Читать книгу Die Farben der Sonne - Brita Rose-Billert - Страница 10

Оглавление

Kapitel 3

Die Farben der Sonne

Walter McKanzie, genannt Blue Light Shadow, stand hinter den Glasfenstern des Gary Chicago International Airport. Er starrte abwesend hinaus. Die Lichter verblassten in der Morgendämmerung. Walter hatte die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und schien angespannt. Schweigend beobachtete er die startenden und landenden Maschinen. Es gab kein Zurück mehr. Frank hatte noch vor Mitternacht zwei Plätze in einem Hawker 4000 Business-Jet reservieren können. Als geschäftstüchtiger Anwalt war er sehr oft mit verschiedenen Firmenflugzeugen unterwegs und pflegte seine Beziehungen. Die Beleuchtung wich dem Tageslicht. Der neue Tag war unweigerlich angebrochen. Die Nacht war viel zu kurz gewesen. Blue war noch müde und ihm fröstelte. Frank kam mit zwei Kaffeebechern zurück und gab seinem Sohn einen davon. Der heiße Kaffee tat gut. Er wärmte nicht nur die Hände. Als sie ihn ausgetrunken hatten, sah Frank schließlich auf die Uhr.

„Komm, Blue. Es wird langsam Zeit. Wir müssen zum Business Terminal. Unsere Maschine steht bereit.”

Blue folgte Frank. Etwa eine halbe Stunde später betraten sie den Asphalt. Eine weiße Hawker mit rot-schwarzem Seitenstreifen parkte vor der Glastür wie ein Taxi. Die Tür öffnete sich automatisch und die frische Morgenluft begrüßte Blue. Er atmete tief durch. Misstrauisch nahm er die kleine Maschine, die sie von der großen Stadt Chicago nach Rapid City bringen sollte, in Augenschein. Er zählte ganze sechs Fenster und sie war, seiner Meinung nach, alles andere als ein Jet. Die Angst, dort hineinzusteigen, war nicht geringer als die vor den Aufzügen. Schweigend presste er die Lippen zusammen, als wollte er sich selbst damit zum Schweigen zwingen. Sein Stolz, der ihn hinderte, diese Angst zuzulassen oder gar zuzugeben, überwog. Zögernd folgte er Frank. Der sah sich lächelnd nach ihm um und stellte fest: „Du bist noch nie geflogen, was?”

„Mehrmals”, antwortete Blue trotzig und ging einen Schritt schneller voran.

Franks Lächeln ging in ein breites Grinsen über. Schweigend stiegen sie ein. Blue bekam einen Fensterplatz zugewiesen. Er weigerte sich, hinaus zu sehen. Lautlos ließ er sich in den Sitz gleiten, lehnte sich nach hinten und schloss die Augen. Seine Gedanken begannen zu wandern. Egal was passiert, ich will Bonnie wiedersehen, sprach er in Gedanken zu sich selbst, ohne dabei die Lippen zu bewegen. Er öffnete die Augen auch nicht, als die Maschine startete und abhob. Noch immer kämpfte er gegen seine Angst, die ihm ein ungutes Gefühl in der Magengegend bescherte. Die Ohren verspürten einen unangenehmen Druck und begannen zu rauschen. Ihm war schwindlig.

Vor seinen Augen sah er den alten Mann mit den grauweißen Zöpfen auftauchen. Walter, der sich Blue nannte, dachte noch: Was willst du schon wieder hier? Dann öffnete er rasch die Augen. Ein vager Blick in Richtung Fenster zeigte ihm ein weißes Wolkenmeer, von der Sonne bestrahlt.

Nachdem das Flugzeug unbeschadet am Rapid City Regional Airport gelandet war und Walter festgestellt hatte, dass er noch lebte, folgte er Frank durch die Eingangshalle. Auf Gepäck mussten sie nicht warten. Sie hatten keins. Walter blieb vor den Glasvitrinen stehen und starrte förmlich auf die Auslagen, in denen indianische Kleidung und Artefakte lagen. So etwas hatte er noch nie gesehen.

