Читать книгу Isis - Brigitte Riebe - Страница 6
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ОглавлениеAls die Sonnenbarke am östlichen Horizont aufstieg, schlief keiner mehr im Anwesen des Basa. Die Schreie seiner Frau Sarit, die alle aus dem Schlaf gerissen hatten, waren inzwischen verstummt. Aber trotzdem wagte niemand, den Tag wie gewohnt zu beginnen. Dienerschaft und Mägde schlichen im Haus herum. Sogar die alte Neshet, sonst immer die Erste an der Feuerstelle im Hof und lärmend dazu, gab sich Mühe leise zu sein, während sie die Brote aus dem Ofen holte.
»Das waren noch keine Wehen«, sagte die Hebamme, als sie sich vom Bett abwandte, und ihrer Stimme war nicht anzuhören, ob sie besorgt oder erleichtert war. »Erste Warnzeichen, nichts weiter.« Sie furzte unbekümmert. »Wie es bei feinen Damen eben vorkommt, wenn sie ihre Blagen zu schnell hintereinander kriegen.« Als sei damit alles gesagt, nahm sie ihren Korb, in dem ein paar Bierkrüge schepperten, und strebte in Richtung Tür.
Basa packte sie fest so am Arm, dass seine Finger helle Male auf ihrer Haut hinterließen. »Du willst meine Frau doch nicht etwa allein lassen – in diesem Zustand?«
Sarits Haar glänzte schweißverklebt, die Lippen waren aufgesprungen. Erschöpfung und Angst ließen ihre Züge wie erloschen wirken.
Mit einem Schnauben machte die Hebamme sich los.
»Die Götter bestimmen, wann es an der Zeit ist für neues Leben, nicht wir. Schätze, wir werden uns noch gedulden müssen.« Sie zeigte ein aufsässiges Lächeln. »Eigentlich müsste sie ja bereits wissen, wie es geht – beim dritten Mal.«
»Und wofür werfe ich dir mein gutes Silber hinterher?«, fragte Basa scharf.
Sarit, die auf dem zerwühlten Bett vergeblich nach einer bequemeren Lage suchte, kannte den Grund. Die Alte mochte nach Fusel stinken, grobe Hände und einen kaum minder derben Wortschatz haben, aber wenn Basa nicht sie gerufen hätte, dann eben ein anderes billiges Weib. Irgendeine, die für ein paar Deben Silber zu allem bereit war – sogar dazu, ein Neugeborenes zu beseitigen, wenn es der Vater so schnell wie möglich loswerden wollte.
»Lass sie gehen!«, sagte sie leise, »die Amme kann mir doch beistehen. Schließlich kennt sie sich mit dem Kinderkriegen aus.«
Ein Vorschlag, der ihr alles andere als leicht gefallen war.
Aber die Amme genoss Basas Gunst, und es wäre unklug gewesen, den Namen ihrer Freundin zu erwähnen, die sie jetzt viel lieber an ihrer Seite gehabt hätte. Selene war ihm nicht nur deswegen suspekt, weil sie sagte, was sie dachte, und sich von keinem einschüchtern ließ. Er beschimpfte sie wegen ihrer grünen Augen als »Fischdämonin« und hasste sie mittlerweile so, wie er sie früher begehrt hatte.
Der Grund dafür lag auf der Hand: Sein Werben hatte Selene, die aus Keftiu stammte, nicht mehr als ein Lächeln entlockt. Sie liebte ihren Nezem, den Steinmetz, der am Hof der »Gottesgemahlin des Amun«, wie die höchste Priesterin hieß, gut bezahlte Arbeit gefunden hatte und mit seinen Händen Steine zum Leben erwecken konnte. Selene dachte nicht daran, sich mit einem anderen einzulassen, geschweige denn mit dem Ehemann ihrer Freundin. Wutentbrannt darüber, dass eine Frau und eine Fremde dazu es gewagt hatte, sich ihm zu verweigern, hatte Basa Sarit den Umgang mit Selene kurzerhand untersagt.
Nicht einen Augenblick hatte Sarit sich an dieses Verbot gehalten. Allerdings wollte sie vermeiden, Basas Zorn unnötig zu reizen, der aus dem Nichts aufsteigen konnte, um dann schwarz und stark wie eine Gewitterwolke loszustürmen, die alles unter sich hinwegfegte. Daher trafen sich die beiden Freundinnen nur noch heimlich. Wegen der fortgeschrittenen Schwangerschaft war Sarit mehr und mehr auf die Hilfe der Amme angewiesen, was ihr nicht gefiel, denn eigentlich erschien ihr die Amme des Kleinen kaum weniger suspekt als Basas Hafendirnen.
Aber blieb ihr eine andere Wahl?
Die Amme Ruza war die Einzige, die das schier Unmögliche tun konnte – und hoffentlich auch tun würde. Sie war Sarits letzter Ausweg, was der Hochschwangeren schlaflose Nächte bereitete. Sie liebt das Kleine wie ihr eigen Fleisch und Blut, versuchte sie sich Mut zuzusprechen. Niemals würde sie zulassen, dass ihm hinter ihrem Rücken ein Leid geschieht. Aber es fiel ihr noch immer schwer, wirklich daran zu glauben.
Basa runzelte die Stirn, und die helle Narbe an seiner Braue begann zu zucken. Normalerweise verließ er sich auf sein Siegerlächeln, das auf Frauen wie Männer wirkte. Jetzt aber, im frühen Licht des Morgens, erinnerte er sie mit der gebogenen Nase und seinem kräftigen Körper mehr denn je an einen Raubvogel.
Plötzliche Angst zog ihr das Herz zusammen.
Für ihn war sie nichts als ein fruchtbarer Schoß, der Söhne hervorbringen sollte – makellose Söhne. Versagte sie abermals, wie sie es in seinen Augen schon einmal so kläglich getan hatte, würde er keine Gnade kennen.
»Bitte!«, fügte sie in dem unterwürfigen Ton hinzu, der ihn manchmal umstimmen konnte. »Tu es für Khay!«
Bei der Erwähnung seines Erstgeborenen schien er tatsächlich unschlüssig geworden zu sein, denn plötzlich schrie er die Hebamme an: »Hast du nicht gehört, was sie gesagt hat? Verschwinde! Und lass dich hier nicht wieder blicken!«
Die alte Frau ließ sich dies nicht zweimal sagen. Vorsichtshalber hatte sie den Löwenanteil des vereinbarten Silbers im Voraus kassiert, denn der Erste Baumeister des Stadtfürsten Montemhet war für seine Launen bekannt. Sich mit Basa anzulegen konnte gefährlich sein. Es gab viele in Waset, die das bereits zu spüren bekommen hatten, zumal in diesen unruhigen Zeiten, da täglich neue Schreckensmeldungen über den Vormarsch der Assyrer stromaufwärts die Runde machten. Bereits vor drei Jahren hatten sie die Stadt belagert, wegen einer tödlichen Seuche im Heerlager jedoch unverrichteter Dinge wieder abziehen müssen. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu sich auszumalen, was geschehen würde, wenn sie nun abermals anrückten – und dieses Mal Erfolg hätten.
Die Hebamme war so schnell draußen, dass sie beinahe das Kind vor der Tür umgerannt hätte. Der kleine Junge in seinem fleckigen Leinenhemd rieb sich erschrocken die Stirn: ein hübscher Dreijähriger, kahl geschoren bis auf die übliche Jugendlocke, der gewöhnlich äußerst selbstbewusst auf seinen pummligen Beinchen umherstolzierte. Jetzt jedoch hatte ihn der ungewohnte Lärm ängstlich gemacht.
»Mama«, rief er und begann loszuschluchzen. »Meine Mama!«
Ruza gelang es gerade noch, ihn an der Schwelle einzufangen.
»Du kannst jetzt nicht zu deiner Mama, Khay.« Sie hob ihn hoch und drückte ihn gegen ihre Brust, die schwer und weich geblieben war, weil sie noch immer stillte, wenngleich ihre Milch schon lange nicht mehr ausreichte. Der süßliche Geruch, auch Khay nicht unvertraut, weil er manchmal eifersüchtig darauf bestand, dass sie nicht nur das Kleine, sondern auch ihn koste, schien ihn halbwegs zu beruhigen, denn sein Weinen wurde leiser.
»Komm her zu mir, mein Sohn!« Basa riss ihn aus Ruzas Armen, und Khay begann erneut loszuschreien. »Das da drinnen ist Weibersache, da haben Männer nichts verloren. Verstehe ohnehin einer, weshalb sie partout nicht das prachtvolle Geburtshaus benutzen will, das ich eigens für sie habe errichten lassen. Andere würden sich auf Knien dafür bedanken, aber ihr, der Verwöhnten, ist ja nie etwas gut genug!« Sichtlich angewidert schnupperte er an seinem Sohn. »Du stinkst ja wie eine ganze Affenherde! Gibt es in diesem Haushalt denn niemanden, der dich sauber halten kann?« Er streckte Khay weit von sich, als fürchte er sich zu besudeln. Wie jeden Morgen hatte er sich nach dem Bad mit Mandelöl massieren lassen und anschließend ausgiebig parfümiert. Keiner im Haus hätte es gewagt, ihn dabei zu stören. »Neshet, kümmere dich um ihn, aber schnell! Ich muss zum Stadtfürsten. Und mein Großer wird brav sein und tun, was ihm gesagt wird!«
Scherzhaft zog er an Khays Ohr, was wohl als unbeholfene Zärtlichkeit gedacht war, den Jungen aber noch mehr zu ängstigen schien. Das Schreien steigerte sich zu ohrenbetäubendem Gebrüll. Mit seinen Beinchen hämmerte er gegen den Leib der Alten, die ihn kaum noch halten konnte. Ruza, die erneut tröstend nach dem Jungen greifen wollte, wurde von Basa daran gehindert.
»Siehst du nicht, dass du hier gebraucht wirst?« Er wies nach drinnen. »Oder willst du lieber zurück in die Gosse? Ich hasse es, enttäuscht zu werden!«
»Aber das Kleine«, wandte sie ein und versuchte sich gegen die jäh aufsteigende Furcht zu wehren, die sie ganz schwindelig werden ließ. »Ich sollte vielleicht lieber …«
»Bist du taub?«
Wenn Ruza eines in Basas Haus gelernt hatte, dann, zur rechten Zeit den Mund zu halten. Sie zog den Kopf ein, starrte scheinbar demütig zu Boden und betrat das ebenerdige Wöchnerinnenzimmer, dessen Fenster sich zum Garten hin öffneten.
Drinnen schien die Luft plötzlich schwerer geworden zu sein. Keine der beiden Frauen sagte etwas, weder die Hochschwangere, die mit halb geschlossenen Augen vor sich hindämmerte, noch Ruza, die zunächst eine Weile unbehaglich herumstand. Schließlich zog sie die blauen Leinenstreifen vor die Fenster, um die zu dieser Jahreszeit schnell aufsteigende Hitze auszusperren, und stellte das benützte Geschirr zusammen. Dabei musste sie aufpassen, weder die Tawaret-Figuren umzuwerfen, die Bildnisse der hochschwangeren Nilpferdgöttin, die in verschwenderischer Anzahl herumstanden, noch auf die Kupfer- und Silberamulette zu treten, die alle dem gleichen Zweck dienen sollten: einer glücklichen, harmonischen Geburt.
