Читать книгу Die Farben der Sonne - Brita Rose-Billert - Страница 8
ОглавлениеKapitel 1
Blue Light Shadow
Die Dämmerung beherrschte die engen Straßenschluchten. Es war weder Tag noch Nacht. Schwarze Wolken hatten sich bedrohlich über den Häuserblöcken der großen Stadt ausgebreitet. Der Donner krachte wie ein Kanonenschuss. Dann prasselte der Regen mit aller Macht auf den Asphalt nieder. Zwei Jungen flüchteten zwischen Mülltonnen, Dreck und Zigarettenkippen in das Kellerloch eines verlassenen Hauses. Der Regen verwandelte die Gasse innerhalb kürzester Zeit in einen reißenden Bach.
„Der Missouri kommt zu uns. Siehst du?”
Sie lachten.
Zusammengekauert, mit angezogenen Knien, saßen sie im Kellerloch und beobachteten die Regentropfen, die mit voller Wucht wieder vom Asphalt prallten. Der eine der beiden Jungen war größer als sein Freund. Sein ebenmäßig braunes Gesicht war etwas kantig und ließ ihn älter erscheinen als seine zwölf Jahre. Das halblange, schwarze Haar glich einem Mopp, der allerdings aus dem Wasser gezogen und ausgeschüttelt worden war. Einige Haarsträhnen klebten über dem Gesicht. Sie reichten über die Nasenspitze bis fast zum Kinn. Das Regenwasser tropfte langsam herab auf die verwaschene Jeans. Der Junge wischte es mit dem Arm zur Seite. Schwarze Augen funkelten sein Gegenüber an. „Du siehst aus wie eine gebadete Maus“, lachte der Junge, den Regen übertönend.
Der andere, etwas kleinere Junge amüsierte sich. „Und du siehst aus wie der Wischmopp meiner Großmutter“, schrie er zurück. Im Gegensatz zu seinem Freund war er blass und zitterte vor Kälte. Auch von seinem Haar tropfte das Wasser. Es war dunkelblond. Beide waren schlank und in etwa gleich alt. Die beiden Freunde trugen jedenfalls die gleichen wasserfesten Turnschuhe mit Gleitverschnürung, wie sie in dieser Altersgruppe eben modern waren. Der Regen prasselte schier unaufhörlich und ließ das Wasser auf der Straße bereits gegen die Kellerfenster drücken.
Es schwemmte Zigarettenkippen und anderen kleinen Unrat am Kellerloch vorbei.
Wenige Minuten später tauchte eine dunkle Gestalt auf und nahm ihnen die Sicht. Der Fremde beugte sich zu den Jungen herab.
„Hallo”, sagte er freundlich.
„Verschwinde!”, fauchte ihn einer der beiden Jungen an.
„Ich suche Schutz vor dem Gewitter”, sagte der alte Mann, der seine Hände auf den Knien abstützte und lächelte.
„Hast du Schiss, alter Mann?”, fragte der erste Junge höhnisch.
„Nein”, antwortete der Alte noch immer freundlich. „Aber habt ihr zwei Angst vor einem alten Mann?”
„Komm schon, Blue. Ist doch Platz genug”, mischte sich nun der andere Junge ein.
Der, der zuerst gesprochen hatte, verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die sagte: Bleib mir bloß vom Leibe. Dann nickte er.
„Okay. Komm rein.”
Der alte Mann bückte sich, kam zu ihnen und setzte sich den beiden Jungen gegenüber auf den Boden. Er lehnte sich an die Wand, während Blue ihn auffällig und misstrauisch musterte. Immerhin war es in der Dämmerung des Kellers noch hell genug, um sein Gegenüber zu erkennen. Der Alte trug eine verwaschene Jeans, die sich an den Nähten aufzulösen drohte und einen grauen Parka, der offen stand. Aus seiner Kleidung lief das Regenwasser und bildete eine Pfütze am Boden. Es gelang Blue nicht, dem Mann in die Augen zu sehen. Als der Mann die Kapuze nach hinten abstreifte und sein graues Haar, welches sorgfältig in zwei Zöpfe geflochten war, zum Vorschein kam, drehte Blue seinen Kopf demonstrativ zum Ausgang und starrte auf die Gasse. Das Gewitter tobte. Ohrenbetäubend krachte der Donner, gefolgt von Blitzen, die sogar kurzzeitig das Kellerloch erhellten. Der Regen prasselte mit unverminderter Wucht. Auf der Straße bildeten sich fortwährend unzählige Blasen, sodass sie nun endgültig wie der Missouri aussah.
