Читать книгу Kinderärztin Dr. Martens Staffel 3 – Arztroman - Britta Frey - Страница 6

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Wenn man Jörg Markmann kennenlernte, hätte man ihn für jünger gehalten, als er in Wirklichkeit war. Der Elfjährige haßte es geradezu, wenn man erstaunte Augen machte, nachdem man erfuhr, daß er schon elf und nicht etwa erst acht Jahre alt war. Dabei konnte man keineswegs behaupten, daß Jörg mädchenhaft wirkte – beileibe nicht. Er war nur eben ein bißchen kleiner und schmaler als die anderen. Daß er noch wuchs und bestimmt noch ordentlich zulegen würde, bis er erwachsen war, konnte ihn nicht über seinen heimlichen Kummer hinwegtrösten.

Wenn er seinen Vater betrachtete, kam er sich noch winziger vor. Achim Markmann war äußerlich das, was man sich unter einem »richtigen« Mann vorstellte – groß, beinahe vierschrötig, mit unheimlicher Kraft, die man ihm schon anmerkte, wenn man ihm nur die Hand gab. Seine Stimme war tief und veränderte sich, wenn er ärgerlich oder gar wütend wurde.

Alle seine Mitschüler in Ögela bewunderten Jörgs Vater. Hinzu kam, daß er auch noch einen außergewöhnlichen Beruf ausübte, der auf Kinder mit Phantasie auch noch ganz besonders wirkte. Achim Markmann war nämlich in der Strafanstalt des nahen Städtchens Celle Gefängnisaufseher!

Jörg fand es manchmal gar nicht spaßig, wenn er auf den Beruf seines Vaters angesprochen wurde. Er konnte die Auskünfte, die die anderen von ihm erwarteten, gar nicht geben, weil sein Vater daheim eben nur Vater war und kaum über seine Arbeit sprach. Mit einem Wort gesagt, er war ein ganz normaler Vater, und Jörg wünschte ihn sich gar nicht anders. Er wünschte sich einfach nur, einmal so groß und stark wie er zu sein, das war alles.

Jörg Markmann war kein Streber, aber er war ein guter Schüler, der wunderbar mitkam und seinen Kameraden dann und wann auch helfen und erklären konnte, was sie nicht verstanden hatten. Alles in allem – er war ein Kind, das seinen Eltern kaum Sorgen bereitete.

Und gerade das sollte mit einem Schlag anders werden.

Achim Markmann war heute pünktlich heimgekommen, ganz so, wie er es Jörg versprochen hatte. Sie wollten endlich den neuen Hasenstall bauen, denn einer der Nachbarn hatte Jörg einen Stallhasen versprochen, den er sich abholen wollte, sobald der Stall fertig war.

Daß Jörg seinem Vater dabei helfen wollte, war ebenso klar.

Achim Markmann saß noch in der hübschen Wohnküche und trank seinen Kaffee, während Jörg schon hinab in den Keller ging, wo Achim sich einen geräumigen Hobbyraum eingerichtet hatte. Jörg hatte seinem Vater schon viel abgeschaut und wußte genau mit den einzelnen Werkzeugen umzugehen. Nur die elektrische Kreissäge, die hatte er bisher noch nicht allein benutzt.

Und gerade das hatte er sich für heute vorgenommen. Er wollte beweisen, daß er so etwas Einfaches wie einen Hasenstall auch allein fertig bekommen konnte.

Als der Junge den Motor einschaltete, hob Achim Markmann droben in der Küche den Kopf und sagte hastig:

»Und dabei habe ich ihm doch verboten, allein mit der Kreissäge herumzuhantieren. Das ist viel zu gefährlich. Na, warte, ich werde wohl mal ein paar ernsthafte Worte mit dir reden müssen, Bürschchen!«

Damit erhob er sich, nickte seiner Frau Thea noch einmal zu und machte sich auf den Weg in den Keller, aus dem immer noch das Geräusch der elektrischen Kreissäge zu hören war.

Als Achim Markmann den Hobbyraum betrat, sah er Jörg erst gar nicht. Also schaltete er erst einmal die Kreissäge ab und fragte ungeduldig:

»Wo bist du? Brauchst dich gar nicht erst zu verstecken. Dein Donnerwetter kriegst du so oder so. Also? Wo steckst du?«

»Vati«, kam da die schwache Stimme Jörgs, und Achim sah ihn auf dem Boden sitzen. »Ich glaube, ich habe etwas falsch gemacht. Auf einmal ist es passiert. Ich weiß auch nicht, wieso.«

Achim Markmann sah mit einem Blick, was geschehen war. Zuerst, für Sekundenbruchteile nur, hatte er das Gefühl, jemand reiße ihm bei lebendigem Leib das Herz aus der Brust. Aber dann hatte er sich auch sofort wieder unter Kontrolle.

»Jörg, mein Bengelchen!« keuchte er und riß das Kind an sich, drückte den kleinen Körper fest an sich und rannte die Treppe empor, während er brüllte, so daß man es noch mehrere Häuser weiter hören konnte:

»Thea! Den Verbandskasten! Und ruf sofort den Notwagen an. Jörg hat sich – er hat sich…« Seine Stimme brach, als er den Jungen auf den Küchenstuhl sinken ließ.

Die erschreckte Thea Markmann brachte den Erste-Hilfe-Kasten und fiel beinahe in Ohnmacht, als sie auf die linke Hand ihres Buben sah. Jörg hatte sich zwei Finger, den Zeige- und den Mittelfinger, abgeschnitten!

»Den Notarztwagen, Thea! Schnell!« stieß Achim Markmann hervor. Er sah nur aus den Augenwinkeln, daß eine der Nachbarinnen durch die Außentür der Küche hereinkam und blaß wurde, als sie erkannte, was los war. Beherzt drückte sie die kopflose, weinende Thea auf einen Stuhl und ging hinaus in die kleine Diele, wo das Telefon stand. Dann kehrte sie in die Küche zurück und sah noch, wie Achim seinem Jörg, der nun sonderbar apathisch wirkte, die Hand verband, die kaum blutete.

Da wandte sich die energische Frau um, ging an den Kühlschrank und nickte zufrieden, als sie die Flasche mit Korn dastehen sah. Es war ganz normal, daß man dann und wann einen Klaren trank, und der mußte natürlich eiskalt sein, sonst schmeckte er nicht.

Die Nachbarin, Maria Wichert, holte die Flasche heraus, suchte im Küchenschrank nach Gläsern und schenkte ein. Dann hielt sie Thea Markmann ein Glas hin.

»Hier«, sagte sie ruhig und gleichzeitig auch befehlend, »das ist jetzt wie Medizin.« Sie reichte auch Achim, der noch vor seinem Jungen kniete, ein Glas, das er mechanisch nahm und leertrank.

Maria Wichert fand, daß sie auch ruhig einen Schluck vertragen konnte, und versorgte sich selbst. Die Kornflasche verschwand wieder im Kühlschrank, denn Maria fand, es sei genug, wenn man einen Korn als Medizin trank. Mehr konnte da nur schaden. Dann sah sie auf Jörg und fühlte sich unsicher und unfrei. Es kam nicht oft vor, daß Maria Wichert keine Worte fand. Aber eben jetzt war es so. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte…

*

Dr. Hanna Martens strich sich das blonde Haar nach hinten und pustete die Wangen auf. Sie lachte, als sie sich Schwester Barbara zuwandte und aufatmend sagte:

»Das war wieder mal ein turbulenter Tag heute, was? Jetzt eine ordentliche Tasse Kaffee, und dann mache ich, daß ich in meine Wohnung komme. Ich spüre meine Füße schon gar nicht mehr.«

»Kunststück, wenn man den ganzen Tag am Operationstisch gestanden hat.« Schwester Barbara sah Hanna vorwurfsvoll an.

»Sie etwa nicht?« fragte Hanna und lachte leise. »Kommen Sie mit, einen Kaffee trinken? Oberschwester Elli hat mit Abstand den besten Kaffee in der ganzen Umgebung. Weiß der Himmel, wie sie es anfängt – ihr Kaffee ist immer etwas Besonderes. Ich habe mir die Kaffeedose schon mitgenommen, Wasser aus demselben Hahn, den sie benutzt, ja, ich habe mir schon ihre Kaffeemaschine ausgeliehen – aber der Kaffee, den ich gebraut habe, war nur ganz annehmbar, nicht aber im entferntesten das, was Oberschwester Elli fertigbringt.«

»Liegt wahrscheinlich an der Hingabe. Sie kocht ja keinen Kaffee, sie zelebriert ihn.« Schwester Barbara kicherte. Sie wollten gerade eben die jetzt menschenleere Operationsabteilung verlassen, in der in wenigen Minuten alles geputzt und wieder für neue Operationen bereitgemacht würde, als Dr. Frerichs kam.

Sein meist offenstehender Kittel flatterte, so eilig hatte er es.

»Gut, daß ich Sie noch antreffe, Frau Chefärztin. Wir müssen sofort los. Ein Junge hat sich zwei Finger abgeschnitten, mit der elektrischen Kreissäge seines Vaters.«

»Allmächtiger!« stieß Hanna hervor. »Wer ist es?«

»Jörg Markmann.«

»Also los!« sagte Hanna und lief schon davon. Frerichs folgte ihr, aber er war nicht schnell genug, ihr die Türen zu öffnen. Sie saß schon im Notarztwagen, den Martin Schriewers meistens fuhr, als Dr. Frerichs sich neben sie setzte.

»Wissen Sie schon Genaueres?« wollte Hanna aufmerksam wissen. Ihre schmerzenden Füße waren vergessen. Und auch ihr Kaffeedurst.

Martin Schriewers schaltete Blaulicht und Martinshorn ein, sobald sie das Klinikgelände verlassen hatten. Es war zwar nicht notwendig, weil in Ögela, das nur an einer

Nebenstraße lag, kaum Verkehr herrschte, aber für Martin schien das nun eben mal mit dazuzugehören. Ein Unfallwagen ohne Blaulicht und Martinshorn war in seinen Augen wie eine Suppe ohne Salz.

Sie erreichten das Haus der Markmanns, vor dem nun schon einige Frauen und Männer standen und aufgeregt miteinander diskutierten. Jetzt machten sie Hanna und Dr. Frerichs schweigend Platz, als sie den Wagen verließen und auf die offenstehende Haustür zueilten, unter der die tränenüberströmte Thea Markmann stand und zitternd und zusammenhanglos hervorstieß:

»Jörg! Frau Doktor – seine Finger!«

Hanna schob die Frau, die außer sich war, beiseite und betrat das Haus. Dr. Frerichs folgte ihr auf dem Fuße. Er trug die schwere Bereitschaftstasche. Martin Schriewers blieb hinter dem Steuer sitzen. Es ging niemanden etwas an, daß er zarter besaitet war, als alle glaubten. Genauer ausgedrückt – Martin Schriewers war immer einer Ohnmacht nahe, wenn er Blut sah. Das brauchte aber niemand zu wissen. Man denke – ein Krankenwagenfahrer, der kein Blut sehen konnte! Dabei war er, wenn man es genau betrachtete, gar kein Krankenwagenfahrer, sondern der Hausmeister der Kinderklinik Birkenhain. Aber es hatte sich so eingebürgert, daß Martin den Krankenwagen fuhr, und kein Mensch dachte daran, eigens dafür einen Fahrer einzustellen. Martin hatte seine Sache bisher sehr gut gemacht, und das würde er auch in Zukunft tun, punktum.

Jörg war immer noch bei Bewußtsein, aber leichenblaß. Er wirkte apathisch. Als erfahrene Ärztin wußte Hanna, daß dies das typische Stadium eines Vorschocks war.

»Tut gar nicht weh!« sagte Jörg und streckte Hanna seine verbundene Hand hin. Dabei sah er sie in einer Weise an, die rührend wirkte. Thea Markmanns Schluchzen wurde noch stärker.

Hanna nahm Jörgs Hand, legte sie auf das Polster, das Dr. Frerichs Jörg auf die Oberschenkel geschoben hatte und wickelte den Mullverband, den Achim Markmann angelegt hatte, ab. Obwohl Hanna vorbereitet war, erschrak sie doch zutiefst. Zeige- und Mittelfinger waren glatt abgeschnitten. Die Stümpfe bluteten kaum. Die Arterien hatten sich schon kurz nach dem Unfall zusammengezogen. Geronnenes Blut hatte die Wunden verstopft. Hanna fand, daß das eine segensreiche Selbstschutzaktion des menschlichen Körpers war, die sie schon oft hatte beobachten können.

Sie prüfte den Puls des Jungen. Er war matt und beschleunigt.

»Wie fühlst du dich?«

»Geht so«, erwiderte Jörg.

Nun schluchzte auch die sonst beherzte Maria Wichert leise auf. »Wie tapfer das Kerlchen doch ist!« stieß sie hervor.

Hanna wußte, daß das nicht so war. Sie hatte das schon oft bei sogar Schwerstverletzten beobachten können. Mit geradezu gespenstischer Gelassenheit und Tapferkeit standen sie durch und schienen kaum Angst oder Schmerzen zu empfinden. Es war, als sende das geschockte Nervensystem so etwas wie eine körpereigene Wunderdroge aus, die eine Art Schutzwall errichtete.

Hanna und Dr. Frerichs nickten einander zu. Sie waren gut aufeinander eingespielt, denn sie hatten schon mehrere Einsätze zusammen durchgeführt.

Dr. Frerichs legte eine Infusion an, um den Kreislauf zu stabilisieren, und injizierte ein Mittel zur Stärkung der Herztätigkeit, während Hanna einen Druckverband anlegte.

Und Thea Markmann erging sich in Erklärungen und Selbstanklagen.

»Oh, diese Kreissäge! Ich war ja gleich dagegen, daß Achim, mein Mann, sie anschaffte. Und Jörg! Ich weiß nicht, wie oft wir dem Jungen verboten haben, diese Säge in Betrieb zu setzen. Achim!« Sie fuhr herum und sah ihren Mann anklagend an. »Warum nur mußtest du erst deinen Kaffee trinken, wo du doch wußtest, wie eilig der Junge es hatte.«

Achim Markmann, der große starke Mann, vor dem heimlich viele zitterten, sagte nichts. Er stand nur ganz erschüttert da und hatte Tränen in den Augen, die jetzt langsam über seine Wangen rannen.

»Wo sind die Finger?« fragte Hanna mit heller Stimme, der man anhörte, daß sie voll konzentriert war.

Keine Antwort, nur ängstliches Schweigen. Genau das hatte Hanna befürchtet. Vor lauter Panik war niemand auf den Gedanken gekommen, die Finger zu suchen.

Hanna sprang auf. Gemeinsam mit Dr. Frerichs hastete sie in den Keller. Martin Schriewers, der sich nun doch endlich entschlossen hatte, den sicheren Krankenwagen zu verlassen, blieb neben Jörg stehen.

Die blutige Kreissäge lag am Boden. Fieberhaft suchten Hanna und Dr. Frerichs den Raum ab. Sie wühlten im Sägemehl, krochen unter die Werkbank und suchten aufgeregt und fieberhaft nach den abgeschnittenen Fingern. Endlich fand Frerichs den Zeigefinger neben der Fußleiste, und Hanna entdeckte den Mittelfinger hinter einer Farbdose.

»Endlich!« stieß Hanna hervor. Beinahe hätte sie vor lauter Erleichterung geschluchzt. Der erste Schritt war getan, den kleinen Jörg Markmann davor zu bewahren, für den Rest seines Lebens mit einer verkrüppelten linken Hand herumlaufen zu müssen.

Sie eilten nach oben. Dort wickelte Hanna die abgeschnittenen Finger in ein keimfreies Tuch, gab es in einen Plastikbeutel und verschloß alles in einem Spezialbehälter, der mit Eiswürfeln gefüllt war. Auf diese Weise blieben die abgeschnittenen Finger bis zu vierundzwanzig Stunden replantierbar.

»Martin!« wandte sich Hanna an diesen. »Funken Sie nach dem Rettungshubschrauber. Jörg muß in eine Spezialklinik, damit man die Finger wieder annähen kann.«

»Nein!«

Nach diesem Einwurf blieb es sekundenlang mucksmäuschenstill in der Küche der Markmanns. Dann fragte Hanna, während sie sich umwandte und Achim Markmann fest in die Augen sah:

»Was soll das?«

»Ich sagte – nein, Frau Dr. Martens. Sie werden meinen Jungen operieren, Sie und Ihr Bruder. Hier in Ögela, wo wir unseren Jungen nahe bei uns haben können.«

»Seien Sie vernünftig, Herr Markmann.« Hanna sah ihn ruhig an. Er stand wohl auch unter Schock, dachte sie. Aber schon die nächsten Worte zeigten ihr ganz deutlich, daß Achim Markmann genau wußte, was er sagte und wollte.

»Sie werden Jörg die Finger in Ihrer Klinik annähen, Frau Dr. Martens.«

»Aber die Spezialklinik liegt

nur fünfzehn Hubschrauberminuten entfernt. Dort ist man auf so etwas eingerichtet, Herr Markmann, dort ist das Routine. Es sind alles Unfallärzte dort.«

»Ist Ihr Bruder nicht Unfallarzt?« fragte Markmann unbeirrt.

»Ja, schon, aber deshalb kann er nicht so ohne weiteres…«

»Er kann. Und er wird!« unterbrach Achim Markmann und machte dabei ein so entschlossenes Gesicht, daß Hanna unwillkürlich wütend wurde.

Warum machten einem die Leute alles nur so unendlich schwer?