Als sie Sarit Mandelmilch anbot, um das Einsetzen der Wehen anzuregen, verzog diese angeekelt den Mund. Einen Becher Wasser jedoch leerte sie durstig und verlangte nach einem zweiten, den sie ebenso schnell austrank.
»Willst du nicht aufstehen«, fragte Ruza schließlich, »und dich ein bisschen bewegen? Viele Frauen schwören darauf, und mir hat es auch geholfen.«
Sie hätte ebenso gut mit einer Wand reden können.
»Oder soll ich dich kämmen?« Ruza griff nach dem verzierten Elfenbeinkamm. »Dein schönes Haar ist ganz verfilzt.« Sarit blickte nicht einmal auf.
»Ich könnte dich feucht abreiben«, schlug die Amme vor, langsam mutlos, weil ihr bald nichts mehr einfiel. »Das würde dir bestimmt gut tun.«
Bei jedem Wort war ihr bewusst, dass die Herrin ihr von Anfang an misstraut hatte. An deren Stelle wäre es ihr wohl nicht anders ergangen, bestand doch ein wichtiger Unterschied zwischen ihnen: Sarit konnte sich Launen leisten. Sie dagegen war nur ein nicht mehr ganz junges Tanzmädchen gewesen, das ungewollt schwanger geworden war. Der Liebste hatte sie vor der Geburt verlassen. Dann war ihr Töchterchen nach wenigen Tagen an der gefürchteten Baa-Krankheit gestorben, die so viele Neugeborene dahinraffte. Betäubt vor Kummer, hatte sie in einer Schenke Arbeit gefunden. Dort hatte Basa sie aufgelesen und als Amme verpflichtet. Und plötzlich schien das Schicksal, mit dem sie so gehadert hatte, sich zu wenden. Wenn das Kleine an ihrer Brust lag und sie seinen warmen Duft einatmete, war in ihrer Vorstellung alles, wie sie es sich immer erträumt hatte: Sie war in Sicherheit, wohnte in einem schönen Haus – und ihr kleines Mädchen lebte.
Freilich war sie schlau genug, solche Phantasien niemandem anzuvertrauen, nicht einmal Neshet, die von allen Mägden am freundlichsten war und ihr manchmal sogar eine Extraration frisch gebrautes Dattelbier zukommen ließ. Ruza blieb dennoch auf der Hut. Sie wusste, sie konnte nicht vorsichtig genug sein. Denn wenn Basa erfahren sollte, was sie sich heimlich zusammenspann, würde er nicht zögern, sie auf der Stelle hinauszuwerfen.
»Ich werde auch ganz vorsichtig sein«, schickte sie in einem Anflug von schlechtem Gewissen hinterher.
Ein schwaches Nicken. Erstaunlicherweise schien ihr Vorschlag der Herrin zu gefallen.
Ruza zog die Decke beiseite und bemühte sich, ihr Erschrecken nicht zu zeigen, als sie Sarits Hemd nach oben schob. Die Haut hatte einen fahlen Olivton, der sich an manchen Stellen vertiefte, an den Schlüsselbeinen, feinknochig wie bei einem Mädchen, und den Rippen, die ihr geradezu zerbrechlich vorkamen. Sarits Arme und Beine waren während der Schwangerschaft dünn wie Holzstäbe geworden, während der Leib zum Platzen reif wirkte. Mit einem feuchten Lappen fuhr Ruza vorsichtig über den Körper. Das Gemisch aus Natron und Sand, das sie als Seife angerührt hatte, verströmte einen erdigen Geruch, der die Schwangere zu beruhigen schien. Jetzt war es still im Haus geworden, und die wenigen Laute, die zu hören waren, klangen gedämpft wie durch dicke Tücher zu ihnen herein.
»Ich weiß, dass ich entsetzlich aussehe«, sagte Sarit, die sich unter den Händen der Amme allmählich entspannte, unvermittelt. »Aber was macht das schon? Seit Monden hat er mich nicht mehr angerührt. Der große Basa hat offenbar Zerstreuungen gefunden, die ihn mehr befriedigen.« Sie verzog den Mund. »Wer ins Herz der Finsternis reist, muss mit allem rechnen.«
»Du brauchst dich nicht zu fürchten!« Ruza gab sich Mühe, zuversichtlich zu klingen. Früher hatte Sarit stets so kühl und elegant gewirkt. Sie war das schönste Mädchen Wasets gewesen, ausgestattet mit einer sagenhaften Mitgift, das Basa als Hartnäckigster unter vielen Bewerbern schließlich heimgeführt hatte. Jetzt schien ihre Jugend schon nach wenigen Jahren ebenso verflogen wie ihre Schönheit. Ruza deckte sie wieder zu. »Für jede Frau kommt irgendwann der Punkt, wo der Mut sie verlassen will. Aber Isis beschützt alle Gebärenden. Sie wird auch dir beistehen.«
Die Amme unterdrückte einen Schrei, denn Sarits spitze Fingernägel hatten sich plötzlich in ihr Fleisch gebohrt.
»Und du?« Mit erstaunlicher Kraft hielt sie Ruzas Gelenk umklammert. »Womit hat er dich geködert? Silbertropfen? Brünstige Umarmungen? Komm schon, verrat es mir! Was ist ihm sein Verbrechen wert?«
»Was meinst du damit?« Allein die Erinnerung an seinen Atem auf ihrer Haut ließ Ruza frösteln. Sie verabscheute Basa. Aber sie fürchtete ihn nicht minder. Wenn er in Zorn geriet, weil man verweigerte, was er begehrte, konnte der Baumeister unberechenbar werden wie ein wütender Elefantenbulle. Sie riss sich los.
»Du tust mir weh!« »Du sollst das Neugeborene ersticken, falls es wie das Kleine ist. Das verlangt er doch von dir! Und anschließend auch das Kleine töten.« Mit einem Seufzer sank Sarit zurück. »Ich bin weder taub noch blind. Mir könnt ihr nichts vormachen!«
»Niemals!« Ruza erschrak, wie dünn ihre Stimme klang.
»Du weißt ja nicht, was du da sagst!« Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen. Musste sie jetzt darum bangen, ihr sicheres, bequemes Leben aufzugeben – und das Kleine, das ihr so ans Herz gewachsen war?
Sarit schien sie gar nicht zu hören. »Aber wenn du das tust«, sagte sie, »ist auch dein Leben in Gefahr. Hast du daran schon mal gedacht?«
Ruza starrte sie misstrauisch an.
»Basa kann sich keine Mitwisser leisten. Und er geht immer konsequent vor – bis zum bitteren Ende. Kein Mensch hat jemals mehr von der Hebamme gehört, die das Kleine zur Welt gebracht hat. Verschwunden ist sie, spurlos, als habe sie niemals gelebt. Willst du auch so enden?«
»Soll das heißen, er hat sie …«
»Dummköpfe, nichts anderes sind wir doch alle in seinen Augen! Nur er ist so klug, so stark, so unbesiegbar. Aber ich weiß, wie wir ihn schlagen können. Wirst du mir helfen, Ruza?«
Die Amme gab sich nicht einmal Mühe, ihre Skepsis zu verbergen. Ausgerechnet diese hilflose Schwangere und sie sollten sich einem Basa entgegenstellen? Die Vorstellung erschien ihr so absurd, dass sie lieber auf eine Antwort verzichtete.
»Rette das Kleine! Sein Leben ist keinen einzigen Deben Kupfer mehr wert, sobald das neue Kind den ersten Schrei getan hat.« Sarit berührte ihren Bauch mit einer hilflosen Geste. »Vorausgesetzt, es ist männlich und ohne Makel wie Khay. Für seinen Erstgeborenen würde Basa alles tun. Aber das Kleine? Niemand weiß besser als ich, wozu Basa fähig ist.«
»Unsinn!«, fiel Ruza ihr ins Wort. Sie wollte nichts mehr davon hören, gerade weil eine innere Stimme ihr sagte, dass es die Wahrheit war. Für das ungeborene Kind konnte sie noch keine Gefühle aufbringen. Aber dem Kleinen, ihrem Kleinen, durfte nichts geschehen! Erst neulich hatte es sich im Schlaf erbrochen und wäre, hätte sie nicht rechtzeitig nach ihm gesehen, womöglich an seinem eigenen Auswurf erstickt. Am glücklichsten fühlte sie sich, wenn es beim Einschlafen sein Köpfchen auf ihre Brust sinken ließ. »Das Kleine ist eine heilige Gabe der Götter …«
»Ich weiß«, fiel Sarit ihr ins Wort. »Ich kenne deinen Schmerz. Ein Meer von Tränen, als deine Tochter zu Osiris gegangen ist. Aber das ist vorbei. Du brauchst nicht mehr zu weinen. Das Kleine ist jetzt dein Kind. Und du bist seine Mutter – für immer. Willst du, Ruza? Du musst dich nur entscheiden.«
Die Amme spürte, wie ihr Mund trocken wurde. Das Kleine niemals wieder hergeben zu müssen? Eine jähe Sehnsucht ließ ihren Körper ganz schwer werden. Dann jedoch gewann die Vernunft wieder Oberhand. Sarit war offenbar dabei, den Verstand zu verlieren. Oder sie trieb ein grausames Spiel mit ihr. Und trotzdem – da war dieser wahnwitzige Hoffnungsfunke, der auf einmal ihr ganzes Sein erfüllte.
»Aber das geht doch nicht«, sagte sie matt. »Das dürfen wir nicht tun.«
Sarits schmale Hand glitt zu ihrem Schoß. Dann konnte Ruza hören, wie sie schwer ausatmete. Das Tuch unter ihr war bereits vom Fruchtwasser durchtränkt. »Uns läuft die Zeit davon. Ihr müsst fort, aus dem Haus, aus Waset. Weit genug, dass er euch nicht finden kann.«
»Aber wohin?«
»Stromaufwärts. Zum großen Isis-Tempel. Gegenüber diesen Mauern ist sogar Basa machtlos.«
»Unmöglich! Weißt du denn nicht, was in der Stadt los ist?« Ruzas Lippen waren vor Aufregung blass geworden. »Alle sagen, die fremden Soldaten sind nicht mehr aufzuhalten. Wer fliehen kann, ist längst mit Hab und Gut verschwunden. Außerdem nehmen die letzten Schiffe schon seit Tagen keine Passagiere mehr auf.«
Statt einer Antwort heulte Sarit auf.
Ruza fuhr zusammen. Inzwischen war es so stickig im Zimmer, dass sie kaum noch atmen konnte. »Wir werden doch die Alte holen müssen«, sagte sie und rieb sich den Nacken mit einem Tuch trocken. Das dünne Kleid klebte an ihrem Körper wie eine zweite Haut. Eine fiebrige Unruhe hatte sie ergriffen. Die Vorstellung, mit dem Kleinen für immer zusammen zu sein, wurde schier übermächtig.