Der alte Mann hatte zunächst geschwiegen und die Jungen in seiner eher unauffälligen Weise beobachtet. Dann griff er in das Innere seiner Jackentasche und zauberte zwei Äpfel hervor. In jeder Hand einen, hielt er sie den Jungen hin.
„Vielen Dank, dass ich bleiben darf.”
Zögernd griff der eine Junge nach dem Apfel, nahm ihn und bedankte sich mit einem Kopfnicken. Blue rührte sich nicht aus seiner Starre, als sein Freund genussvoll in den Apfel biss, dass es knackte. Der Alte legte den anderen Apfel vor Blue auf den Boden.
„Vielleicht sollten wir uns die Zeit ein wenig mit einer Geschichte vertreiben”, sagte der Alte schließlich. Der kleinere Junge sah ihn erwartungsvoll an. Blue stöhnte genervt, lehnte sich mit der ganzen Breite seines Rückens an die feuchte, modrige Wand und verschränkte die Arme.
Der Alte begann zu erzählen: „Ich erinnere mich noch genau. Es ist schon lange her, sehr lange. Dunkelheit und Stille lag über dem Wald und um mich herum. Durch die kahlen Kronen der Bäume schimmerte der klare Sternenhimmel. Unter meinen Füßen knirschte bei jedem Schritt der Schnee. Klirrende Kälte ließ jeden meiner Atemzüge zu Rauch werden. Doch ich fror nicht. Zwischen den Bäumen, vor den Schneestürmen geschützt, tauchten sie auf, die Zelte mit ihrem schwachen Lichtschein. Der Neuschnee des letzten Abends hatte sie eingehüllt und verbarg alle Spuren ringsum, so als hätte nie ein Lebewesen den Boden mit den Füßen berührt. Ich ging durch das Dorf und niemand bemerkte mich. Nicht einmal der Junge, der auf seinem Rappen lag und die Pferde bewachte, bemerkte mich. Er hatte sich in eine Büffelfelldecke gehüllt und sah auf. Aber er sah durch mich hindurch, wie es schien. Vor dem letzten Zelt blieb ich stehen und lauschte. Schließlich entschied ich mich, hineinzugehen. Eine alte Frau, die gegenüber des Einganges saß, sah mich an, nickte und winkte mich heran. Neben ihr lag eine junge Frau, die gerade ihr Kind geboren hatte. Die alte Frau durchtrennte die Nabelschnur und schnitt ein Stück davon ab, um es gut für das Kind aufzubewahren. Ich sah die Angst in den Augen der jungen Frau, als sie mich betrachtete und sie schmiegte ihr Kind sanft an sich.
Wo ist dein Mann, fragte ich sie.
Tot, antwortete sie kaum verständlich.
Ich setzte mich zu ihr und betrachtete das Neugeborene. Dein Kind wird leben, sagte ich zu ihr.”
„So ein Blödsinn! Wer glaubt schon solchen Scheiß?”, unterbrach Blue ihn wütend und leise fügte er hinzu: „Alter Spinner.”
„Ein Märchen, mit dem du Kinder beeindrucken kannst”, bemerkte der andere Junge, der inzwischen den Apfel aufgegessen hatte und den Rest des Kerngehäuses mit einer schwungvollen Bewegung hinaus in den Regen feuerte.
„Ihr seid keine Kinder”, stellte der Alte fest.
„Nein. Wir sind Männer und das hier ist die Realität. Wer braucht schon Geschichten!”, antwortete Blue nicht gerade freundlich.
„Gut. Wer lehrt euch?”
„Pff!”, pfiff Blue mehr als genervt durch die Zähne.
„Wo ist euer Zuhause? Wo wohnt ihr?”
Blue drehte den Kopf zu dem alten Mann und kniff die Augen zusammen.
„Die Straße gehört uns. Die Stadt gehört uns.”
„Wo sind eure Eltern?”
„Was geht dich das an?!”, herrschte Blue ihn an und sah dann wieder hinaus.
Der andere Junge zuckte mit den Schultern und bequemte sich zu einer Antwort: „Zwei Querstraßen weiter wohne ich. Vater ist auf Montage. Er baut Brücken über den Missouri. Riesengroße Brücken. Mutter liegt im Wochenbett. Ich habe fünf kleine Geschwister. Sie warten auf mich. Vielleicht bringe ich ihnen etwas zu essen mit.”
