Читать книгу Suche, Zweifel, Liebesglück? - Britta Bley - Страница 3
1. Kapitel
ОглавлениеVolle Straßen, hupende, ungeduldige Autofahrer, die einem fast in den Auspuff krochen. Hannah hasste es wie die Pest, ihre Arbeitstage so unentspannt beginnen zu müssen, aber das war wohl eine der Kehrseiten des Großstadtlebens, das sie ansonsten so liebte. Nichtsdestotrotz, an diesem Morgen konnte nur noch ein schneller Sprung ins nahegelegene Starbuckscafé ihre Kollegen vor völlig unverhofften Wutausbrüchen retten. So wie sie sich jetzt gerade fühlte, würde sie dem Erstbesten mit falscher Nase, trotz aller guten Vorsätze, an die Gurgel gehen.
Mühsam bugsierte sie ihr Auto um die viel zu engen Kurven des unübersichtlichen Parkhauses. Sie hatte sich schon oft gewünscht, dem, der es entworfen hatte, zu begegnen, um ihm einmal gehörig die Meinung zu sagen. Das Bedürfnis steigerte sich noch, nachdem sie ihrem geliebten Ford Ka eine unübersehbare Schramme an der Beifahrertür verpasst hatte. Das war an einem ähnlich stressigen Morgen wie diesem passiert, an dem sie eine der schlecht einsehbaren Kurven zu eng genommen hatte. Sie war sich nach wie vor unschlüssig, ob sich die Reparatur noch lohnen würde.
Das war aber eine Problematik, die man als gute Autofahrerin, für die sie sich trotz der Schramme zweifelsfrei hielt, bewerkstelligen konnte. Das größere Problem waren die vielen Mitbewerber um die nur allzu gering bemessene Anzahl von Parkplätzen. Aber zumindest was das anging, sollte sie heute wohl keine Schwierigkeiten bekommen. Schon aus der Ferne erspähte sie den weit und breit einzig freien Parkplatz und hielt im Eiltempo darauf zu, angestachelt durch den ihr entgegenkommenden BMW-Fahrer. Als sie kurz vor ihm in der Lücke zum Stehen kam, trieb ihr dieser kleine Triumph sogar ein Lächeln ins Gesicht.
„Jetzt aber nichts wie los, sonst schaffe ich es nicht mehr mir die kollegenrettende Latte pünktlich vor Arbeitsbeginn zu besorgen“, mahnte sie sich beim Aussteigen und stolperte im Laufschritt auf den Ausgang zu, so schnell das mit solchen Monsterabsätzen eben nur möglich war.
Eigentlich war sie trotz ihrer 30 Jahre eher ein Pulli-Jeans-Typ, aber nachdem sie sich auf der Arbeit deswegen schon so einiges hatte anhören müssen, versuchte sie sich eher dem Klamottenstil ihrer weiblichen Arbeitskollegen anzupassen, wozu eben auch diese Art von Schuhwerk gehörte.
Ein kurzer Blick auf die Uhr ließ sie dann auch, wie geplant, den kleinen Abstecher zum Starbucks einschlagen. Dass sie dabei vor dem ein oder anderen geschäftig wirkenden Mitmenschen ausweichend zur Seite springen musste, war für sie eine Art Frühsport. Elegant schlängelte sie sich, ohne die Tür zu berühren, an einem Mann vorbei und schob sich ins Café. Schon leicht besänftigt inhalierte sie in vollen Zügen den Kaffeeduft. Eine erste Ruhe breitete sich in ihrem Körper aus und würde sie auch eine längere Anstehzeit überstehen lassen. So jemanden wie Hannah, nannte man wohl zu Recht einen Kaffeejunkie.
„Was darf es denn sein?“, riss sie eine altbekannte Stimme von der anderen Seite des Verkaufstresens aus ihren Tagträumen, „Wie immer?“
Mit ihren regelmäßigen Besuchen hatte sie eine wohl etwas zweifelhafte Bekanntheit bei sämtlichen Angestellten erlangt. Auf Joschis Gesicht machte sich ein erwartungsfrohes Grinsen breit. Er gehörte definitiv zu ihren Lieblingsangestellten, was bei dem Lächeln nicht verwunderlich war.
„Ja, bitte!“, antwortete sie und erwiderte sein Lächeln verschmitzt und schon fast gut gelaunt. Wenige Momente später nahm sie den dampfenden XXL Becher ihrer persönlichen Droge, Latte Macchiato mit einem extra großen Schuss Karamell, entgegen und pimpte das Ganze noch mit reichlich Zucker. Während normale Menschen sich vermutlich schon bei der Vorstellung, dieses Zeug trinken zu müssen, angewidert geschüttelt hätten, konnte es Hannah gar nicht süß genug sein.
Ein letzter dankender Blick streifte Joschis Gesicht, ehe sie aus der Tür verschwand.
Zielstrebig nahm sie den gut fünfminütigen Fußweg in Angriff, noch nicht ganz sicher, ob sie heute Lust zur Arbeit hatte. Grundsätzlich mochte sie ihren Job, eine Tatsache, die sie sehr zu schätzen wusste. Nur Montage steckten nicht selten voller Überraschungen und gehörten damit nicht gerade zu ihren Lieblingstagen.
„Mal sehen, was mich heute erwartet“, dachte sie zwischen zwei großen Schlucken ihres süßen Muntermachers, der unglaublicherweise schon langsam wieder zur Neige ging. Im Vorbeigehen warf sie, wie so oft, einen schnellen Blick auf die rechts von ihr stehende Litfaßsäule. Heute allerdings nicht aus beruflichem Interesse, sondern immer noch den zum Geburtstag versprochenen Konzertbesuch, für ihre beste Freundin und Arbeitskollegin Julia, im Hinterkopf habend. Doch alles, was sie musikmäßig mit ihrem geschulten Blick wahrnahm, waren eine Vielzahl etwa 12-jährige Milchbubis, in Reih und Glied aufgestellt, wohl ein Knabenchor, und fünf nur allzu schöne Mittzwanziger mit dem künstlichsten Zahnpastalächeln, was sie je meinte gesehen zu haben. Da brauchte sie wohl gar nicht genauer hinzuschauen, das kam beides mit tödlicher Sicherheit nicht für ihre Zwecke in Frage.
Hannah schritt die letzten Meter auf das gläserne Eingangsportal zu und versenkte ihren mittlerweile gänzlich geleerten Becher mit einem geschickten Wurf im Papierkorb.
Kurz zögernd entschied sie sich für den Fahrstuhl, um in den 4. Stock des imposanten Bürokomplexes zu gelangen. Die Treppe verschmähte sie mit der festen Überzeugung, für diese Uhrzeit schon genug Sport gemacht zu haben. In Verbindung mit einem durchdringenden Läuten öffnete sich die schwere Stahltür im gewünschten Stock. Noch kurz die Schultern gestrafft und damit bereit für den Beginn einer anstrengenden Arbeitswoche.
Als Hannah gleich im Eingangsbereich der Redaktion ihre völlig überkandidelte, in Netzstrümpfe und endlose Stiefel verpackte Kollegin Wiebke traf, hatte sich der Umweg übers Café bereits bezahlt gemacht. Dass auch ein bisschen Neid in ihr aufkam, wenn sie sich die endlosen, superschlanken Beine anschaute, konnte sie leider nicht verhindern.
„Hast du kein gutes Wochenende gehabt Hannah? Du siehst ein bisschen müde aus“, kam die, wenn man es nicht besser gewusst hätte, fürsorglich klingende Frage aus Wiebkes Mund.
Aus diesem Grund erwiderte sie auch nur kurz angebunden und möglichst kühl: „Das täuscht wohl.“
Schnell beschleunigte Hannah ihren Schritt und kehrte Wiebke den Rücken zu, um möglichst umgehend in ein freundlicheres Gesicht blicken zu können. Spontan entschied sie sich, bevor sie sich an ihren eigenen Schreibtisch setzte, den von Julia aufzusuchen, um ihre Laune etwas aufzubessern. In der Redaktion einer erfolgreichen Frauenzeitschrift, mit rund 80 größtenteils weiblichen Angestellten, begegnet einem nicht selten ein falsches Lachen, weswegen Hannah sich umso mehr nach Julias ehrlichem, offenem Gesicht sehnte.
Julia rief schon aus einiger Entfernung: „Hi Hannah! Was ziehst du denn für ein Gesicht? Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?“
„Das nicht, aber Wiebke“, gab sie, mittlerweile vor dem Schreibtisch stehend und damit ein bisschen diskreter, zurück.
„Lass dich doch nicht so leicht von einer fischnetztragenden Tussi ärgern“, riet Julia augenzwinkernd.
Lachend bemerkte Hannah: „Ist sie dir heute also auch schon begegnet, die Herrin der Fische?“, und fügte mit ein bisschen Wehmut in der Stimme hinzu, „Nicht nur dass einem ihr Anblick bei der Arbeit nicht erspart bleibt, an diesem Wochenende musste ich sie auch noch in meiner Freizeit ertragen. Ich hatte immer gedacht, die Funzel sei Wiebkefreie Zone. Sonst treibt sie sich doch nur in so Schickimicki-Kneipen rum. Wie soll ich je wieder dieses hundertprozentige Wohlbefinden in meiner Lieblingskneipe fühlen können?“
„Findest du dich jetzt nicht auch ein bisschen melodramatisch?“, gab Julia kichernd zu bedenken.