„Ist das hier ein Museum?”, fragte er Frank.

„Ja, so ähnlich. Die Ausstellungsstücke sind wie ein Mahnmal, um uns daran zu erinnern, was hier gewesen ist.”

„So? Was ist denn hier mal gewesen?”

„Indianerland.”

„Und?”

„Harte Kämpfe um die Black Hills und ums Überleben. Die Schwarzen Berge sind den Sioux heilig, schon immer. Das Geistertanzhemd da stammt zum Beispiel aus der Zeit, als die Dakota besiegt waren und in Reservate verfrachtet wurden. Es war die letzte Hoffnung dieses untergehenden Volkes der freien Prärieindianer. Mit diesen Geistertanzhemden haben sie getanzt und um Hilfe gefleht.”

Blue lachte amüsiert. „Tanzende Geister? So was Bescheuertes.”

Frank schwieg.

„Da habe ich mich ja auf was eingelassen. Ich hoffe, sie verlangen nicht von mir, dass ich solche Klamotten anziehe und mit ihnen herumhopse.”

„Ich denke, du hast da ganz falsche Vorstellungen. Im Übrigen sind sie damals alle zusammengeschossen worden. Jetzt komm! Wir müssen den Mietwagen in Empfang nehmen.”

Franks Wahl fiel auf einen schwarzen Chevrolet. Er zahlte mit seiner Kreditkarte, ließ sich den Schlüssel aushändigen und fuhr, ohne Zeit zu verlieren, mit Walter ostwärts. Die Sonne spiegelte sich auf dem Hochglanzlack. Frank McKanzie hatte seinem Sohn eine gute Sonnenbrille und ein weißes Baseballcap spendiert. Der hatte das Radio unter seine Kontrolle gebracht und gab sich schließlich zufrieden, als er den passenden Sound fand, der ihm gefiel. Er klopfte den Takt mit den Fingern auf den Knien mit. Dann begann er mitzusingen und er sang erstaunlich gut. Frank beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und lächelte, denn die misstrauischen Züge schienen endgültig zu schwinden.

„Wollen wir was essen?”, fragte Frank schließlich.

Blue nickte. „Klar! Warum nicht?”

Frank bog zu der kleinen Tankstelle, am Ortsausgang Farmingdale, direkt am Highway vierundvierzig, ein. Dort stoppte er den Mietwagen und zog den Schlüssel.

„Du traust mir immer noch nicht?”, fragte Blue, als er seinem skeptischen Blick begegnete. Frank holte tief Luft, bevor er antwortete. „Du hast den ersten Schritt getan. Ich glaube, jetzt ist es an mir, dir ein Stück entgegenzukommen.”

Blue grinste und stieg schweigend aus. Frank folgte ihm.

Ein riesiger Hot Dog am Eingang warb um die Gunst der Reisenden. Countrymusik drang an ihre Ohren. Frank bestellte für sich einen Kaffee, für Blue eine Cola und Hot Dogs für beide. Drinnen war es voll, da sich jeder nach der Kühle der Klimaanlage sehnte. So steuerten sie mit ihrem Proviant auf einen der Stehtische, direkt neben dem Mietwagen, zu. Ein Sonnenschirm spendete Schatten. Frank schlürfte am heißen Kaffee während seine Brillengläser vom Dampf beschlugen. Er wartete, bis sie von allein wieder frei wurden.

„Warum hat sie dich vor die Tür gesetzt?”

Frank starrte seinen Sohn an. Er schien nach den passenden Worten zu suchen. „Sie war wütend auf mich. Ich glaube, ich habe was vermasselt und ich weiß nicht was. Sie hat sich mit einem Indianer eingelassen. Das weiß ich noch. Dann riss unsere Verbindung irgendwann ab.”

Frank richtete seinen Blick an dem Jungen vorbei.