»Nein, das werden wir nicht!« Plötzlich klang Sarit wieder ganz energisch. Sie tastete unter die Unterlage und zog ein halbes Dutzend Goldreifen hervor. »Ein lächerlicher Bruchteil meines einstigen Vermögens. Alles andere hat Basa sich einverleibt. Ich wette, selbst für den Fall einer Scheidung ist bereits alles zu seinen Gunsten geregelt.« Ihr Tonfall veränderte sich. »Ich bin deine Geliebte, deine Beute / ich gehöre dir wie das Grundstück, / das ich mit Blumen bepflanzt habe … Wenn er mich eines Tages verstößt, bin ich kein bisschen reicher als du.« Trotz der Schmerzen war ihr Lachen spöttisch. »Aber hiermit wird sich jeder Kapitän überzeugen lassen. Nach Philae, hörst du, Ruza? Zur Mutter aller Mütter. Warte, bis es dunkel wird! Im Schutz der Nacht habt ihr die besten Aussichten, durchzukommen. Schwöre mir bei deinem Leben, dass du alles dafür tun wirst!«
»Ich schwöre. Aber wozu so lange warten?« Das Kleine und sie für immer vereint – jetzt überfiel sie plötzlich die Furcht, es würde doch ein Traum bleiben.
»Basa wird sich mit eigenen Augen vergewissern, ob seine Handpuppen parieren. Versprich ihm alles! Er muss glauben, dass du Wachs in seinen Händen bist.« Sarit krümmte sich erneut. »Erst danach verschwindest du mit dem Kleinen, anstatt es zu töten.«
»Und du?«
»Es gibt jetzt wahrhaft Wichtigeres zu tun.«
»Aber du brauchst jemanden, der dir beisteht«, beharrte Ruza.
»Selene«, flüsterte Sarit, bevor sie einen schrillen Schrei ausstieß. Jetzt, während die Angst unaufhaltsam wuchs, besaß sie nicht länger die Kraft, den Namen der Freundin zurückzuhalten. »Hol Selene!«
»Ganz ruhig!« Der fremde Akzent war nur noch zu erkennen, wenn man genau hinhörte. Eine schlanke, große Frau stand im Raum, deren Haar wie ein Feuerkranz um das längliche Gesicht leuchtete. Ihr Blick flog über Sarits Lager, dann zu Ruza, die ihr reserviert entgegenstarrte. »Und bereits mitten in der Arbeit, wie ich sehe. Weshalb habt ihr mich nicht schon längst gerufen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, löste Selene das Brusttuch, in das sie ihre Tochter gewickelt hatte, und legte diese kurzerhand in die Binsenwiege. Dem etwa halbjährigen Mädchen mit dem dunklen Schopf schien dieser Wechsel ganz und gar nicht zu behagen, denn augenblicklich ertönte empörtes Schreien.
»Offensichtlich hat Isis nicht nur mein Temperament geerbt, sondern auch die Sturheit ihres Vaters«, sagte Selene und lächelte, während sie ihr zur Beruhigung einen Honigzipfel in den Mund schob, den die Kleine immer wieder ausspuckte, bis sie endlich doch zu nuckeln begann. Anschließend schickte Selene die Amme mit knappen Worten zum Wasserholen. Sichtlich unwillig gehorchte Ruza.
»Hast du auch alles mitgebracht?«, flüsterte Sarit, kaum dass die Tür sich hinter der Amme geschlossen hatte. »Ich will es ihr erst geben, wenn sie das Haus mit dem Kind endgültig verlässt. Die Versuchung ist sonst zu groß.«
»Aber ja!« Selene nahm ihren gewebten Gürtel ab, der sich beim näheren Hinsehen als raffiniert geschneiderte Beuteltasche mit mehreren versteckten Fächern erwies. Sie bewegte ihn leicht hin und her und ließ dabei die unsichtbaren Schmuckstücke klappernd aneinander stoßen. »Und du hast Recht, vorsichtig zu sein. Ich bin froh, dass nicht einmal Nezem etwas davon zu Gesicht bekommen hat. So viel Gold kann sich ungünstig auf jeden Charakter auswirken.« Lachend legte sie den Gürtel wieder um. »Du hast also endlich mit Ruza gesprochen? Sie hilft dir?«
»Sie muss!« Sarits Ausdruck verriet ihre Anspannung.
»Warum bei allen Göttern kannst du nicht an ihrer Stelle sein? Es gibt niemanden, dem ich das Kleine lieber anvertrauen würde.«
»Als ob ich meinen Mondstrahl jemals verlassen könnte!« Ein inniger Blick zur Wiege, in der das kleine Mädchen schlief. Dann wandte sie sich wieder Sarit zu. »Klüger wäre es natürlich gewesen, nicht so schnell wieder schwanger zu werden, auch wenn dein Mann noch so sehr darauf gedrängt hat. Männer, was wissen sie schon? Söhne verlangt er von dir. Dabei sind doch Töchter das Kostbarste, was Isis einer Frau schenken kann.«
Die Gebärende stöhnte schmerzerfüllt.
Selenes Gesichtszüge wurden weich. »Aber was rede ich da? Mächtigere als wir lenken die Geschicke. Und überhaupt ist es höchste Zeit, nur noch an dich zu denken – und an dieses neue Leben, das es plötzlich so eilig hat. Jetzt wollen wir erst mal Platz schaffen!«
Sie räumte die Tawaret-Figuren so energisch zur Seite, dass eine davon umfiel und zerbrach. Abergläubisch sog Sarit die Luft zwischen die Zähne, Selene aber kümmerte sich nicht darum, sondern kehrte die Scherben zusammen, wechselte die Tücher und rieb ihre Freundin behutsam trocken. Danach wusch sie ihr Hände und Arme. Aus einem kleinen Tiegel salbte sie Sarits Scheitel.
»Herab zur Erde. Breite Deine Arme aus! Große Mutter, die alles Lebende hervorbringt, schütze und bewahre diese Mutter!« Mit einem Räuchergefäß fuhr sie dicht an Sarits Leib entlang.
»Was ist das? Mir wird ganz schwindelig«, flüsterte Sarit.
»Minze, Weihrauch und eine Prise Mandragora. Das nimmt dir die Angst.« Anschließend vollführte Selene mit einer Scherbe symbolische Schneidebewegungen. »Löse dich aus dem Bauch deiner Mutter und lebe glücklich und in Frieden!«
Sarit wirkte endlich ruhiger. Auf ihrer etwas zu kurzen Oberlippe glitzerten Schweißperlen, die den zuvor so angespannten Mund weich, fast mädchenhaft wirken ließen. Das Henna auf ihren Nägeln leuchtete wie frisches Blut.
»Ich mag ihn nicht«, sagte sie unvermittelt. »Und inzwischen verabscheue ich ihn manchmal sogar. Aber mein Körper sehnt sich trotzdem noch immer nach ihm. Kannst du dir das vorstellen? Dabei traue ich Basa zu, dass er mich mit bloßen Händen erwürgt, wenn er endgültig genug von mir hat.«
Selene strich ihr das feuchte Haar aus der Stirn.
»Schluss jetzt mit diesen düsteren Gedanken! Willst du Safrantee? Oder nicht doch lieber von den Weihrauchzäpfchen, die ich dir mitgebracht habe? Das Kind hat sich bis zuletzt nicht gedreht. Ich fürchte, du wirst einiges aushalten müssen, wenn es mit den Füßen oder seinem Hinterteil zuerst kommt.«
»Nein, lass nur, ich werde es auch so durchstehen.« Sarit versuchte, sich mit Selenes Hilfe etwas aufzusetzen. »Obwohl es sich anders anfühlt als bei den beiden ersten Malen. Beinahe, als ob ich von innen aufgerissen würde.« Keuchend redete sie weiter. »Aber es sind ja gar nicht die Schmerzen, die mir solche Angst machen, Selene. Was, wenn das Kind wieder wie das Kleine …«
»Hapis Segen wäre ihm auf jeden Fall gewiss. Und jetzt streng dich gefälligst an, meine Schöne! Was meiner Isis noch fehlt, ist eine lustige, kleine Freundin.«
Er liebte es, in den frühen Morgenstunden durch die Straßen zu laufen, wenn das Leben in den Innenhöfen erst allmählich begann. Sich in diesen geschenkten Stunden in einer Sänfte herumtragen zu lassen war etwas für Protzer oder Faulpelze, nichts jedoch für einen Mann wie Basa, der sich schon immer auf die Kraft seiner Muskeln und Sehnen verlassen hatte. Der Duft nach frischem Fladenbrot, der von unzähligen Feuerstellen aufstieg, ließ seine Schritte schneller und gleichmäßiger werden. Genauso hatte es in dem armseligen Haus in Mennefer gerochen, das er mit seiner Mutter bewohnt hatte, und manchmal waren die hauchdünn ausgerollten Fladen tagelang das Einzige gewesen, was die Witwe und ihr Sohn zu essen gehabt hatten.
Damals hatte er sich die meiste Zeit verzweifelt und niedergeschlagen gefühlt, selbst wenn sein Rücken ausnahmsweise nicht von ihren Stockhieben brannte. Damals hatte er sich geschworen, der Welt zu beweisen, was in ihm steckte, vor allem jedoch dieser unbarmherzigen Rächerin, die ihm zwar das Leben geschenkt hatte, ihn jedoch Tag für Tag härter dafür büßen ließ. Die Flecken und Blutergüsse auf seiner Haut mochten verblasst sein, aber es tat noch immer in den Knochen weh, dort, wo nur er wahrnehmen konnte, was sie ihm angetan hatte.
Unwillkürlich straffte er sich.
Inzwischen trug er seine verblichenen Narben wie Kampfspuren, und die Albträume behielt er für sich. Keiner würde in dem allseits geachteten Ersten Baumeister mehr den mageren, geduckten Jungen erkennen können, der vergeblich darauf gebrannt hatte, unbeschwert wie andere zu spielen – bis zu jenem Tag, an dem er durch einen älteren Freund zum ersten Mal von Imhotep erfahren hatte. Hoherpriester von Heliopolis war er gewesen, Ratgeber des Königs Djoser und Erbauer seiner großartigen Pyramide in Sakkara. Ganz Kernet verehrte ihn als Gott.
Die Vision, jenem Sagenumwobenen nachzueifern, hatte Jahre harter Entbehrungen erträglicher gemacht. Inzwischen hatte Basa trotz mancher Widerstände und Rückschläge erreicht, wovon andere nur träumten. Natürlich gehörte ganz Kernet dem Einzig-Einen; der allmächtige Pharao gebot über das Land und seine Erträge, er ließ Bauwerke errichten zum Lob der Götter. Aber er brauchte Menschen dazu, um Grund und Boden, Materialien und Tiere zu nutzen: Stadtfürsten, Priester, Verwalter – Männer wie ihn, die dabei Ehre und Reichtum erwerben konnten, wenn sie es geschickt anstellten. Basa war beides gelungen: Vom Taglöhner, der unter der Last der Steine schier zusammenbrach und auch die niedrigsten Dienste annehmen musste, um zu überleben, hatte er sich durch Fleiß, Klugheit und schließlich die Einheirat in eine der besten Familien zum Ersten Baumeister des Stadtfürsten Montemhet emporgearbeitet.
Und an einem blanken Morgen wie diesem kam es ihm vor, als sei Waset seine Stadt.
Viele der bunt bemalten Häuser trugen seine Handschrift. Seine Arbeiter standen im Ruf, solide Arbeit zu leisten, und errichteten das verzahnte Fachwerk so gekonnt, dass es die getrockneten Lehmziegel für mehr als eine Generation halten würde. Es hatte gedauert, bis er die überlieferten Techniken so weit verbessert hatte, dass sie seinen Ansprüchen genügten. Seine Spezialität waren Fußböden und Decken aus Balkenlagen, die mit Pech und Stroh versiegelt und erst anschließend mit Lehm geglättet wurden. Entwicklungen, die seine wohlhabende Kundschaft zu schätzen wusste. Niemals hatte es so großen Reichtum in Waset gegeben, nie zuvor war so viel Silber und Gold in Umlauf gewesen. Unter der inzwischen mehr als achtzigjährigen Herrschaft der schwarzen Pharaonen war die Stadt immer größer und prächtiger geworden, obwohl das nördlich gelegene Mennefer stets Residenz der Kuschiten blieb.