„Du hast gut reden und ja auch noch nicht die ganze Geschichte gehört. Natürlich hatte sie schon wieder einen dicken Fisch im Netz. Hab` selten einen so süßen Kerl in der Funzel gesehen.“
„Nun mal halblang, du versinkst ja gleich in deinem Selbstmitleid. Pass lieber auf, sonst muss ich zu deiner Rettung noch Wiebke mit ihrem Netz rufen. Außerdem ist das doch nichts Neues, dass Männer ein bisschen, wie soll ich es ausdrücken, einfacher gestrickt sind?!?“
Wie auf Kommando kam in diesem Moment Benjamin um die Ecke geschossen, legte Hannah seine ihr nur allzu vertraute Hand auf die Schulter und grüßte sie mit den scheinbar hellseherischen Worten: „Na ihr zwei Hübschen! Über wen zerreißt ihr euch gerade das Maul?“
Hannah und Ben, wie er kurz von seinen Freunden genannt wurde, hatten über ein Jahr lang ein äußerst nettes Paar abgegeben. Nur leider hatte Hannah dann festgestellt, dass sein kindlicher Lebensstil nicht ganz altersentsprechend war und mit ihren Zukunftsplänen stark kollidierte. Während sie sich langsam aber sicher an den Gedanken gewöhnen konnte eine feste Bindung mit Trauschein einzugehen und sogar Nachwuchs in die Welt zu setzen, war für ihn existenziell, kein Spiel seines favorisierten Fußballteams zu verpassen und den nächsten Level in seinem jeweils aktuellen Computerspiel zu erreichen. Ja, ein Kind wollte sie, aber keines heiraten. Glücklicherweise ließ sich die Beziehung ohne Rosenkrieg beenden und Hannah und Ben konnten sich auch weiterhin problemlos in die Augen sehen.
Seine aufgeweckten, braunen Augen hatte sie immer besonders schön gefunden, wie sie forsch unter seiner dunklen, vollen Lockenpracht hervorguckten. Manchmal ertappte sie sich noch dabei, wie sie sich tief in seinen Augen verlor und sich nichts sehnlicher wünschte als nur ganz schnell seine weichen Lippen auf den ihren zu spüren. Und das, obwohl die Beziehung bereits ein halbes Jahr zurücklag. Anschließend fühlte sie sich immer ein bisschen erbärmlich.
Bei Hannahs derzeitiger Grundstimmung und dem durch das Gespräch mit Julia entfachten Männerhass, musste er sich jedoch wohl eher weniger vor einer Kussattacke ihrerseits fürchten.
Mit großer Unschuldsmiene antwortete Julia mit einer Gegenfrage: „Hast du mich oder Hannah jemals schlecht über einen anderen Menschen sprechen hören?“, und fügte noch mit einem leicht drohenden Unterton in der Stimme und erhobener Faust hinzu, „Sag die Wahrheit!“.
Ben hob beschwichtigend die Hände und bemerkte solidarisch: „Auf diese Frage möchte ich aus Gründen eines übervollen Schreibtisches zum jetzigen Zeitpunkt lieber keine Antwort geben.“
Unterwürfig schielte er in Julias Gesicht um darin eine Reaktion abzulesen. Als er darin ein selbstzufriedenes, breites Grinsen fand, erweiterte er ihre gemeinsame Inszenierung noch um eine kurze Schlussszene. Im Weggehen wischte er sich hochdramatisch den fiktiven Angstschweiß von der Stirn.
Hannah schaltete sich wieder ein und schlug vor: „Lass uns die Unterhaltung lieber ein anderes Mal ohne Zeugen fortsetzen. Außerdem sollte ich so langsam mal meinen Schreibtisch entrümpeln, um für die nächste Wochenaufgabe Platz zu schaffen.“
„Weißt du schon, was du machen musst?“, hakte Julia interessiert nach.
„Nein! Hab’ absolut keinen Plan. Alle meine Projekte sind abgeschlossen. Werde mich wohl oder übel gleich im Meeting überraschen lassen müssen.“
„Na dann. Drück dir die Daumen, dass du eine spannende Story ergatterst.“
Um dem Gesagten noch Nachdruck zu verleihen, hob Julia beide Hände und drückte mit einem übertrieben angestrengten Gesichtsausdruck die dunkelrot lackierten Finger zu zwei Fäuste. Schon musste Hannah wieder grinsen und machte sich nun endgültig auf den Weg zu ihrem Schreibtisch. Mit leicht geröteten Wangen bahnte sie sich den Weg durch das Großraumbüro, den ein oder anderen fleißigen Arbeitskollegen mit einem leichten Kopfnicken grüßend. Augenblicklich machte sich das schlechte Gewissen in Hannah breit. Sie trug noch ihre dicke Winterjacke, daher wohl auch die gesunde Gesichtsfarbe und hatte noch keinen Handschlag getan. Kaum am Platz, begann sie deswegen auch schon akribisch die hohen Zettelberge zu sichten und wahlweise zu entsorgen oder abzuheften. Ein klein bisschen verstärkte sich die rötliche Gesichtsfarbe noch, als unter all den Bergen eine halb volle Kaffeetasse und ein angebissenes Stück Kuchen zum Vorschein kamen. Schnell und damit möglichst unbemerkt, ließ sie den Teller unter ihrem Tisch verschwinden. Auf halbem Weg zum Papierkorb erstarrte sie in ihrer Bewegung. Ein leichtes Hungergefühl kämpfte gegen die Erkenntnis, dass dieses Stück dem langen Wochenende annähernd schutzlos, lediglich bedeckt von ein paar Notizen, ausgeliefert gewesen war. Die Erkenntnis gewann den Kampf. Mit dem Laut eines aufprallenden Steines traf der Kuchenrest auf den Boden des Papierkorbes.
„Glück gehabt!“, dachte sie erleichtert, „Das hätte mich wohl einen Zahn kosten können.“
Endlich war ihre restlos mit irgendwelchen Telefonnummern und Stichworten bekritzelte Schreibtischunterlage wieder vollständig sichtbar. Während ihre Unterlage auf dem heimischen Schreibtisch noch mit zahlreichen Bildchen übersät war, unterdrückte sie an ihrem Arbeitsplatz das Bedürfnis sich künstlerisch auszutoben bisweilen erfolgreich.
Mit einem guten Gefühl würde Hannah sich nun zum Meeting begeben können, bereit für ihre neue Aufgabe. Als sie nun neben Maike, Kerstin und Wiebke auch Julia und Ben den Konferenzraum ansteuern sah, schwang sie sich auch hoch.
Im Schnitt nahmen etwa 20 der 80 Kollegen aus der Redaktion von Fruitfull an einem Montagmorgenmeeting teil, um z.B. Zwischenergebnisse zu präsentieren und zu diskutieren, Erfolge und Misserfolge zu analysieren oder wie in Hannahs Fall, um neue Aufgaben zu erhalten. Das Magazin erschien im Zweiwochentakt und zielte in erster Linie auf Leserinnen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren ab. Damit gehörten natürlich Artikel über die Themen Stars und Sternchen inklusive Gerüchteküche, Modetrends, Kosmetik, Diäten und Lifestyle zum Herzstück einer jeden Ausgabe. Mit einer Auflage von 750.000 Stück, galt es nicht gerade eine kleine Leserschaft zu erreichen und bei der Stange zu halten. Grundsätzlich war der Titel des Magazins Programm: Von Erfolg gekrönt.
Hannah hatte eigentlich schon zu allen Bereichen erfolgreich Artikel verfasst. Ihre Redaktionschefin Anne war stets mit ihrer Arbeit zufrieden gewesen. Bis auf das eine Mal, als Hannah extra in die Staaten, zur New York Fashion Week, geflogen war, um die neusten Trends designerübergreifend und brandheiß den Leserinnen zu präsentieren. Ihr klangen die damaligen Worte Annes noch heute genau in den Ohren, als diese den Vorabentwurf kritisch inspizierte und zu folgendem, vernichtenden Urteil kam: „Wie schafft man es nur, bei all dem Glanz und Glamour, mit hundertprozentiger Zielsicherheit die wohl nichtssagendsten und unscheinbarsten Outfits auszuwählen?“
Um aus dem verpatzen Artikel noch das Bestmögliche rauszuholen, war ihr Julia an die Seite gestellt worden. Obwohl diese ihr gleich richtig vor den Kopf gestoßen hatte, indem sie Anne die Schuld für das missglückte Ergebnis gab, die sich ja Hannah nur einmal etwas genauer hätte angucken müssen um festzustellen, dass sie nicht die Richtige für diese Art von Journalismus war, war damit der Grundstein einer unerschütterlichen Freundschaft gelegt worden. Und genau diese offene, direkte Art war das, was Hannah mittlerweile so an Julia zu schätzen wusste. Außerdem half ihr Julia seither ihren Kleiderschrank ein bisschen aufzupeppen, was ein sehr angenehmer Nebeneffekt war.