»Bitte, Herr Markmann, verlassen Sie sich darauf, daß ich das besser beurteilen kann als Sie«, begann sie, wußte aber, nachdem sie ihn noch einmal angeschaut hatte, daß er sich nicht beirren lassen würde.

»Sie werden sich nicht drücken und meinen Jungen nicht in irgendeine Klinik abschieben, die wir nicht kennen. Hier, hier sind wir zu Hause. Und hier ist die Kinderklinik Birkenhain, von der es heißt, daß auch schwierigste Fälle dort erfolgreich behandelt worden sind. Sie werden Jörgs Finger also wieder annähen und…«

»Das werden wir ganz gewiß nicht tun, Herr Markmann. Wir werden Jörg mit dem Hubschrauber in die Spezialklinik fliegen lassen und…«

»Ich sagte nein. Und dabei bleibt es auch.«

Markmann verließ die Küche. Hanna wandte sich an Martin Schriewers, nickte ihm zu und sagte beherrscht:

»Funken Sie, Martin. Wir müssen endlich zum Zuge kommen.«

»Wird gemacht, Frau Doktor.« Martin öffnete die Küchentür, die sich hinter Markmann geschlossen hatte und prallte entsetzt zurück.

Da stand Achim Markmann. Er hatte seine Dienstpistole in der Hand. Es knackte leise, als er sie jetzt entsicherte.

»Sie haben den Jungen, und Sie haben die abgeschnittenen Finger. Mehr brauchen Sie nicht. Sie haben angeblich einen der modernsten Operationsräume in der Kinderklinik. Also werden Sie meinem Jungen auch dort helfen. Sie brauchen nichts zu sagen. Ich bin zu allem entschlossen, wenn Sie nicht das tun, was ich von Ihnen verlange.«

Hannas Augen blitzten. Sie wäre am liebsten dazwischengefahren, aber sie wußte, daß sie damit nichts erreichen, daß sie vielleicht nur eine Katastrophe heraufbeschwören würde. Deshalb sagte sie beherrscht:

»Also los, Martin. Tun wir, was er sagt. Jörg muß in jedem Fall in eine Klinik, also dann nach Birkenhain.«

Markmann folgte Martin Schriewers nach draußen, holte mit ihm gemeinsam die Trage herein und sah zu, wie Hanna und Dr. Frerichs den Jungen auf die Trage legten und zudeckten. Dann nahmen Martin Schriewers und Dr. Frerichs die Trage und trugen sie mit dem Jungen darauf nach draußen.

Und jetzt schrie Maria Wichert auf, laut, entsetzt und auch erleichtert. Thea Markmann weinte laut auf, und die Leute draußen sprangen beiseite, als sie sahen, daß Achim Markmann mit grimmigem Gesicht und der im Anschlag haltenden Pistole folgte. Dann kam Hanna, und ihrem Gesicht konnte man nicht entnehmen, was sie dachte.

Sie zuckte nur zusammen, als Achim Markmann Dr. Frerichs, der hinten einsteigen wollte, zur Seite schob und knurrte:

»Gehen Sie nach vorn, Doktor. Frau Dr. Martens und ich bleiben bei Jörg. So weit ist die Fahrt ja auch nicht.«

»Bist du wahnsinnig, Mann?« fragte einer der Umstehenden und sah Markmann ärgerlich an. »Hast du keine Angst, daß das ein Nachspiel haben könnte? Immerhin ist das deine Dienstwaffe, Achim.«

Aber da schloß sich schon die Wagentür hinter ihnen. Martin Schriewers fuhr an, schaltete Blaulicht und Martinshorn wieder ein, wie sich das gehörte, und war bald aus der Sichtweite der Leute, die unsicher dem Wagen nachschauten.

Dr. Frerichs stellte die Funkverbindung mit der Klinik her und berichtete knapp, um was es sich handelte und was unternommen werden mußte. Und dann dauerte es nacht mehr lange, bis sie vor der Notaufnahme der Kinderklinik Birkenhain anhielten und sich alles routinemäßig abwickelte, wie so oft schon. Das einzig Bemerkenswerte war Achim Markmann mit der Pistole, die er immer noch drohend erhoben hatte.

*

Dr. Kay Martens hatte eben nach Hanna gefragt und erfahren, daß sie mit Dr. Frerichs und Martin Schriewers zu einem Notfall gefahren war. Er unterdrückte einen ungeduldigen Seufzer.

Also wieder kein Feierabend. Daß es den Leuten aber auch immer zu so unsinnigen Zeiten einfiel, krank zu werden oder einen Unfall zu haben!

Wäre ich Beamter, säße ich schon längst in meinem Sessel und könnte mich entspannen, dachte er und wußte im gleichen Augenblick, daß er sich keinen schöneren Beruf vorstellen konnte als den seinen. Mit allen Begleiterscheinungen, die ihn manchmal ein bißchen ungeduldig machten.

Er und auch seine Schwester Hanna waren Ärzte aus Leidenschaft, denen, wenn es darauf ankam, nichts zuviel wurde.

»Hat meine Schwester sich schon gemeldet?« fragte er, als er in die Telefonzentrale kam. Kopfschütteln. Aber dann piepte es. Kay schaltete auf Lautsprecher. Und dann hörten sie alle, was Dr. Frerichs zu sagen hatte.

»Wir kommen mit Jörg Markmann. Er hat sich zwei Finger sauber abgeschnitten. Die Finger haben wir auch.«

»Sie hätten einen Rettungshubschrauber anfordern sollen. Der Junge gehört in die Replantations-Abteilung einer reinen Unfallklinik.«

»Das wollte ich auch, und Ihre Schwester auch. Wir sind aber daran gehindert worden – sozusagen mit Waffengewalt.«

»Frerichs! Wenn ich nicht genau wüßte, daß das unmöglich ist, würde ich sagen, Sie sind betrunken!« stieß Kay hervor. Und die Antwort kam auch prompt.

»Sie werden es sehen, Chef, wenn wir kommen. Machen Sie nur ruhig alles bereit. Jörgs Vater wird uns zwingen, die Operation hier zu machen. Und Gnade uns Gott, wenn sie nicht so verläuft, wie es sein muß.«

»Ist gut. Es wird alles bereit sein.« Kays Stimme klang beherrscht. Er wandte sich um und sah in lauter entsetzte Gesichter. Da holte er tief Luft und erklärte entschlossen: »Alles läuft wie immer. Wir machen es so wie sonst auch – wir geben unser Bestes.«

Damit verließ er den Raum und ging in sein Sprechzimmer, setzte sich an den Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände.

Achim Markmann war nicht der erste Angehörige, der durchdrehte, und er würde nicht der letzte sein. Nur – mit vorgehaltener Pistole war er noch nie zu einer Operation gezwungen worden, die an sich in der Kinderklinik ganz und gar nicht üblich war.

Jetzt war Dr. Martens froh, daß er eine gut fundierte Ausbildung als Unfallchirurg hatte. Und er atmete erleichtert auf, als er daran dachte, daß er trotz Hannas Ablehnung darauf eingerichtet war, auch GefäßOperationen durchzuführen, weil er die notwendigen Instrumente und auch zwei Operations-Mikroskope hatte.

»Sie sollen nur kommen. Wir werden dem armen Bengel die Finger wieder annähen. Aber dann werde ich mir den Vater vornehmen und ihm sagen, was ich davon halte, daß er uns mit vorgehaltener Pistole zu einer Operation zwingen will, von der er gar nicht weiß, ob wir sie hier auch durchführen können.«

Das sagte er laut und entschlossen, als er sich erhob, um zur Notaufnahme zu gehen, damit er dabei war, wenn der kleine Patient eingeliefert wurde. Droben in der OP-Abteilung war jedenfalls alles bereit, und Dr. Dirksen, die Anästhesistin, war auch schon benachrichtigt und sicher schon dabei, sich vorzubereiten.

Kay hatte die Notaufnahme gerade erreicht, als Martin Schriewers mit kreischenden Bremsen anhielt. Er und Dr. Frerichs trugen die Trage mit Jörg, der die Augen kaum noch offenhalten konnte. Und Hanna ging vor dem vierschrötigen Achim Markmann her, der die Pistole noch immer in der Hand hielt und dazu ein Gesicht machte, dem man unschwer ablesen konnte, daß er zu allem entschlossen war.

Kay ging ihnen einige Schritte entgegen und wies auf die Waffe in Markmanns Hand.

»Finden Sie das gut, Herr Markmann?« fragte er ruhig.

»Ob es gut ist, weiß ich nicht. Auf jeden Fall ist es wirksam«, war die entschlossene Antwort.

Kay schenkte ihm ein spöttisches Lächeln. »Könnten Sie mir sagen, wer Ihren Jungen operieren soll, wenn Sie uns der Reihe nach erschießen, Herr Markmann?«

»Sie werden tun, was ich sage, Herr Doktor. Danach können Sie mich verhaften lassen, wenn Sie wollen. Jetzt aber soll erst Jörg geholfen werden.«

»Wie dumm Sie doch sind. Während nutzlos Zeit verloren wurde, hätte Jörg schon in der Spezialklinik auf dem Tisch liegen können.«

»Ich weiß, daß wir es eilig haben. Deshalb werden Sie auch sofort anfangen.«

Kay wandte sich Hanna und Frerichs zu, zuckte die Schultern und sagte beherrscht:

»Na, bleiben wenigstens wir vernünftig und verlieren keine unnötige Zeit mehr! Es ist alles vorbereitet.« Er warf Markmann einen Blick zu und fragte: »Sie wollen doch nicht während der Operation mit der Waffe neben mir stehen, oder? Das würde mich stören, die Sterilität wäre auch nicht gewährleistet, und es könnte sich keiner um Sie kümmern, wenn Sie umfallen sollten.«

»Wie lange dauert eine solche Operation?« war Markmanns Antwort.

»Einige Stunden werden Sie sich schon gedulden müssen.«

»Na gut. Ich warte auf einem Stuhl vor der Tür zum OP-Raum. Und wehe Ihnen, Dr. Martens, wenn die Operation nicht gelingt oder Jörg etwas zustößt.«

»Das hätten Sie sich dann einzig und allein selbst zuzuschreiben, mein Lieber. Aber was rede ich denn da? Sie sind doch keinerlei Vernunftsgründen zugänglich.«

»Tun Sie endlich was!« brüllte Markmann, und Tränen rannen ihm über die Wangen. Da trat Oberschwester Elli zu ihm und sagte freundlich:

»Na, kommen Sie, gehen Sie aus dem Weg und fahren Sie mit zur OP-Abteilung hoch. Ich mache Ihnen einen ordentlichen Kaffee, damit Sie munter bleiben, und dann haben Sie auch Zeit, sich zu beruhigen.«

»Falls Sie sich einbilden, mich auf die sanfte Tour rumkriegen zu können, dann muß ich Ihnen sagen, daß das zwecklos ist.«

»Das glaube ich Ihnen sogar aufs Wort, Herr Markmann. Und nun kommen Sie, damit alles beginnen kann. Sie brauchen keine Angst zu haben, daß ich Ihnen das Ding da abnehme. Ich hasse Waffen.«

Achim Markmann warf noch einmal einen Blick auf Jörg, der aber kaum noch reagierte, und ließ sich von Oberschwester Elli fortziehen. Er war sichtlich erleichtert, daß er seinen Willen durchgesetzt hatte.

*

»Saubere Arbeit hat er da geleistet«, sagte Kay später. Sie sprachen kaum während der Operation, die ihr ganzes Können erforderte.

Zuerst war Kay ein wenig mulmig zumute gewesen. Aber dann, nachdem er begonnen hatte, wußte er, daß es wirklich stimmte, was man immer behauptete. Kein Chirurg vergißt einen einmal gelernten Handgriff.

Sie merkten gar nicht, daß es später und später wurde, daß die Dämmerung heraufzog. Beim ersten Sonnenstrahl, der durch das große Fenster fiel, legte Kay die gebogene Nadel fort und wandte sich ein wenig zur Seite, um Hanna Platz zu machen, die gerade eben den Verband an Jörgs linker Hand befestigte.

Sie rissen sich den Mundschutz ab, zogen die Handschuhe aus und warfen sie in den dafür bereitstehenden Behälter. Dann sagte Kay lachend:

»Hoffentlich wird nicht bekannt, daß wir auch so was machen können hier. Das würde uns restlos überfordern.«

»Es war einfach mitreißend, Kay, was du da geleistet hast«, gab Hanna ehrlich zurück. Sie sah ihren Bruder strahlend an. »Du bist ein Künstler, wie man ihn selten findet.«

»Soll ich dir sagen, was ich bin?« Kay lachte. »Müde bin ich und gleichzeitig auch viel zu aufgedreht, um jetzt zu schlafen.«

»Das geht uns allen so.« Martina Dirksen lachte leise auf. »Aber wirklich, Chef – es war ein Erlebnis, Ihnen zusehen zu können.«

»Was machen wir mit Jörgs Vater?« fragte Hanna in ihrer praktischen Art. Kay sah sie beruhigend an.

»Den überlaßt mir, während ihr den Kleinen auf die Station bringt. Intensiv-Station ist nicht erforderlich. Aber legt ihn auf ein Einzelzimmer, damit er sich erst mal richtig ausschlafen kann. Dann können wir weitersehen.«

Er fuhr in den frischen Kittel und sah zu, wie man Jörg auf das fahrbare Bett legte, ihn zudeckte und dann zum anderen Eingang hinausschob, wo man gleich in den Aufzug gelangte.

Dann stand er vor Achim Markmann, der auf dem Stuhl vor dem OP saß und Kay nur aus großen, angstvollen Augen anschauen konnte. Sprechen konnte er nicht, obwohl er den Mund geöffnet hatte.

Seine Waffe hatte er schon längst nicht mehr in der Hand. Sie lag gesichert und matt in der Morgensonne glänzend neben ihm auf dem Stuhl.

Kay blieb dicht vor ihm stehen und sah ihn freundlich an.

»Das hätten wir wieder mal geschafft«, sagte er nur. Und da endlich fragte Achim Markmann mit einer ganz kleinen und armselig wirkenden Stimme:

»Soll das heißen, daß Sie die Finger wieder richtig angenäht haben?«

»Natürlich. Ich erinnere mich, daß Sie uns Ihren Jungen deswegen hergebracht haben, oder?«

Da lehnte sich der große, starke Mann auf seinem Stuhl zurück, schlug die Hände vor das erschütterte Gesicht und schluchzte auf:

»Sie haben es also getan! Und es ist gutgegangen, nicht wahr? Ich wußte es. Ich wußte, daß Sie es können. Deshalb wollte ich ja auch, daß Sie es machen.«

»Finden Sie nicht auch, daß Sie Ihren Wunsch anders hätten aussprechen können, Herr Markmann? Es ist – na, sagen wir es ganz vorsichtig – doch sehr ungewöhnlich, wenn ein Arzt mit vorgehaltener Waffe gezwungen wird, etwas zu tun, was er vielleicht Spezialisten überlassen möchte.«

»Werden Sie mich anzeigen, Dr. Martens?« fragte Achim Markmann leise und sah plötzlich gar nicht drohend aus, sondern eher ein bißchen demütig.

»Anzeigen? Warum? Weil Sie als Vater eines schwer verletzten Jungen die Nerven verloren haben? Ich denke nicht daran.«

»Aber – ich habe sie doch mit meiner Waffe bedroht, die ich nur im Dienst benutzen darf – und dann auch mit vielen, vielen Auflagen. Ich habe…«

»Sie haben Angst um Ihren Jungen gehabt. Das kann jeder verstehen. Und das mit der Pistole, das sollten wir so schnell wie möglich vergessen.«

»So viel Verständnis habe ich gar nicht verdient.« Achim Markmanns Lippen zitterten erneut. Und da sagte Kay schnell:

»Zerreden wir doch nicht alles, Herr Markmann. Freuen wir uns, daß die Operation hinter uns liegt.«

»Ja«, sagte Markmann und zog hörbar die Luft ein. Dann konnte er mit einigermaßen normaler Stimme fragen:

»Und wie steht es nun? Wird Jörg die Finger wieder benutzen können? Ich meine, richtig benutzen?«

»Aber selbstverständlich. Er könnte sogar, wenn er wollte und das Talent hätte, Pianist werden.«

»Ich danke Ihnen, Dr. Martens, ich danke Ihnen von ganzem Herzen.«

Oberschwester Elli kam mit einer frisch aufgebrühten Kaffee. Obwohl sie keinen Dienst gehabt hatte, war es selbstverständlich für sie gewesen, aufzubleiben. Irgendwie war sie immer da, wo man sie gerade brauchte.

»Sie sehen aus, als könnten Sie auch einen vertragen«, wandte sie sich an Kay und fuhr fort: »Ich

habe schon gehört, daß die Operation ein voller Erfolg geworden

ist.«

»Das habe ich von Anfang an gewußt«, erklärte Achim Markmann voller Überzeugungskraft. Oberschwester Elli warf ihm einen halb mitleidigen, halb drohenden Blick zu.

»Sie werden von mir noch eine handfeste Standpauke zu hören bekommen, mein Lieber. Damit warte ich aber lieber, bis Sie aufnahmefähiger sind, damit Sie auch alles verstehen und begreifen, was ich Ihnen zu sagen habe.«

»Ich weiß, daß ich es verdient habe«, gab Markmann zerknirscht zu und nahm den Kaffee. Er wußte nicht, wie oft Oberschwester Elli ihm eine Tasse gebracht hatte während der Operation an seinem Jungen.