Eine Mauer schützte die »Siegreiche«, so der offizielle Name Wasets, vor Feinden, ausgedehnte Kanal- und Gartenanlagen verschönerten sie. Immer noch prachtvollere Bauwerke erhoben sich östlich des großen Flusses, der seit jeher das Ufer der Lebenden vom westlichen Totenreich trennte. Aber was waren schon die Lehmziegelbauten, was war selbst der mehrflügelige Palast des jüngst verstorbenen Pharaos Taharka gegenüber dem Haus für die Ewigkeit?
Was einzig und allein zählte, war die Tempelstadt von Ipetswt, erbaut zum Ruhm und zur Ehre des Gottes Amun-Re, dem wahren Herrscher Wasets. Als der gewaltige Säulenkiosk in Taharkas glücklichsten Regierungsjahren entstand, blieb Basa nichts anderes übrig, als ihr unaufhörliches Wachstum in den Himmel voller Sehnsucht und Neid zu verfolgen. Jahre später entschloss sich der Stadtfürst Montemhet, eine Osiris-Kapelle im Heiligtum errichten zu lassen, und beauftragte Basa damit. Nächtelang fand der Baumeister vor Aufregung keinen Schlaf mehr. Ein Teil seines früheren Lebens steckte noch immer wie ein Knochen in seiner Kehle, und kein noch so prall gefüllter Goldsack, kein noch so demütiges Wimmern einer Frau konnte etwas daran ändern. Aber er wusste nun, dass er die Schatten der Vergangenheit besiegen konnte – endgültig. Und nicht einmal der böse Geist seiner Mutter konnte ihn daran hindern.
Montemhet hatte ihn bei Baubeginn gemustert, als sei er durchsichtig wie helles Glas. »Eigentlich bist du ein Krieger, Basa. Mit schnellen Kamelen hast du begonnen, in der Wüste Nagas, zwischen Dünen und in flirrender Hitze. Inzwischen führst du deinen Kampf mit Steinquadern und Balkenkonstruktionen. Du willst hoch hinaus, sehr hoch, und wenn es einem gelingen wird, dann wahrscheinlich dir.« Der Stadtfürst strich sich über das markante Kinn, ein seltsamer Gegensatz zu seinen sonst eher weichen, fast weiblichen Zügen, über denen stets ein Hauch von Melancholie zu liegen schien. »Solange jedoch der Skorpion des Hasses in deinem Herzen wohnt, wirst du niemals Ruhe finden.«
Wie gelähmt hatte Basa zugehört, unfähig zu einer Reaktion. Montemhet hatte seinen Arm berührt, nur einen Lidschlag lang, was Basa kaum ertragen konnte, und sich dann abgewandt. Niemals mehr war er auf seine seltsame Äußerung zurückgekommen, auch nicht, als die Kapelle längst fertig und ihrer Bestimmung zugeführt war. Dennoch hatte es gedauert, bis Basa sich ihm wieder halbwegs unverkrampft nähern konnte, ohne sich entblößt vor ihm zu fühlen. Und bis zum heutigen Tag war ein Gefühl tiefer innerer Unsicherheit in ihm zurückgeblieben.
Inzwischen war er vor Montemhets Stadtpalais angelangt, einem erlesen eingerichteten Anwesen, das wie die meisten Häuser der Oberschicht einen eigenen Anlegeplatz besaß. Die Mauer, die den Garten umschloss, war nicht hoch genug, um jeden Einblick zu verwehren. Stimmengewirr und undefinierbare Geräusche drangen vom Ufer herüber. Unwillkürlich stellte sich Basa auf die Zehenspitzen. Dunkelhäutige Männer waren damit beschäftigt, schwere Holzkisten auf. zwei bauchige Lastsegler zu laden, die hintereinander geankert zur Abfahrt bereit schienen. Auf keinem von beiden konnte er das Wappen Montemhets entdecken, die blaue Lotosblüte, die jeden seiner Erlasse zierte und sich als Schmuckfries überall in seinem Haus wiederfand.
Für einen Augenblick erfasste Basa leichter Schwindel, und seine Handflächen wurden feucht. Was, wenn der Stadtfürst plante, ohne großes Aufsehen mit seinen wertvollsten Schätzen stromaufwärts zu segeln? Das würde bedeuten, dass Pharao Tanutamun die Stadt bereits aufgegeben hatte, um sie schutzlos den Truppen Aschurbanaplis zu überlassen.
Dann jedoch wurde Basa wieder ruhiger.
Gemeinsam hatten sie den Gefahren der westlichen Wüste getrotzt und den großen Fluss bis hinauf zum vierten Katarakt befahren, wo Napata lag, die sagenhafte Hauptstadt der Kuschiten. Montemhet verdankte er seinen Aufstieg, seinen Reichtum, in gewisser Weise sogar das Leben. Unterwegs hatte er unzählige Male Gelegenheit gehabt, den Charakter des Stadtfürsten zu studieren, und den Reisen waren Jahre ertragreicher Zusammenarbeit in Waset gefolgt. Mochte sein Gönner auch ein Meister der politischen Intrige sein, immer wieder zu Entschlüssen fähig, die alle vor den Kopf stießen – bestimmt aber war er kein Feigling und Verräter, der seine Stadt im Stich lassen würde.
»Du kommst spät.«
Es lag kein Vorwurf in der Stimme Montemhets, und trotzdem war es Basa, als habe er einen gut gezielten Hieb zwischen die Schulterblätter erhalten. Der Stadtfürst war ihm ein Stück entgegen gegangen, das Haar noch feucht von seinem morgendlichen Bad im Nil, das er niemals versäumte.
»Ich wurde aufgehalten«, sagte Basa kurz, weil er es hasste, sich unterlegen zu fühlen. Es kostete ihn Mühe, scheinbar gleichmütig weiterzusprechen, aber schließlich gelang es ihm. »Familienangelegenheiten. Mein Sohn scheint es eilig zu haben, zur Welt zu kommen. Aber es gibt offenbar Schwierigkeiten. Und ich habe seiner Mutter versprochen, bald zurück zu sein.« Sein Atem hatte sich beschleunigt. Die Lüge jedoch ging glatt und wie selbstverständlich über seine Lippen.
»Offenbar ein Held oder ein Narr.« Montemhet kam näher. »Und für beide brechen denkbar schlechte Zeiten an.« Er rieb sich die Augen, und erst jetzt bemerkte Basa die Schatten der Müdigkeit und die hohl gewordenen Wangenknochen. »Ich bin froh, dass meine beiden Söhne noch länger im Goldland bleiben werden. Komm ins Haus, Basa! Wir haben einiges zu besprechen.«
Er ging schnell voran, und seine Schritte waren fest, aber dennoch glaubte Basa, jenes seltsame Netz von Melancholie über ihm zu spüren, in dem man sich wie in einem feinen Gespinst verfangen konnte, wenn man nicht vorsichtig war. »Sind die Arbeiten an der Mauer abgeschlossen?«, fragte Montemhet, sobald sie den Innenhof erreicht hatten, um den sich seine privaten Gemächer gruppierten. Er bot ihm nicht die kleinste Erfrischung an, was Basa mit leisem Erstaunen registrierte. Obwohl die Sonne noch nicht hoch stand, war es bereits brütend warm, als hätte sich eine Hitzeglocke über die Stadt gestülpt.
»Unsere Stadtmauer ist so hoch und so stark wie nie zuvor«, erwiderte er mit trockener Kehle und entschloss sich, dieses merkwürdige Verhalten als Gedankenlosigkeit und nicht als Brüskierung zu bewerten. »Nur mit Leitern, die für Riesen gebaut wurden, könnten Feinde uns stürmen.«
»Das klingt gut – wäre es nicht ausgerechnet Assur, das die Waffen gegen uns erhoben hat. Was seine Truppen nicht im Sturm nehmen können, lassen sie gnadenlos ausbluten. Mir liegen Berichte über das einstmals prächtige Sidon vor, das sie in monatelanger Belagerung ausgehungert haben, bis auch die letzte Ratte verendet war.«
»Aber jenes Sidon teilte nicht unser Geheimnis«, sagte Basa nicht ohne Stolz.
»Der unterirdische Gang ist also fertig?«
»Seit gestern. Du hättest mich nicht rufen müssen. Ich wäre ohnehin zu dir gekommen.«
»Der Weg des Maulwurfs«, sagte Montemhet, schloss langsam die Augen und öffnete sie dann wieder, wie jemand, der aus einem Traum erwacht. »Manchmal muss man blind sein und bereit, bäuchlings im Staub zu kriechen, um die richtige Lösung zu finden.«
»Es gibt kein Bauwerk, das ich nicht persönlich abnehme«, sagte Basa leicht irritiert, weil er nicht wusste, was der Stadtfürst mit seinem seltsamen Vergleich meinte. »Du wirst mit unserer Arbeit zufrieden sein.«
»Und die Männer, die den Gang gebaut haben?«
»Haben die Stadt bereits verlassen. Wenn alles gut geht, können sie in zehn Tagen in den Steinbrüchen von Sunu mit ihrer Arbeit beginnen. Genau so, wie du befohlen hast.«
Montemhet nickte knapp und wandte sich ab.
Enttäuschung stieg säuerlich in Basa auf – und mehr als das. Seine Leute und er hatten unter schier unmenschlichen Bedingungen gearbeitet, um rechtzeitig fertig zu werden. Wieso kam dem Fürsten kein Lob, ja nicht einmal der Hauch einer Anerkennung über die Lippen? Er schien nicht einmal echtes Interesse aufzubringen. Dabei hätte er ihm so vieles zu sagen gehabt: Wie viele Schwierigkeiten es während des Grabens jeden Tag aufs Neue zu überwinden gab. Dass der Boden zu sandig war, um wirklichen Halt zu bieten. Und es Zeit und nervenaufreibende Mühe gekostet hatte, die komplizierten Balkenkonstruktionen zu planen und zu fertigen, die alles erst ermöglicht hatten.
»Willst du ihn dir nicht ansehen?«, musste Basa dennoch fragen. »Ich könnte dir alles zeigen.«
»Später.« Wie in Trance drehte sich Montemhet zu ihm um. »Du wirst bis zum Abend das westliche Tor bewachen. Begib dich unmittelbar dorthin. Die besten Männer meiner Garde stoßen zu dir. Verlasst euren Posten bis Sonnenuntergang unter keinen Umständen, was immer auch geschehen mag!«
Selten war Montemhet so wortkarg, ja fast schon harsch zu ihm gewesen. Basas Enttäuschung wuchs und war nahe daran, in Wut umzuschlagen. Was wollte der mächtigste Mann Wasets wirklich von ihm? Und was sollte er ausgerechnet am Westtor, das die Assyrer mit Sicherheit als Letztes für einen Angriff wählen würden? Ein Hinhaltemanöver, weil der Fürst ihn nicht ohne Weiteres in die Steinbrüche verbannen konnte?
