheit.« Jetzt klang sie unerbittlich. »Du hast meine Mutter gekannt. Aber wer ist mein Vater, Meret? Was weißt du von ihm?«

Anu, lag mir bereits auf der Zunge, mein Bruder Anu, der Mann deiner Mutter – wer sonst? Wieso sollte ich sie unnötig verwirren? Wo die Lüge doch die schnellste und einfachste Lösung war. Vielleicht würde ich sie damit endlich zum Schweigen bringen. Ich war schon beinahe so weit. Dann jedoch entdeckte ich die kleine bläuliche Ader, die aufgeregt an ihrem Hals pochte, genauso wie einst bei Isis.

»Du willst es wirklich wissen?«, fragte ich leise.

»Ich kann nicht anders.«

»Dann komm morgen Abend wieder! Aber sieh dich vor, denn du wirst einiges ertragen müssen. Und du brauchst Ausdauer und Offenheit. Denn was du zu hören bekommst, wird dir unfassbar erscheinen. Ich warne dich: Danach ist nichts mehr wie bisher, Isis.«

»Alles nehme ich auf mich«, sagte sie schnell, »wenn ich nur …«

»Geh!«, erwiderte ich.


Was konnte sie dafür, dass unsere Herzen damals vor Hunger brannten? Dass wir blindlings verstrickt waren und uns trotzdem unbesiegbar fühlten? Tod und Zeugung lassen sich nicht rückgängig machen, das hatte ich selbst gesagt. Vielleicht galt das auch für die Liebe, die alles fordert und nicht danach fragt, ob sie auch erwidert wird.

Wie ich es auch drehte und wendete – ich besaß kein Recht, ihr die Wahrheit über den Vater zu verweigern. Die Seele der Himmelsgöttin besteht aus Tausenden von Sternen, so wird in unseren schönsten Hymnen das Lob der Isis besungen. Eine Isis aus Fleisch und Blut hatte ich vor Jahren verloren. Nun war wie durch ein Wunder ihre Tochter in mein Leben getreten.

Waren das die Gesetze der Liebe?

Ich war bereit, mich ihnen noch einmal zu unterwerfen.

Ordnung würde mir helfen, klare Gedanken zu fassen. Deshalb war der Raum gefegt, die Decken auf dem Bett lagen sorgfältig gefaltet. Auf dem Tisch standen Brot und Früchte sowie Wasser- und Weinkrug. Maram, die keine überflüssige Frage stellte und meine Unruhe taktvoll überspielte, hatte sich mit dem Räuchern viel Mühe gegeben.

Ich war gebadet, mein Haar geflochten. Ich legte sogar die silberne Kette mit dem Flügelamulett an, die ich Jahre nicht mehr getragen hatte. Noch immer fühlte ich mich zittrig, gerade diese körperliche Schwäche jedoch verlieh mir besondere geistige Klarheit.

Als der Mond aufging, steigerte sich meine Unruhe, ähnlich wie einst, wenn die Visionen sich angekündigt hatten. Plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte.

Ich zog das Tuch von der Statue und kniete einen Augenblick vor der Göttin nieder. Danach griff ich nach dem Steinmesser und schnitt meinen Zopf ab. Wie eine schwarzsilbrige Schlange ringelte er sich auf dem Lehmboden. Mein Kopf fühlte sich plötzlich ganz leicht an, befreit von einer Last; der Nacken war angenehm kühl.

Mit einem Tuch bedeckte ich Kopf und Schultern, wie es die vornehmen Frauen Assurs tun, um sich von Sklavinnen und Huren zu unterscheiden. Ohne die Truppen Aschurbanaplis, des Königs der Assyrer, die in meinem ersten Lebensjahr Waset gebrandschatzt hatten, hätte ich vermutlich nicht überlebt. Außerdem erschien mir dieser Tribut an die Sitten Assurs nützlich, um meine Aufregung zu verbergen. Ein zusätzlicher Schleier verhüllte mein Gesicht. Nur die Augen blieben frei.


Wenn sie mein Anblick überraschte, so ließ sie es sich nicht anmerken. Ohne Zögern trat sie ein. Von nahem erschien sie mir so vertraut, dass ich sie am liebsten in die Arme genommen hätte. Aber zuerst hatte ich zu Ende zu bringen, was ich ihr schuldig war. Was danach geschehen würde, daran wagte ich nicht einmal zu denken. Der Feuerball in meinem Magen war zu neuem Leben erwacht. Ich musste an mich halten, um mich nicht vor Schmerzen zu krümmen. Trotzdem gelang es mir, mich zu beherrschen. Isis war die Tochter einer besonderen Frau und blutsverwandt. Wem also, wenn nicht ihr, gebührten Ehre und Höflichkeit?

Fast schon formell bat ich sie, auf einem Kissen Platz zu nehmen, und ließ mich ihr gegenüber nieder. Isis saß gerade wie eine Statue, die Beine gekreuzt. Ihr Atem ging unhörbar. Nur die Lider bewegten sich leicht.

»Ich bin bereit«, sagte sie, als die Stille im Raum unerträglich zu werden drohte.

Die Flut der Bilder wurde so stark, dass ich abermals zu zittern begann. Alles schien auf einmal zu einem mächtigen Strom zusammenzufließen, der mich ergriff und davontrug – was ich erlebt und jemals gehört hatte, Ruzas Erinnerungen, was ich in den Herzen von Khay und Anu gelesen hatte, Isis’ Ängste und schönste Hoffnungen. Geheimnisse, die meine Gabe einst entschleiert hatte.

Es war eine Geschichte der Liebe, gewebt aus unseren Schicksalssträngen, die sich auf einmal zu einem verschlungenen Muster verwoben und alle mit einschlossen: Sarit und Basa, Nezem und Selene, Ruza, meine beiden Brüder, mich selbst, vor allem aber Isis – ihre Mutter.

»Willst du nicht endlich beginnen?« Jetzt hörte sie sich an wie ein Kind.

Ich warf einen Blick auf die allmächtige Göttin, deren Schwingen uns alle beschützen, tat einen tiefen Atemzug und fing an zu erzählen.

Isis

Подняться наверх