»Wann darf ich Jörg sehen?« wollte er dann wissen und sah Kay unsicher an. Der lachte ihm aufmunternd zu und sagte:

»Wenn Sie wollen, gehen wir jetzt zu ihm. Aber reden können Sie noch nicht mit ihm, denn er liegt noch in Narkose. Aber morgen, wenn er ausgeschlafen hat, dann können Sie sich schon mit ihm unterhalten.«

»Ich werde ganz leise sein und ihn nicht stören«, sagte Markmann wie ein braves Kind und trottete hinter Kay her zum Aufzug. Schwester Elli rief ihnen leise nach:

»Ich brühe unterdessen noch einen Kaffee und sorge dafür, daß ein paar belegte Brötchen da sind, wenn Sie zurückkommen.«

*

Stumm und unbeholfen stand Achim Markmann vor dem Bett, in dem sein Junge lag und die Augen fest geschlossen hatte. Die linke Hand war völlig bandagiert, so daß man nicht einen einzigen Finger erkennen konnte. Markmann versuchte, nicht auf diese stille, weißumwickelte kleine Hand zu schauen, aber es war ganz merkwürdig – immer wieder wurde sein Blick von ihr angezogen.

Hanna und Dr. Frerichs waren noch im Krankenzimmer. Martina Dirksen hatte sich schon zurückgezogen.

»Mein Kleiner«, sagte Markmann nur mit unsicherer Stimme. Dann wandte er sich ab und ging aus dem Raum. Die anderen folgten ihm. Jörg war übergangslos aus der Narkose in den Schlaf hinübergeglitten und brauchte keine ständige Aufsicht mehr. Die Schwester würde alle zehn Minuten nach ihm sehen, aber er würde tief und ruhig schlafen, wenigstens bis zum Mittag.

Marika Schriewers hatte belegte Brötchen heraufgeschickt und ein wenig die Nase gerümpft, als sie zu ihrer Küchenhilfe sagte:

»Kaffee brauchen wir keinen. Den macht doch keiner so wie Oberschwester Elli. Und dabei benutzt sie die gleiche Marke wie ich, und das Wasser ist auch nicht anders.«

Die Küchenhilfe sagte nichts. Es gab eine stille Fehde zwischen Marika und der Oberschwester, wenn es sich ums Kaffeekochen drehte. Aber sonst waren sie ein Herz und eine Seele, und meistens einer Meinung.

Achim Markmann aß vier Brötchen, trank ebenso viele Tassen Kaffee dazu und erhob sich dann. Begehrlich schaute er auf die lecker angerichteten Brötchen hinab und sagte bedauernd:

»Ich gehe wohl besser jetzt heim. Meine Frau nimmt es mir immer übel, wenn ich nicht hungrig bin. Ich werde dann fertig frühstücken.« Er reichte allen die Hand, bedankte sich artig, ging zur Tür und nickte ihnen von dort auch noch einmal zu.

»Danke«, sagte er verlegen und zog die Tür leise hinter sich zu.

Kay beobachtete vom Fenster aus, wie er mit leicht gesenktem Kopf davontrottete. Ein Bär, der sehr zahm war, der aber auch ausbrechen konnte. Wovon er vor einigen Stunden noch ein Beispiel geliefert hatte.

»Er muß halb wahnsinnig gewesen sein vor Angst um seinen Jungen«, sagte Hanna leise, als sie neben ihren Bruder getreten war und Markmann ebenfalls beobachtete. »Nur deshalb hat er so reagiert. Die Spezialklinik hat ihn in Panik versetzt, obwohl man doch sonst von ihm sagen kann, daß er ein durchaus umgänglicher und sogar gutmütiger Mensch ist.«

»Jeder dreht mal durch«, fand Kay. »Man sollte das nicht überbewerten.«

»Sonderbar«, sagte Frerichs und nahm sich noch ein Brötchen. »Wenn ich es eben einrichten kann, sehe ich mir jeden Krimi im Fernsehen an. Ich schwärme geradezu für Krimis und kann nicht genug davon bekommen. Ich habe immer versucht, mir vorzustellen, daß mal jemand mit einer Waffe vor mir steht und mich damit bedroht. Ich habe mich immer gefragt, was ich wohl dabei empfinden wurde.«

»Und? Wissen Sie es jetzt?« neckte ihn Hanna. Frerichs sah sie nachdenklich an und schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte er erstaunt. »Nein, ich weiß es nicht. Wenn ich ehrlich sein soll, muß ich nämlich eingestehen, daß ich gar nichts empfunden habe. Ich habe nur an den Jungen und seine abgeschnittenen Finger gedacht.«

»Ich fürchte, mein Lieber, da wer den Sie noch länger fragen müssen.« Kay lachte auf und schlug Frerichs tröstend auf die Schulter. »Es steht wohl kaum zu erwarten, daß Sie so schnell wieder mit einer Waffe bedroht werden, hoffe ich.«

Sie beschlossen, in der Klinik zu bleiben und sich ein wenig niederzulegen, damit sie gleich zur Hand waren, wenn man sie brauchte. Schließlich waren sie daran gewöhnt, mit wenig Schlaf auszukommen. Und sie waren ebenso daran gewöhnt, eine stille Stunde dafür zu nutzen, sogar auf Vorrat zu schlafen, wie sich Hanna lachend ausgedrückt hatte. Sie fand, daß man sich an so was gewöhnen konnte, ohne daß der Organismus gleich Schaden nehmen mußte.

Unterdessen ging Achim Markmann durch Ögela, das auch schon aus dem nächtlichen Schlaf erwacht war. Der Bäcker hatte schon lange offen. Und jetzt schloß auch nebenan der Fleischer seinen Laden auf.

»Hallo, Achim«, rief er freundlich. »Heute nicht im Dienst?« Markmann schüttelte den Kopf und ging weiter.

Dienst! Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Er hätte schon längst auf dem Weg nach Celle sein müssen.

Heute nicht, beschloß er bei sich. Heute sollen sie ruhig in der Vollzugsanstalt auf mich warten. Ich bleibe daheim bei Thea. Und ich will heute mittag zu Jörg. Die beiden sind mir wichtiger als der Dienst und alles, was damit zusammenhängt.

Er wollte gerade eben die Haustür aufschließen, als sie von innen geöffnet wurde. Thea stand mit rotumrandeten Augen vor ihm. Ihr Gesicht wirkte grau und ein bißchen eingefallen. Man sah ihr an, daß sie die ganze Nacht nicht geschlafen hatte.

Jetzt, da sie ihren Mann vor sich sah, schien sie auch noch das letzte Restchen Kraft zu verlassen. Sie sank ihm in die Arme und schluchzte laut und unbeherrscht auf.

»Achim! Ich bin tausend Tode gestorben in der vergangenen Nacht. Aber vor einer halben Stunde, da habe ich es nicht mehr ausgehalten und in der Klinik angerufen. Dort hat man mir gesagt, daß du auf dem Heimweg bist und Jörgs Finger wieder angenäht sind, und daß alles gutgegangen ist.«

Ihre Stimme klang undeutlich, aber Achim, der sie ganz fest an sich preßte, verstand doch, was sie ihm sagen wollte.

»Ja, es wird alles gut, Thea, alles«, murmelte er und zog sie mit ins Haus, schloß die Haustür und ging mit ihr in die Küche. Dort drückte er sie auf den Küchenstuhl und sah sie mitleidig an, bevor er erklärte:

»So, jetzt rufe ich erst einmal in Celle an und sage, daß ich heute nicht zur Arbeit komme. Jedermann wird das verstehen, wenn ich erkläre, was gestern vorgefallen ist. Und dann trinken wir eine ordentliche Tasse Kaffee, obwohl ich in dieser Nacht mehr Kaffee getrunken habe als sonstwann im Leben. Und danach legen wir uns noch für eine Weile hin und versuchen, ein bißchen Schlaf nachzuholen. Wir brauchen uns um Jörg wirklich keine Sorgen zu machen. Er ist dort in der Klinik Birkenhain wirklich in den allerbesten Händen.«

Über Theas blasse Wangen rannen immer noch Tränen. Sie konnte sie einfach nicht aufhalten. Es war wie ein Sturzbach, der eine solche Macht hatte, daß kein Mensch ihm Einhalt gebieten konnte.

Es dauerte nicht lange, bis Markmann telefoniert hatte. Thea hatte unterdessen das Frühstück gerichtet. Sie saßen sich in der Küche gegenüber und sprachen leise über Jörg und davon, daß sie glücklich waren, weil alles noch einmal gutzugehen schien.

Gleich darauf fielen sie in ihre Betten und hatten noch nicht einmal Zeit, sich richtig zuzudecken. Die Erleichterung ließ sie sich entspannen, so daß sie fast augenblicklich in tiefen Schlaf fielen, aus dem sie erst gegen Mittag wieder aufwachten.

Thea erwachte als erste und saß augenblicklich steil aufgerichtet in ihrem Bett, schaute erstaunt und verwirrt auf ihren leise und zufrieden schnarchenden Mann und schlich sich ins Bad, stellte sich unter die Dusche und spürte, wie sie wieder frisch wurde. Sie weckte ihren Mann, indem sie ihn küßte und leise seinen Namen rief.

Eine halbe Stunde später saßen sie im Wagen und fuhren zur Kinderklinik Birkenhain, zu ihrem Jungen, um den sie so große Angst hatten ausstehen müssen.

Kay und Hanne Martens kamen eben aus Jörgs Zimmer, als die Markmanns aus dem Aufzug traten. Unwillkürlich hielt Achim Thea am Arm fest und blieb stehen. Er hatte plötzlich ganz entsetzliche Angst, es könnte sich am Ende doch noch die eine oder andere Komplikation eingestellt haben, mit der man nicht hatte rechnen können.

Seine Augen flackerten, und seine Lippen zuckten unkontrolliert, als er hervorstieß:

»Ist etwas geschehen? Müssen wir uns Sorgen machen? Ist doch nicht alles in Ordnung mit unserem Jungen?«

»Und ob alles in Ordnung ist.« Kay lachte Thea aufmunternd an, weil er spürte, wie sie sich verkrampft hatte. »Er hat uns gerade eben gesagt, daß er großen Hunger hat und so schnell wie möglich etwas essen möchte.«

»Mein Kleiner«, sagte Thea und hatte Mühe, die Tränen, die ihr schon wieder ganz oben im Hals saßen, zurückzudrängen. Nein, sie durfte jetzt nicht weinen, sie mußte ihrem Jungen ein fröhliches Gesicht zeigen. Und Achim brummelte gerührt:

»Wenn er schon wieder Hunger hat, geht’s ihm wirklich besser. Man sagt doch immer, daß einer, dessen Lebensgeister wieder erwacht sind, Hunger spürt. Dann ist das bei unserem Jörg auch ein gutes Zeichen, oder?«

»Gehen Sie nur hinein.« Hannas warme Stimme wirkte beruhigend. »Sie werden sich mit ihm unterhalten können. Jedenfalls ist er ausgeruhter, als Sie es sein können nach der schrecklichen Angst der vergangenen Stunden.«

Und dann standen die Markmanns vor ihrem Jungen. Thea wußte nicht, ob sie ihn umarmen durfte oder nicht. Aber dann war sie von Jörgs Lächeln so überwältigt, daß sie sich niederbeugte und ihn ganz fest an sich drückte. Die verbundene Hand, die auf einer bequemen Armstütze gebettet lag, beachtete sie einfach nicht.

»Mein Kleiner«, flüsterte Thea unter Tränen. »Mein armer Kleiner. Hast du große Schmerzen?«

»Überhaupt nicht, Mami. Es tut nicht weh, wirklich nicht. Und wenn ich die verbundene Hand nicht hätte, fühlte ich mich ganz gesund. Ich habe großen Hunger und freue mich auf ein richtiges Essen.«

In diesem Augenblick betrat Schwester Dorte das Zimmer mit einem Tablett. Sie nickte Jörgs Eltern freundlich zu und sagte dann zu ihrem kleinen Patienten:

»Ich habe Curry-Wurst mit Pommes frites für dich. Magst du das?«

»Und ob«, sagte Jörg begeistert. »Ist eines von meinen Lieblingsessen.«

»Na fein, dann haben wir ja deinen Geschmack getroffen. Die Wurst ist übrigens schon kleingeschnitten, damit du nur eine Hand brauchst zum Essen.«

Während dieser Unterhaltung hatte Schwester Dorte schon das Bett-Tischchen gerichtet und den Teller daraufgestellt.

Jörg sah begehrlich auf den Teller mit der appetitlich duftenden Currywurst und der großen Portion Pommes frites.

»Gibt’s hier immer so was Leckeres?« fragte Jörg, während er die Gabel in die rechte Hand nahm und ein Stückchen Wurst aufspießte.

»Du wirst dich wundern«, sagte Schwester Dorte fröhlich. »Denk daran, daß wir hier eine Kinderklinik sind. Hier weiß man, was Kinder gern essen.«

»Das finde ich echt stark«, lobte Jörg und sah sehr zufrieden drein, als Schwester Dorte lachend das Zimmer verließ. Dann wandte er sich seinen Eltern zu, die ihn noch immer staunend und bewundernd zugleich anschauten.

»Du scheinst tatsächlich keine Schmerzen zu haben, mein Liebling«, sagte Thea endlich leise und machte ein ungläubiges Gesicht. Und auch Achim seufzte tief auf und erklärte endlich bedächtig:

»Ich habe schon öfter gelesen, daß Leute, denen man im Krieg einen Arm oder ein Bein weggeschossen hatte, keine Schmerzen spürten. Das habe ich bis heute nicht glauben wollen. Aber jetzt, bei dir, Jörg, da scheint sich herauszustellen, daß das wahr ist.«

Jörg warf seinem Vater einen unsicheren Blick zu.

»Ich finde es prima, Vati, daß du nicht mit mir schimpfst, weil ich an die Kreissäge gegangen bin, obwohl du es mir verboten hattest. Ich – ich wollte doch den Hasenstall so schnell wie möglich fertig haben. Und da habe ich einfach nicht mehr länger warten mögen.«

»Mach dir deshalb keine Sorgen, mein Junge.« Achim Markmann war ordentlich gerührt, aber er war auch bemüht, sich das nicht allzusehr anmerken zu lassen. »Den Hasenstall mache ich fertig, solange du hier liegen mußt. Ich nehme an, daß wir beide zusammen noch mehr als einen bauen müssen, denn ich nehme doch an, daß du eine richtige Stallhasenzucht anfangen willst, oder?«

»Ach, Vati, ich weiß ja gar nicht, was ich dazu sagen soll.«

Jörg strahlte nur so und schob sich wieder ein Stück Wurst in den Mund. »Ich dachte, du würdest es mir verbieten. Deshalb habe ich ja auch nur erst den Stall für den einen Hasen bauen wollen. Aber jetzt kann ich es dir ja sagen. Es ist eine Häsin, und sie kriegt Junge.«

Jörgs Wangen waren plötzlich rot, und man konnte die paar Sommersprossen, die er auf der Nase hatte, deutlich sehen. Er machte einen schuldbewußten Eindruck.

Achim sah seinen Sohn erst verblüfft an. Dann aber brach er in lautes Lachen aus und sagte endlich, nachdem er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte:

»Du Schlawiner. Das hättest du mir von Anfang an sagen sollen, denn dann wäre das alles nicht geschehen. Oh, wenn ich das doch nur geahnt hätte! Dann lägst du jetzt nicht mit abgeschnittenen und wieder angenähten Fingern hier!«

»Was meinst du damit, Vati? Hättest du mir dann alles verboten?« fragte Jörg zerknirscht. Aber Achim Markmann schüttelte nur den Kopf und sagte dann voller Bedauern:

»Ach, Kerlchen, dann hätten wir doch den ehemaligen Schweinestall umbauen können. Dann brauchten die Hasen nicht in Einzelkäfigen untergebracht zu werden, sondern könnten im Schweinestall umherlaufen. Und für den Sommer hätte man ihnen im Garten ein Gehege machen können. Das ist doch viel schöner, als wenn man die Tiere in einzelnen Käfigen hält.«

»Können wir das nicht noch machen, Vati?« fragte Jörg und sah seinen Vater überwältigt an. Da mischte sich Thea ein.

»Und ob man das noch machen kann. Wir werden es alle drei gemeinsam in Angriff nehmen, wenn du erst wieder daheim bist. Und die trächtige Häsin, die holt Vati schon, damit sie sich im Schweinestall im Stroh schon mal ein Nest bauen kann für ihren Nachwuchs. Seht ihr?« setzte sie noch triumphierend hinzu. »Es war doch gut, daß ich den Schweinestall ausgeschrubbt habe, als wir uns einig waren, daß wir kein Schwein halten wollen, das wir dann später doch nicht aufessen konnten, weil es zu uns gehört hatte. Mit der Hasenzucht ist es da ganz anders, nicht wahr?«

»Klar hast du recht gehabt«, sagte Achim und legte den Arm um seine Thea. »Ich habe ja oft über deinen vermeintlichen Putzfimmel gelacht – aber jetzt finde ich nichts daran auszusetzen. Ich glaube, es ist wirklich wahr, wenn man sagt, daß es darauf ankommt, von welcher Seite man eine Angelegenheit betrachtet, was?«

»Wenn du das man nur weißt«, setzte Thea hinzu und streichelte ihrem Jungen über das flachsblonde Haar. Sie hätte die ganze Welt umarmen können vor lauter Glück darüber, daß es Jörg anscheinend gutging, daß er keine Schmerzen hatte und daß er schon wieder ordentlich essen konnte. Sicher würde es nicht mehr lange dauern, nur ein paar Wochen, bis er wieder daheim war. Und was waren schon ein paar Wochen, wenn man sich klarmachte, daß das große Unglück sich sozusagen in Wohlgefallen aufgelöst hatte?