„Wie ist dein Name?”
„Gabriel. Wie der Erzengel.” Der Junge grinste.
Der Alte lächelte. „Du glaubst an Gott?”
„Nein. Er liebt mich nicht und deshalb ist er mir scheißegal.”
Der alte Mann schüttelte den Kopf.
„Und was ist mit dir, Blue?”
Blue lächelte spöttisch, als er antwortete: „Gott liebt mich. Er hat mir die ganze Stadt geschenkt. Chicago gehört mir. Ich habe alles, was ich zum Leben brauche.”
„So? Und wie ist dein richtiger Name?”
„Hab‘s vergessen.”
Der Alte legte den Kopf etwas schräg, hob die Augenbrauen und schien ihn mit seinem Blick durchbohren zu wollen. Er wartete.
„George Washington.”
„Wer hat dich eigentlich Respekt gelehrt?”
„Das Leben.”
„Deinem Vater und deiner Mutter würde das Herz weh tun.”
„Keine Sorge, alter Mann. Mutter ist tot und einen Vater gibt es nicht.”
„Du redest nicht wie ein zwölfjähriger Junge.”
„Stimmt. Ich bin als Mann zur Welt gekommen. Ich war nie zwölf.”
„Moment mal. Woher willst du wissen, dass Blue zwölf ist?”, mischte sich Gabriel ein.
„Ich habe geraten.”
Gabriel grinste, als er sagte: „Der weiß es ja selbst nicht so genau.”
„Weshalb seid ihr nicht in der Schule?”, fragte der Alte unbeirrt weiter.
„Das ist unsere Schule. Hier lernst du alles, was du zum Leben brauchst”, klärte ihn Blue auf.
„Was brauchst du denn zum Leben, Blue George Washington?”
„Was zu essen, einen trockenen Schlafplatz und eine Wasserleitung.” Blue wies mit dem Kopf in Richtung Keller, wo einige alte Rohre zu sehen waren. „Da kommt wirklich gutes, kühles Wasser raus, auch wenn‘s nicht so aussieht.”
Der Alte bemerkte wohl, dass der Junge bei diesen Worten verstohlen auf den Apfel schielte.
„Er gehört dir. Hast du Hunger?”
Blue antwortete nicht, drehte den Kopf zur Seite und starrte wieder in den nicht abreißenden, heftigen Regen.
„Du besitzt nicht viel, Junge, aber eine ordentliche Portion Stolz hat dir dein Großvater mitgegeben.”
„Woher willst du das wissen?”, fragte Blue, ohne den Kopf zu bewegen.
„Vielleicht kenne ich ihn.”
„Hm!”, bekam der Alte von ihm nur zur Antwort.
„Bist du vielleicht sein Großvater?”, fragte Gabriel.
Der Alte lächelte geheimnisvoll, nickte und sagte: „Sein Großvater, dein Großvater und der aller meiner Enkel.”
Der Junge schien verwirrt über diese Antwort. Gabriel starrte den alten Mann mit großen Augen an. „Aber … du bist ein … ein Indianer.”
Wieder nickte der Alte und lächelte nachsichtig. Blue verließ ohne ein Wort zu sagen seinen Platz und floh in den strömenden Regen hinaus. Binnen weniger Sekunden war er bis auf die Haut durchnässt. Er presste die Hände auf seine Ohren, um nichts mehr hören zu müssen. Der alte Mann erhob sich und kroch ebenfalls hinaus. Der Regen ließ nach und hörte schließlich ganz auf. Der alte Indianer trat zu Blue und sagte leise: „Großmutter wartet auf dich. Geh nach Hause.”
Blue schrie so laut er konnte: „Ich bin kein Indianer! Verdammt noch mal! Lasst mich in Ruhe!”
Als er sich umdrehte, stand sein Freund vor ihm.
„Ist ja schon gut”, sprach Gabriel besänftigend auf ihn ein.
„Haut ab!“, rief Blue wütend. „Lasst mir einfach meine Ruhe!“
„Ich sag doch gar nichts!“, verteidigte sich Gabriel. „Und der Alte ist längst verschwunden! Wo ist der überhaupt so schnell hin?“
Sie sahen sich beide suchend um, doch der alte Mann war wie vom Erdboden verschluckt.