Eine Flut widersprüchlichster Gefühle durchströmte ihn, und Basa spürte in seinem Mund den bitteren Geschmack des Hintergangenseins. Plötzlich wusste er, wem die Schiffe draußen am Anlegeplatz gehörten: Pharao Tanutamun, der mit ihnen in Sicherheit bringen ließ, was noch zu retten war. Offenbar dachte Montemhet nicht daran, seinen Ersten Baumeister auch nur mit einem Wort, mit irgendeiner Andeutung in diese Pläne einzuweihen. Ja, Basa hatte auf einmal das sichere Gefühl, dem Fürsten wäre lieber, er würde sehr viel weniger wissen.
Früher hätte er aufbegehrt und etwas gesagt, was er vielleicht schon bald darauf bereuen müsste, inzwischen jedoch hatte er dazugelernt. Kein unvorsichtiger Laut kam über seine Lippen. Stattdessen verneigte er sich, allenfalls eine Spur förmlicher als sonst.
»Wir erwarten deine weiteren Befehle, ›Großer in Waset‹, sagte er. »Amun schütze und bewahre dich!«
Danach verließ er das Palais.
Wie immer, wenn er seinen Bewacherinnen entkommen konnte, lief Khay zu dem Zimmer, das er eigentlich nicht betreten sollte, ohne zu verstehen, weshalb. Denn er liebte das kleine Wesen, das hinter der einfachen Holztüre lebte, und dass Ruza meistens bei dem Kind war, die er ebenfalls gern hatte, vergrößerte seine Freude. Selbst wenn das Kleine in seinem Bett schlief wie jetzt, machte es Spaß, es anzusehen, den warmen Geruch wahrzunehmen, den es verströmte, oder seine zarte Haut zu berühren. Natürlich war es noch viel zu ungeschickt, um mit ihm richtig zu spielen, aber inzwischen konnte es wenigstens einigermaßen stehen. Ruza hatte ihm erst neulich voll Stolz seine ersten schwankenden Schrittchen an ihrer Hand vorgeführt.
Khay war sich nicht ganz sicher, ob das Kleine Ruza gehörte, sicher aber beinahe. Denn der Vater mied seine Nähe, und Marna benahm sich seltsam, wenn sie es sah. Manchmal weinte sie und drückte es so fest an sich, dass es erschrocken zu schreien begann, dann wieder stieß sie es abrupt weg oder würdigte es keines Blickes, wenn die Amme es ihr reichen wollte.
Ruza war es auch, die es von Anfang an genährt hatte: zuerst an ihrer vollen Brust, was ihn ganz neidisch gemacht hatte, später zusätzlich mit einem feinen Papyrustrichter, durch den sie ihm Milch und Honig einflößte. Es gefiel Khay nicht, dass sie dabei feuchte Augen und einen seltsam abwesenden Gesichtsausdruck bekam, während das Kind das Gemisch gierig einsog und mit seinen Beinchen strampelte. Dann krampfte etwas sein Herz zusammen, und er musste unbedingt auf Ruzas Schoß, um seinen Platz zu behaupten. Aber das waren Gefühle, die schnell wieder vergingen, und wenn er sich beim nächsten Mal auf die Zehen stellte, um die verbotene Türe zu öffnen, konnte er sich kaum mehr an sie erinnern.
»Ibib?«
Das Kind sollte nicht länger schlafen, und weil es noch keinen Namen hatte, nannte er es einfach so, wie der Vater ihn nannte, wenn er besonders guter Laune war. Ihm war langweilig. Zuvor hatte ihn die alte Neshet beim Waschen so fest zwischen die mageren Schenkel geklemmt, dass er nicht hatte weglaufen können. Dann hatte er unter ihren wachsamen Augen auch noch so viel Brot, Datteln und Entenbraten essen müssen, bis sein Bauch ganz rund geworden war. Erst als sie auch den zweiten Krug Bier ausgetrunken hatte, erlahmte ihre Aufmerksamkeit. Ihr Blick wurde glasig, die Bewegungen bekamen etwas Fahriges. Schließlich sackte sie zusammen. Seltsame Knurrlaute drangen aus ihrem halb geöffneten Mund.
Höchste Zeit, unauffällig zu verschwinden! Denn seitdem Ruza bei Mama ausharrte, gab es weit und breit niemanden zum Spielen.
»Ibib?«
Vorsichtig berührte Khay die kurze, leicht nach oben gebogene Nase des Kleinen. Dann spuckte er auf den Zeigefinger und versuchte vergeblich, den dunklen Fleck neben dem Auge des Kindes wegzuwischen, der ihn immer irritierte.
Das Kleine schlug die Augen auf und lächelte, als es Khay sah. Seine Händchen griffen in die Luft und zerrten dann mit erstaunlicher Kraft an seinen Haaren.
Khay riss sich los. Er half dem Kleinen beim Aufsetzen und hätte es am liebsten aus dem Bett geholt, aber die Erinnerung an das, was geschehen war, als er es beim letzten Mal versucht hatte, hielt ihn im letzten Augenblick davon ab.
»Was habe ich dir gesagt?« Er war zu vertieft in sein Tun gewesen, um die Schritte hinter sich zu hören, und hätte das Kleine vor Schreck beinahe fallen lassen. Der Vater hatte im Zimmer gestanden, wutentbrannt, und das Kind so grob ins Bett zurückgestopft, dass es sofort zu schreien begann. Unwillkürlich hatte Khay sich kleiner gemacht und versuchsweise begonnen zu lächeln. Manchmal warf ihn der Vater durch die Luft, wenn er gute Laune hatte. Aber heute hatte er kein Glück.
Die Ohrfeige, die der Vater ihm ohne Vorwarnung versetzte, ließ ihn taumeln. Er schluckte tief, als bekäme er keine Luft, und versuchte tapfer gegen die aufsteigenden Tränen anzukämpfen, was allerdings misslang.
»Wenn du noch einmal hierher kommst, kannst du was erleben! Dann prügle ich dich windelweich, bis du endlich kapierst, dass du hier nichts verloren hast. Verstanden?«
Er versetzte dem Kleinen einen wütenden Stups, dass es neuerlich aufkreischte, und zerrte seinen Erstgeborenen aus dem Zimmer.
Jener Ohrfeige waren weitere gefolgt, mal kräftiger, mal weniger stark, stets jedoch unvorhersehbar wie ein schnell aufziehender Sturm. Seitdem duckte sich Khay vorsichtshalber, wenn er in die Nähe des Vaters kam. Manchmal konnte er seinen Zorn förmlich riechen, dann kroch er schnell unter den Tisch, versteckte sich hinter einer Tür oder versuchte, sich unsichtbar zu machen. Auch wenn der Vater zunächst freundlich wirkte, war es besser, nicht darauf zu vertrauen. Khay erschien es sicherer, den großen Händen auszuweichen, die so hart zuschlagen konnten. Manchmal spürte er sie in seinen Träumen, dann weinte er beim Aufwachen so lange, bis Mama kam und ihn tröstete.
Aber seitdem ihr Bauch so unförmig dick geworden war, dass sie kaum noch ihr Zimmer verließ, schien sie ihn irgendwie vergessen zu haben. Er war viel allein, und die Sehnsucht nach dem Kleinen wurde größer als seine Angst. Deshalb war er auch heute hergekommen – nicht mit leeren Händen. Vorsichtig breitete er seine Geschenke auf der dünnen Decke aus, die das Kleine halb weggestrampelt hatte: einen kleinen Holzwagen, mit dem er besonders gern spielte, obwohl er schon reichlich ramponiert war, und angebissenes Fladenbrot, das er zusammen mit den getrockneten Feigen aus der Küche stibitzt hatte, als Letztes einen Tonkrug, noch halb mit Dattelbier gefüllt, den er unter der schnarchenden Neshet weggezogen hatte.
Das Kind schien richtig hungrig zu sein, denn es packte sofort eine Feige und begann mit offensichtlichem Genuss an ihr zu nuckeln. Dann langte es tapsig nach dem Krug, aber dafür war es noch zu klein. Khay hob ihn an den Mund des Kleinen und half ihm beim Trinken.
»Ich komme jetzt zu dir«, sagte Khay. »Willst du?«
Ein zufriedenes Glucksen schien ihm Antwort genug.
Er kletterte zu dem Kleinen ins Bett und nahm selbst einen großen Schluck aus dem Krug. Aus der Nähe roch das Kind heute etwas streng, aber es war trotzdem gemütlich, dicht neben ihm zu liegen. Beide tranken noch einmal von der warmen, inzwischen schal gewordenen Flüssigkeit. Und noch einmal und noch einmal, bis der Krug leer war. Dann rollte Khay sich zusammen, und schon bald waren die beiden aneinandergeschmiegt eingeschlafen.
Jedes Mal, wenn er sie sah, schien sie noch größer und mächtiger geworden zu sein: ein eindrucksvolles Massiv aus bronzefarbenem Fleisch, das sich bei der leisesten Bewegung in ein Meer zitternder Wellen verwandelte. Es erstaunte ihn immer wieder, mit welch wütender Entschlossenheit sie diese Wandlung zustande gebracht hatte. Denn als er sie vor vielen Jahren kennen gelernt hatte, war Schepenupet ebenso schlank und geschmeidig gewesen wie Udjarenes, die er vor einem halben Menschenleben geheiratet hatte. Heute würde es niemandem in den Sinn kommen, die beiden Frauen miteinander zu vergleichen, damals aber waren sie sich so ähnlich gewesen, dass man sie ohne weiteres für Schwestern hätte halten können: zwei schöne Kuschitinnen, die gemeinsam am Pharaonenhof von Napata aufwuchsen.
Er hatte sich nicht gleich in Udjarenes verliebt, die noch sehr jung gewesen war und fast krankhaft schüchtern, sondern zunächst nur Augen für Schepenupet gehabt, die ihm kühner, schlagfertiger und um vieles interessanter erschien. Zudem war sie die beste Kamelreiterin, der er jemals begegnet war.
»Eine Tochter des Windes, ja, das wäre ich am liebsten«, hatte sie lachend gerufen, als sie bei einem Rennen wieder einmal als Erste das Ziel erreichte. »Dann könnte ich mein Leben lang in Zelten wohnen.«
»Was willst du denn bei den Sandfressern?«, hatte er erstaunt gefragt, als sie dann zusammen am Feuer saßen, über sich den sternenübersäten Wüstenhimmel. »Wo es doch weit und breit keinen prachtvolleren Palast als euren gibt!«
Ihr Lachen klang noch immer in seinem Ohr.
»Menschen, die in Häusern leben, gebrauchen ihre Füße nicht. Sie können nicht gehen, wohin sie wollen. Daher sind sie auch nicht frei. Ich aber möchte die Herrin meines eigenen Lebens sein.«
Sie warf den Kopf zurück, dass die schweren goldenen Ringe an ihren Ohren klirrten. Montemhet betrachtete sie hingerissen, überzeugt davon, niemals zuvor eine anziehendere, eine geheimnisvollere Frau gesehen zu haben. Ein paar unbeschwerte Wochen lang machte er ihr den Hof, und zu seinem Glück schien sie seine Gefühle zu erwidern. Damals war er bereits Vierter Prophet des Amun, ein junger, ehrgeiziger Mann aus bester Familie, der es bestimmt noch weit bringen würde.