Sie blieben, bis Jörg müde wurde und Schwester Dorte sie auffordernd ansah. Da war es Thea, die sich als erste erhob und ihrem Mann einen Blick zuwarf. Achim verstand und nickte Jörg verabschiedend zu. Er traute sich einfach noch nicht, ihn anzufassen.

»Auf morgen denn, Kleiner«, sagte er weich. »Ich komme nach dem Dienst hierher, weil ich annehme, daß Mami dann sowieso bei dir sitzt. Dann kann ich sie anschließend gleich im Auto mit heimnehmen.«

»Und das mit dem Schweinestall, Vati, das machst du wirklich, nicht wahr?« fragte Jörg müde. Achim Markmann nickte nachdrücklich und zog Thea, die sich ganz offensichtlich kaum von ihrem Jungen trennen mochte, mit sich.

»Komm, damit er endlich schlafen kann. Er hat eh schon ganz kleine Augen.«

Thea folgte ihrem Mann und sagte auf dem Flur:

»Ich kann es nicht fassen, Achim. Es ist wie ein Wunder.«

»Und ob es das ist. Ich komme mir ganz klein und häßlich vor, weil ich mich gestern wie ein Schwerverbrecher verhalten habe.«

Thea Markmann blieb stehen, als sei sie vor eine Mauer geprallt. Erschreckt sah sie ihren starken Mann an und flüsterte:

»Das hatte ich ganz vergessen, Achim. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht.«

»Ich auch nicht. Aber jetzt kann ich nur sagen, daß ich mich wahrlich nicht besonders wohl fahle. Ich weiß auch noch nicht einmal mehr, ob ich mich schon entschuldigt habe.«

»Vielleicht ist es richtiger, so zu tun, als sei nichts gewesen. Manchmal vergißt man es dann wirklich und kann sich tatsächlich nicht mehr daran erinnern.«

»Meinst du?« Er sah skeptisch drein. »Ich hatte gestern einfach völlig die Nerven verloren, sonst wäre es gar nicht dazu gekommen, daß ich mit der Waffe herumfuchtelte.«

Sie hatten den Parkplatz erreicht und standen vor dem Wagen, den Achim jetzt aufschloß. Sie stiegen ein. Und dann wandte sich Thea wieder ihrem Mann zu und fragte leise

»Sage mir nur eines, Achim – hättest du deine Waffe wirklich benutzt, wenn sie nicht das getan hätten, was du von ihnen verlangtest?«

Er ließ die Hände auf das Lenkrad sinken, ohne den Wagen in Gang gebracht zu haben. Und es dauerte auch eine ganze Weile, bis er erwiderte:

»Das eben macht mir doch solchen Kummer, Thea. Ich weiß es nicht. Zwar habe ich noch nicht eingehend darüber nachgedacht, aber ich muß auch ehrlich zugeben, daß ich mich innerlich dagegen wehre, noch einen Gedanken an diese scheußliche Situation zu verschwenden.«

»Ich bin ganz sicher, daß du es nicht fertiggebracht hättest, Achim. Obwohl ich zugeben muß, daß du sehr bedrohlich ausgesehen hast.« Thea kicherte ein wenig. Achim sah sie von der Seite her an und murmelte:

»Meinst du wirklich? Dann kennst du mich besser, als ich mich selbst kenne.«

»Das tue ich auch«, erwiderte sie und legte zärtlich die Hand auf seinen Arm. »Ich kenne dich tatsächlich viel besser, als du dich kennst. Du siehst zwar ungeheuer stark aus, du brummst auch oft drohend, aber ich weiß, daß du noch nicht einmal eine lästige Fliege mit der Klatsche totmachen kannst. Noch nicht mal dann, wenn sie dich geärgert hat.«

»Aber wegen gestern, da bin ich mir doch nicht so ganz sicher. Schließlich handelt es sich doch um unseren Jungen, Thea. Und da kann ich, so glaube ich sicher, sehr böse werden.«

»Du warst nicht böse, Achim«, sagte sie bestimmt. »Du warst halb wahnsinnig vor Angst um Jörg. Das wird jeder verstehen.«

Er atmete tief ein und drehte den Zündschlüssel, so daß der Wagen ansprang. Während er langsam aus dem Klinikhof auf die Straße hinausfuhr, sagte er bedächtig:

»Irgendwann, wenn ich diese Sache einigermaßen verwunden habe, werde ich zu Frau Dr. Martens und ihrem Bruder gehen und mich in aller Form entschuldigen. Und dann kann ich nur hoffen, daß sie auch so viel Verständnis für mich aufbringen wie du.«

»Das werden sie ganz bestimmt«, erklärte Thea voller Überzeugungskraft. Und Achim war es zufrieden.

*

Hanna Martens verbrachte viel Zeit mit Jörg. Der Junge war ihr ganz besonders wichtig. Wahrscheinlich, so sagte sie sich selbst, kam das daher, daß man, wenn auch unter Zwang, eine Operation bei ihm gewagt hatte, die sie unter normalen Umständen niemals gemacht hätten.

Es wächst der Mensch mit seinem höheren Zweck, dachte Hanna oft in leiser Selbstironie. Das konnte aber den Stolz darüber, daß eine solche Operation gelungen war, nicht mindern. Im Gegenteil – Hanna war fest entschlossen, mit Kay noch einmal eingehend darüber zu sprechen. Schließlich hatte er nicht umsonst und von ungefähr die für derartige Operationen unbedingt notwendigen Einrichtungen und Geräte angeschafft.

Hanna erinnerte sich mit leiser Scham daran, daß sie zu jener Zeit, als das alles geliefert wurde, Kay spöttisch gefragt hatte, zu was er das denn wohl benötige. Und sie erinnerte sich daran, daß seine Antwort sie nicht gerade zufriedengestellt hatte. Kay hatte nämlich nur die Schultern ein wenig gehoben und dann gesagt:

»Es mag dir vielleicht jetzt noch sonderbar oder auch meinetwegen unnötig erscheinen, Hanna – aber kann man denn wissen, wozu man so etwas benötigt? Irgendwann wird mal ein Fall eintreten, der uns das alles anwenden läßt. Und dann können wir glücklich sein, wenn alles Notwendige da ist.«

Der Fall Jörg Markmann hatte bewiesen, daß Kay recht gehabt hatte. Ja, noch mehr, fand Hanna. Kay hatte sich als ein echter Prophet erwiesen. Ihre Hochachtung vor ihrem vorausblickenden Bruder war wieder einmal sehr hoch.

Die Markmanns hatte dafür gesorgt, daß in Ögela und Umgebung bekannt wurde, was man in der Kinderklinik Birkenhain für ihren Jungen getan hatte. Und wie meistens bildeten sich zwei Parteien. Die einen waren voll des Lobes über Kay und seine mutige Schwester Hanna. Und die anderen sprachen davon, daß die Ärzte der Klinik Birkenhain verantwortungslos gehandelt hatten, als sie Jörg Markmann die beiden abgeschnittenen Finger wieder annähten. Sie sprachen davon, wie anmaßend und gefährlich es doch sei, wenn sich Ärzte Dinge zutrauten, die eigentlich gar nicht zu ihrem Fachgebiet gehörten.

Dr. Frerichs sprach empört über die Meinung der Leute in Ögela in der Kantine. Er ahnte nicht, daß Kay alles mit anhörte, weil er mit Hanna ziemlich versteckt hinter einem Kübel mit großem, üppig blühenden Blumenarrangement gesessen hatte. Er sah Frerichs mit herzlichem Lachen an, als er sich mit Hanna an seinen Tisch setzte.

»Es ehrt Sie durchaus, mein lieber Freund, daß Sie so spontan unsere Partei ergreifen. Ich weiß das voll und ganz zu würdigen. Und eigentlich haben die Menschen doch recht, die sagen, daß wir hier eine solche Operation bisher noch nicht durchgeführt haben, oder? Das stimmt zumindest.«

»Aber wir haben doch auch nur operiert, weil wir dazu gezwungen worden sind – mit Waffengewalt!« stieß Frerichs erbittert hervor. Kay sah ihn ernst an.

»Ich hoffe, darüber haben Sie kein Wort verloren, Kollege«, sagte er kühl. Frerichs schüttelte wild den Kopf.

»Wie werde ich denn? Bei der Redseligkeit der Leute aus Ögela könnte ich Markmanns damit nur in Teufels Küche bringen. Ich habe mich überhaupt nicht dazu geäußert, weil man mich erst gar nicht bemerkt hat. Aber dann habe ich nur gefragt, ob sie fänden, man sollte Ihnen für Ihren schnellen Entschluß, dem Kleinen zu helfen, nur dankbar sein. Jetzt sei doch erwiesen, daß Sie auch helfen können, wenn es beinahe hoffnungslos aussieht. Sie hätten die dummen Gesichter sehen sollen, Chef. Und einer bequemte sich sogar, zuzugeben, daß man es so noch nicht betrachtet hatte. Und im Nu waren sie alle verschwunden, die Meckerer.«

Hanna sah den jungen Arzt warm an und legte ihm die Hand auf den Arm.

»Es ist sehr lieb von Ihnen, uns so zu verteidigen«, sagte sie freundlich. »Am besten, man kümmert sich gar nicht um das, was die Menschen sagen. Sie werden sehen, daß die Operation ganz schnell vergessen sein wird. Auch in einem Ort wie Ögela geschieht immer etwas, was die Menschen interessiert. Sie unterhalten sich im Höchstfall ein paar Tage darüber, aber dann ist auch alles wieder vorbei, weil dann wieder etwas anderes akut ist.«

»Bestimmt haben Sie recht, aber ich wäre gern dazwischengefahren, das kann ich Ihnen sagen.«

»Und hätten damit alles nur noch schlimmer gemacht, mein Lieber.« Hanna nickte ihm freundlich zu und meinte dann: »Wir sollten uns daran erinnern, daß es Zeit für die Visite ist.«

Wie macht sie das nur? dachte Frerichs aufsässig, wie bringt sie es fertig, immer so ruhig und gelassen zu bleiben? Sie ist doch auch ein Mensch aus Fleisch und Blut, aber wenn das so weitergeht, dann betrachte ich sie als Heilige.

Es war nur gut, daß Hanna Martens keine Ahnung hatte davon, wie Frerichs sie einschätzte und beurteilte, sonst hätte sie ihn sicher hell ausgelacht.

Sie sparte sich den Besuch bei Jörg Markmann als letzten auf, weil sie sich noch ein Weilchen mit dem aufgeweckten kleinen Kerl unterhalten wollte. Sie setzte sich einfach zu ihm aufs Bett und fragte ihn:

»Na – was würdest du davon halten, wenn du langsam aus dem Bett aufstehst? Draußen scheint herrliche Sonne. Wenn du dir Mühe gibst, bist du in ein bis zwei Tagen soweit, daß du in den Klinikgarten darfst.«

»Das wäre prima, Dr. Hanna, denn dann wäre ich doch nicht so allein. Ich finde es mopsig, so allein im Zimmer liegen zu müssen.«

»Na, dem kann man doch Abhilfe schaffen, meinst du nicht auch? Ich werde mir überlegen, wen von unseren Patienten wir zu dir aufs Zimmer legen können. Und dann reden wir noch mal drüber, abgemacht?«

Jörg nickte zufrieden. Mit Dr. Hanna konnte man, so fand er, reden wie mit sich selbst. Die verstand einen, ohne daß man ihr groß und breit noch die Gründe und Ursachen erklären mußte.

»Wenn ich schon aufstehen darf, dann kann ich doch auch bald wieder heim, oder?« fragte er und sah Hanna aus bettelnden Augen an. Hanna lachte ihn an und sagte tröstend:

»Na, ein Weilchen mußt du dich noch gedulden, Jörg. Immerhin solltest du daran denken, daß du schließlich zwei Finger verloren hattest. Das braucht seine Zeit, um wieder richtig verheilen zu können.«

Das verstand der Junge. Und er wußte auch, daß es wie ein Wunder war, daß man ihm die abgeschnittenen Finger wieder angenäht hatte. So was kam sonst eigentlich nur im Fernsehen vor, in irgendwelchen Filmen. Jörg hätte nie damit gerechnet, daß ihm so was auch einmal zustoßen könnte. Und nun, da es geschehen war, fand er es noch nicht einmal halb so schlimm wie in seinen Vorstellungen.

Aber schließlich lag auch das Schlimmste schon hinter ihm. Und er mußte auch daran denken, daß er eigentlich alles gar nicht so richtig begriffen hatte, besonders nicht, nachdem es geschehen war. Er mochte auch lieber erst gar nicht daran zurückdenken.

Zwei Tage später wurde Jörg Markmann dann von Schwester Regine in den Klinikgarten gefahren. Jörg hatte gelacht, als man ihn in einen Rollstuhl setzte, aber Schwester Regine hatte nur lachend gesagt:

»Wart’s nur ab, mein Freund. Du wirst sehen, wie schnell man müde wird, wenn man nur ein paar Schritte gemacht hat. Da kann man erst richtig merken, wie schnell man seine Kräfte verliert, wenn man nur ein paar Tage im Bett gelegen hat.«

Jörg war ordentlich froh, als Schwester Regine ihn allein ließ. Er saß da in seinem Rollstuhl, rappelte sich vorsichtig hoch und spazierte ein wenig umher. Aber dann merkte er doch, daß er müde wurde, Herzklopfen bekam und sich von allein nach dem bequemen Rollstuhl sehnte. So schlich er denn langsam und sehr enttäuscht wieder zurück und blieb still sitzen, bis das schnelle Herzklopfen vorbei war. Er wollte schon ärgerlich und zutiefst enttäuscht sein, aber da sagte er sich ganz richtig: morgen versuche ich es wieder, und jeden Tag wieder, bis ich wieder richtig laufen kann. Und dann werden sie mich auch heimlassen, damit Vati und ich endlich unseren Hasenstall fertigbekommen.

Als seine Eltern kamen, ihn zu besuchen, staunten sie nicht schlecht, als sie ihn im Rollstuhl draußen fanden. Achim Markmann schob seinen Jungen durch den großen Garten mit dem hübschen Teich, in dem im Frühjahr die Frösche laut quakten, und setzte sich endlich auf eine Bank. Thea setzte sich neben ihn und strahlte Jörg, der in seinem Rollstuhl vor ihnen saß, glücklich an.

»Jetzt kann es auch nicht mehr lange dauern, bis man dich nach Hause läßt. Ich bin so froh, daß du alles noch einmal gut überstanden hast, Liebling.«

Achim Markmann nickte nachdrücklich dazu. Er fühlte sich immer ganz elend, wenn er in die Klinik Birkenhain kam, und hatte entsetzliche Angst davor, Hanna oder Dr. Frerichs oder Kay Martens zu begegnen. Er schämte sich, wie man sagt, in Grund und Boden. Und die Einsicht, daß er auch allen Grund dazu hatte, vermochte ihm auch nicht viel zu helfen.

Er hätte alles gern ungeschehen gemacht – aber das lag nicht in seinem Machtbereich. Irgendwann, beruhigte er sein Gewissen dann wohl, werde ich die beiden Martens’ aufsuchen und mich in aller Form bei ihnen entschuldigen. Entweder sie akzeptieren meine verständliche Angst und Aufregung, oder sie tun es nicht. Daran kann ich dann auch nichts mehr ändern. Jeder muß für das, was er tut, einstehen. Das sollte ich, der im Strafvollzug tätig ist, am besten wissen.«

Achim war fest entschlossen, für seine Haltung einzustehen und alle Konsequenzen, die sich daraus ergaben, zu akzeptieren. Aber die Scham, so fand er, machte einem viel mehr zu schaffen als alles andere.