Der fragte nicht weiter. Nach einer Weile des Schweigens sagte Blue leise: „Bonnie ist meine Halbschwester, eine Oneida Lakota. Mein Stiefvater arbeitete im Stahlbau. Er war schwindelfrei und balancierte auf den Stahlträgern in einer Höhe von einhundertfünfzig Meter über der Erde. Er war nicht mein Vater, aber er war gut zu mir. Vor zwei Jahren ist er abgestürzt. Die Sicherungshaken haben nachgegeben. Materialfehler.”

Frank nickte nur. Sie kauten an den Hot Dogs.

„Kennst du ihn?”, fragte Blue.

„Wen?”

„Großvater.”

Frank nickte. „Ja. Ich kenne ihn.”

„Und? Wie ist er? Wie sieht er aus?”

„Er ist etwas Besonderes. Er liebte seine Tochter. Er wird auch dich lieben.”

„Sicher?”

„Sicher.”

„Warum erwähnst du nie ihren Namen?”

„Weil es nicht gut ist, über die Toten zu sprechen.”

Blue vergaß zu kauen. „Du spinnst.”

„Nein. Die Lakota denken so.”

„Du? Du bist kein Lakota”, stellte Blue entschieden fest.

„Ich respektiere es, auch wenn meine Haut weiß ist.”

Blue sah aufmerksam auf seine Hände. Schön braun waren sie. Aber auch Frank war braun gebrannt, von der Sonne. Blues Haut kannte kaum Sonne, deren Strahlen es nur selten gelang, den Weg bis zu den schmalen, schmutzigen Gassen zu finden, die selten trockneten. In die Keller schien die Sonne schon gar nicht. Die waren immer feucht und modrig. Welche Farbe hatte die Sonne überhaupt? Blue richtete seinen Blick zu ihr. Doch die grellen Lichtstrahlen ließen ihn seine Augen reflexartig zusammenkneifen, trotz der neuen Sonnenbrille.

„Hey träumst du?”, riss ihn Frank aus seinen Gedanken.

„Was?”, fragte Blue erschrocken und sah ihn an.

Frank grinste. „Willst du dein Hot Dog nicht mehr essen?”

„Doch”, entgegnete Blue und biss ab. Während er kaute, beobachtete er die Leute. Als er den letzten Bissen schluckte, glaubte er, daran ersticken zu müssen. Er sah wieder diesen alten Mann an einem mindestens ebenso alten Pickup Truck, neben einer der Tanksäulen stehen. Auch der Alte schien ihn zu beobachten. Als der Alte die Überraschung im Gesicht des Jungen bemerkte, lächelte er freundlich, nickte ihm zu und stieg ein. Frank schlug Blue auf den Rücken.

„Vergiss nicht Luft zu holen! Trink einen Schluck, dann geht‘s wieder.”

Blue trank einige Schlucke. Immer noch glaubte er eine Halluzination gehabt zu haben. Seine Stimme wollte ihm nicht ganz gehorchen, als er Frank fragte: „Hast du den Alten mit dem Pickup Truck gesehen?”

„Hast du dich vor einem alten Mann so erschreckt, dass du dich gleich verschlucken musst?” Frank lachte. „Kennst du ihn?”

„Nein”, log Blue. Aber er war froh, dass auch Frank den Mann gesehen hatte.

Vielleicht kannte er den alten Mann. Er war sich nicht mehr ganz sicher, ob es der gleiche war, der in seinem Kellerloch Schutz vor dem Gewitter gesucht hatte und der ihm in seinem Traum begegnet war. Vielleicht war ja alles nur ein Traum. Der alte, klapprige Pickup Truck jedenfalls war verschwunden. Blue trank die Cola aus.

„Okay. Gehen wir”, meinte Frank schließlich.

Sie stiegen in den Chevy. Wenig später führte die Straße nach Südosten. Blue staunte über die Weite des grasbewachsenen Landes. In Chicago endete sein Blick immer vor der nächsten Hauswand. Es hatte ihn nie gestört. Noch beeindruckender mussten die skurrilen Felsgebilde der Bad Lands auf ihn wirken, denn er sah sich ständig um und sprach lange kein Wort mehr mit Frank. Nachdem sie einen Fluss überquert hatten, den Frank als White River bezeichnete, und eine Ortschaft mit mehreren Häusern gleichen Baustils, folgten wieder meilenweit grüne Hügel entlang der asphaltierten Straße, die wie ein Lineal bis zum Horizont geradeaus führte. Als Frank schließlich von dieser Straße abbog, verwandelte sie sich in eine unbefestigte Schotterpiste. Die Steinchen knirschten unter den Reifen und eine Staubwolke folgte ihnen. Schilder gab es kaum und von den wenigen waren einige noch überschmiert.