Hannah hoffte, dass sie im Sitzungsraum noch einen Platz neben Julia oder Ben ergattern könnte. Und so war es dann auch. Sie setzte sich zufrieden auf den freigehaltenen Platz zwischen die Zwei und sorgte sogleich für das leibliche Wohlergehen, indem sie sich allen einen Kaffee eingoss. Durch das Heranziehen des Plätzchentellers sicherte sie ihnen auch darauf freien Zugriff, was sie den Frust über das vertrocknete Stück Kuchen langsam vergessen ließ.
„Allen denen ich das noch nicht persönlich gesagt habe, wünsche ich einen wunderschönen guten Morgen“, begrüßte Anne die Anwesenden.
„Von der letzten Auflage Fruitfull ist zu viel liegen geblieben.“, eröffnete sie gleich mit einem unerfreulichen Thema und ernsthaftem Gesichtsausdruck das Meeting, „Wir müssen uns mächtig ins Zeug legen! Das Gute ist, dass die aktuelle Musikwelt ein passendes Titelthema für uns bereithält. Aber darauf komme ich später noch zu sprechen. Zunächst wollen wir unser Augenmerk auf laufende Projekte richten.“
Ein zustimmendes Brummen ertönte aus der Runde. Im nächsten Zug gerieten unter anderem kurz Julias Serie über die künftige Frühjahrsmode und Bens Hausfrauensportbeiträge, wie Hannah sie ein wenig abwertend nannte, in den Blickpunkt. Beides wurde durchgewunken und würde in nahezu unveränderter Form fortgesetzt werden können. Schließlich kam es zum spannendsten Teil - der Verteilung der neuen Aufgaben. Wiebke sollte eine Story über die aktuellen Trends in Sachen Inneneinrichtung schreiben. Ein leichter Stich traf Hannah, die das Thema aus persönlichem Interesse auch gern bekommen hätte. Allerdings bot sich ihr nicht die Zeit darüber nachdenken zu können, da ihr Name bereits im nächsten Moment fiel. Leicht verdattert versuchte sie die Worte, die vor dem Fallen ihres Namens, gesagt worden waren zu rekonstruieren, als Julia ihr auch schon ein wenig zu fest mit dem Ellenbogen in die Rippen stieß.
„Cool, du darfst dich mit den Jungs von Twentyfour auseinandersetzen!“ „Bist du doof, das tat weh!“, zischte Hannah in Julias Richtung.
„Ein bisschen mehr Begeisterung bitte!“, forderte Julia, die von der schroffen Antwort leicht gekränkt schien. „Schließlich sind die Jungs total sexy. Ich würde nur allzu gern mit dir tauschen.“
Da richtete Hannah das Wort an Anne. „Das wird das Titelthema unserer nächsten Ausgabe sein?“, fragte sie ungläubig. „Ist die Zielgruppe der Band nicht völlig konträr zu der unserer Leserinnen?“
Anne begann Hannah aufzuklären: „Die Band erobert gerade die Sympathien eines ungewöhnlich breiten Publikums. Natürlich passen da die kreischenden 16jährigen optimal ins Bild, aber das Spannende sind ja gerade die 20-40jährigen, die sich ihrem Charme auch nicht entziehen können.“
Nach wie vor zweifelnd nahm sie die Mappe mit den notwendigen Informationen entgegen, die an sie weitergereicht wurde.
„Du wirst schon etwas daraus machen“, schloss Anne das Thema zuversichtlich. „Behalte nur die Zeit im Auge, damit der Titel bereits in zwei und nicht erst in vier Wochen erscheinen kann. Unsere Chance, schnell und effektiv die Unzulänglichkeiten der letzten Ausgabe mit einem großen Erfolg überspielen zu können.“
Hannah griff gierig nach ihrem Kaffee, um den aufkommenden Frust runterzuspülen, als sie zu allem Überfluss auch noch das schadenfrohe Schmunzeln in Bens Gesicht erblickte. Auf der anderen Seite hörte sich das nach einer echten Herausforderung an, sowohl in Punkto Zeit, als auch in Punkto Erfolgsanspruch.
„Gibt es von eurer Seite noch weitere Themenvorschläge und Anregungen für die folgende Ausgaben?“, erkundigte sich Anne. Spontan hob Julia die Hand, um einen Wortbeitrag zu signalisieren.
„Ja, Julia!“, forderte Anne sie zum Sprechen auf.
„Ich fände einen Artikel über die Fischbestände in der Nordsee hochinteressant und glaube, Wiebke wäre die richtige Ansprechpartnerin dafür.“
Bei dem Versuch einen peinlichen Lachanfall zu unterdrücken verschluckte Hannah sich an ihrem Kaffee und hatte echte Not, dass er ihr aus der Nase nicht wieder herauskommen würde. Anne konnte das Gesagte zwar nicht richtig deuten, verstand aber gleich wie es gemeint war, nämlich als Scherz und überging den Beitrag mit den Worten: „Gibt es noch andere, ernsthafte Gesprächsbeiträge? Wenn dies nicht der Fall ist, werde ich das Meeting an dieser Stelle beenden. Ich wünsche euch eine erfolgreiche Arbeitswoche.“
Während Julia der tödliche Blick von Wiebke traf, schob diese seelenruhig ihren Stuhl unter den Tisch und verabredete sich für die Mittagspause mit Hannah.
***
Der restliche Vormittag war für Hannah schnell mit dem Sichten des Materials verstrichen. Abgesehen von ein paar Ansprechpartnern im Management der Jungs von Twentyfour, lagen lediglich einige Informationen zur Zusammensetzung der Band, zur Musikrichtung inklusive Hörprobe und ein paar Fotos bei. Netterweise gab es auch von jedem Bandmitglied eine Autogrammkarte. Scherzhaft dachte Hannah darüber nach, welche der fünf Karten sie heute Abend über ihr Bett hängen würde. Pete gefiel ihr am besten. Dunkelblondes nach allen Seiten stehendes, verwuscheltes Haar. Etwas zu dichte Augenbrauen, aber darunter stechend grüne Augen von der Farbe und Tiefe eines Waldsees. Da hatte der Fotograf es wohl etwas zu gut mit der farblichen Nachbearbeitung gemeint. Ansonsten feine, aber markante Gesichtszüge. Schon irgendwie sympathisch, aber zu schön für diese Welt. Die Rückseite gab das Alter des Schönlings preis: 24 Jahre. Nein, wie passend. Skeptisch, die Leserschaft im Hinterkopf habend, überprüfte sie das Alter seiner Bandkollegen. Keiner war über 24, der Jüngste gerade mal 22 Jahre alt. Schwer vorstellbar, wie ein Heft mit 5 Halbstarken auf dem Titel ihre Zielgruppe zum Kauf des Magazins animieren sollte. Auf der anderen Seite schien Julia, die die 30 gerade erst überschritten hatte, mehr als genau über die kommenden Popsternchen Bescheid zu wissen. Mehr noch, sie ließ sich zu regelrechten Begeisterungsstürmen hinreißen. Jetzt, wo Hannah wieder daran zurückdachte, schmerzte ihre Seite immer noch ein bisschen.
Hannah nahm sich vor, Julia gleich beim Essen zu diesem Thema ein bisschen genauer zu befragen. Auf der anderen Seite hatte sie wenig Hoffnung, dass sich Julias Euphorie sachlich erklären ließ. Wahrscheinlich würden sich ihre Äußerungen auch nicht großartig von denen eines pubertären Teenies unterscheiden. Einen kleinen Vorgeschmack hatte Julia ihr mit ihrer Aussage ja bereits geboten. Die sind total sexy!
Aber sie würde sich gern eines Besseren belehren lassen.
Glücklicherweise war das Angebot an Restaurants und Kantinen, die sich mit günstigen Mittagstischen auf die arbeitende Bevölkerung eingestellt hatten und förmlich gegenseitig unterboten, mehr als üppig. Durch die große Auswahl ließ sich eine direkt ausgewogene Ernährung zustande bringen. Außerdem entfielen Einkauf, Kochen und Abwasch, das Argument schlechthin. Den Einkauf hätte sich Hannah ja noch gefallen lassen, aber alles was nicht gerade Spaghetti Bolognese hieß, überstieg bereits ihre hausfraulichen Fähigkeiten. Wenn überhaupt, dann schwang sie lieber einmal den Mixer, um sich beim Backen zu versuchen. Manchmal fragte sie sich, wie sie irgendwann einmal einen Mann und zwei Kinder, ihre Idealvorstellung einer kleinen Familie, täglich bekochen sollte. Aber dafür bräuchte sie erstmal einen Mann und der war weit und breit nicht zu sehen.
Heute hatten Hannah und Julia sich für die nahegelegene Salatbar entschieden.