Dann jedoch gab Pharao Taharka ihm unmissverständlich zu verstehen, dass er ganz andere Pläne mit seiner Schwester habe. »Sie wird die ›Gottesgemahlin des Amun‹«, sagte er, »und damit die eigentliche Herrscherin Wasets. Zu gegebener Zeit wird sie meine Tochter Amenardis adoptieren, damit die Kontinuität gewahrt bleibt. Sieh dich vor, Montemhet! Der Gott ist eifersüchtig und nicht bereit, Schepenupet mit jemand anderem zu teilen – schon gar nicht mit einem gewöhnlichen Sterblichen!«
Bevor er noch richtig begriffen hatte, war er bereits entlassen. Wenige Tage später erhielt er von Taharka die Nachricht, dass er zum »Großen in Waset« und damit zum Fürsten ganz Oberägyptens erhoben war. Es wollte ihm nicht gelingen, sich darüber zu freuen, so benommen fühlte er sich. Und auch Schepenupet gegenüber war er plötzlich gehemmt. Auf einmal empfand er Unsicherheit, wo zuvor nur Freude und rückhaltlose Verehrung geherrscht hatten.
Die Prinzessin freilich schienen die Pläne ihres königlichen Bruders wenig zu interessieren. Nach wie vor begegnete sie Montemhet freundlich und ließ ihn ihre Gunst durch tausenderlei kleine Gesten und Andeutungen wissen.
Allmählich gewann er seine Sicherheit wieder. Er spürte, dass sie an ihn dachte, ihn am liebsten ständig um sich haben wollte, vielleicht sogar von ihm träumte. Und er begehrte sie nach wie vor. Alles andere erschien ihm plötzlich unbedeutend. Sie war seine Gegenwart, seine Zukunft – sein Leben.
Bis zu jenem Abend, an dem sie ihn in einen abgelegenen Winkel des Palastgartens bestellte und ihm unter Palmen und Akazien ohne lange Vorrede eröffnete, dass ihre Adoption durch die amtierende Gottesgemahlin des Amun beschlossene Sache war. In wenigen Tagen würde sie Napata verlassen, um stromabwärts zu segeln. Fortan war ihre Heimat in der Tempelstadt von Ipet-swt – ganz in seiner Nähe, aber dennoch unerreichbar für ihn.
Er schwieg, unfähig zu einer Erwiderung.
»Ich hatte geglaubt, du könntest in meinem Herzen lesen«, sagte sie mit zitternder Stimme.
»Ich dachte das Gleiche. Aber es war eine Lüge, was ich da sah.«
»Es war keine Lüge, und du weißt es. Aber ich bin dem Gott versprochen, und ich werde dieses Versprechen halten.«
Beide standen eng beisammen, Haut berührte Haut. Am schwierigsten würde es sein, ihr Lächeln zu vergessen. Er wünschte, er könnte es noch einmal sehen – in diesem Augenblick.
»Versprochen!«, wiederholte er bitter. »Und das aus dem Mund einer ›Tochter des Windes‹, die geschworen hat, nie jemanden über sich herrschen zu lassen?«
»Allein«, sagte sie nach einer kleinen Weile, »allein mit dir selbst. In dir selbst. Bist du das manchmal, Montemhet?«
»Immer«, flüsterte er. »Außer wenn du bei mir bist. Wie soll ich ohne dich weiterleben?«
»Küss mich!«, sagte sie daraufhin. »Worauf wartest du noch?«
Seine Lippen berührten ihren Mund. Blind, aber mit sicherem Griff umfingen sie einander wie in einem Tanz und sanken unter einen blühenden Busch neben einen der unzähligen künstlichen Wasserläufe, von denen die gesamte Anlage durchzogen war. Neugierig, ohne Scham und wie selbstverständlich gab sie sich ihm hin, stöhnte auf vor Schmerz und Genuss. Eine ziellose Lust stieg in ihm auf, zu nehmen und zu besitzen, was er nicht besitzen durfte. Beide sagten nichts, sondern vertrauten ihrer Sehnsucht und dem immer rascher werdenden Schlag ihrer Herzen.
»Das hätten wir nicht tun dürfen«, sagte er, als sein Atem wieder ruhiger ging, noch immer hin- und hergerissen zwischen Angst und Glück.
Sie blieb zunächst still. Da erkannte er an ihren Schultern, dass sie weinte.
»Weshalb nicht?«, sagte sie schließlich. Ihre Haut war lange nicht so dunkel wie die Taharkas, die poliertem Ebenholz glich, aber auch nicht so hell wie die der schüchternen Udjarenes, deren Gesichtsfarbe an altes Elfenbein erinnerte. Im Mondlicht erschien ihm Schepenupets Haut wie poliertes Gold, über dem ein zarter Silberschimmer lag. »Die ›Gottesgemahlin‹ bekommt doch ihre Adoptivtochter, die später wieder eine Tochter adoptieren wird, damit alles so bleibt, wie es ist. Und der Gott wollte eine Frau, kein Mädchen. Die kriegt er jetzt.«
»Und was ist mit mir? Mit uns?«
Ihr Gesicht veränderte sich. Die Traurigkeit verschwand und der vertraute Übermut kehrte zurück. Sie führte seinen Finger in ihren Mund und leckte an ihm wie eine Katze. Sein Leib begann erneut zu glühen.
»Jetzt sind wir niemals mehr allein«, flüsterte sie und grub ihre Zähne spielerisch in seinen Hals.
»Meine innigst Geliebte!«
Und sie liebten sich erneut, bis der Morgen kam und sie im ersten Licht taumelnd vor Übermüdung voneinander Abschied nahmen. Er hatte versprechen müssen, sich nicht nach ihr umzudrehen – und es schließlich doch getan. Ihr wiegender Schritt, die sanfte Bewegung ihrer Hüften und das Wippen ihrer Haare waren seitdem in seinem Gedächtnis eingebrannt.
»Nur wenn wir lieben, sind wir unsterblich«, hatte er ihr hinterher gerufen und geglaubt, im nächsten Augenblick zu Boden sinken zu müssen, so schneidend hatte ihn der Schmerz durchfahren. »Vergiss mich nicht!«
Wie gut sie einander kannten und wie wenig sie doch nach all den langen Jahren voneinander wussten! Fast hätte Montemhet schwören können, dass sie sich bei seinem Anblick ebenso an jene Nacht erinnerte, seit der für ihn Süßes untrennbar mit Bitterem vermischt war, so weich sah sie ihn an. Dann jedoch verengten sich ihre Augen. Sie griff nach den kandierten Früchten, die in einer Schale neben ihr standen, und begann konzentriert zu essen.
»Wie geht es Udjarenes?«, fragte sie scheinbar beiläufig.
»Besser«, erwiderte er. »Der neue Arzt scheint sein Handwerk endlich zu verstehen. Sie sendet dir ihre verbindlichsten Grüße.«
»Meiner Ansicht nach heißt die Krankheit, an der sie leidet, Alter«, erwiderte Schepenupet, schärfer als beabsichtigt. »Einigen Frauen setzt sie so zu, dass sie schließlich weit vor der Zeit an ihr sterben.« Als sie sah, wie er die Stirn runzelte, wurde ihr Ton versöhnlicher. »Ich könnte ihr meinen Koch ausleihen. Aber vermutlich würde deine Gattin die Großzügigkeit dieses Angebots ohnehin nicht ermessen können. Möge ihr Tag duften wie eine Blume! Bitte, bestell ihr das von mir!«
»Der unterirdische Gang ist fertig«, wechselte er abrupt das Thema, während er fasziniert zusah, wie sich die Schale im Nu unter ihren Fingern geleert hatte. Sie waren das Einzige, was noch das Mädchen von damals verriet – lang und schmal, geschmückt mit Dutzenden goldener Ringe. »Und alle Mitwisser haben die Stadt verlassen.«
»Der Baumeister auch?«
»Ich wollte vermeiden, seinen Argwohn zu wecken. Aber du kannst beruhigt sein. Basa wird keine Zeit finden, uns nachzuspionieren.«
»Selbst im günstigen Fall könnten den Gang ohnehin nur ein paar hundert Menschen benutzen, niemals aber eine ganze Stadt, richtig?« Schepenupet sah ihn an, als hänge von seiner Antwort alles ab. »Mehr lässt ein Gang dieser Größe doch nicht zu.«
Montemhet nickte. Sie hatten diesen Punkt wieder und wieder besprochen.
»Und die anderen? Die vielen, die nicht mehr zu retten wären – Frauen, Greise und Kinder? Haben wir uns richtig entschieden, Montemhet? Oder gibt es doch noch einen anderen Ausweg für Waset?«
»Zu Amun habe ich immer wieder um eine Lösung gefleht. Aber du weißt so gut wie ich, was uns bevorsteht.«
Mit seinem vielköpfigen Gefolge war Tanutamun im letzten Mond in die Stadt geflohen. Als Pharao kaum talentierter denn als Feldherr, hatte der Neffe Taharkas offenbar wenig Gedanken daran verschwendet, was diese Flucht für seine Armee bedeutete, die von den Assyrern bei Mennefer vernichtend geschlagen worden war. Geschweige denn, was mit den Bewohnern Wasets geschehen würde, wenn die Truppen Aschurbanaplis in die Stadt eindringen würden.
»Sie töten lieber, als Gefangene zu machen«, fügte Montemhet hinzu. »Und wen sie lebendig nach Ninive mitnehmen, dem rauben sie Zunge und Hände, damit er künftig weder gegen sie reden noch handeln kann.«
»Hast du deine Söhne deshalb schon vor Wochen nach Napata geschickt?«
Montemhet machte eine Kopfbewegung, die sich als Nicken deuten ließ. Seit langem stand für ihn fest, dass sein jüngerer Sohn Nesptah ihm einmal im Amt nachfolgen solle, während der ältere, Patjenfi, keinerlei Ehrgeiz in dieser Richtung entwickelte, sondern eher kaufmännische Begabung ahnen ließ. So unterschiedlich sie auch waren, in beiden vermischte sich das Blut Kemets mit dem Tanubs, das Norden und Süden untrennbar verband. Er war ihm wichtig, dass sie ihre Wurzeln niemals vergaßen.
»Ich würde nicht anders handeln, hätten die Götter mir einen Sohn geschenkt. Kein anderes Volk ist so unbarmherzig wie die Söhne Assurs. Niemand, der je in ihrer Gewalt war, kam unversehrt davon.«
»Mit einer Ausnahme.« Jetzt war Montemhet es, der sie gespannt musterte. Wirkte sie deshalb so kühl, weil sie ihr Herz schon vor Jahren gegen einen Stein vertauscht hatte? »Necho von Saïs, der Deltafürst, der mit allen Würden wieder eingesetzt wurde. Allerdings ist er inzwischen tot – es wird gemunkelt, durch die Hand seines eigenen Sohnes.«
»Habe ich eben von Grausamkeit gesprochen?« Die goldenen Reifen an ihren Handgelenken klimperten. Sie waren weit genug, um von einer anderen Frau als Armspangen getragen zu werden. »Sie scheint mir nicht auf Assur begrenzt. Mein Bruder Taharka wäre niemals Pharao geworden, hätte er seinen Vorgänger nicht beseitigen lassen. Ebenso wenig wie Tanutamun vermutlich jemals den Thron bestiegen hätte, wäre Taharka nicht so plötzlich gestorben.«
»Seit seinem Tod ist der Himmel über Kemet dunkel geworden«, sagte Montemhet bewegt. »Ich wusste schon zu seinen Lebzeiten, dass er groß war. Aber noch nicht, wie groß.«
»Und der Himmel wird noch dunkler werden, wenn wir nicht eiligst handeln.« Die »Gottesgemahlin des Amun« erhob sich, erstaunlich geschmeidig für ihre Fülle. Das Rascheln ihres Gewandes verursachte Montemhet Gänsehaut. »Dir ist bekannt, was mit einer besiegten Stadt geschieht, nachdem sie gefallen ist?«
Er nickte, unfähig, den Blick von ihr abzuwenden.