„Weißt du, wo es langgeht?”, fragte Blue, der die Orientierung völlig verloren hatte. Frank nickte. Meilenweit führte auch dieser Weg fast geradeaus, soweit das Auge reichte. Blue grinste. Hier konnte man sich eigentlich gar nicht verfahren, dachte er. In der Ferne tauchte eine Staubwolke auf. Allmählich nahm ein schwarzer Punkt darin die Gestalt eines anderen Wagens an. Als er vor dem Chevy auf die unbefestigte Straße rumpelte, hupte er kurz und grüßte im Vorbeifahren. Frank und Blue starrten verdutzt in ein rundes, grinsendes Gesicht. Geistesgegenwärtig grüßten sie den Fremden, noch im letzten Augenblick, zurück. Ein Blick in den Rückspiegel und der Fremde war hinter der nächsten Bodenwelle verschwunden. Die beiden sahen sich fragend an und zogen gleichzeitig die Schultern nach oben.

„Was war das denn für ein Irrer? Total abgefahren”, wunderte sich Blue.

„Das ist hier wohl nichts Ungewöhnliches”, meinte Frank und blickte wieder nach vorn.

Blue lachte.

Kurze Zeit später landete Frank, nach einer rasanten Fahrt durch eine Kurve, wieder auf einer asphaltierten Straße.

„Wir fahren besser doch zuerst zur Schule, dich anmelden.”

„He, Mann! Was soll das? Das ist gegen die Abmachung!”, schnaufte Blue wütend.

„Bonnie ist in der Schule in Pine Ridge, in die auch du gehen wirst.”

Blue biss die Zähne zusammen und verzog dementsprechend das Gesicht. Trotzig verschränkte er die Arme und starrte geradeaus. Sein Misstrauen hatte ihn plötzlich wieder überwältigt. Er stieß die aufgestaute Luft aus sich heraus und redete bis zum Ziel kein Wort mehr mit Frank.

Irgendwann bog der schließlich auf das Schulgelände der Red Cloud Indian School ein. Eine Kirche fiel ihm sofort auf und Blue zog verwundert die Augenbrauen zusammen. Missmutig sah er die vielen Gebäude, alte und neue.

„Was soll das? Was soll ich hier?”

„Lernen”, antwortete Frank knapp.

„In der Kirche da vielleicht?!”, schnaufte Blue.

„Vielleicht.” Frank zog die Schultern hoch und lächelte.

Blue dachte an Flucht, aber wohin? Er wusste noch nicht einmal, wo seine Großeltern wohnten. Dann dachte Blue an Bonnie.

„Ist sie hier?”

Frank nickte.

„Die Schule hat einen guten Ruf. Die Kirche und die alten Gemäuer sind Überbleibsel von früher, als die Missionare das alles, im guten Glauben, für die Reservationskinder aufbauten.”

Ist mir doch egal, dachte Blue. Er schwieg bis Frank seinen Mietwagen vor einem der neueren Gebäude stoppte. Im Moment war der riesige Pausenhof wie leer gefegt. Alle schienen im Unterricht zu sein. Blue war das recht. Widerwillig stieg er aus und folgte Frank McKanzie. Sein umherschweifender Blick streifte ein paar Bäume und spärlich angelegte Grünanlagen.