„Komm, lass uns den Tisch am Fenster nehmen“, schlug Hannah vor. Sie taumelten mit ihren vollen Tabletts auf den freien, noch ein wenig schmutzigen Tisch zu. Ohne zu zögern fegte Hannah mit ihrem rechten Jackenärmel die Krümel von der Tischplatte, während sie mit der Linken kunstvoll das ins Wanken geratene Tablett ausbalancierte. Zufrieden ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen. Der Salatberg, mit den goldbraun frittierten Hähnchenstücken schien sie einladend anzulachen.
Automatisch legte Hannah sich, bevor sie mit dem Essen begann, ihre Serviette auf den Schoß. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sie ihre, von den Kolleginnen ohnehin schon in den Mittelpunkt des Interesses gerückten Outfits, auch noch zusätzlich mit einem Fleck garniert hätte. Auf diese Art von Aufmerksamkeit wollte sie vorerst lieber verzichten.
Was Frauen, insbesondere die in der Redaktion einer Frauenzeitschrift arbeitenden Exemplare, alles sahen und als Gesprächsanlass nahmen, verblüffte Hannah immer wieder aufs Neue. Das Spektrum reichte von der zu engen Hose, die die Cellulitis an den Oberschenkeln der Kollegin besonders gut zum Vorschein brachte, über die neuen dritten Zähne des Kollegen, die scheinbar mit dem vorherigen Gebiss nur noch die Funktion des Kauens gemeinsam hatten.
„Einen Guten!“, wünschte Julia und schob sich den ersten Fleischbrocken in den Mund. Genüsslich kaute nun auch Hannah auf einem vor Frittierfett triefenden Stückchen Hähnchen rum, bevor sie mit ihren Fragen über Julia herfiel.
„Sag mal, Julia, und du kannst dieser Band wirklich und allen Ernstes etwas abgewinnen?“, erkundigte sich Hannah vorsichtig.
„Natürlich. Ich weiß zwar nicht, wie du das hinbekommen hast, aber du scheinst dich bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit dem Virus infiziert zu haben. Damit gehörst du bei dieser Pandemie absolut zu den Ausnahmen.“
„Pandemie? Willst du damit andeuten, dass das Phänomen über den Stadtrand hinausreicht?“
„Du musst wirklich völlig ahnungslos sein“, stellte Julia sichtlich schockiert fest. „Du glaubst doch nicht, dass Anne eine Titelstory mit Gesichtern plant, die lediglich auf unseren heimischen Straßen erkannt werden. Deren erste Single befindet sich in mindestens 3 Ländern in der Top-10-Liste ganz weit oben.“
Hannah wirkte ein wenig verunsichert.
„Es tut mir Leid. Ich gebe zu, den Namen schon mal im Zusammenhang mit Musik gehört zu haben, aber dann bin ich mit meinem Latein auch schon fast am Ende.“
„Wie hast du es geschafft, an all den Bildern vorbeizukommen. Die halbe Stadt ist mit ihren Konterfeis plakatiert. Und nur der Blick in eines dieser süßen Gesichter und zumindest ein erstes Interesse sollte zwangsweise geweckt sein. Hab die Jungs nach meiner ersten Begegnung gleich gegoogelt und mich dabei ein bisschen in Paul verguckt“, gestand Julia.
„Und was sagt dein Patrick dazu?“
„Sei nicht albern! Man wird ja wohl ein bisschen träumen dürfen.“
„Verrate mir doch mal, womit sich der Erfolg erklären lässt, abgesehen von ihrem scheinbar unwiderstehlichen Aussehen. Wenn ich den Inhalt der Infomappe richtig interpretiert habe, dann spielt da nicht mal einer ein Instrument, in dem zusammengecasteten Haufen.“
„Sei doch nicht immer so abwertend und kritisch! Und muss ich wirklich jemandem, der noch nach 15 Jahren mit einem Leuchten in den Augen von einem Take That Konzert erzählt, bei dem Robbie Williams angeblich genau ihr zugewinkt hat, das Prinzip Boyband erklären?“
„Musst du das jetzt wieder ausgraben, schließlich war ich damals nicht älter als 15 Jahre.“
„Ja, aber du warst nicht 15, als du die Story das letzte Mal, mit eben diesem Leuchten in den Augen, erzählt hast.“
„Ist ja schon gut“, lenkte Hannah versöhnlich ein.
Schmunzelnd musste sie an das besagte Konzert denken, das sie gemeinsam mit ihren drei Jugendfreundinnen besucht hatte. Obwohl sie sich eher zu den zurückhaltenderen Fans zählte, und nichts von hysterischem Gekreische hielt, hatte sie bereits diverse Nächte vor dem Konzert nicht schlafen können. Und natürlich hatte sie tagelang überlegt, was sie anziehen würde und darüber hinaus kunstvoll das Stück eines alten Bettlakens mit ihrem Schultuschkasten bemalt. „Robbie, please hold me in your arms“, hatte mit bunten Buchstaben darauf gestanden.
Bei dem Konzert hatten sie dann zunächst einen Stehplatz im hinteren Teil, des direkt vor der Bühne abgegrenzten Bereiches ergattert und standen damit etwa vierzig Meter von ihren Idolen entfernt. Etwa nach der Hälfte des Konzertes, schon leicht geschwächt, taub und heiser, hatten sie sich dann entschlossen den Weg gegen die Masse, in den vorderen Bereich anzutreten. Jeder Zentimeter in Richtung Bühne war mehr als hart erkämpft gewesen. In dem dichten Gedränge war ihnen bereits nach kürzester Zeit der Schweiß von der Stirn gelaufen, den Hannah sich kurzerhand mit ihrem bemalten Bettlaken weggewischt hatte. Der Lachanfall ihrer Freundinnen, bei der nächsten Verschnaufpause, begründete sich mit den grünen, roten und blauen Farbspuren, die das Laken dabei in Hannahs Gesicht hinterlassen hatte.
Nach dem kleinen Malheur kam dann der Höhepunkt des Abends. Wechselweise nahmen sich die Freundinnen Huckepack, um die Köpfe der übrigen Fans ein wenig zu überragen. Als Hannah an der Reihe war, hatte sie trotz der zehn Meter, die immer noch zwischen ihr und Robbie lagen, das Gefühl, ihm direkt gegenüber zu stehen. Als er in ihre Richtung schaute, und in die etwa 3000 weiterer Fans, nutzte sie die Gunst der Stunde, breitete ihr Spruchband aus und schwenkte es wild hin und her. Der festen Überzeugung seine Aufmerksamkeit gewonnen zu haben, glaubte sie ihren Augen kaum zu trauen. Er hatte sein schiefes, hinreißendes Grinsen aufgelegt, hob seinen Arm und winkte ihr zu. Ihr ganz allein. Das stand für Hannah auch heute noch fest. Wenn sie die Geschichte erzählte, zog sie das Ganze natürlich ein bisschen ins Lächerliche, von wegen er habe nur ihr ganz allein zugewinkt.
Nachdem Julias Frage unbeantwortet geblieben war und sie Hannahs entrückten Gesichtsausdruck bemerkte, rüttelte sie an ihrem Arm und stöhnte: „Aufwachen, du träumst ja mit offenen Augen!“
„Wie, was hast du gefragt?“, erkundigte sich Hannah schuldbewusst.
„Ob du noch keines ihrer Lieder gehört hast?“
„Nein, zumindest nicht bewusst. Was ich da im Radio höre, weiß ich ja oftmals nicht. Werde das aber gleich heute Abend nachholen, schließlich habe ich nicht umsonst eine Hörprobe bekommen.“
„Du wirst mit Sicherheit angenehm überrascht sein. Die Lieder sind sehr eingängig und natürlich was fürs Herz.“
Mit diesen Worten verschlang Julia die letzten Salatblätter, womit ihr Teller gänzlich geleert war. Hannah wischte derweil ihren Teller mit einem Stückchen Brot sauber, das die letzten Reste des Dressings aufsog. Satt machten sie sich auf den Rückweg zum Büro, während Julia noch die eine oder andere Information über Twentyfour preisgab. Hannah war sichtlich darüber verwundert, was Julia alles wusste. Auch dabei musste sie noch einmal grinsend an ihre Jugend denken und wie sie jeden Take That-Schnipsel fein säuberlich ausgeschnitten und in einem Ordner, wie ein Heiligtum, gesammelt hatte.
***
Um 18 Uhr entschied Hannah mit gutem Gewissen ihre Arbeit zu beenden. Unbezahlte Überstunden gehörten leider zum Berufsalltag und ließen sie nur selten früher das Büro verlassen.
Im Laufe des Nachmittages hatte sie bei ihren Recherchearbeiten zumindest eine Grundidee bezüglich ihres Artikels entwickelt. Außerdem hatte sie herausgefunden, dass in naher Zukunft mehrere kürzere Liveauftritte in der Stadt anstanden. Die Band war für einen längeren Zeitraum an die Stadt gebunden, um ihr Album aufzunehmen. Zwischendurch würden zu Promotion-Zwecken Teile des künftigen Albums in größeren Bars, Diskotheken und alternativen Veranstaltungsorten gespielt werden. Eine Form von Konzert, die Hannah heute oftmals den riesigen Menschenansammlungen in Stadien, auf Grund ihrer intimeren Atmosphäre, vorzog.