»Dann lass den Führer des feindlichen Heeres nicht länger warten! Assur ist ihr Krieggott; zu ihm rufen sie, wenn sie ihre Bogen spannen und ihre Schwerter schwingen, zu seinen Ehren plündern, töten und schänden sie, und er kennt keine Gnade. Wir sollten nicht riskieren, den Heeresführer noch ungnädiger zu stimmen, auch wenn es nicht der König selber ist, sondern nur dessen oberster General – nicht in der bedrängten Lage, in der wir uns befinden.« Sie schritt zur Tür. Wie ein silberner Wasserfall floss der überreich gefältelte Stoff hinter ihr her.
»Und Tanutamun?«, murmelte er in ihren Rücken.
»Die Zeit der Kuschiten in Kemet geht zu Ende«, sagte sie, ohne sich umzuwenden. »Und nicht einmal wir beide, die das Goldland so sehr lieben, werden etwas daran ändern.« Er hörte ihr vertrautes Lachen. »Du kannst es ruhig glauben, Montemhet, denn diese Prophezeiung kommt schließlich aus dem Mund einer schwarzen Prinzessin.«
»Und Amenardis? Was wird aus ihr?«
»Die künftige Gottesgemahlin, was sonst? Dem Unsichtbaren ist es gleichgültig, welche Hautfarbe seine Gemahlinnen haben, wusstest du das noch nicht?« Sie lachte abermals. »Pharao Tanutamun hat sich übrigens auf das Westufer zurückgezogen. Aber auch zwischen den Mumien seiner Vorgänger wird er sich nicht mehr lange aufhalten. Deine Lastsegler sind zur Abfahrt bereit?«
»Im Schutz der Nacht wollen sie die Anker lichten«, sagte er, erstaunt darüber, wie gut sie wieder einmal informiert war.
»Ihre Fracht wird noch kostbarer sein, als es nach außen hin erscheint. Du hast vorzügliche Arbeit geleistet, mein treuloser Geliebter.« Er konnte nicht aufhören, auf ihre Schultern zu starren, die fast ebenso breit waren wie seine. »Ich weiß das zu schätzen. Auch, wenn wir nicht unsterblich geworden sind – weder du noch ich.«
»Das Wichtigste in der Liebe ist die Sehnsucht«, erwiderte er und verging plötzlich vor Verlangen, sie zu berühren. Würde er ihre Kühle zum Schmelzen bringen können und unter den schützenden Fleischbergen sein heißes, zärtliches Mädchen von damals wiederfinden? »Wenn sie auch mit der Erfüllung erlischt. Deshalb ist die leidenschaftlichste Liebe stets die unerfüllte.« Er hielt kurz inne. »Vielleicht haben wir beide Glück gehabt, Schepenupet, trotz allem. Mehr, als wir uns vorstellen können.«
Natürlich erhielt er keine Antwort.
Er hatte auch keine erwartet. Aber zu seiner Befriedigung fiel die Tür hinter ihr mit deutlicher Verzögerung ins Schloss.
Das Kind lag verkehrt und kam nicht heraus – auch nach langen Stunden nicht. Inzwischen war es Nachmittag geworden, und noch immer arbeiteten die drei Frauen schweißüberströmt zusammen, Selene, die halblaut Anweisungen gab und alles versuchte, um das unerträgliche Los der Gebärenden zu erleichtern, Ruza, die schweigsam und mürrisch tat, was ihr geheißen wurde, und schließlich Sarit, die mit der schwindenden Kraft auch immer mehr den Mut verlor.
»Er hat mich verwünscht«, sagte sie erschöpft. »Er will mich vernichten.« Sie schrie auf.
Selene legte die Hand auf ihren Bauch, der sich in heftigen Wogen bewegte. Sie hatte gerade ihre kleine Tochter gestillt und gewickelt, die zum Glück wieder eingeschlafen war.
»Hilf ihr, allmächtige Isis!«, murmelte sie. »Steh ihr bei!«
»Lasst mich einfach sterben – immer noch besser als diese unerträglichen Schmerzen!«, flehte die Gebärende.
»So kommen wir nicht weiter«, sagte Ruza, »wir hätten erst gar nicht so lange warten sollen. Vermutlich muss sie sogar aufgeschnitten werden. Wir müssen Hilfe holen, und das schnell, sonst stirbt sie uns wirklich noch.«
Sarit verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Jetzt bekam sogar Selene Angst. Der Geruch nach Blut aus der Tiefe des weichen, geschundenen Unterleibs ließ sie unwillkürlich zurückzucken.
»Nicht weggehen!«, murmelte die Gebärende. »Bleib da! Sonst holt Basa mein Kleines.«
»Solange ich atme, wird er dein Kind nicht anrühren, das schwöre ich dir.« Selene wandte sich halb zu Ruza um. »Aber ich fürchte, du hast Recht. Es gibt nur eine, die uns wirklich helfen kann – Itaui, die beste Hebamme der Stadt. Hol sie! Sofort!«
»Und wie soll ich ihr Haus finden?«
»Du erkennst es an der blauen Tür. Es liegt direkt am Markt. Du kannst es gar nicht verfehlen.«
Erstaunlicherweise gehorchte Ruza ohne Widerworte. Allerdings wandte sie sich zuerst dorthin, wohin ihr Herz sie schon seit Stunden zog. Als sie ihr Zimmer betrat, in dem die Luft vor Hitze zu stehen schien, hielt sie inne. Die Kinder schliefen, trotz der Sonnenglut ein schier unentwirrbares Knäuel aus Beinen und Armen. Jetzt, da sie so nah beieinander lagen, fiel die Ähnlichkeit zwischen ihnen auf mehr als sonst: die gewölbte Stirn und der hohe, spitz zulaufende Haaransatz. Beide hatten volle, geschwungene Lippen, lange Wimpern und vom Schlaf rosige Wangen. Aber was bei Khay übermütig und kraftvoll war, wirkte bei dem jüngeren Kind unschuldig und zart.
Sie kam näher und schnupperte.
Die beiden hatten offenbar Dattelbier getrunken, und nicht gerade wenig, darum schliefen sie so fest. Eigentlich hielt sie nichts davon, das Getränk schon kleinen Kindern einzuflößen, auch wenn viele Frauen zu diesem bewährten Mittel griffen, um ihre Ruhe zu haben. Aber heute war sie froh darüber. Je weniger die Kinder mitbekamen, desto besser. Sie hoffte nur, alles würde bald vorüber sein.
Deshalb ging sie sehr vorsichtig vor, als sie das Kleine ein Stückchen von Khay wegrollte und auspackte.
»Mein Kleines!«, flüsterte sie voller Rührung, nachdem sie die Windel wieder geschlossen hatte, und küsste den dunklen Fleck neben dem Auge, den sie am allermeisten liebte, weil er für sie wie ein Edelstein aussah. »Nur noch ein wenig Geduld! Dann bringe ich dich für immer fort aus diesem schrecklichen Haus. Und niemand wird jemals mehr wagen, dir weh zu tun, das verspreche ich dir!«
Glühende Hitze umfing sie, als sie nach draußen trat.
Die Straße hinunter zum Markt lag wie ausgestorben vor ihr. Alles schien sich in den Schutz der Häuser zurückgezogen zu haben. Aber es war keine friedliche nachmittägliche Stille wie sonst, wenn die Sonne so erbarmungslos herunterbrannte, dass nicht einmal die streunenden Hunde ihre Schattenplätze verließen. Vielmehr kam es Ruza so vor, als halte die ganze Stadt den Atem an.
Sie ging schnell, obwohl sie schon bald zu keuchen begann. Der Schweiß lief an ihr hinunter und sammelte sich als Rinnsal zwischen ihren Brüsten; auch die Handflächen waren feucht. Trotzdem wurde sie nicht langsamer, im Gegenteil, sie versuchte, noch schneller voranzukommen. Fort, dachte sie bei jedem Schritt, bald bin ich fort und das Kleine mit mir. Dann bin ich seine Mutter, und niemand kann es mir wieder wegnehmen.
Das von Selene bezeichnete Haus entdeckte sie auf Anhieb. Sie wollte schon anklopfen, fand zu ihrem Erstaunen die blaue Türe jedoch angelehnt. Unschlüssig trat sie ein. Irgendwo in der Nachbarschaft jaulte ein Hund, sonst war es ruhig, geradezu unnatürlich ruhig.
»Itaui?«
Der erste Raum – ein einziges wildes Durcheinander. Möbel waren umgeworfen, der Inhalt einer Truhe lag am Boden verstreut. Zahllose Fliegen schwärmten herum, angelockt von einem warmen, süßlichen Geruch, der Ruza unangenehm in die Nase stieg.
»Itaui?«, wiederholte sie, um vieles zaghafter. »Ist da jemand? Ich bin es, Ruza. Selene schickt mich.«
Alles blieb still. Zumindest kam es ihr zunächst so vor. Aber atmete nicht da jemand ganz in ihrer Nähe?
Vor dem zweiten Zimmer entdeckte sie eine Blutspur, die zum Innenhof führte, wo wie in den meisten Häusern Wasets die offene Küche lag.
Sie folgte der Spur, wie von einem unsichtbaren Faden geführt.
Später hätte Ruza nicht mehr genau sagen können, was sie voller Entsetzen zuerst wahrgenommen hatte: den Leichnam der halb nackten Frau, der man das Kleid zerrissen und schräg über die Hüften geschoben hatte, ihre klaffende Kehle oder den Krieger, der über der Frau kniete, in der Rechten einen blutbeschmierten Dolch, in der anderen Hand eine dünne silberne Kette, an der ein Anch-Zeichen baumelte.
Sie begann zu zwinkern, im Glauben, die Augen wollten ihr den Gehorsam verweigern. Aber es war kein böser Traum, aus dem sie gleich erwachen würde. Sie sah den Rundhelm mit den ledernen Wangenklappen, die Panzerjacke und den langen Schild, den der Soldat neben sich abgelegt hatte, um sein grausames Werk zu vollenden.
Sie konnte sich nicht rühren.
Der Krieger hob den Kopf und sah sie an. Gleichgültige Augen von einem hellen, verwaschenen Blau, die sie aufmerksam und ohne Scheu musterten, als taxiere er bereits seine nächste Beute.
Ruza drehte sich um und rannte wie von bösen Dämonen getrieben hinaus. Der Schrei, der in ihrer Kehle gesteckt hatte, löste sich erst, als sie ein paar Ecken weiter war und beim Zurückschauen keinen Verfolger hinter sich entdeckte.
Dann fiel ihr plötzlich ein, was sie am meisten an dem Krieger verwirrt hatte: der dunkle Bart, der bis zu seiner Brust reichte.