Thea Markmann wußte sehr wohl, was in ihrem Mann vorging. Schließlich kannte sie ihn bis in den tiefsten Winkel seines Herzens. Und so sagte sie dann zwei Tage später zu ihm, als sie wieder einmal aus der Klinik nach Hause kamen:

»Ich will nicht, daß du dich so quälst, Achim. Damit machst du nichts ungeschehen.«

Er saß zerknirscht ihr gegenüber am Küchentisch und erwiderte:

»Meinst du, das hätte ich mir nicht schon tausendmal gesagt, Thea? Aber ich schäme mich so entsetzlich, daß es jedesmal eine Qual für mich ist, zur Klinik zu fahren. Und daheimbleiben kann ich auch nicht, denn ich will schließlich unseren Jungen sehen. Was sollte er wohl denken, wenn ich ihn plötzlich nicht mehr besuchen kommen wollte?«

»Verhalte dich doch einfach so wie Frau Dr. Martens, und wie Herr Dr. Martens und alle anderen auch«, schlug Thea praktisch vor und lächelte ihm aufmunternd zu. »Tu doch einfach so, als sei gar nichts geschehen. Sie machen es doch auch so.«

»Das können sie auch, schließlich waren sie im Recht. Ich bin es, der unrecht gehandelt hat. Und ich kann dir sagen, daß das ein geradezu schauderhaftes Gefühl ist. Mir ist, als müßte ich zu ihnen gehen und mich entschuldigen und…«

»Solange dich das alles noch so sehr aufregt, solltest du überhaupt nichts tun. Jedermann weiß, daß du keiner Menschenseele etwas zuleide tun kannst. Du wolltest es auch nicht wirklich. Du hast dich nur so benommen, weil du halb wahnsinnig vor Angst um Jörg gewesen bist. Ich kann dich sogar gut verstehen. Und ich bin sicher, daß es die Geschwister Martens auch tun.«

»Ich muß darüber nachdenken. Lieb von dir, Thea, daß du es mir leichter machen willst. Aber ich spüre, daß ich mich bei ihnen entschuldigen muß, wenn ich meine Ruhe wiederbekommen will. Es ist ja beinahe wie eine Krankheit. Ich kann kaum noch an etwas anderes denken als daran, wie gräßlich ich mich aufgeführt habe.«

»Was auch immer du tun wirst, Achim – ich halte zu dir und stehe hinter dir. Das sollst du wissen.«

»Wenn ich das nicht wüßte, wäre ich noch ärger dran als so schon. Nein, nein, es ist schon in Ordnung, Thea. Ich habe mir die Sache eingebrockt und werde sie auch wieder in Ordnung bringen, so oder so. Dann kann ich auch wieder ruhig und ohne Alpträume schlafen.«

»Vielleicht hast du recht«, gab sie ehrlich zu und sah ihn zärtlich an. »Aber eines solltest du wissen, Achim: Ich halte zu dir, und bei mir hast du immer recht, besonders in dieser Sache. Wenn einem so etwas widerfährt, dann kann man schon den Kopf verlieren. Und das weiß nicht nur ich, sondern auch die Ärzte in der Klinik Birkenhain wissen es, verlaß dich darauf.«

Achim Markmann warf seiner Frau einen dankbaren Blick zu. Er fühlte sich ungeheuer getröstet, weil sie ihm versichert hatte, daß sie zu ihm hielt – und weil sie ihm gesagt hatte, daß man seine große Angst in der Klinik Birkenhain ganz sicher verstehen würde…

*

Jörg saß am Teich auf der Bank. Den Rollstuhl brauchte er nicht mehr. Aber. wenn ihm ein kleiner Patient im Rollstuhl begegnete, spürte er immer brennendes Mitleid, denn er erinnerte sich daran, wie elend ihm zumute gewesen war, als er die ersten paar Tage im Rollstuhl hatte sitzen müssen. Da kam man sich echt wie ein alter Mann vor, der zu schwach ist, sich allein auf den Beinen zu halten. Ein ekliges Gefühl, fand Jörg, und war dann immer wieder heilfroh, daß er allein laufen und sich bewegen konnte. Er war froh, daß er nicht mehr dauernd im Bett liegen mußte und die anderen, die noch nicht so weit waren wie er, besuchen konnte. Jörg fühlte sich dann immer sehr wichtig, denn er war unbestritten der interessanteste Patient für alle. Einen Finger richtig abgeschnitten hatte sich noch keiner hier, geschweige denn gleich zwei. Jörg mußte immer wieder und wieder erzählen, wie es zu diesem schrecklichen Ereignis gekommen war.

Zuerst hatte er sich natürlich unendlich interessant gefühlt. Aber mittlerweile war er es leid, immer wieder über das eine Thema zu sprechen. Und so hatte er denn energisch erklärt:

»Das alles habe ich euch nun schon so oft erzählt, daß ihr es eigentlich auswendig wissen müßt. Und wenn einer da ist, der neu hier ist, der kann es sich von den anderen erzählen lassen. Ich mag nicht mehr daran erinnert werden.«

Aber seinen Spitznamen, den hatte Jörg weg und würde ihn auch so schnell nicht mehr loswerden: Jörg, der Metzler, hatte man ihn getauft, nachdem man Heldensagen gelesen hatte und darin immer

wieder von Metzeleien die Rede war.

Kein Mensch mochte Jörg glauben, wenn er versicherte, daß die Angelegenheit nicht halb so blutig verlaufen war, wie man eigentlich annehmen sollte. Es war ihm auch gleich. Hauptsache, er mußte nicht länger alles erzählen. Es hing ihm einfach zum Hals heraus. Es gab doch wahrlich noch andere interessante Sachen, über die man reden konnte. Was waren da schon zwei abgeschnittene Finger?

Jörg stand auf und schlenderte hinüber, wo er einige andere Kinder sah, die zusammenstanden und sich lebhaft unterhielten. Er mußte Dr. Hanna noch einmal bitten, daran zu denken, daß er es allein mopsig fand und gern noch jemand hätte, der bei ihm lag.

Sie unterhielten sich wie Erwachsene, standen um die, die noch nicht lange stehen konnten, herum und bezogen sie in ihre Gespräche mit ein. Meistens ging es um neue Rock-Platten oder um eine neue Folge der Serie Kampfstern Galactica im Fernsehen, die man, wenn es eben möglich, nicht versäumte.

Jörg, der sich sonst eifrig an den Unterhaltungen beteiligte, verhielt sich heute ein wenig stiller als sonst. Er sah sie alle der Reihe nach an und fragte sich, wem von ihnen er den Vorzug geben sollte, wenn er sich aussuchen dürfte, wer zu ihm aufs Zimmer kam.

Fast hätte er geseufzt, denn es war schwierig zu wählen. Der eine war leise genug, aber zu weinerlich, der andere war zu langweilig, der nächste zu angeberisch und großspurig. Nein, Jörg hätte wirklich nicht gewußt, wen er gern bei sich gehabt hätte.

Er begriff, daß es wirklich stimmte, wenn man sagte, daß jeder Mensch seine guten und auch weniger guten Seiten hatte. Und dabei ahnte er noch nicht, wie schnell diese Frage, die schon so etwas wie ein Problem für ihn bedeutete, gelöst werden konnte. Und er ahnte nicht, was aus der Freundschaft mit seinem neuen Zimmergenossen entstehen würde. Sonst hätte er sich wohl kaum jetzt so viele Gedanken gemacht.

Er war ordentlich erleichtert, als seine Eltern erschienen. Jetzt würden sie mit ihm in die Cafeteria der Klinik gehen und Eis bestellen. Bananensplit, das er so gern mochte.

Thea war immer noch etwas ängstlich, wenn sie ihren Buben umarmen wollte. Sie mochte den linken Arm gar nicht berühren. Und sie hatte schreckliche Angst, gegen seine bandagierte Hand zu stoßen. Da nutzte es nichts, wenn Jörg ihr versicherte, daß er absolut keine Schmerzen mehr hatte und sich regelrecht danach sehnte, wieder nach Hause zu dürfen, damit man endlich die Unterkunft für die künftige Hasenzucht bauen konnte.

»Aber du wirst Vati auf gar keinen Fall helfen, mein Junge!« sagte Thea auch bald, als das wichtigste Gesprächsthema zwischen Vater und Sohn wieder erreicht war.

»Wieso denn nicht?« fragte Jörg, und seine Stimme klang ausgesprochen angriffslustig. »Du hast doch selbst gehört, daß Dr. Hanna gesagt hat, ich soll die linke Hand ganz normal benutzen, wie sonst auch. Ja, ich soll sogar üben, damit ich bald wieder richtig zugreifen kann.«

»Aber wenn du wieder mit Vatis Handwerkzeug hantierst, Jörg, werde ich meines Lebens nicht mehr froh.«

»Mach dir nur keine Sorgen, Thea. Der Bengel ist jetzt ein gebranntes Kind.« Achim nickte Jörg lachend und verschwörerisch zu. »Ich bin ganz sicher, daß er um die verdammte Kreissäge einen großen Bogen macht, wenn ich nicht dabei bin.«

»Darauf kannst du dich aber verlassen«, gab Jörg zurück, und man merkte ihm an, daß er die Wahrheit sagte. Da atmete Thea ein wenig auf, aber sie sagte noch abschließend:

»Wenn du mir wirklich dein großes Ehrenwort gibst, nichts mehr ohne Vati zu machen, kann ich endlich aufatmen und muß nicht mehr in dauernder Angst leben, es könnte dir etwas zustoßen.«

»Das große Ehrenwort gebe ich dir gern, Mami. Ich glaube, ich hätte auch vorerst gar nicht mehr den Mut, allein zu arbeiten. Außerdem könnte ich das gar nicht, denn wir wollen doch den Schweinestall umbauen für unsere Hasenzucht. Und da brauche ich doch Vati dabei. Freust du dich auch so auf die Arbeit wie ich, Vati?« wollte Jörg wissen und setzte noch hinzu: »Ich finde es prima, wenn wir beide zusammen überlegen und planen und arbeiten können.«

Achim Markmann nickte seinem Sohn zu, fuhr ihm durch das ein wenig borstige Blondhaar und sagte abschließend:

»Ich habe nur den Stall richtig saubergemacht und gelüftet, damit gute Luft da ist. Wenn du hier entlassen wirst, können wir sofort anfangen. Und zu zweit ist es natürlich viel schöner, als wenn einer allein arbeiten muß. Dann macht alles doch viel mehr Spaß.«

Das fand auch Jörg und war sehr zufrieden. Er hatte die besten Eltern, die ein Junge wie er sich nur wünschen konnte. Das stand allemal fest.

*

»Wen soll ich denn nun zu dir aufs Zimmer legen?« fragte Hanna einen Tag später, als sie sich im Garten zu Jörg auf die Bank setzte, auf der er so gern seine Karl-May-Bücher las. Spielerisch nahm sie den Band, den Jörg zur Seite gelegt hatte, auf. »Winnetou«, murmelte sie und sah auf. »Hast du auch die Filme gesehen?«

»Klar doch, die kommen ab und zu im Fernsehen. Und dann sehe ich sie mir immer wieder an. Ich finde sie einfach großartig.«

»Soll ich dir ein Geheimnis anvertrauen?« Lachend beugte Hanna sich zu ihm und sagte mit gedämpfter Stimme: »Ich mag Karl May auch. Und ab und zu gehe ich in die Klinik-Bücherei und hole mir ein Buch, das ich dann im Bett lese. Finde ich großartig. Mein Bruder tut das auch, aber er bildet sich ein, ich wüßte es nicht.«

»Man müßte ein Held sein wie Winnetou oder Old Shatterhand. Menschenskind, wenn der seine Rechte benutzt, dann fallen die Verbrecher um wie die Fliegen, was?«

»Schon, aber ich meine, man sollte sich das Recht nicht immer mit der Faust erkämpfen. Manchmal hat man mehr Glück, wenn man es ganz ruhig und sachlich tut. Wie ist das also? Wen soll ich dir aufs Zimmer legen, damit du nicht so allein bist?«

»Kann ich mir das noch bis morgen überlegen?« wollte der Junge mit schiefgelegtem Kopf wissen. Hanna nickte lachend und erhob sich.

»Na gut, warten wir bis morgen. Du sollst dich ganz frei entscheiden können, denn wir können die Kinder nicht dauernd umlegen, das wirst du verstehen. Wenn du dich einmal entschieden hast, dann muß es auch dabei bleiben.«

»Ist gut. Ich weiß schon Bescheid.« Jörg nickte ernsthaft vor sich hin und setzte bedächtig hinzu: »Aber es erfährt doch niemand, daß ich mir meinen Zimmerfreund aussuchen durfte, nein? Ich möchte nicht, daß es Ärger gibt.«

»Darauf gebe ich dir mein Wort, Jörg. Morgen, wenn ich Visite mache, wirst du mir also sagen, wen du gern bei dir haben möchtest, hm?«

»Ganz bestimmt«, sagte Jörg und sah Hanna nachdenklich nach, als sie aufstand und zu einer Gruppe Kinder ging, um sich mit ihnen zu unterhalten und zu lachen. Hanna tat das gern und oft, denn sie wußte, daß Freude ein gutes Heilmittel war, und das nicht nur für die Erwachsenen, sondern in noch größerem Maße für Kinder.

Jörg war sehr nachdenklich und wußte wirklich nicht, wen er bei sich haben wollte. Und dann endlich, als er allein zurückschlenderte, entschied er, daß es doch wohl besser sei, wenn er allein in seinem Zimmer blieb. Dann gab es auch keine Meinungsverschiedenheiten, sagte er sich und nahm sich vor, das morgen bei der Visite ganz offen und ehrlich auch einzugestehen. Er wußte, daß Dr. Hanna dafür großes Verständnis haben würde.

Neugierig blieb er stehen, als er den Krankenwagen kommen sah. Er hatte kein Blaulicht eingeschaltet und auch nicht das heulende Martinshorn.

Niemand achtete auf den Jungen, der ein wenig abseits stand. Und dann weiteten sich Jörgs Augen, als er seinen Schulkameraden Florian Beckhaus erkannte.

Florian ging mit Jörg in eine Klasse. Sie wären zwar nicht eng miteinander befreundet, weil sie zu weit auseinanderwohnten in Ögela – aber wenn sie in der Schule zusammen waren, möchten sie einander sehr und waren auch recht oft zusammen. Jörg wußte zum Beispiel, daß Florian nicht glücklich war.

Nie und nimmer hätte er damit gerechnet, daß Florian krank wurde und in die Klinik gehen mußte. Bei ihm selbst, ja, da war das ganz etwas anderes gewesen. Immerhin hatte er sich zwei Finger abgeschnitten. Aber Florian? Der war doch gesund. Zumindest war er nie wegen irgendeiner Krankheit aus der Schule fortgeblieben.

Nachdenklich schlich Jörg auf sein Zimmer zurück. Für ihn stand fest, daß er Dr. Hanna bitten würde, ihn mit Florian zusammenzulegen, damit sie sich miteinander unterhalten konnten.

*

Die Einlieferung des Florian Beckhaus in die Kinderklinik Birkenhain hatte eine Vorgeschichte, die alltäglich klingen mochte. Sie kam überall und zu jeder Zeit vor, ohne daß die Menschen sich viele Gedanken darüber machten.

Bei Florian, der nun acht Jahre alt war, konnte man die Vorgeschichte als besonders tragisch bezeichnen.

Florian hatte das Glück, in einer Familie zu leben, in der es so gut wie nie Streit gab. Seine Eltern waren glückliche Menschen. Einer konnte ohne den anderen nicht sein. Und es war auch ganz selbstverständlich, daß der Junge in diese innige Gemeinschaft sozusagen hineingebettet war. Er erlebte, wie zärtlich und einfühlsam seine Eltern miteinander umgingen – und wie sie ihre Gefühle auch auf ihn übertrugen, den sie immer als Pfand ihrer Liebe betrachteten. Florian war ein glückliches Kind, das seinen Eltern keine Sorgen bereitete, außer daß er die Windpocken bekam und sich in der Schule mit Masern ansteckte.

Aber dieses Glück der Familie Beckhaus war an einem Nachmittag, der nun auch schon etwas mehr als zwei Jahre zurücklag, ganz plötzlich zerbrochen. Es war, als habe es nie existiert. Und das, was nach dem Glück kam, war vielleicht auch deshalb so grausam, weil es die Menschen unvorbereitet traf, zu einem Zeitpunkt, da sie sicher waren, das Glück für ewige Zeiten gesichert zu haben.

Florians Mutter Melanie wollte nur eben zum Supermarkt, weil sie ein besonders leckeres Abendessen machen wollte, denn Florians Vater, der ein tüchtiger Schlosser für Schiffsgetriebe war, war von einer längeren Montagereise nach Hause gekommen und hatte erklärt, er werde keine längeren Montagereisen mehr unternehmen, weil er sich nicht mehr für Wochen von Frau und Kind trennen wollte.

Hannes Beckhaus hatte seiner Frau angeboten, sie mit dem Wagen zum Supermarkt zu fahren. Aber Melanie hatte lachend abgewehrt und erklärt:

»Ruh du dich nur ruhig aus, mein Lieber. Du hast gerade eine lange Autofahrt hinter dir. Ich werde nicht sterben, wenn ich schnell zu Fuß einkaufe.«

Genau das war eingetreten. Es war etwas, was niemand fassen, niemand begreifen konnte. Es war was, gegen das man sich mit aller Macht wehrte, obwohl man im Unterbewußtsein erkannt hatte, daß man diesem Schicksalsschlag nicht ausweichen konnte, daß man sich ihm stellen, ja, ihn annehmen mußte. Man hatte nicht die Wahl, zu entscheiden, ob man es wollte oder nicht.

Was eigentlich genau geschehen war, wußte später niemand mehr recht zu sagen. Die Polizei hatte auch versucht, alles zu rekonstruieren – wegen der Versicherung des Autofahrers, der einfach behauptete, Melanie Beckhaus sei ihm ganz plötzlich vor den Wagen gelaufen, so daß er nicht mehr rechtzeitig habe bremsen können.

Für Hannes Beckhaus war es auch unerheblich, wie sich alles abgespielt hatte. Er saß zwei Tage und Nächte schier unbeweglich an Melanies Bett. Man hatte sie mit dem Rettungshubschrauber nach Hannover gebracht, wo es eine Spezialabteilung für Hirnverletzte gab.

Und in Hannover hatte man auch festgestellt, daß Melanie einen dreifachen Schädelbasisbruch erlitten hatte. Das Auto hatte sie erfaßt und mit dem ungeschützten Kopf gegen eine Mauer geschleudert. Außerdem hatte sie noch eine schwere Gehirnquetschung erlitten. Melanie Beckhaus lag unbeweglich und starr im Koma.

Sie reagierte auf nichts. Auch nicht auf ihren Mann, der neben ihr saß und ihre Hand hielt und dann und wann leise ihren Namen rief. Melanie rührte sich nicht einmal. Hannes Beckhaus wartete auf einen Druck ihrer Hand, er wartete auf ein winziges Zeichen, daß sie ihn verstand, daß sie begriff, daß er bei ihr war und sie nie verlassen würde, was immer auch kommen mochte.

Wie gesagt – es dauerte zwei Tage und zwei Nächte. Und dann konnte Melanie ihm nie wieder ein Zeichen ihrer Liebe geben, denn sie würde nie wieder die schönen dunklen Augen öffnen und ihn zärtlich ansehen. Melanie war ganz übergangslos in den Tod hinübergeschlafen.