Hannah schaltete entschlossen ihren Rechner aus, schnappte sich ihre Jacke und dachte noch im letzten Moment daran, sich die CD mit den Hörproben in die Jackentasche zu schieben. Da Julia sich noch nicht von ihr verabschiedet hatte, ging Hannah davon aus, dass die noch fleißig an ihrem Schreibtisch saß. Genau so war es auch.
„Ich mach Schluss für heute“, verabschiedete sich Hannah.
Julia blickte zu ihr auf. „In Ordnung. Muss das hier noch schnell fertig machen, dann bin ich auch weg. Dabei fällt mir gerade ein, hast du in dieser Woche abends mal Zeit für ein Bierchen? Sven, ein ehemaliger Studienkollege von Patrick ist aus beruflichen Gründen neu in die Stadt gezogen. Er braucht ein bisschen Unterhaltung und einen Stadtführer.“
„Klar, bin immer für ´ne kleine Abwechslung zu haben.“
„Soll laut Patrick übrigens ein ganz Netter sein“, ergänzte Julia augenzwinkernd.
„Wenn das so ist, sollte ich es mir vielleicht noch einmal anders überlegen.“
„Nein, nein, keine Sorge. Ich werde dir ganz sicher peinliche Verkupplungsversuche ersparen.“
„Also dann. Sag mir Bescheid, wenn es konkreter wird!“
Schließlich machte Hannah sich endgültig auf den Heimweg. Als ihr beim Betreten der Straße der kalte Wind um die Nase wehte, entschloss sie sich spontan zu einem weiteren Besuch bei ihrem Kaffeedealer. Diesmal schlenderte sie jedoch völlig entspannt den Weg entlang und nahm sich auch die Zeit in das ein oder andere Schaufenster zu blicken. Etwa auf halber Strecke sah sie aus dem Augenwinkel wieder die Jungs aus der vermeintlichen Zahnpastawerbung, die ihr bereits am Morgen von der Litfaßsäule zugelächelt hatten. Verwundert über ihre eigene Unfähigkeit nicht schon im Meeting eins und eins zusammengezählt zu haben, stellte sie fest, dass es sich um Twentyfour handelte. Sie blieb stehen und studierte das Plakat genauer. Nach der kurzen Recherche kamen ihr die Jungs bereits seltsam vertraut vor. Missbilligend musterte sie die strahlend weißen Zähne und Petes hervorstechenden, grünen Augen. Das Ganze wirkte unglaublich gestellt und künstlich. Nicht nur die Pose, auch die Zusammenstellung der Gruppe. Da gab es den Dunkelhaarigen, fast schwarz, mit braunen Rehaugen, den Blauäugigen mit etwas längeren braunen Haaren und dann Julias Paul mit wasserblauen Augen und hellblondem Haar. Hannah fühlte sich bei seinem Anblick ein wenig an eine jüngere Ausgabe von Brad Pitt in Joe Black erinnert. Aufmerksam las sie die Zeilen unter dem Bild. Ihnen war zu entnehmen, wann und wo die Auftritte stattfinden sollten. Jetzt ärgerte sie sich ein zweites Mal innerhalb kürzester Zeit über ihre Beschränktheit, weil ihr der Gedanke nicht schon am Nachmittag vor dem Computer gekommen war. Das schrie doch förmlich nach dem optimalen Geschenk für Julia. Am kommenden Samstag sollte ein Auftritt in der alten Fabrik stattfinden. Da würde Hannah, wenn schon nicht die Musik, wenigstens das Ambiente gefallen. Abgesehen davon war ein Abend mit Julia immer ein riesen Spaß und der Besuch würde Hannah sicherlich beim Schreiben des Artikels weiterhelfen.
Erst jetzt spürte sie die Kälte in ihren Knochen aufsteigen und setzte sich erneut in Bewegung. Gleich morgen würde sie in der Mittagspause die Karten fürs Konzert besorgen, in der Hoffnung, dass es erstens, noch Karten gab und zweitens, Julia so kurzfristig Zeit finden würde. Die Aussicht, auf eine wärmende, wohlschmeckende Latte, ließ sie ihren Schritt automatisch wieder beschleunigen.
Obwohl Hannah sich im Vorfeld darüber im Klaren gewesen war, dass sie Joschi um diese Uhrzeit kaum noch antreffen würde, war sie ein wenig enttäuscht, ihre Latte von einer ihr sage und schreibe gänzlich unbekannten Frau überreicht zu bekommen. Ihrem Geschmack würde das jedoch kaum einen Abbruch tun. Mit beiden Händen umschloss sie ihr Getränk, um sich die klammen Finger zu wärmen. Es wurde Zeit, dass sie nach Hause kam. Hannah war müde und kaputt, da würde auch der Kaffee keine Wunder mehr bewirken können.
Endlich vor dem Auto stehend, tastete sie nach ihrem Schlüsselbund. Mit einem Knopfdruck entriegelte sie die Tür, öffnete sie lediglich einen Spalt und quetschte sich auf den Fahrersitz, bemüht dabei mit ihrer Tür nicht die des Nachbarautos zu berühren.
Auf dem Rückweg kam Hannah der Weg nie lang vor. Sie nutzte die Fahrt, um die Gedanken, die nach der Arbeit ausnahmslos um ihre Projekte kreisten, aus ihrem Kopf zu verbannen. Außerdem war der Verkehr glücklicherweise um diese Uhrzeit nicht mehr mit dem am Morgen zu vergleichen. Die meisten saßen wohl schon wieder zu Hause am Abendbrottisch oder lagen bereits gemütlich auf der Couch. Und genau da wollte Hannah jetzt auch hin.
Ein wenig zu schnell kurvte sie die spiralförmige Ausfahrt des Parkhauses hinab. Während ihr als Beifahrerin längst schlecht geworden wäre, konnte es ihr als Fahrerin gar nicht schnell genug gehen. Gerade weil sie die Strecke von ihrer Wohnung bis zur Arbeit und umgekehrt wie im Schlaf kannte, überschritt sie die Höchstgeschwindigkeit gelegentlich deutlich. Häufig passierte ihr das in Verbindung mit dem Hören lauter Musik, wenn ihr Körper scheinbar ohne ihren Verstand fuhr und sie sich nicht mehr an einzelne Fahrabschnitte erinnern konnte. Für eine solche Fahrt existierte sogar ein peinliches Beweisfoto. Peinlich insofern, als dass es von einem feststehenden Blitzer aufgenommen worden war, der an dieser Stelle bereits seit einigen Jahren stand. Außerdem hatte sie den Mund weit aufgerissen und einen schwer leidenden Gesichtsausdruck aufgelegt und sah einfach nur bescheuert aus. Später hatte sie mit dem Foto in der Hand überlegt, welches Lied sie da so emotional mitgerissen hatte. Auf der anderen Seite war sie heilfroh, dass das Foto nichts von ihrem Gesang preisgab. Hannah sang zwar für ihr Leben gern, aber mehr schlecht als recht und deswegen nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Von daher war das Auto immer ein vermeintlich sicherer Ort gewesen, an dem sie hemmungslos alles geben konnte. Seit der Momentaufnahme, die ihr gnadenlos vor Augen geführt hatte, dass ihr Gesang neben der akustischen, auch noch eine optische Seite hatte, achtete sie tunlichst darauf, zumindest an roten Ampeln, wenn sie einen direkten Nachbarn hatte, ihren Gesang zeitweilig zu unterbrechen. Auch wenn ihr das manchmal schwerfiel.
Auf dieser Fahrt blieb die Musik lediglich auf halber Lautstärke, da einfach auf keinem ihrer eingespeicherten Radiosender etwas Gescheites laufen wollte. Für einen Moment zog sie in Erwägung ihre neue CD, die sie durch ihre Jacke am Körper spürte, aufzulegen. In dem Moment ertönte „One Love“ von U2 und Mary J. Blidge aus den Lautsprechern. Kein Grund das Radio lauter zu stellen, aber Grund genug ihre Neugier nun doch noch zu zügeln und die CD erst auf der heimischen Anlage abzuspielen.
Die Gebäude brausten rechts und links an ihr vorbei. Während der Stadtteil, in dem sich ihre Redaktion befand, mit hochmodernen Bürokomplexen, riesigen Glasfronten und ausgefallenen Metallkonstruktionen glänzte, zeichnete sich das Viertel, in dem sich ihre Wohnung befand, durch nicht weniger imposante Altbauten aus. Den Kontrast zwischen Alt und Neu fand sie äußerst reizvoll.
Nachdem Hannah von der Hauptverkehrsstraße abgebogen war, hielt sie bereits Ausschau nach einem Parkplatz. Mit einer gefundenen Abstellmöglichkeit war sie auch noch im Umkreis von einem Kilometer um ihre Wohnung herum hoch zufrieden, wenn es nicht gerade in Strömen regnete oder sie nach einem Einkauf schwer bepackt nach Hause kam. Der Parkplatz-Gott meinte es heute ein weiteres Mal gut mit ihr und bescherte ihr einen Platz unweit der Wohnung. Geübt schlug sie im richtigen Moment das Lenkrad ein, um rückwärts in die Lücke zu gleiten. Beim Einparken machte ihr keiner so schnell etwas vor. Das Vorurteil, Frauen können nicht einparken, traf auf Hannah definitiv nicht zu. Eine winzige Korrektur und sie stand perfekt.