Sie konnten ihn nicht leiden, das hatte er gleich zu Anfang gespürt, vermutlich aus Neid, weil er in der Gunst des Fürsten so weit oben stand. Inzwischen hätte er wetten können, dass ihre anfängliche Abneigung in Verachtung umgeschlagen war, die einfachste Lösung für schlichte Gemüter wie sie, die lauthals rätselten, weshalb sie ausgerechnet ans Westtor abkommandiert waren – zusammen mit dem Ersten Baumeister. Vermutlich langweilten sie sich kaum weniger als er, aber im Gegensatz zu ihm, der jede Form von Untätigkeit kaum ertragen konnte, waren sie es gewohnt, auf Befehle zu warten.
Die meisten von ihnen kannte er vom Sehen, allen voran Pepi, Montemhets neuen Leibwächter, der vor kurzem den alten Senu abgelöst hatte: ein junger Mann mit einem Nacken wie ein Flusspferd, der ständig fluchte. Die Anwesenheit Basas, der sich bewusst abseits hielt, schien ihn dabei noch anzustacheln.
»Von mir aus können diese stinkenden assyrischen Hyänen ruhig mit ihren verdammten Rammböcken anrücken«, protzte er. »Allerdings werden wir ihnen dabei in ihre Bärte speien, dass sie es niemals vergessen.«
Ein Vorschlag, der den anderen Gardisten besonders gut gefiel.
»Wir schneiden ihnen die Eier ab und rösten sie. Danach schicken wir diese Eunuchen in die Steinbrüche, bis sie allen Saft verloren haben«, fuhr Pepi fort, angestachelt durch das zustimmende Grölen der Männer, die zum Essen mehr Wein getrunken hatten, als ihnen bekommen war. »Oder wir schlagen jedem, der unsere Stadt betreten will, als Begrüßung die rechte Hand ab. Dann wird er es sich künftig überlegen, Waset noch einmal anzugreifen.«
Angewidert wandte Basa sich ab.
Eigentlich war er gern unter Männern, viel lieber als in weiblicher Gesellschaft. Diese Kerle jedoch, die nichts als Zoten rissen, waren ihm dann doch zu grob. Außerdem bewegten ihn ganz andere Sorgen. Immer wieder war er mit seinen Gedanken bei Montemhet, der alles daran gesetzt hatte, ihn so schnell wie möglich loszuwerden.
Was war der wirkliche Grund für sein Ausweichmanöver?
So sehr er seinen Kopf auch marterte, ihm wollte keine plausible Lösung einfallen. Aber das war nicht das Einzige, das ihn quälte. Ein ungutes Gefühl hatte er schon morgens gehabt, als er sein Haus verlassen hatte. Was immer sich dort auch in den vergangenen Stunden zugetragen haben mochte, er musste es erfahren.
Das Bild Sarits auf dem zerwühlten Bett stieg in ihm empor, und seine Bitternis wuchs. Es war ihre Kühle, die ihn inzwischen zur Raserei treiben konnte, ihr Hochmut, den er in jedem Blick, jeder Geste zu spüren glaubte. Er hatte ausgehalten, zähneknirschend, weil er sie zur Mutter seiner Söhne erkoren hatte, um die Vergangenheit auszulöschen. Aber er hatte nicht gewusst, wie hoch der Preis dafür sein würde. Denn Sarit gelang es, ihn so wütend zu machen, dass er manchmal vor sich selbst erschrak. Allerdings wusste er inzwischen, was er tun musste, um wieder zu sich zu kommen, wenn der Zorn übermächtig wurde.
Und vor allem, wo er es tun konnte.
Der Impuls, sich auf der Stelle Erleichterung zu verschaffen, wurde immer stärker. Pepi und die anderen Gardisten schienen gar nicht bemerkt zu haben, dass er sich bereits ein Stück entfernt hatte. Probeweise vergrößerte er die Distanz, und noch immer fiel keinem seine Abwesenheit auf.
Und plötzlich war es, als gehorchten seine Füße und Beine eigenen Gesetzen. Sie trugen ihn fort, so sicher und schnell, als sei er noch der magere Junge von damals. Jetzt schaute er sich nicht einmal mehr um, denn sein Ziel war nicht mehr fern.
»Pressen!«, schrie Selene. »Jetzt!«
»Ich kann nicht mehr«, flüsterte Sarit. »Wieso lässt du mich nicht einfach sterben?«
»Du hast es gleich überstanden. Und jetzt weiterhecheln. Ja, so ist es gut!«
Verzweifelt sah Selene zur Tür. Wieso kam Ruza nicht endlich mit der Hebamme zurück? Inzwischen fürchtete sie wirklich um das Leben ihrer Freundin, die merkwürdig gleichgültig wirkte, beinahe so, als gehe die ganze Prozedur sie gar nichts an. Die kleine Isis in der Wiege schien die unerträgliche Spannung zu spüren und fing an zu weinen.
»Einmal noch – komm schon!«
Sarit presste, so fest sie konnte, aber das Kind steckte fest.
In diesem Augenblick stürzte Ruza aufgelöst ins Zimmer. »Fremde Soldaten … überall in der Stadt«, rief sie. »Sie haben die Hebamme getötet. Die Assyrer sind da!«
Sarit wimmerte angsterfüllt, Selene jedoch gelang es, halbwegs ruhig zu bleiben.
»Halt deinen Mund und kümmere dich um die Herrin! Kräftig auf den Bauch drücken, aber schnell!«, kommandierte sie. Endlich kam der Kopf des Kindes frei. In einem Schwall von Wasser und Blut schoss es heraus. Es war so blau und winzig, dass Selene es kaum ansehen mochte. Und es gab keinen Laut von sich.
Selene kappte die Nabelschnur. Dann schlug sie das Neugeborene vorsichtig auf Rücken und Hintern, aber es blieb stumm. Erst als sie es kräftig trocken gerubbelt hatte, ertönte ein leises Quäken.
»Ein Junge«, sagte Selene, aus tiefstem Herzen erleichtert, »und er lebt!« Wie erschreckend dünn und verschrumpelt sie ihn fand, behielt sie lieber für sich.
»Gesund?«, flüsterte Sarit. »Oder wie … das Kleine?«
»Vollkommen und wunderschön«, sagte Selene ohne große Überzeugung. »Willst du ihn haben?«
Aber anstatt den neugeborenen Sohn an die Brust zu legen, wandte Sarit sich abwehrend zur Seite. Ohne lange zu überlegen, bettete Selene das Kind neben Isis in die Wiege. Neben dem kräftigen Mädchen sah der kleine Junge noch kläglicher aus. Schütze ihn, Mutter aller Mütter!, betete Selene stumm. Dein Atemhauch kann Tod in Leben verwandeln, Deine Gnade Bitternis süß machen. Lass ihn nicht sterben, um Sarits willen!
»Der Gürtel«, Sarit war kaum zu verstehen. »Ruza soll das Kleine holen. Basa, er kommt bald zurück …«
»Jetzt?«, fragte Ruza entsetzt. »Aber die fremden Krieger … Sie haben Itaui getötet …«
»Und wenn schon! Du hast gehört, was sie gesagt hat?« Selene löste ihren Gürtel und band ihn ohne weitere Erklärungen der Amme um. »Gib ihn niemals aus der Hand, hörst du? Und jetzt sieh zu, dass ihr zum Hafen kommt! Worauf wartest du noch?«
»Wenn sie mich auch …«
Von draußen war Basas Stimme zu hören.
»Dann musst du eben schneller sein. Oder schlauer. Hol das Kleine und lauf, wenn dir sein und dein Leben lieb ist!«, zischte Selene. Sie musste handeln, denn Sarit hatte offenbar das Bewusstsein verloren, bevor sie sich um die Nachgeburt kümmern konnte. »Über den Garten – verschwinde!«
Es gelang ihr gerade noch, ein halbwegs unverfängliches Lächeln aufzusetzen, da stand Basa schon im Zimmer. Furchtlos sah sie ihm entgegen und bemühte sich, das Blitzen seiner Augen ebenso zu übersehen wie die steile Zornesfalte auf seiner Stirn.
»Sieh an, die Fischdämonin! Habe ich dir nicht ausdrücklich verboten, mein Haus noch einmal zu betreten?«
»Du könntest mir eigentlich dankbar sein«, sagte sie. »Denn ich habe alles versucht, um deine Frau und dein Kind zu retten.«
»Sie ist tot?« Mit zwei Schritten war er neben dem Bett. Sarit glich zwar einer Leiche, so bleich und reglos, wie sie dalag, aber sie lebte. Ihr Atem ging ganz flach. Basa neigte sich tief über sie, um ganz sicher zu gehen. »Und das Kind? Ist es …«
Selene ging langsam hinüber zur Wiege. Isis, die mit ihren Fingern spielte, schaute sie neugierig an. Vorsichtig nahm Selena das Neugeborene heraus. Jetzt war jedes Wort entscheidend, wollte sie nicht ihre Tochter und sich in Gefahr bringen.
»Dein Sohn«, sagte sie und streckte ihm das Kind entgegen wie einen Amulettzauber. Unwillkürlich wich er leicht zurück, was sie insgeheim mit Genugtuung erfüllte. »Mögen alle Götter Kemets seinen künftigen Lebensweg beschützen!«
»Ein ganz normaler Junge?«
»Überzeug dich selbst!« Wenn alles nach Plan verlaufen war, musste Ruza mit dem Kleinen bereits das Haus verlassen haben. Vielleicht gelang es, Basa noch länger aufzuhalten. Jeder Vorsprung konnte nur von Vorteil sein. »Und vergiss nicht, überall gründlich nachzusehen!« Sie verstummte, weil sie hörte, wie spöttisch ihr Ton war.
Ungeduldig riss er die Windel auf und inspizierte das Neugeborene. Dabei zitterten seine Hände, und für einen Augenblick empfand Selene beinahe so etwas wie Mitgefühl für ihn. Bestimmt war seine Angst, das Kind könne dem Kleinen gleichen, kaum geringer als die Sarits. Auch wenn er sich hüten würde, diese Angst ausgerechnet ihr zu zeigen.
»Du kannst ihn wieder wickeln«, sagte er schließlich barsch. »Er scheint mir in Ordnung. Aber wieso ist er so mager und faltig?« Es klang wie eine Anklage.
Selene tat, was er verlangt hatte. Der kleine Junge begann kläglich zu krähen. Dann trat sie erneut auf Basa zu und legte das kleine Bündel wieder in seine Arme.
»Er lag verkehrt und wollte zunächst nicht atmen. Dann jedoch hat er sich entschieden zu leben. Ich bin sicher, er wird ein prachtvoller kleiner Bursche werden, wenn er genügend Liebe und Pflege bekommt. Und jetzt muss ich mich um deine Frau kümmern. Sonst verlierst du sie.«
Sie wandte sich ab, obwohl ihr das schwer fiel, weil sie noch immer unsicher war, was er mit dem Kind anfangen würde, und beugte sich über Sarit.
Basa blickte eine ganze Weile auf die leichte Last, als könne er sich gar nicht erklären, wie sie dahin gekommen war. Wieder ertönte ein leises, fast schmerzliches Quäken.
»Wenn du also beschlossen hast, doch zu leben, sollst du Anu heißen«, sagte Basa schließlich mit gerunzelter Stirn. »Anu – das ist der Name, den ich für meinen zweiten Sohn bestimmt habe.«