Eher abwesend saß Blue auf dem Stuhl neben Frank und starrte auf seine Fußspitzen. Er hatte die Direktorin nur flüchtig mit seinem Blick gestreift. Sie war groß und stark gebaut, doch sie hatte ihn freundlich angelächelt. Ihre Stimme dröhnte Respekt einflößend, obwohl sie nur einen „Guten Tag” wünschte. Blue war nie schüchtern gewesen, nie zurückhaltend, bis zum heutigen Tag. Er wusste nicht warum, aber plötzlich kam er sich so unheimlich klein vor. Doch die Direktorin dieser Schule, die sich Mrs White Bull nannte, sprach mit ihm nicht wie mit einem kleinen Jungen. „Was führt dich zu mir, Walter?”

Blue zuckte innerlich zusammen und räusperte sich, bevor er fragte: „Ist sie hier? Bonnie Foret le Vent?”

Wieder lächelte Mrs White Bull und suchte seinen Blick zu erwischen. „Wer möchte das wissen?”

Nun schaute Blue doch auf, in die schwarzen Augen in ihrem runden Gesicht. Sie trug ihr Haar straff nach hinten, zu einem Knoten gebunden. Die große Brille passte in ihr Gesicht fand Blue, auch wenn sie ein wenig aus der Mode war.

„Ich bin ihr Bruder.”

Mrs White Bull nickte. „Bonnie ist im Unterricht. In etwa einer viertel Stunde kannst du sie sehen. Dann ist sowieso Schulschluss für die Junior Klassen. Darf ich fragen wie alt du bist, Walter?”

„Ja.”

White Bull wartete geduldig. Frank verpasste seinem Sohn schließlich einen Seitenhieb und zischte ihn leise an: „Antworte!”

„Ich bin zwölf. Steht jedenfalls in der Geburtsurkunde.”

Die Direktorin grinste und nickte.

„Ich würde mich freuen, wenn du auch zu uns in die Schule kommst. Wir lehren alle konventionellen Fächer und außerdem Lakota.”

„Ich bin kein Lakota!”

„Gut. Dann verhalte dich nicht wie einer.”

Blue schluckte. Das hatte ihm noch niemand gesagt!

„Deine Mutter war eine außergewöhnliche Frau mit starker Willenskraft. Du ähnelst ihr sehr, nicht nur äußerlich.”

Einen Augenblick lang lag Stille im Raum, abwartende Stille.

Schließlich fragte Blue fast ein wenig vorwurfsvoll: „Ich denke, es ist nicht höflich über die Toten zu reden?”

Mrs White Bull nickte.

„Ja, Walter.” Mehr sagte sie nicht.

„Falls Bonnie wirklich hier ist, werde ich mit ihr in diese Schule gehen. Schreiben Sie nicht Walter in die Papiere und nennen Sie mich nicht so!” Er wies nachdrücklich mit dem Kopf zum Schreibtisch vor sich.

„Gut. Aber irgendwie müssen wir dich nennen. Hast du noch einen anderen Namen?”

„Blue Light Shadow”, antwortete er entschlossen.

Mrs White Bull lächelte, aber sie lachte ihn nicht aus.

„Blue Light Shadow McKanzie. Du wirst deine Unterschriften verfluchen.”

Blue schwieg.

White Bull sah zu Frank, der sich bisher nicht geäußert hatte.

„Was meinen Sie?”

Frank nickte. „Es ist sein Name. So haben sie ihn in Chicago genannt. Ich glaube, niemand kannte ihn dort anders. Nicht mal die Polizei.”

Frank konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Die Leute bei unserer Stammespolizei werden sich geehrt fühlen”, meinte Mrs White Bull.

„Spielst du gern Basketball?”

Blue zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Hab‘s noch nicht probiert.”

„Ich bin sicher, du wirst deinen Spaß daran haben. Sportlich scheinst du mir ja zu sein.”

„Schon möglich”, grinste Blue, der nun langsam auftaute.

Jemand klopfte an die Tür.

„Ja, bitte!”, rief Mrs White Bull.

Ein Mädchen, etwa sechs Jahre alt, trat leise ein und blieb schüchtern neben der Tür stehen ohne ein Wort zu sagen. Blue fuhr herum.

„Bonnie”, flüsterte er beklommen.

Bonnie schien wie erstarrt und nicht fähig sich zu rühren. Blue war es, der aufstand und zu ihr ging.