Die wenigen Meter Fußweg zu ihrer Wohnung führten sie an mit Ornamenten reich verzierten Fassaden vorbei, die der ihres Wohnhauses ähnelten. Kleine, mit kunstvollen schwarzbraunen Metallgeländern gesicherte Balkone überragten an der einen oder anderen Stelle die Fußwege und boten einen gelungenen Kontrast zu den verschiedenen pastellfarbenen Anstrichen. Mit dem Frühjahr komplettierte sich dann regelmäßig das Bild, wenn viele der Bewohner den Aufwand nicht scheuten und ihre Balkone üppig bepflanzten, so dass ein wahres Blütenmeer entstand. Die aktuelle Dekoration fiel dagegen etwas unscheinbarer aus, denn so mancher hatte seine Kiste Bier zum Kühlen nach draußen gestellt. Damit sorgte die Kälte wenigstens beim Einschenken des Bieres innerhalb der vier Wände für eine nicht weniger schöne Blume.
Neugierig spähte Hannah in die hell beleuchteten Fenster, um damit einen kurzen Eindruck von dem Leben der ihr völlig fremden Menschen zu erhaschen. In einem entdeckte sie einen riesigen Kristalllüster an der hohen Decke. Bewundernd beobachtete sie das Spiel der Lichtreflexe an den Wänden, bis ihr aus der gleichen Wohnung ein kleiner Junge fragend entgegenschaute. Ertappt und damit leicht beschämt, ging sie weiter.
Schließlich endete ihr Weg vor einem gelben Altbau, der trotz seiner leicht ramponierten Fassade und einigen Graffitischmierereien, einladend wirkte. Über wenige Stufen erreichte sie die einstmals herrschaftliche Eingangstür, die rechts und links von zwei pompösen Säulen gesäumt wurde. Bevor sie eintrat, betätigte sie den Lichtschalter, der sich neben den Klingelknöpfen der acht Parteien befand. Schmunzelnd sah sie aus dem Augenwinkel ihr Lieblingsklingelschild mit dem Aufdruck „ET“. Lange Zeit hatte sie sich in den buntesten Farben ausgemalt, welcher Witzbold sich wohl hinter diesem Schild verbergen könnte. Zwar begegnete man dem einen oder anderen Nachbarn gelegentlich im Treppenhaus und hielt ein kurzes Pläuschchen, jedoch nicht ohne eine gewisse Anonymität aufrecht zu erhalten. Umso größer war ihre Neugier, als sie unverhofft einen Vorwand bekam, um das Rätsel zu lösen, wer sich hinter dem Kürzel verbarg. Vertrauensvoll hatte sich der Postbote an sie gewandt, um ein Päckchen an den besagten Nachbarn zu übergeben. Erwartungsfroh hatte sie mehrere Male vor der Wohnungstür gestanden, ehe sich endlich ein Geräusch in Folge ihres Klopfens hinter der geschlossenen Tür vernehmen ließ. Dieser Umstand hatte natürlich noch dazu geführt, dass ihre Neugier schier ins Unermessliche gestiegen war. Die bittere Enttäuschung musste ihr im Gesicht gestanden haben, als ihr ein älterer Mann mit Halbglatze, dem sie im Treppenhaus durchaus schon begegnet war, dankend das Päckchen aus der Hand nahm. Später fand sie durch ein weiteres Päckchen heraus, dass ihr Nachbar den wenig verheißungsvollen Namen „Eduard Tausch“ trug. Hätte der bereits in seiner Gesamtheit auf dem ersten Päckchen gestanden, wäre ihre Fantasie vielleicht nicht so mit ihr durchgegangen. Aber davon hatte Hannah, solange sie zurück denken konnte, schon immer reichlich gehabt.
Mit der Unterstützung ihres gesamten Körpergewichtes, drückte sie die schwere Holztür auf. Seit einiger Zeit war die Deckenbeleuchtung im Erdgeschoss defekt, weswegen sie sich halb blind, mit Hilfe ihres Tastsinns fortbewegen musste. Eine knarzende Bodendiele verriet ihr, dass sie sich jetzt unmittelbar vor der Treppe befinden musste. Mit der Rechten den Handlauf umfassend, stieg sie trotz der Dunkelheit sicher die Holztreppe empor. Nachdem sie die erste Wendung überwunden hatte, erhellte ihr bereits der Lichtschein der Lampe aus dem ersten Geschoss den Weg. Ihre Hand verließ nun den Handlauf und strich stattdessen über die dicken Farbschichten der Wand, die schon an einigen Stellen abgeblättert waren und damit einen Blick auf längst vergangen Zeiten zuließen. Auch die deutlich ausgetretenen Holzstufen zeugten von den vielen Menschen, die dieses Treppenhaus bereits betreten hatten. Manchmal dachte sie darüber nach, was das wohl für Menschen gewesen waren.
Oben angekommen begrüßte sie ein kitschiges Schild mit der Aufschrift Herzlich Willkommen. Da sie es von ihrer Mutter zum Einzug geschenkt bekommen hatte, musste es, auch wenn es einen Angriff auf den guten Geschmack darstellte, an der Tür hängen bleiben. Ruhig atmend schloss sie ihre Wohnungstür auf. Besucher pfiffen dagegen nicht selten aus dem letzten Loch, wenn sie den vierten Stock erst erreicht hatten.
Eine wohlige Wärme, der vertraute Duft von Holz und einer Spur Vanille umgaben Hannah. Erleichtert hängte sie ihre Jacke an die Garderobe und stellte ihre hohen Stiefeletten in das Schuhregal. Dort tobte ein erbitterter Kampf zwischen Absatzschuhen und Turnschuhen um die Vorherrschaft. Während sie sich die schmerzenden Füße rieb, sah sie hoch in ihren großen Spiegel, der von einem aufwendigen, silbernen Barockrahmen gefasst wurde. Auch wenn in Hannahs Kopf der Kampf bereits zu Gunsten der Turnschuhe und dem entsprechenden Styling entschieden war, musste sie zugeben, dass ihr das, was sie sah, zwar immer noch befremdlich vorkam, aber durchaus gefiel. Sie trug einen klassischen Bleistiftrock in Kombination mit einer blassgrünen Bluse und einer grauen, eng anliegenden Weste. Der Rock und die Weste betonten ihre zierliche Figur, die durch den üppigen Busen dennoch weiblich wirkte. Natürlich hatte Julia ihr bei der Auswahl geholfen.
Ihre langen honigblonden Haare trug Hannah seitlich gescheitelt und im Nacken zu einem strengen Knoten zusammengebunden, so dass sich keine Locke aus der Frisur stehlen konnte. Mit ihrer von Sommersprossen übersäten Stupsnase und ihren 1,62 Meter Körpergröße, galt sie wohl eher als niedlich, denn als schön. Dennoch blitzten ihre dunklen grünen Augen zufrieden auf. Ob sie sich begehrenswert oder unattraktiv fand, hing stark von ihrem jeweiligen Wohlbefinden ab. Hätte sie mit diesem ihr jetzt innewohnenden Gefühl bereits am Morgen das Büro betreten, hätte Wiebke sie wohl gar nicht erst blöd von der Seite angequatscht oder sich zumindest auf eine schlagfertige Reaktion gefasst machen können. Hannah hatte die Erfahrung gemacht, dass sich ihr Auftreten nur allzu deutlich auf ihr Gegenüber auswirkte. Fühlte sie sich unbesiegbar, dann war sie es auch. Warum sie sich trotzdem nur allzu oft schwach und verletzlich, mausgrau und ohne jegliches Selbstbewusstsein fühlte, wusste sie selber nicht. Zumindest hatte Hannah es mit Hilfe ihres „Beruhigungsmittels“ in der Situation geschafft, vor Wut nicht knallrot anzulaufen und ihre Emotionen im Zaum zu halten. Sie wollte eine starke Erscheinung abgeben, aber bitte mit Niveau und Witz, ohne dabei laut und ausfallend zu werden.
Frei von Hast taperte Hannah in ihr Schlafzimmer, in dem schon ihr Wohlfühloutfit auf sie wartete. Ihre schicken Klamotten, die sie gerade noch selbstgefällig an sich betrachtet hatte, wurden nun achtlos zu einem großen Haufen aufs Bett geworfen. Schnell schlüpfte sie in eine ausgebeulte Jogginghose und in ein weißes, unscheinbares Kinderunterhemd in der Kleidergröße 164. Das Tragen eben solcher hatte sie sich bereits seit einiger Zeit zu Eigen gemacht. Abgesehen davon, dass sie damals die gesamte Damenunterwäscheabteilung mit Hilfe der Verkäuferin vergeblich nach einem Hemd aus 100 Prozent Baumwolle abgesucht hatte, kostete sie das Ganze in der Kinderabteilung nur einen Bruchteil. Natürlich hatte sie ein paar verächtliche Blicke der todschick gekleideten Verkäuferin kassiert, nachdem sie sämtliche Hemden abgelehnt hatte und ihr statt dessen eröffnet hatte, mal in der Kinderabteilung gucken zu wollen. Das hatte Hannah wiederum wenig gestört, da sie sich im Vorfeld tierisch über die Verkäuferin geärgert hatte, die trotz der klar formulierten Anforderungen an das Hemd immer wieder mit hauchzarten Hemdchen aus Seide oder irgendwelchen Kunststoffgemischen ankam.