Hannes Beckhaus erkannte es, aber er wehrte sich noch dagegen. Er weigerte sich, daran zu glauben, daß Melanie, seine geliebte, zärtliche und stets fröhliche Frau, nun nie wieder mit ihm sprechen würde.

Als der Arzt, der Melanie noch einmal untersuchen wollte, sich aufrichtete, wußte Hannes, daß er das Schreckliche aussprechen würde. Er wußte aber auch, daß er es nicht ertragen konnte. Er wollte sich wehren, er wollte dem Arzt ins mitleidige Gesicht hineinlachen und ihm erklären, daß er es besser wisse und Melanie gar nicht tot sei. Melanie konnte nicht tot sein, weil sie für ihn einfach unsterblich war.

Aber Hannes war wie gelähmt. Er brachte keinen Ton hervor. Nur der Blick seiner grauen Augen war flehend, bettelnd, beschwörend.

Obwohl Hannes Beckhaus wußte, daß das Endgültige und Unbegreifliche tatsächlich geschehen war, lächelte er und sagte leise:

»Sie schläft, Doktor. Nicht wahr, Schlaf ist ein gutes Heilmittel? Jetzt wird sie wieder gesund.«

Der Arzt legte ihm voller Mitgefühl die Hand auf die Schulter und sagte leise und behutsam:

»Sie ist eingeschlafen, Herr Beckhaus. Aber aus diesem Schlaf wird sie nicht mehr aufwachen.«

Hannes starrte den Arzt an, wandte sich dann seiner stillen Frau zu, die mit geschlossenen Augen dalag.

»Das ist nicht wahr!« stieß Hannes hervor und packte den Arzt bei den Schultern, schüttelte ihn in irrer Wut hin und her. »Das ist nicht wahr!« brüllte er. »Wie können Sie mir so Ungeheuerliches sagen?«

Und dann, ehe noch jemand wußte, was und wie es geschah, brach er ohnmächtig zusammen. Es war zuviel gewesen für diesen Mann, der aussah, als könnte er Bäume ausreißen.

Man brachte ihn in ein anderes Zimmer, legte ihn aufs Bett und gab ihm eine kreislauffördernde Injektion.

Als der Arzt nach einer halben Stunde nach Hannes Beckhaus sehen wollte, war er nicht mehr in dem Zimmer, in das man ihn gebracht hatte. Er war aufgewacht, aufgestanden und wieder in das Zimmer zurückgekehrt, in dem seine Melanie noch lag, weil noch einige Formalitäten erledigt werden mußten, ehe man sie hinunterbrachte.

Hannes Beckhaus saß am Bett Melanies, hielt ihre Hand und wußte, daß sie tot war. Aber er weigerte sich, das anzunehmen. Er war ein Kämpfer und wollte bis zuletzt kämpfen. Er wollte nicht daran denken, daß jemand kam, um ihn von Melanie zu trennen, weil sie in einen Sarg gelegt werden mußte. Der Gedanke, daß man seine schöne, lebenslustige Melanie in die Erde legen könnte, hätte Hannes aufschreien lassen können.

Man ließ ihn volle zwei Stunden bei Melanie allein. Dann bat ihn der Oberarzt zu sich und sprach lange und ernst auf ihn ein. Hannes saß ganz stumm da, starrte vor sich hin und antwortete nicht. Es war, als sei er ein lebender Toter. Und ihm selbst wollte es so vorkommen, als wäre er mit Melanie gestorben, als könnte nichts auf der Welt ihn wieder ins Leben zurückrufen.

Er war auch ganz starr gewesen, als er die große Klinik und Hannover verlassen hatte und in seinen Wagen stieg, um heimzufahren nach Ögela. Er war auch ganz starr, als er heimkam und seine Schwester, die bei Florian geblieben war, ansah. Er schwieg, aber es war auch nicht erforderlich, daß er etwas von sich gab. An seinen wie erloschen wirkenden Augen konnte man deutlich sehen, daß das Unbegreifliche, an das man nicht hatte denken wollen, eingetreten war. Melanie Beckhaus war tot. Es war nicht zu fassen, aber man mußte versuchen, die Tatsache als solche anzunehmen, weil einem einfach nichts anderes übrigblieb.

Die Beerdigung kam. Hannes Beckhaus hielt seinen kleinen Sohn Florian an der Hand und starrte auf den schweren Eichensarg, der da langsam in das grün ausgeschlagene Grab gesenkt wurde. Hannes Beckhaus sprach kein Wort. Er hielt nur Florian an der Hand. Und alle, die es sahen, waren gerührt und sagten noch Wochen später, daß sie dieses rührende Bild wohl kaum jemals wieder vergessen würden.

Grete Vollmers, Hannes’ ältere Schwester, verwitwet und ohne Kinder, blieb in Ögela. Sie zog in das hübsche Haus ein, in dem immer Lachen und Frohsinn geherrscht hatte, in dem es nun ruhig und bedrückend geworden war. Selbst Florian, der bereits begriffen hatte, daß seine Mutter nie wieder zurückkommen würde, schlich wie ein geprügelter Hund umher und wagte kaum, sich mit Spielen abzulenken oder etwas zu tun, das mit Lärm verbunden war.

Florian hing an seinem Vater und sehnte sich danach, von ihm in den Arm genommen zu werden, damit er das Gefühl hatte, auch weiterhin von ihm beschützt zu werden wie bisher. Aber Hannes erkannte die Einsamkeit seines Kindes nicht. Er hatte selbst genug zu tun, um mit dem Kummer fertig zu werden, was ihm, wie er ganz sicher wußte, nie im Leben gelingen würde. Er wollte auch nicht mehr an Melanie erinnert werden. Er wollte den Gedanken und den Sehnsüchten, die ihn quälten, entfliehen.

Und so nahm er denn eine große Montage an, die ihn weit fort nach Übersee führte, nach Brasilien.

Er strich seinem kleinen Florian über den Kopf und sagte nur:

»Mach’s gut, mein Kleiner. Wir werden uns jetzt längere Zeit nicht mehr sehen. Ich werde dir schreiben.«

Hannes Beckhaus wußte nicht, welches Leid sein Junge durchmachte, als er den Wagen abfahren sah. Tante Grete würde ihn vom Flughafen in Hamburg abholen in den nächsten Tagen. Und dann würde sein Vati schon weit, weit weg sein, in Brasilien, wo es Piranhas gab und Kaimane, wo es noch Indianer gab, die wie in der Steinzeit lebten. Und er würde nicht daran denken, daß daheim sein kleiner Florian sich nach ihm sehnte und nur zu gern mit ihm in die weite Welt gefahren wäre, um auch ein wenig Vergessen zu finden.

Es kamen Grüße. Und es kamen auch regelmäßig Geldbeträge. Aber die Briefe und Karten wurden seltener. Und dann kam der Brief, der Florian bewies, daß sein Vater ihn endgültig vergessen hatte und ein neues Leben anfangen wollte, in dem es für ihn, Florian, keinen Platz mehr gab.

Hannes Beckhaus hatte eine junge Brasilianerin geheiratet, der es gelungen war, ihn seinen Schmerz um Melanie vergessen zu lassen. Sie hatte ihn mit ihrer Glut und Leidenschaft entzündet, so daß sie ihm ins Blut gegangen war.

Hannes Beckhaus schrieb nur, daß er Franca geheiratet hatte.

Grete Vollmers, sowieso verbittert, weil sie keine richtige Familie hatte, sagte nur voller Neid:

»Da bewahrheitet sich wieder einmal, daß das dumme Sprichwort, das ich nicht leiden kann, stimmt. Aus den Augen – aus dem Sinn. Da hat er eine glutäugige Brasilianerin getroffen, die ihn eingewickelt hat. Da hast du also eine Stiefmutter. Sieht so aus, als würdest du nie ihre Bekanntschaft machen, mein Kleiner. Na, richten wir uns hier ein, so gut es eben geht.«

Tante Grete löste ihren Haushalt in Lüneburg auf und zog für immer in das hübsche Haus ein, in dem Florian einst mit seinen beiden Eltern so glücklich gewesen war.

Aber es war ganz merkwürdig – es war alles ganz, ganz anders. Und manchmal erkannte Florian das Haus nicht wieder, obwohl Tante Grete nicht einmal einen Sessel anders gestellt hatte. Sie hatte alles so gelassen, wie es gewesen war. Ihre eigenen Möbel hatte sie zum Teil verkauft oder verschenkt. Und der Rest, von dem sie sich nicht trennen mochte, war irgendwo eingelagert.

Hannes Beckhaus hatte bei seiner Firma von Brasilien aus gekündigt. Aber er schickte regelmäßig Geld für Florian. Zuerst auch noch dann und wann Briefe, aber die blieben dann auch ganz aus, obwohl Florian sehnsüchtig darauf wartete. Dann mußte sich der Junge sagen, daß Tante Grete recht hatte, wenn sie schonungslos behauptete, daß sein Vater ihn vergessen habe.

Vor ein paar Monaten war dann der Brief gekommen, der alles mit einem Schlag für Florian verändert hatte. Hannes Beckhaus schrieb voller Stolz und Glück, daß er eine Tochter hatte. Teresa hatte er sie taufen lassen. Und sie war, wie er ausführlich berichtete, das schönste Baby, das er jemals gesehen hatte.

Von diesem Tag an hatte sich Florian grundlegend verändert. Zuerst hatten seine Leistungen in der Schule schlagartig nachgelassen. Die Lehrerin hatte Tante Grete zu sich bestellt und ein offenes Wort mit ihr gesprochen. Tante Grete hatte alles an Florian weitergereicht, ohne das nötige Mitgefühl zu zeigen. Und dabei wäre Florian doch so unendlich dankbar gewesen, wenn sie ein wenig Verständnis und Wärme hätte zeigen mögen. Aber im Unterbewußtsein spürte der Junge, daß Grete Vollmers dazu nicht in der Lage war. Sie war einfach viel zu verbittert, weil sich nach dem Tod ihres Mannes nie wieder ein Mann gefunden hatte, der sich für sie interessierte.

Ohne es zu wissen und wahrscheinlich auch ohne es zu wollen, wurde Florian ein willkommener Blitzableiter für Grete Vollmers. Sie nahm Florian nicht einmal verständnisvoll in die Arme und versuchte herauszufinden, was ihn so verändert hatte. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, zum Herzen des einsamen Jungen vorzudringen. Sie schalt mit ihm, hielt ihm vor, daß sich sogar der eigene Vater nicht mehr blicken ließ und eine neue Familie gegründet hatte, in der es keinen Platz für ihn gab, und fragte jedesmal zum Schluß mit weinerlicher Stimme, die dem Jungen schrecklich auf die Nerven ging:

»Kannst du mir sagen, wie es weitergehen soll? Man kann doch nicht ernsthaft von mir erwarten oder verlangen, daß ich mich ein Leben lang mit dir abmühe? Und wenn dann nichts aus dir geworden ist, gibt man höchstwahrscheinlich sogar auch mir noch die Schuld daran. Ich weiß nicht mehr weiter. Wahrscheinlich bleibt mir nichts anderes übrig, als dich in ein Heim zu geben. Da wird man dir schon zeigen, was man von dir erwartet. Da bricht man deinen Trotz. Da wird man mit noch ganz anderen als dir fertig, mein Junge.«

Zuerst war Florian entsetzt. In ein Heim! Dabei hatte doch der Vater das Haus selbst gebaut und es mit Mutter zusammen zu einem Heim gemacht. Dieses Haus sollte ein Heim bleiben, sein Heim. Tante Grete hatte doch gar nichts hier zu sagen!

Vielleicht, wahrscheinlich sogar, wäre es gut und heilsam gewesen, wenn der Junge seinem Kummer und seiner Enttäuschung Luft gemacht hätte. Er hätte wohl auch manchmal die Lust dazu gehabt. Aber er wußte aus Erfahrung, daß man gegen Tante Grete so schnell nicht ankam. Er hatte einmal gehört, wie der Vater zur Mutter, als sie noch lebte, gesagt hatte:

»Die Grete ist meine einzige Schwester. Früher war sie ganz anders. Aber seit sie ihren Mann verloren hat, ist es ganz schlimm mit ihr geworden. Sie redet ohne Punkt und Komma – und man kann nur etwas von sich geben, wenn sie zwischendurch mal Luft holen muß. Nein, für immer möchte ich sie nicht um mich haben.«

Was die Mutter darauf erwidert hatte, wußte der Junge nicht mehr. Aber er hörte noch ihr perlendes Lachen und konnte sich denken, daß sie nur getröstet hatte, indem sie sagte:

»Du mußt ja auch nicht mit ihr leben, sondern mit mir. Und ich bin deine Frau, die dich nicht totredet, höchstens mit ihrer Liebe erdrückt.«

Ja, daran konnte Florian sich noch gut erinnern. Und dann ging er in sein Zimmer, schloß die Tür hinter sich ab, warf sich auf sein Bett und weinte sich den Kummer von der Seele.

Aber das half auch nur für eine ganz begrenzte Zeit. Dann war es wieder vorbei, und Tante Grete brauchte nur eine ihrer unfreundlichen Bemerkungen zu machen. Dann war Florian wieder am Boden zerstört und trauerte um das Leben, das nie wieder so sein würde, wie es einmal gewesen war.

Schlagartig änderten sich seine Leistungen in der Schule wieder. Florian wurde ein Musterschüler, ohne von seinen Klassenkameraden als Streber angesehen zu werden. Er hatte erkannt, daß Lernen ihn zeitweilig wenigstens von seinem Kummer ablenken konnte. Und so lernte er denn eben.

Die Lehrerin bat Tante Grete abermals in die Schule und wollte wissen, wieso Florian sich so schlagartig zu einem Musterschüler hatte entwickeln können. Sie wollte von Tante Grete wissen, ob sie es Florian auch nicht an der notwendigen Nestwärme fehlen lasse. Und gerade eben diese Frage hatte Tante Grete in helle Empörung versetzt.

»So eine Unverschämtheit!« hatte sie daheim gescholten. »Erst läßt sie mich kommen, weil du ein schlechter Schüler geworden bist und erwartete wohl von mir, daß ich dich ins Gebet nehme, was ich ja auch getan habe. Und nun sagt sie, es sei beängstigend, daß du ein Musterschüler geworden bist. Ich kann mir nicht helfen, Florian – aber deine Lehrerin scheint wirklich nicht zu wissen, was sie denn nun eigentlich will.«

Florian hatte ganz still am Tisch in der Küche gesessen und seine warme Milch getrunken und den Zwieback mit Butter und Honig dazu gegessen. Aber er hatte nichts gesagt. Es gab für ihn nichts zu sagen. Er wußte, daß er es Tante Grete niemals recht machen konnte. Instinktiv spürte er, daß er für seine Tante nichts weiter als eine Last bedeutete. Das, was sie in jammerndem, selbstbemitleidendem Ton noch von sich gab, beachtete er gar nicht. Er kannte alles in- und auswendig. Es war wie ein unbewußter Selbstschutz, daß er sich abkapselte.

Aber es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Florians erstaunliche seelische Kräfte aufgebraucht waren. In dem Alter, in dem andere Jungen noch weinen und Schutz bei ihrer Mutter suchen, war Florian Beckhaus auf sich allein angewiesen. Er ging nie hinaus zum Spielen, sondern saß viel lieber in seinem Zimmer, hörte Radio oder Schallplatten und las oder lernte.

»Das ist nicht mehr normal!« entschied Tante Grete immer öfter. »Du gehst nie mit anderen Kindern zum Spielen, hockst lieber allein zu Hause. Nein, das ist nicht mehr normal. Und wenn das so weitergeht, gehe ich mit dir zum Arzt.«

In ihrer Selbstgerechtigkeit kam sie gar nicht auf den Gedanken, daß es an ihr lag, daß sie den Jungen systematisch in eine Isolation hineintrieb, aus der er am Ende vielleicht gar nicht mehr herausfinden konnte. Nein, an so etwas verschwendete Grete Vollmers keine Gedanken. Immer öfter mußte Florian hören, daß es für sie und ihn selbst am besten sei, wenn sie ihn in ein Heim geben würde.

»Da bist du dann mit anderen Kindern zusammen und lernst, dich in die Gemeinschaft einzufügen. Da kannst du dann nicht mehr stundenlang in deinem Zimmer hocken und die blöde Musik hören. Da hast du kein eigenes Zimmer für dich ganz allein. Da schläfst du mit vielen anderen Jungen in einem Saal. Du hast ein hartes, schmales Bett. Und man macht mit so eigensinnigen Kindern kurzen Prozeß. Ich weiß ja nicht genau, welche Methoden man da anwendet, aber gewirkt haben sie bisher alle.«

Florian, der sich einbildete, kein Mensch könne ihn liebhaben, wenn schon der eigene Vater ihn vergessen hatte und die Tante ihm immer wieder zeigte, wie lästig er ihr war, wurde immer stiller. Er mußte sich oft regelrecht zum Essen zwingen und litt sehr darunter, daß er das Essen manchmal schon kurz darauf wieder erbrechen mußte. Aber das sagte er natürlich nicht, weil er fürchtete, die Tante könnte dann wieder mit ihm schelten und ihn undankbar nennen.

Florians Krankheit war sozusagen schon vorprogrammiert, als seine geliebte Mutter gestorben war. Seit zwei Jahren hatte er schon kein liebevolles Wort gehört. Und danach sehnte er sich immer mehr, bis er glaubte, es nicht mehr ertragen zu können.

Wenn ich tot wäre, brauchte sich niemand mehr mit mir abzuplagen.