„Geht es dir gut?”

Bonnie nickte nur. Dann schlang sie ihre Arme um ihn und klammerte sich an ihm fest. Er schloss sie in seine Arme und spürte das lautlose Schluchzen. Doch Blue biss die Zähne zusammen und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Sie waren schwarz und zu Zöpfen geflochten und sie hatten den vertrauten Geruch. Während Blue eher nach seiner Mutter kam, ähnelte Bonnie ihrem Vater sehr. Sie hatte seine weichen Gesichtszüge, seine Gutmütigkeit in den Augen und seine beruhigende, sanfte Stimme.

„Bleibst du bei mir?”, flüsterte sie.

„Ja”, antwortete Blue entschlossen und ohne zu zögern.

„Grüßen Sie Carol und Wayton Stone Horse, wenn sie die Kinder nach Hause bringen” sagte Mrs White Bull zu Frank

Frank nickte. „Mach ich.”

Dann stand er auf und verabschiedete sich. Gemeinsam gingen sie hinaus. Bonnie hatte nach der Hand ihres Bruders gegriffen und ließ ihn nicht mehr los. Blue hielt den Kopf gesenkt und beobachtete durch seine Haarsträhnen, die ihm wie ein schützender Vorhang fast bis zur Nasenspitze reichten, die anderen auf dem Schulgelände. Er spürte auch ihre Blicke, die auf ihn und Bonnie gerichtet waren.

Auf der Fahrt zu den Großeltern hüllten sich die drei in tiefes Schweigen. Blue sah sich die Gegend an, als müsse er sich den Weg genau einprägen. Irgendwo war schließlich auch dieser Weg zu Ende und der Mietwagen holperte langsam auf einen Trailer zu, von dem die Farbe blätterte. Alte Holzkisten dienten als Veranda. Auf dem Wellblechdach lagen einige Autoreifen. Zwei Pickup Trucks standen davor. Daneben lag ein Haufen Holzbretter, Berge von Müll und weiter hinten gab es einen frischen Erdhügel. Kein Mensch war zu sehen. Frank stoppte vor dem Trailer, neben den Pickups und zog den Schlüssel.

„Okay. Da wären wir.” Dann stieg er aus.

Blue drehte sich zu Bonnie um, die auf der Rückbank saß.

„Das ist ja am Arsch der Welt.”

Bonnie grinste.

„Steigen wir aus?”, fragte Blue.

Bonnie nickte und öffnete die Tür. Vor dem Wagen blieb Blue stehen. Frank war spurlos verschwunden. Bonnie hatte ihre Schultasche über der Schulter und griff mit ihrer Hand nach Blues.

„Komm, Walter.”

Der hielt seine Schwester zurück.

„Warte, Bonnie. Vergiss diesen Namen, hörst du. Walter gibt es nicht mehr!”

Bonnie sah ihren Bruder fragend an.

„Ich heiße jetzt Blue”, erklärte er freundlich.

„Blue?”, fragte sie verunsichert.

„Blue Light Shadow nannten sie mich in Chicago. Der bin ich.”

Bonnie kicherte. „Das klingt wie bei den anderen Kindern hier. Wie ein Indianername!”

Blue schüttelte den Kopf. Gerade das wollte er nicht.

„Ich werde nie ein Indianer sein, Bonnie. Hast du ihre Blicke gesehen, vorhin auf dem Schulhof?”

Das Mädchen nickte. „Ja. Aber ich habe auch deinen Blick gesehen. Ich fand keinen Unterschied.”

Sie lächelte und zog ihn mit sich. Noch einmal forderte sie ihn auf: „Komm schon, Blue Light Shadow. Bei Grandma Carol gibt es den zweitbesten Kakao auf der ganzen Welt.”

„Du bist schon ganz zu Hause hier”, stellte Blue fest.

„Ja. Sie ist wie Mom. Ich will nie wieder nach Chicago in dieses Heim.”