Heute verschwand das Hemd unter ihrer grauen Lieblingskapuzenjacke, von der die Ärmel durch das viele Tragen und das häufige Waschen schon stark verschlissen waren. An die Füße zog sie die dicken selbst gestrickten Socken ihrer Mutter.
Als Nächstes führte sie ihr Weg in die Küche, wo sie damit begann, ihr Abendbrot zuzubereiten. Mit dem Drücken der Taste verschwand ihr Vollkorntoast, der im Vergleich zum herkömmlichen Brot klar den Vorteil hatte, auch noch lang über das Haltbarkeitsdatum hinaus frei von Schimmel zu sein, im Toaster. Anschließend befüllte sie die Kaffeemaschine und suchte im Kühlschrank nach der H-Milch für den Kaffee und einem Belag für den Toast. Viel Auswahl hatte sie nicht zu erwarten. Da sie monatelang immer wieder ihren Mülleimer mit reichlich abgelaufener Wurst und Käse gefüttert hatte, kaufte sie nur noch das Nötigste ein. Neben ein paar Gläsern Marmelade gab es lediglich eine Sorte Käse, für den sie sich, nachdem sie Appetit auf etwas Herzhaftes verspürte, zwangsweise entschied. In einen Becher kippte sie einen guten Schuss Milch, ein Schnapsglas Karamellsirup, das sich nach einer längeren Erprobungsphase als das richtige Maß erwiesen hatte, und eine Ladung Zucker. Zur gleichen Zeit sprang die Toastscheibe aus dem Toaster, die sie zügig mit reichlich Butter bestrich, so dass sie beobachten konnte, wie die geschmolzene Butter in der leicht gebräunten Oberfläche des Toastbrotes versank. Das stotternde Getöse der Kaffeemaschine verkündete lautstark, dass sie auf ihren Kaffee noch einen Moment warten müsste. Nachdem sie den Toast mit Käse belegt hatte, platzierte sie die Scheibe auf einem Stück Küchenrolle. So vermied sie es, die Krümel in der ganzen Wohnung zu verteilen, sparte aber dennoch den Teller, der ja anschließend wieder abgewaschen werden wollte. Im Vorbeigehen griff sie in ihre Jackentasche, um die CD herauszufischen. Mit dem Abspielen wollte sie jedoch noch warten, bis sie aufgegessen hatte und ihren Kaffee in den Händen halten würde. Nur dann könnte sie sich ganz auf die Musik konzentrieren. Auf dem Sofa sitzend verspeiste sie mit wenigen Bissen ihr Brot. Endlich verriet ihr auch die Ruhe aus der Küche, dass der Kaffee durchgelaufen sein musste.
Seitdem ihr das Fernsehprogramm zunehmend missfiel, zog Hannah es immer häufiger vor, die Abende mit einem guten Buch in der Hand oder dem Hören von Musik zu verbringen. Obwohl sie Musik liebte, hatte sie wenig Ahnung von Musikrichtungen, Titeln und Interpreten und dementsprechend nur wenige CDs im Schrank. Stattdessen hörte sie unermüdlich immer wieder die gleichen Lieder, die sie sich mühsam auf ihrem Laptop zusammengesammelt hatte. Für Hannah musste Musik laut sein und ein Gefühl transportieren.
Da ihre Liedersammlung sich größtenteils aus melancholischen, langsamen Stücken zusammensetzte, hatte sie sich beim Hören angewöhnt das Licht zu löschen und den Raum mit Kerzen zu beleuchten, um eine passende Atmosphäre zu schaffen. Sie entschloss sich, Julias Versprechen im Hinterkopf habend, es handle sich bei den Liedern von Twentyfour um Musik fürs Herz, ihrem Ritual auch jetzt treu zu bleiben.
Bewaffnet mit einem Feuerzeug und ihrem Kaffee, traf sie die letzten Vorbereitungen. Als alle Kerzen brannten, warf sie sich ein Kissen auf den alten Holzdielenboden. Bevor sie es sich dort gemütlich machte, löste sie noch mit einem schnellen Griff ihr Zopfgummi und schüttelte den Knoten aus ihren Haaren. In langen Wellen fiel ihr die, durch das Licht der Kerzen seidig glänzende Pracht, bis weit über die Schultern. Schließlich schob sie sich rücklings liegend das Kissen unter den Kopf. Hannah beobachtete die tanzenden Schatten, die die vielen flackernden Kerzen an die Wände warfen. Für einen Moment wollte sie sich die Ruhe noch erhalten und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen.
Anders als beim Thema Mode hatte Hannah bei der Inneneinrichtung ihrer Wohnung Stilsicherheit bewiesen. Eine Mischung aus Antiquitäten und modernen Einrichtungsgegenständen spiegelte die Gegensätze der Stadt wider und war nicht weniger gelungen. Vor einer auberginefarbenen Wand stand Hannahs ganzer Stolz, ein Biedermeiersofa mit einem wunderschön geschwungenen Rückenteil aus massivem Nussbaum, das ein gelungenes Gesamtbild mit dem davorstehenden Edelstahltisch ablieferte. Oberhalb der Glasplatte hing eine Lampe von der etwa drei Meter hohen imposanten Stuckdecke, die der Blüte einer Pusteblume nachempfunden war. Eine Vielzahl feinster Drähte erweckte den Eindruck, dass bei dem leichtesten Windhauch die filigranen Schirmchen davon wehen müssten. Hannahs große Leidenschaft, das Lesen, wurde von einem riesigen, übervollen Bücherregal im Kolonialstil bezeugt. Dabei ließen die bunten Buchrücken kein bevorzugtes Genre der Leserin erkennen. Abgesehen von einigen wenigen Dekogegenständen, befand sich nur noch ein gemütlich aussehender Korbsessel mit einem schillernden, fliederfarbenen Kissen in der einen Zimmerecke, ins rechte Licht gerückt durch eine beträchtliche Bogenlampe und ein mittelgroßer Röhrenfernseher in einer anderen. Bei dem Gerät handelte es sich vermutlich um das letzte seiner Art in der gesamten Stadt. Hannah war der Meinung, dass es ihr durch die puristische Einrichtung gelang, auch im Kopf besser Ordnung wahren zu können.
Während sie im Laufe des Tages die vielen Eindrücke und Reize, die auf sie einströmten, abblockte oder nur am Rande registrierte, genoss sie es in ihrer Wohnung jede Kleinigkeit ganz bewusst wahrzunehmen. Mit geschärften Sinnen lauschte sie in sich hinein.
Hannah nahm einen Schluck Kaffee und spürte, wie die warme Flüssigkeit ihre Kehle runterrann. Wie bei einem guten Wein erfreute sie sich an dem Zusammenspiel der Aromen. Die Süße des Karamellsirups kitzelte Hannah an der Zungenspitze und wurde in Kombination mit dem bitteren Geschmack der Kaffeebohnen zu einer perfekten Einheit. Langsam breitete sich die Wärme in ihrem ganzen Bauch aus. Ihr nunmehr völlig entspannter Körper wurde von einer Schwere erfasst, die ihre Gliedmaßen und ihren Rücken auf eine angenehme Weise gegen den harten Fußboden drückte. Dagegen lag ihr Kopf weich gebettet, auf dem daunengefüllten Kissen.
Entschlossen, sich nicht länger selbst auf die Folter zu spannen und gleichzeitig mahnend, keine allzu hohe Erwartung an das nun Kommende zu haben, drückte sie den Playknopf der Fernbedienung. Augenblicklich erklangen die ersten seichten Töne. Gespannt verfolgte sie den Verlauf der Harmonien. Ihr vorschnelles Urteil lautete: nett. Doch schon im nächsten Moment, mit dem Einsetzen des Gesangs, musste Hannah ihre Beurteilung gedanklich revidieren, während ihr Körper bereits Bände sprach. Die volle, leicht rauchige Stimme des Sängers hatte ihr unmittelbar den Atem geraubt und ihre Arme mit einer Gänsehaut überzogen. Das klang nicht so, als käme es aus dem Mund eines vierundzwanzigjährigen Boybandmitgliedes. Hannah meinte sich daran erinnern zu können, auf der Rückseite von Petes Autogrammkarte gelesen zu haben, dass er der Leadsänger sei. Demnach musste das seine Stimme sein. Konnte das sein, dass der Junge mit den stechend grünen Augen ein solches Stimmvolumen besaß?