Dieser Gedanke sprang ihn an wie ein wildes Tier. Florian fürchtete sich vor diesen Gedanken, aber er sah auch keine Möglichkeit, ihnen auszuweichen. Schließlich gewöhnte er sich an sie. Er stellte sich vor, wie er in den Wald hineinlief und sich an einem großen Baum aufhängte. Einmal hatte er es versucht, aber der Strick hatte schrecklich weh getan und war auch gerissen.

Dann hatte er überlegt, ob er nicht einfach auf das Dach des Hauses klettern sollte, um sich hinabzustürzen. Aber was wäre, wenn er nicht tot war, sondern sich nur viele Knochen gebrochen hätte. Vielleicht müßte er dann ein Leben lang im Rollstuhl sitzen und wäre noch mehr auf Tante Grete angewiesen gewesen.

Schließlich rang sich der Junge zu einem einsamen Entschluß durch. Er würde lernen, damit er bald Geld verdienen konnte. Er würde warten, bis er groß war und Tante Grete dann hinauswerfen. Er würde kein Erbarmen kennen, denn dazu war sie ihm gegenüber viel zu lieblos gewesen.

Der Gedanke daran, Tante Grete hinauszuwerfen, wenn er erst alt und selbständig genug war, beflügelte ihn und gab ihm Kraft zum Durchhalten. Aber ewig hielt diese Kraft auch nicht.

Ganz plötzlich und ohne jeden ersichtlichen Grund war Florian heute morgen in der Schule zusammengebrochen. Er hatte sich gekrümmt und geglaubt, vor wahnsinnigen Bauchschmerzen keine Luft mehr bekommen zu können.

Die Lehrerin war ganz entsetzt gewesen und hatte sich neben ihn gehockt, hatte ihn in die Arme genommen und hilflos an sich gedrückt. Da war Florian ganz still geworden und hatte nur den einen Wunsch gehabt, sie möge ihn noch lange Zeit so im Arm halten.

Aber es hatte eben nicht mehr lange gedauert. Und im gleichen Augenblick, da sie ihn losgelassen hatte, waren die fürchterlichen Schmerzen zurückgekommen. Er hatte aufgeschrien und nicht mehr gewußt, was er tun sollte, um die Schmerzen ertragen zu können. Man hatte ihn liegen gelassen, aus Furcht, man könne ihm schaden, wenn man ihm aufhalf. Und dann war alles ganz, ganz schnell gegangen. Ehe Florian noch recht wußte, wie und was ihm geschah, war er schon im Krankenwagen und auf der Fahrt in die Kinderklinik Birkenhain.

Im Krankenwagen waren die Schmerzen ebenso schnell, wie sie gekommen waren, auch wieder verschwunden. Und Florian hatte Dr. Frerichs bittend angeschaut und leise gesagt:

»Ich glaube, es genügt, wenn ich nach Hause fahre. Die Schmerzen sind fort, und ich fühle mich wieder völlig gesund.«

Hartmut Frerichs hatte ihm kameradschaftlich auf die Schulter geklopft und überredend, aber auch entschlossen erwidert:

»Na, jetzt sind wir einmal auf dem Weg, da fahren wir auch gleich weiter. In der Klinik wird man dich genau untersuchen. Und wenn man dann feststellt, daß dir wirklich nichts fehlt, dann kannst du morgen oder übermorgen schon nach Hause.«

»Na schön«, war Florians Antwort gewesen, die Dr. Frerichs sofort ein bißchen nachdenklich machte, die er aber dann auch schnell vergaß, als man die Klinik erreicht hatte. »Ist mir auch recht. Wahrscheinlich gefällt es mir in der Klinik sogar besser als daheim.«

So kam Florian in die Kinderklinik Birkenhain, ohne auch nur eine blasse Ahnung davon zu haben, daß sich sein ganzes Leben nun schlagartig und vollständig verändern würde.

*

Jörg war immer noch ganz aufgeregt, als Hanna Martens ihn am Nachmittag besuchte und ihm sagte, daß man voraussichtlich morgen schon wieder ein paar Fäden ziehen könne.

»Warum zieht man sie nicht alle auf einmal?« wollte der Junge wissen. Er hatte zwar keine Angst mehr vorm Fädenziehen – aber angenehm fand er diese Prozedur eigentlich auch nicht.

»Weil wir viel haben vernähen müssen. Die Nähte, die tiefer liegen, haben wir mit Fäden vernäht, die sich mit der Zeit selbst auflösen, die man also nicht ziehen muß. Aber die oberen Nähte, die haben wir besonders fest anziehen müssen. Und die müssen ja irgendwann mal gezogen werden. Solange aber noch irgendwo eine winzige Stelle ist, die nicht ganz dicht ist, werden die Fäden belassen und erst später gezogen. Deshalb lassen wir dich ja auch noch nicht nach Hause, obwohl du dich pudelwohl fühlst. Aber wir wollen doch vermeiden, daß du übermütig wirst, die linke Hand zu sehr beanspruchst und die frischen Nähte wieder aufbrechen, nicht wahr?«

Jörg nickte. Dr. Hanna konnte einem alles so wunderbar erklären, daß man es auch begriff. Das war nicht bei allen Ärzten so. Aber Dr. Hanna und ihr Bruder, der Dr. Kay, die waren eben ausnehmen und wußten ganz besonders gut mit Kindern umzugehen. Schließlich waren sie doch auch Kinderärzte!

»Gilt es noch, daß ich mir aussuchen kann, wer auf mein Zimmer kommt?« fragte Jörg und sah Hanna gespannt an. Sie nickte und fragte freundlich:

»Klar. Versprochen ist versprochen, Jörg. Hast du dich entschieden?«

»Ja, ich möchte gern mit Florian auf einem Zimmer liegen. Wir gehen zusammen in eine Klasse, schon seit dem ersten Schuljahr.«

»Ja, natürlich, das habe ich gar nicht recht bedacht. Ihr seid ja gleich alt. Florian ist heute eingeliefert worden.«

»Ich weiß.« Jörg nickte und sah Hanna mit ernsthaftem Gesicht an. »Ich habe es gesehen, ich war gerade draußen, als der Krankenwagen mit ihm kam. Was hat er denn eigentlich?«

»Tja, mir wäre wohler, wenn ich das wüßte. Er muß zur Beobachtung hierbleiben, weißt du? Wir wollen erst noch herausfinden, was ihm fehlt.«

»Kann ich ihn besuchen? Ich möchte ihn fragen, ob es ihm nicht lieber ist, wenn er mit mir zusammen auf einem Zimmer liegt.«

»Ist vielleicht nicht mal die schlechteste Idee.« Hanna legte den Arm um Jörg, als sie mit ihm hinausging. Zwei Zimmer weiter war Jörg untergebracht.

Still und ein wenig blaß und apathisch lag Florian in seinem Bett. Er drehte kaum den Kopf, als er hörte, daß die Tür geöffnet wurde und jemand eintrat. Noch nicht einmal vor sich selbst mochte er zugeben, daß er eine geradezu panische Angst davor hatte, daß Tante Grete kam. Sie würde ihm Vorwürfe machen und es als persönliche Schikane betrachten, daß er in der Schule so schreckliche Schmerzen gehabt hatte, daß man ihn in die Klinik hatte bringen müssen.

»Hallo«, sagte Jörg. Er war ein wenig verlegen, denn er wußte noch nicht so genau, was er Florian alles erzählen sollte. »Ich habe gesehen, wie du angekommen bist. Hast du große Schmerzen?«

Mit einem Ruck setzte sich Florian aufrecht und sah Jörg interessiert an.

»Ach wo. Überhaupt nicht. Es geht mir gut. Aber sie sagen, sie wollen mich zur Beobachtung hierbehalten. Und du? Was machen deine Finger? Sind sie wahrhaftig wieder richtig angenäht worden?«

»Klar doch. Und ich kann sie auch wieder bewegen, wenn die Verbände erst mal ab sind. Dann soll es so sein, sagen sie hier, als wenn nichts geschehen wäre.«

»Finde ich doll, einfach doll«, sagte Florian, und man sah ihm an, daß er es auch so meinte. Er schielte zu Hanna hin, die sich nicht einmischte, sondern nur lächelnd am Fußende des Bettes stand und die beiden Jungen still beobachtete.

»Ich liege auch allein, zwei Zimmer weiter. Dr. Hanna hat mir erlaubt, mir einen Zimmergenossen auszusuchen. Und ich dachte, es würde dir und mir vielleicht Spaß machen, zusammen auf einem Zimmer zu liegen.«

»Sag das noch mal. Meinst du das ernst?« wollte Florian wissen. Plötzlich war er lebhaft und wie elektrisiert. »Menschenskind, das wäre dufte.«

»Na, dann wäre das Problem ja zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst, wie mir scheint.« Hanna atmete tief ein. »Ich werde Schwester Dorte gleich Bescheid geben, daß sie dein Bett in Jörgs Zimmer stellt. Ich finde es immer gut, wenn man ein bißchen Unterhaltung hat. Besonders dann, wenn man sich eigentlich gar nicht krank fühlt.«

Florian hatte schon die leichte Bettdecke zur Seite geworfen und stand neben dem Bett. Er sah Jörg lachend an.

»Ich habe nichts mitzunehmen, denn ich habe noch gar nichts da.«

»Ich kann mir denken, daß du dieses lächerliche Hemd gern ausziehen möchtest. Ich habe Schlafanzüge genug da. Kannst davon einen anziehen.«

»Finde ich echt nett von dir, Jörg.«

Florian schielte zu Hanna hinüber, die ihm zulachte. Dann sagte er aus tiefster Seele:

»Danke, daß Sie mir erlauben, daß ich zu Jörg umziehe, Frau Dr. Martens.« Hanna lachte noch einmal belustigt auf, fuhr ihm durch das Haar und sagte freundlich:

»Sag nur ruhig Dr. Hanna zu mir, das tun hier eigentlich alle Kinder. Und ich bin daran gewöhnt. Und nun ab mit euch, damit Florians Bett umgestellt werden kann.«

Einträchtig gingen Jörg und Florian über den Flur. Und kaum waren sie in Jörgs Zimmer angekommen, als er auch schon einen buntbedruckten Schlafanzug aus dem Schrank holte und ihn Florian reichte.

»Hier, zieh den erst mal an. Wirst sehen, daß du dich dann gleich anders fühlst.«

Hanna Martens war sehr nachdenklich, als sie das Zimmer verließ, ohne daß die beiden Buben von ihr Notiz nahmen.

Es war wahrscheinlich gar nicht einmal die schlechteste Idee, die beiden zusammenzulegen. Vielleicht konnte der aufgeweckte Jörg ihnen allen weiterhelfen, wenn er erfahren konnte, was eigentlich mit Florian passiert war, das die nicht kontrollierbaren Schmerzen bei ihm ausgelöst haben könnte.

*

Grete Vollmers glaubte, nicht recht gehört zu haben, als man ihr sagte, daß Florian sich in der Kinderklinik Birkenhain befand.

»Was soll das?« fragte sie unwirsch in die Muschel des Telefons. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Mein Neffe ist in der Schule. Und als er von daheim fortging, fühlte er sich ausgezeichnet.«

Aber dann begriff sie, daß man ihr keinen Streich spielen wollte. Sie begriff, daß der Anruf tatsächlich von der Kinderklinik Birkenhain kam und man sie davon unterrichten wollte, daß Florian mit dem Krankenwagen eingeliefert worden sei.

»Geht es ihm sehr schlecht?« wollte sie sofort wissen, während sie spürte, daß alles in ihr sich dagegen wehrte, daß Florian nun krank und in der Kinderklinik war. Das war etwas, was sie sich absolut nicht vorstellen konnte. Sie wollte es sich auch nicht vorstellen, weil es ihren gewohnten Rhythmus völlig durcheinanderbrachte.

»Bis jetzt konnte leider noch nicht festgestellt werden, was er hat«, war denn auch die ehrliche Antwort, die Grete Vollmers, ohne daß sie es überhaupt wollte, in unerklärliche Angst versetzte.

»Sie können es mir ruhig sagen, wenn der Bengel etwas angestellt hat!« forderte sie kühl. Aber da bekam sie eine Antwort, die ihr ganz und gar nicht gefiel:

»Es sieht nicht so aus, als habe Florian etwas angestellt. Es ging ihm sehr schlecht, als man ihn herbrachte. Die genauen Untersuchungen stehen noch aus. Ich hatte nur den Auftrag, Sie zu benachrichtigen, Frau Vollmers, damit Sie nicht unnötig auf Florian warten und wissen, wo er sich befindet.«

»Ich danke Ihnen und komme selbstverständlich sofort zur Klinik Birkenhain hinaus. Florian braucht doch auch seine Sachen, falls er länger dortbleiben muß.«

Als sie den Hörer zurücklegte, schaute Grete Vollmers bewegungslos vor sich hin. Sie lauschte unwillkürlich in sich hinein. Aber alles, was sie empfand, war Ungeduld, ja, Ärger.

Jedermann, der sie ein wenig näher kannte, wußte, wie wenig sie es mochte, aus ihrem eingefahrenen Einerlei herausgerissen zu werden. Und das war noch sehr gelinde ausgedrückt. Sie mochte es nicht nur nicht – sie haßte es geradezu, wenn etwas Unvorhergesehenes eintrat und ihren Tagesablauf veränderte!

Sie hatte es sich wahrhaftig einfacher vorgestellt, mit einem mutterlosen Buben auszukommen und ihn zu erziehen und so zu formen, wie sie glaubte, daß er sein müßte.

Aber wenn sie es heute recht bedachte, mußte sie sich eingestehen, daß sie sich erheblich überfordert fühlte. Wahrscheinlich kam das auch daher, daß sie nicht an Florian herankam. Er ließ sie nur bis zu einer gewissen Grenze an sich herankommen – dann versperrte er sich gleichsam. Sie nannte es bockig und trotzig und hatte schon alles mögliche versucht, diese Sperre zu durchdringen, sie einfach gewaltsam niederzureißen. Aber das war ihr nicht gelungen. Florian hatte da so einen gewissen Blick, der einen zurückhielt, noch weiter zu gehen.

Ja, Grete Vollmers gab in dieser Minute vor sich selbst zu, daß sie versagt hatte. Ganz kläglich versagt bei der Erziehung eines kleinen Jungen, von dem sie nichts weiter erwartete, als daß er ihr stets dankbar war, weil sie ihr Leben auf ihn umgestellt hatte.

Daß sie in einem wunderschönen Häuschen wohnte, mietfrei natürlich, daß sie eine Menge Annehmlichkeiten genoß, nur weil sie eben da war für Florian, das bedachte sie nicht. So weit reichte ihre Einsicht bei ihr nicht. Und wer weiß – vielleicht hätte sich ihr Mann auch von ihr getrennt, wenn er nicht leider so früh verstorben wäre.

Grete hatte ihren verstorbenen Mann gegängelt und versucht, zu erzwingen, daß er so wurde, wie sie ihn haben wollte. Sie bedachte auch nicht, daß sie durch ihre beherrschende und keinen Widerspruch duldende Art dem armen Otto das Leben nicht gerade zu einem Paradies gemacht hatte. Wenn man ihr diese Vorhaltungen gemacht hätte – wer weiß – vielleicht hätte sie nur ablehnend erwidert, daß man auf Erden kein Paradies erwarten dürfe, wenn man nicht ganz erheblich enttäuscht werden wollte.

Grete atmete tief durch, ging nach oben in Florians Zimmer, in dem wie immer peinliche Ordnung herrschte, damit sie nichts auszusetzen fand, und packte einige Dinge für Florian zusammen.

Sie war fest davon überzeugt, daß er nicht lange in der Klinik bleiben mußte. Aber dann würde sie sich von ihm trennen müssen. Nein, sie wollte nicht länger die Verantwortung für den Jungen tragen. Jedermann mußte einsehen, daß das zuviel für sie war. Sie mochte und konnte nicht mehr mit Florian fertig werden und die Verantwortung tragen, daß einmal ein rechter und aufrechter Mensch aus ihm würde.

Und dann – wer würde ihr das denn danken? Hannes bestimmt nicht. Er überwies monatlich einen ansehnlichen Scheck, das mußte sie ihm zugestehen. Aber das war auch schon alles. Der Junge wußte ja schon gar nicht mehr, daß er einen Vater hatte. Und den brauchte er nun einmal, besonders in diesem Alter. Also – entweder holte Hannes den Bengel zu sich nach Brasilien – oder aber sie stellte den Antrag auf Heimerziehung, weil sie sich überfordert fühlte. Und das tat sie gründlich.

Vielleicht wäre alles anders gewesen, wenn Florian ihr eigenes Kind gewesen wäre – aber darüber dachte Grete nicht nach. Sie hatte damals, als Otto noch lebte, keine Kinder gewollt. Und heute, da sie Witwe war, wollte sie schon gar nicht mit einem Kind gesegnet oder belastet, je nachdem, sein. Sie hatte sich so sehr daran gewöhnt, allein zu bleiben, daß sie es beinahe als Beleidigung auffaßte, daß man von ihr erwartete, sich um Florian zu kümmern.

Aber das würde jetzt sehr bald ein Ende haben. Spätestens dann, wenn Florian aus der Klinik entlassen werden konnte. Und das würde ja nicht allzulange dauern. Wahrscheinlich wollte man ihn nur einige Tage zur Beobachtung behalten – und dann würde sie ihn in ein geeignetes Heim bringen. Es war besser für Florian und auch selbstverständlich für sie selbst.

Mit mißmutigem Gesicht stieg sie in den Wagen und fuhr langsam durch Ögela zur Kinderklinik Birkenhain.