Blue folgte ihr. Es hatte sowieso keinen Sinn, neben dem Mietwagen Wurzeln zu schlagen und Frank war noch immer nicht wieder aufgetaucht. Bonnie hielt Blue fest an der Hand und zog ihn mit sich zur Tür, als befürchte sie, er könnte ihr davonlaufen. Sie klopfte, auch wenn sie hier zu Hause war. Man hatte es ihr so beigebracht, da wo sie herkam und es hatte sich eingeprägt.

„Kommt rein! Die Tür ist offen”, rief eine freundliche, gedämpfte Stimme.

Sie gingen hinein. Der Duft von Kaffee und frischen Pfannkuchen stieg ihnen in die Nasen. Am Herd stand eine rundliche Frau, die den Kindern entgegenlächelte.

„Hallo Grandma. Er ist zu mir gekommen. Das ist er. Mein großer Bruder!”

„Hallo, Bonnie. Willkommen zu Hause, Blue”, antwortete die Frau mit einer Stimme, die ihn innerlich zusammenfahren ließ. Die Stimme seiner Mutter! Und woher wusste sie seinen anderen Namen?

„Setzt euch. Ihr seid bestimmt hungrig.”

Blue suchte vergebens nach seinem Misstrauen und seiner Wut. Nichts mahnte ihn zur Vorsicht. Er hätte alles und jedem seine Gedanken entgegenschleudern können, aber nicht dieser Frau. Schweigend stand er noch immer an der Tür und starrte sie an, während Bonnie ihre Schultasche abgestellt hatte und bereits am Tisch saß.

Grandma goss ihr kalten Kakao in die Tasse und strich ihr sanft über das Haar.

„Hallo”, sprach Blue schließlich. Er wusste nicht einmal, wie er sie ansprechen sollte. Das Wort Grandma wollte einfach nicht über seine Lippen. Noch nicht. Wieder lächelte sie ihn freundlich, aus ihrem runden Gesicht, an. Sie trug eine bunte Schürze über ihrer Bluse und eine Jeans. Das eher dünne, lange Haar hatte sie im Nacken geflochten und mit einem Haargummi befestigt.

„Die Männer sind draußen, auf der Baustelle. Du kannst ihnen sagen, dass der Kaffee fertig ist. Sie sind auch hungrig. Aber wir wollten auf euch warten.”

Blue verbarg seine Gedanken und fragte nichts. Er nickte nur und ging wieder hinaus. Obwohl er nicht wusste, was sie mit Baustelle gemeint hatte, führten ihn dr Weg direkt dorthin.

Hinter dem Erdhügel war ein großes, rundes Loch ausgehoben, nur etwa drei Fuß tief. Drei Männer saßen beieinander und redeten. Einer von ihnen war Frank McKanzie. Der drehte den Kopf zu Blue.

„Na, hast du uns gefunden?”

Blue antwortete nicht.

Nun wandte sich auch der Mann, der neben Frank saß, zu ihm. Es war der Alte mit den grauweißen Zöpfen! Sein Großvater! Der schenkte ihm ein breites Lächeln und scherzte: „Hallo Blue George Washington. Wie geht‘s?”

Blue starrte den Alten an, als säße ein Geist vor ihm. War das alles ein abgekartetes Spiel? Und wer war der dritte Mann? Hatte der auch etwas mit diesem Komplott zu tun? Der Alte hatte seinen Blick gesehen und lachte leise. „Das ist Joe Stone Horse, mein Sohn. Also dein Onkel!” Der Onkel schien schätzungsweise in Franks Alter zu sein und musterte Blue aufmerksam, ohne Regung in seinen Gesichtszügen. Er trug eine staubige, zerschlissene Jeans und ein knallrotes Shirt ohne Ärmel. Sein Haar war so lang wie Großvaters Zöpfe. Nur hatte Joe es zu einem Pferdeschwanz gebunden. Blue spürte, dass es an ihm war etwas zu sagen.

„Hi.”

Mehr kam nicht über seine Lippen. Er stand aufrecht mit gespreizten Beinen, schob die Daumen in die Gesäßtaschen seiner Jeans und wich dem Blick seines Onkels aus.