Dass die Musik bei ihr eine so starke Reaktion hervorrief, die überhaupt nicht mit ihrer vorgefertigten Meinung übereinstimmen wollte, ärgerte sie maßlos. Mit den ruhigen Tönen verflog die Wut jedoch schneller als ihr lieb war. Außerdem lieferte nicht zuletzt die unnatürliche Augenfarbe den Beweis, dass mit moderner Technik heute alles möglich war. Mit der notwendigen Professionalität zwang sie sich, ihr Augenmerk erneut und frei von Vorurteilen auf die Musik zu fokussieren. Dabei wurde sie zu ihrem Entsetzen immer wieder aufs Neue beim Erklingen der Stimme von ihren Empfindungen übermannt, so sehr sie sich auch dagegen sträubte. Ohnmächtig ließ sie die Achterbahnfahrt der Gefühle über sich ergehen.
Diese Machtlosigkeit hatte sie das letzte Mal bei einer Fahrt in einem Freefalltower verspürt. Obwohl sie genau gewusst hatte, wann der freie Fall bevorstand und sie sich krampfhaft versucht hatte darauf einzustellen, hatte jeder Fall erneut ein Kribbeln in ihrem Bauch ausgelöst, das sie innerlich zu zerreißen drohte. Die Kontrolle zu verlieren war ihr damals wie heute gleichermaßen berauschend und bedrohlich zugleich erschienen.
Schließlich half es Hannah den Bodenkontakt nicht zu verlieren, indem sie sich auf die Inhalte der Texte konzentrierte. Obwohl ihr Englisch im Laufe eines einjährigen Aufenthaltes, den sie zu Schulzeiten an einer Highschool in Rhode Island verbracht hatte, annähernd perfekt geworden war, kostete es sie nach all den Jahren einige Anstrengung jedes Wort zu verstehen. Die Banalität der Texte, gepaart mit der notwendigen Konzentration, die sie zur Übersetzung aufbringen musste, ließen Hannahs Atem wieder gleichmäßiger strömen. Ihre Gänsehaut dagegen blieb und schien von ihrem gesamten Körper Besitz nehmen zu wollen, denn sie fühlte, wie sich nun auch die feinen Härchen im Nackenbereich und an den Beinen aufstellten. Damit einher ging eine nicht gekannte Überempfindlichkeit der Haut. Selbst die Berührungen des weichen Stoffes ihrer Wohlfühlkapuzenjacke schienen auf den Armen zu schmerzen.
Pete besang in dem laufenden Titel die Qualen, die er, ausgelöst durch den Verlust der Liebe seines Lebens, durchlitt. Das erlebte Leid schien greifbar. Weniger durch die in dem Lied erzählte Geschichte, als durch das unglaubliche Gefühl, das die Stimme transportierte. Hannah war sich sicher, dass die Aussage auch jeder ohne Englischkenntnisse verstehen würde.
Den Blick starr zur Decke gerichtet, verdunkelte sich ihr Gemüt passend zum Klang der Musik zunehmend. Die gesungenen Worte verschwammen in ihrem Kopf mehr und mehr zu einem breiigen Ganzen, während ihre Gedanken abschweiften.
Seit Hannah dreißig geworden war, machte es ihr schwer zu schaffen, dass sie immer noch nicht den Partner fürs Leben gefunden hatte. Noch vor gar nicht allzu langer Zeit, hatte sie die Frauen belächelt, die mit dreißig plötzlich völlig von der Rolle waren, nur weil sie eine kleine Falte im Gesicht entdeckt hatten oder eben von der Torschlusspanik gepackt wurden. Jetzt, wo sie ernsthaft zu zweifeln begann, den Richtigen jemals zu finden, konnte sie die Frauen mehr als gut verstehen. Schlimmer noch, sie war selbst zu einer von ihnen geworden.
Traurig erinnerte Hannah sich an ihre Verflossenen zurück. War sie dem Mann fürs Leben womöglich bereits begegnet und hatte ihn in ihrer unbedarften Art ziehen lassen? Hatte sie ihre Chance auf das große Familienglück damit unwiderruflich vertan? Den ein oder anderen wirklich netten Partner hatte sie bereits gehabt, Ben eingeschlossen. Aber je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie sich, dass ER noch nicht dabei gewesen war. Bartstoppeln im Waschbecken, Restmüll, der immer wieder im Mülleimer für den Kunststoffmüll landete, nur weil der Müllbehälter ein kleines bisschen höher war und Mann sich dabei nicht so weit runterbeugen musste, so lautete zumindest die ernst gemeinte Erklärung des Übeltäters, oder getragene auf links gedrehte Socken, die sich vor dem Bett zu großen Haufen stapelten, waren lediglich die Auslöser für kleinere Streitigkeiten. Das Ende einer jeden Beziehung hatte stets tiefgründigere Ursachen gehabt, die ein harmonisches Zusammensein auf Lebenszeit ausschlossen.
Mittlerweile kamen bei Hannah für die Partnersuche auch ganz pragmatische Kriterien zum Tragen. Nicht zuletzt wie bei dem Beziehungsaus zwischen ihr und Ben. Die biologische Uhr tickte immer lauter, so dass sie meinte sich nicht erlauben zu können, die Zeit mit einem Mann zu verbringen, der von Hochzeit und Kindern nichts wissen wollte. Nichtsdestotrotz war sie weit davon entfernt Kompromisse in Sachen Liebe einzugehen. Eine Beziehung ohne ganze Schmetterlingsschwärme im Bauch war für sie genauso ausgeschlossen wie eine Beziehung zu einem Mann ohne Kinderwunsch.
Hannah sah sich einer aussichtslosen Situation gegenübergestellt. Plötzlich kam sie sich schrecklich allein und verlassen vor. Und zwar so sehr, dass ihr heiße Tränen seitlich über das Gesicht kullerten und nasse Spuren auf dem Kopfkissen hinterließen. Auch diesmal war sie nicht in der Lage, ihre Emotionen im Zaum zu halten. Der Tränenfluss ließ sich einfach nicht stoppen.
Erst als das dauerhafte Ausbleiben der warmen Stimme Hannah den Eindruck vermittelte, als hätte man ihr eine schützende Decke aus der Hand gerissen, kam sie langsam wieder zur Besinnung. Wie lange sie so da gelegen hatte, wusste sie nicht. Ein Schluck aus der immer noch neben ihr stehenden Tasse verriet ihr nur so viel, als dass die Zeit gereicht hatte, den Kaffee zum vollständigen Erkalten zu bringen. Hannahs Kopf brummte. Ein Brennen in ihren Augen und ein gerötetes, heißes Gesicht zeugten von den vielen Tränen, die sie vergossen hatte. Für einen kurzen Moment überlegte sie, sich noch ein wenig vom Fernseher berieseln zu lassen. Überzeugt davon, dem Verlauf des Programms doch nur halbherzig folgen zu können, entschied sie sich jedoch dagegen. Zu sehr hatten sie ihre düsteren Gedanken gefangen genommen.
Sie würde die Uhrzeit einfach außer Acht lassen und sich frühzeitig ins Bett legen, um diesem vertrackten Tag endlich ein Ende zu setzen und damit dem Neuen die Chance zu geben, ein besserer zu werden. Der Tag war ein einziges schwindelerregendes Auf und Ab gewesen. Sie musste an ihr Germanistikstudium denken und damit an einen Satz, der sich ihr, aus welchen Gründen auch immer, denn viel hatte sie nicht aus ihrer Studienzeit mitgenommen, unwiderruflich ins Gedächtnis gebrannt hatte. Er stammte aus der Zeit des Barocks und beschrieb das Lebensgefühl der Menschen, denen die Vergänglichkeit des Lebens, bedingt durch die Grauen des anhaltenden Dreißigjährigen Kriegs, stets vor Augen geführt wurde. Er lautete Von Himmel hoch jauchzend zu Tode betrübt und spiegelte ihr Gefühlschaos mehr als treffend wider.
Mühsam richtete sie sich vom Boden auf. Ihre Glieder fühlten sich steif an und schmerzten.
„Ich bin alt und allein“, schoss es Hannah sofort wieder schonungslos durch den Kopf. Die kleinen, stetig zunehmenden Unzulänglichkeiten ihres Körpers signalisierten nur allzu deutlich den fortschreitenden Verschleiß und erinnerten damit wiederum an die Vergänglichkeit des Lebens - ihres Lebens!
Natürlich konnte Hannah, die gewöhnlich nie vor 23.00 Uhr, hin und wieder sogar noch deutlich später, ins Bett ging, um kurz nach 21 Uhr kein Auge zubekommen. Unruhig wälzte sie sich hin und her. Nach wie vor geisterten ihr Männer durch den Kopf. Dabei vermischte sich tatsächlich Erlebtes mit den schlimmsten Zukunftsvisionen. Krampfhaft versuchte sie stundenlang alles auszublenden, um endlich einschlafen zu können. Ihre geschlossenen Augenlider flatterten unruhig. Sie scheute sogar nicht davor zurück, imaginäre Schäfchen über eine halb zerfallene Mauer springen zu lassen. War das Bild dieser Mauer vielleicht eine Metapher für ihr Leben?