„Es gibt Kaffee und Pancakes”, sprach er mit fester Stimme.

Die drei Männer erhoben sich. Joe ging mit dem Alten zum Trailer. Frank blieb neben Blue stehen.

„Was soll das denn werden, wenn‘s fertig ist?” Blue deutete skeptisch auf die Baugrube, deutlich war der Spott in seiner Frage zu hören.

Frank grinste. „Ein Parkhaus für Indianerautos.”

Blue wandte ihm mit grimmigen Gesichtszügen den Rücken zu.

„He! Verstehst du denn überhaupt keinen Spaß?”, fragte Frank. „Du hast gut reden, Mann.”

Frank bemerkte, wie wütend Blue war. Er holte tief Luft.

„Joe und Wayton bauen ein Haus. Es wird ungefähr so aussehen, wie ein Erdhaus der Mandan oder ein Hogan der Navajo. Es ist im eisigen Winter wesentlich wärmer und im Sommer angenehm kühler als der alte Trailer. Bei einem Sturm im Frühjahr ist er umgefallen und das Dach war aufgerissen. Seitdem regnet es rein.”

„Wann fliegst du zurück?”, wechselte Blue das Thema.

„Morgen früh.”

„Okay. Der Kaffee wird kalt.”

Mit diesen Worten ging Blue voran. Frank folgte ihm.

Abends wälzte sich Blue McKanzie im frisch bezogenen Bett hin und her. Der Geruch des Waschmittels stieg in seine Nase. Joe Stone Horse war gegangen. Sie hatten kein Wort miteinander gesprochen. Grandma und Bonnie schienen fest zu schlafen. Er lauschte auf ihren gleichmäßigen Atem. Frank war nicht hier. Und Großvater? Wer weiß? Leise und vorsichtig schob Blue die Decke zur Seite. Barfuß schlich er zur Tür. Sie war nicht verschlossen. Er schlüpfte wie ein Schatten durch den Spalt nach draußen auf die kleine Veranda aus alten Holzkisten. Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen durch die Dämmerung. Blue lief ihr entgegen.

Barfuß, über den Staub und die Steine der Erde trugen ihn seine Füße, immer schneller. Er spürte die Schmerzen nicht. Die Schmerzen in seinem Herzen waren stärker, viel stärker. Es trommelte gegen seine Brust, als wollte es herausspringen. Blue rannte keuchend einen Hügel hinauf und blieb schließlich wie angewurzelt stehen. Der Horizont schien zu brennen. Die Wolken standen in orangeroten Flammen. Der glühende Feuerball berührte schon die Erde. Blue stand schweigend und reglos. Sein schneller Atem beruhigte sich.

Er wusste nicht, wie lange er da gestanden hatte, als ihn eine Hand fest an der Schulter berührte und eine Stimme leise zu ihm sagte: „Willkommen zu Hause, Blue. Schön, dass du gekommen bist.”

Blue wandte langsam den Kopf zu dem Alten. Er war nicht einmal erschrocken über sein plötzliches Auftauchen.

„Wer bist du?”

Der alte Mann lächelte nachsichtig.

„Nitunkashila, dein Großvater.”

Blues Augen glänzten, als er fragte: „Warum das alles?”

„Ich habe es ihr versprochen.”

Großvater lachte leise.

Nach einer Weile des gemeinsamen Schweigens, in dem der rote Feuerball langsam mit seinem unvergleichlichen Farbenspiel am Horizont versank, sagte der Alte: „Das sind die Farben der Sonne. Sie wärmen unser Herz. Die Menschen, die sie nicht mehr erreichen kann, verlieren ihre Seele, und ihr Herz wird zu Stein.”

Blue hörte die Worte. Die Farben der Sonne und die Worte des alten Mannes waren tief in ihn eingedrungen und nahmen ihm die Schmerzen aus seinem Herzen und alle Zweifel mit sich fort. Er fühlte sich das erste Mal seit langer Zeit geborgen und vor allem nicht allein.

Die Farben der Sonne

Подняться наверх