Bisher hatte sie sich noch nicht für das wunderschöne Anwesen interessiert. Sie war ja auch noch niemals hiergewesen, weil sie nie einen Arzt benötigt hatte. Weder für sich selbst noch für Florian. Jetzt aber sah sie mit beinahe neugierigen Augen um sich. Und was sie sah, fand sie wunderschön. Das war ja ein großartiges Anwesen, stellte sie fest. Hier ließ es sich schon aushalten.

Sie parkte den Wagen und ging zum Eingang, meldete sich und gab sich als Florians Tante zu erkennen.

Hanna Martens, die gerade durch das große Foyer kam, hörte ihren Namen und wie sie nach Florian Beckhaus fragte. Sofort ging sie zu ihr und sah sie freundlich an.

»Sie sind Frau Vollmers, Florians Tante, nicht wahr?« begann sie die Unterhaltung und streckte Grete die schmale, aber doch erstaunlich kräftige Hand hin, die Grete stumm nahm. »Ich bin Dr. Hanna Martens. Meinem Bruder und mir gehört diese Kinderklinik.«

»Ein prachtvolles Anwesen«, gab Grete zu. Hanna beobachtete sie heimlich. Ihr Urteil über Grete stand von Anfang an fest. Sie wußte, daß sie einer Frau gegenüberstand, die mit nichts in ihrem Leben zufrieden war. Weder mit den Lebensumständen, mit Florian, mit dem schönen Haus, in dem sie kostenlos wohnen konnte – und wahrscheinlich mochte sie es auch nicht, daß man ihr die Betreuung ihres Neffen angelastet hatte, obwohl sie das eigentlich gar nicht wollte.

Hanna konnte nicht behaupten, daß Grete ihr von Anfang an unsympathisch war – aber sie spürte, daß sie einen Menschen vor sich hatte, der das Leben von einer anderen Seite sah als sie selbst. Grete Vollmers war keiner, der positiv zu denken vermochte. Sie war ein Mensch, der, wie man so treffend sagte, immer ein Haar in der Suppe finden würde, und wenn sie noch so lecker gekocht war.

Beinahe hätte sie über diesen Vergleich gelacht.

»Was also ist mit Florian?« ging Grete Vollmers gleich auf ihr Ziel los. »Hat er irgend etwas angestellt und versucht nun, sich hinter einer Krankheit zu verstecken, oder was ist mit ihm?«

Hanna ging mit ihr ins Sprechzimmer, bot ihr Platz an und ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder.

»Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen über Florian sagen soll. Es gibt noch keinen Befund. Wir haben keine organische Krankheit bei ihm feststellen können. Es müssen noch ein paar Untersuchungen gemacht werden, ehe wir mit Sicherheit sagen können, was ihm fehlt oder nicht.«

»Das kann ich Ihnen genau sagen. Irgend etwas ist da gewesen, wovor er sich nun fürchtet. Und weil er keine Schelte haben will, flüchtet er sich einfach in eine Krankheit hinein. Ziemlich raffiniertes Früchtchen, finden Sie nicht auch, Frau Doktor?«

»Nein, gar nicht. Kinder in Florians Alter können noch gar nicht raffiniert sein. Sie brauchen viel Liebe und Zeit und Zuwendung. Das ist entscheidend für ihre ganze Entwicklung, und auch für ihr späteres Leben.«

»Ich will Ihnen mal was sagen, Frau Doktor – wir sind auch nicht gerade in Watte gepackt worden von unseren Eltern. Und von uns kann niemand sagen, daß nichts aus uns geworden wäre. Nur schade, daß Hannes in Brasilien geblieben ist, und mir, als Erbe sozusagen, den Jungen hinterlassen hat.«

»Das ist natürlich sehr traurig für Sie und auch für den Buben, Frau Vollmers. Aber deshalb braucht er doch viel Liebe und Zuwendung.«

»Aber ich werde nicht mit ihm fertig. Ich schaffe das nicht. Er ist überdies auch nicht mein eigenes Kind. Und dann – ich spüre, daß er mich innerlich ablehnt. Das schafft auch nicht gerade Zufriedenheit und Gemütlichkeit, das kann ich Ihnen sagen.«

Hanna sah sie ernsthaft an.

»Haben Sie es denn mal mit Liebe versucht, Frau Vollmers? Bitte, nehmen Sie es mir nicht übel – aber Sie machen auf mich den Eindruck eines sehr kühlen Menschen.«

»Ist das denn ein Wunder in der heutigen Zeit? Ich bin schon früh Witwe geworden, Frau Doktor. Und dann, als ich mich von diesem schweren Schlag ein wenig erholt hatte, starb meine Schwägerin. Hannes, mein Bruder, flehte mich an, nach Ögela zu kommen und für ihn und Florian zu sorgen. Ich bin gekommen, weil das meine Pflicht war. Schließlich bin ich seine einige Schwester, nicht wahr? Aber wer konnte denn auch damit rechnen, daß Hannes auf einer Montagereise nach Brasilien eine Frau kennen- und liebenlernte? Wir haben von allem erst erfahren, als er schon geheiratet hatte. Wissen Sie, was ich glaube? Ich bin ganz sicher, daß Hannes nie wieder nach Deutschland zurückkommen wird, weil er sich fürchtet. Hier erinnert ihn alles an seine Frau. Drüben aber, in Brasilien, sind die Erinnerungen verwischt worden. Er ist sozusagen in ein ganz neues Leben gesprungen. Darin fühlt er sich wohl, das ist wie ein Schutzschild für ihn, den er niemals sprengen wird. Aber ich habe den Jungen nun am Hals.«

»Aber Florian ist wirklich ein ganz besonders lieber kleiner Kerl, finde ich.« Hanna fand die Art, wie Grete über ihren Neffen sprach, nicht besonders taktvoll.

»Ein ganz besonders lieber kleiner Kerl, sagen Sie? Da kennen Sie Florian aber schlecht. Er ist bockig und trotzig und hört einfach nicht auf mich, wenn er nicht will. Er kapselt sich regelrecht vor mir ab. Es ist mir unmöglich, ihm näherzukommen. Und am allerschlimmsten ist, daß ich dann auch noch Gewissensbisse bekomme. Ganz unnötige, wie ich ausdrücklich betonen möchte, denn schließlich habe ich alles Menschenmögliche versucht bei ihm. Deshalb bin ich auch fest entschlossen, Florian in ein Heim zu geben. Niemand kann von mir erwarten, daß ich mich ein Leben lang mit einem Kind belaste, mit dem ich trotz aller Bemühungen nicht fertig werden kann.«

»Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, daß Florian auch darunter leiden könnte, weil er mit Ihnen ebensowenig zurechtkommt wie Sie mit ihm?« fragte Hanna sanft. Aber damit kam sie bei Grete gerade recht. Sie fuhr hoch und warf Hanna einen geradezu mitleidigen Blick zu.

»Ich bin Florian doch völlig egal. Ich bin nur da, weil jemand für ihn kochen muß, weil jemand seine Sachen in Ordnung halten muß, weil er ganz einfach ein Zuhause haben muß wie alle anderen Kinder auch. Aber er ist außergewöhnlich schwierig und bockig. Nein, nein, sagen Sie nur nicht, daß er leidet. Das kann ich mir nicht vorstellen und auch nicht glauben. Florian ist verstockt und eigensinnig. Das ist alles. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft es mir schon in den Händen gejuckt hat. Eine ordentliche Tracht Prügel würde meiner Ansicht nach wahre Wunder bewirken. Aber mir glaubt man ja nicht.«

»Ich bin sehr froh und erleichtert, daß Sie Florian noch nicht geschlagen haben. Daß einem mal im ersten Zorn die Hand ausrutscht, dafür habe ich Verständnis, obwohl ich der Ansicht bin, daß man sich immer unter Kontrolle haben sollte, besonders Kindern gegenüber. Mit einer Tracht Prügel aber könnten Sie eine ganze Menge Schaden anrichten.«

»Das sind auch so moderne Ansichten, denen ich mich nicht anschließen kann, Frau Dr. Martens. Mein Bruder und ich haben früher von unserem Vater auch Prügel bezogen, und nicht zu wenig. Es heißt nicht von ungefähr, daß es Schade ist um jeden Schlag, der vorbeigeht.«

Wahrscheinlich bist du durch die Prügel, die du in deiner Kindheit bezogen hast, eine so unzufriedene Frau geworden. Und vielleicht ist dein Bruder fortgeblieben, weil er früher zuviel Prügel von eurem Vater bezogen hat, dachte Hanna, aber das sprach sie nicht aus. Das waren Dinge, die sie nichts angingen, mit denen sie sich auch nicht belasten wollte. Außerdem wußte sie, daß es keinen Zweck hatte, jetzt mit Grete darüber zu diskutieren.

»Wir haben Florian zu Jörg Markmann aufs Zimmer gelegt. Ich glaube, das ist eine ganz besonders gute Lösung. Sie kennen und sie mögen sich.«

»Ach, das ist doch der Sohn von diesem – Strafvollzugsbeamten – so nennt man das ja wohl heutzutage. Er ist ein Gefängnisaufseher, wie es früher immer hieß. Und das sieht man ihm meiner Ansicht nach überdeutlich an. Dem traut man ohne weiteres zu, daß er eine eventuelle Gefängnisrevolte ganz allein niederschlagen könnte.«

»Herr Markmann ist ein ganz besonders besorgter Vater und ein liebevoller noch dazu«, widersprach Hanna, und diesmal klang ihre Stimme ein wenig schärfer als gewöhnlich. Aber das schien absolut keinen Eindruck auf Grete Vollmers zu machen.

Sie stand auf und strich sich über den mausgrauen Rock, den sie zu einem dunkelgrünen Blazer mit Goldknöpfen trug.

»Ich weiß nicht, ob es eine besonders glückliche Lösung war, Florian zu diesem Jörg zu legen. Das Kind eines Gefangenenwärters kann unmöglich der richtige Umgang für Florian sein.«

»Da muß ich Ihnen entschieden widersprechen, Frau Vollmers. Jörg und Florian sind ein Herz und eine Seele, wie man so schön sagt.«

»Warten Sie’s nur ab, Frau Doktor! Wenn das Ei platzt, dann fängt es aber ganz gewaltig an zu stinken. Aber das ist dann nicht mehr meine Sache. Florian muß in ein Heim, damit er Zucht und Ordnung lernt und auch, sich in die Gemeinschaft einzufügen.«

Hanna öffnete die Tür und ließ Grete Vollmers an sich vorübergehen. Mordgelüste entstanden in ihr. Sie hätte Grete Vollmers nur zu gern den Hals umgedreht…

*

Florian und Jörg saßen in ihrem Zimmer beisammen und spielten mit Domino-Steinen, als Hanna mit Grete Vollmers eintrat. Florians Gesicht, eben noch fröhlich und unbeschwert, verschloß sich augenblicklich. Der Wechsel auf seinem Gesicht war so offensichtlich, daß auch Hanna erstaunt aufschaute. Aber sie sagte nichts, hielt sich zurück und beschränkte sich aufs Beobachten.

Grete reichte Florian die Hand, die er nur zögernd und ganz offensichtlich auch recht widerstrebend nahm und sofort wieder losließ.

»Ich habe gehört, daß es dir schlecht geht, Florian«, sagte Grete Vollmers kühl und zurückhaltend. »Aber ich sehe, daß es dir so schlecht gar nicht gehen kann, denn du spielst doch schon wieder, hm?«

»Aber es ging ihm pottschlecht«, verteidigte Jörg den Freund. »Ich habe gesehen, wie sie ihn gebracht haben. Und da war er ganz weiß im Gesicht.«

Grete sah ablehnend auf Jörg, der sie wütend anschaute.

»Du, mein Sohn, hältst dich gefälligst da raus, verstanden? Kinder sollen sich nicht in Dinge einmischen, von denen sie keine Ahnung haben.«

Jörg starrte Grete Vollmers erst perplex an. Und dann lachte er los. Er lachte so sehr, daß er einen ganz roten Kopf bekam und aus dem Zimmer rannte. Man hörte ihn noch auf dem Flur lachen.

Grete Vollmers warf erst Florian, dann Hanna einen ablehnenden Blick zu. Und dann sprach sie aus, was sie von Jörgs Benehmen hielt.

»Ich habe Ihnen doch gleich gesagt, daß Jörg für Florian nicht der richtige Umgang ist.«

»Ich glaube nicht, daß das hier zur Debatte steht. Wir wollen für unsere kleinen Patienten nur das Beste, Frau Vollmers. Und da Florian und Jörg sich gut miteinander verstehen und sich sehr mögen, war es richtig, sie auf ein Zimmer zu legen.«

»Und wenn ich das nicht will? Ich meine, ich bin schließlich die Tante, die für ihn sorgt. Ich finde, er sollte entweder mit anderen Kindern zusammen sein oder aber ein Einzelzimmer bekommen. Da könnte er sich dann gleich auch überlegen, ob es nicht vorteilhafter ist, wenn er ganz schnell wieder gesund wird. Für mich ist er übrigens nicht krank, denn ich habe doch selbst erlebt, daß er eben mit Jörg lachte. Am liebsten würde ich ihn gleich wieder mit heimnehmen und ihm sagen, was ich davon halte, wenn man einem eine Krankheit nur vorspielt.«

»Aber das habe ich nicht, Tante Grete, wirklich nicht«, beteuerte Florian. Er tat Hanna plötzlich leid, weil sie spürte, wie er seine Tante ablehnte und sich doch bemühte, es ihr nicht zu zeigen. Der Junge mußte unter Dauerstreß stehen. Deshalb strich sie ihm schnell über den Kopf und sagte beruhigend:

»Das glaube ich dir auch, Florian. Deine Tante meint nur, weil sie nichts sieht, das dich krank machen könnte, daß es nicht so schlimm sein kann.«

»Dann – dann brauche ich nicht nach Hause?« fragte Florian leise und warf Hanna einen flehenden Blick zu. Sie lachte und schüttelte den Kopf.

»Aber natürlich nicht. Jedenfalls nicht, bevor wir festgestellt haben, was diese Schmerzanfälle bei dir ausgelöst hat.«

»Na ja, dann will ich mal wieder gehen. Sieht ja so aus, als sei ich dir sowieso nicht willkommen, Florian. Bevor ich gehe, möchte ich dir aber noch sagen, daß ich die Leute vorn Jugendamt bitten werde, sich nach einem geeigneten Heim für dich umzusehen. Ich glaube, du brauchst eine ganz andere Erziehung als die, die ich mir vorgestellt habe, als ich nach Ögela kam.«

Sie drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Krankenzimmer, ohne sich von Hanna zu verabschieden. Florian sah Hanna still an. Und sie nahm ihn einfach in ihre Arme, weil das Leid, das in den Augen des Jungen stand, sie rührte.

»Ich habe schreckliche Angst vor dem Heim, Dr. Hanna«, flüsterte Florian. Man merkte, daß er sich sehr zusammennehmen mußte, um nicht in Tränen auszubrechen.

»So einfach kann man heutzutage auch kein Kind in ein Heim stecken, Florian.« Hanna drückte ihn fest an sich. »Heute hört man auch die Kinder dazu. Und dann kannst du sagen, was du möchtest. Aber an deiner Stelle würde ich mir keine allzu großen Sorgen machen.«

»Tut mir leid, ich mache mir aber Sorgen. Niemand hat mich lieb, Dr. Hanna. Seit Mami tat ist, war es nicht mehr schön bei uns daheim. Zuerst war Vati wenigstens noch da. Aber er war auch sehr traurig. Aber dann ist er nach Brasilien gegangen und hat eine neue Frau kennengelernt. Er hat ein kleines Mädchen. Aber mich, der ich doch zuerst dagewesen bin, hat er vergessen.«

»Florian, mein Kleiner, ich…« Hanna brach ab, weil sie nicht weiterwußte. Was sagt man einem Kind, das offensichtlich so sehr leidet und nicht weiß, wie es dieses Leid, das Einfluß auf sein ganzes Leben hat, überwinden soll? Sie war zornig und traurig zugleich. Warum denken die Erwachsenen immer nur an sich und nicht daran, was sie bei den Kindern anrichten, die sie nicht einmal zu verstehen versuchen? fragte sie sich erbittert. »Schau, Florian, manchmal tut man Kinder gar nicht ins Heim, sondern sucht so schnell wie möglich liebe, nette Pflegeeltern, zu denen man sie geben kann.«

»Pflegeeltern?« Florian sah Hanna verständnislos an. Es war ganz offensichtlich, daß er sich unter der Bezeichnung »Pflegeeltern« ganz und gar nichts vorstellen konnte.

Hanna sah ihn freundlich an und erklärte:

»Meistens handelt es sich dabei um Eltern, die keine Kinder bekommen können oder schon ein oder zwei Kinder haben und noch einem weiteren Kind eine liebevolle Heimat geben wollen.«

»Ach, wer will mich schon haben?« fragte Florian und machte einen so mutlosen Eindruck, daß Hanna ihn noch einmal fest an sich drücken mußte.

»Sei nicht so mutlos, mein Kleiner«, versuchte sie zu trösten. »Es wird auch für dich alles gut werden.«

»Muß ich bald wieder nach Hause? Sie will mich doch fortbringen, sobald ich wieder daheim bin.« Florians Lippen zitterten. Hanna schüttelte energisch den Kopf. Andere können es nicht erwarten, die Klinik verlassen zu können. Und dieses Kind hat buchstäblich Angst davor, nicht mehr hier liegen zu dürfen, dachte sie voller Zorn.

Deshalb schüttelte sie energisch den Kopf und sagte bestimmt:

»So schnell wird das alles nicht gehen, Florian. Zunächst einmal müssen wir doch die Untersuchungen abschließen, nicht wahr? Und da sind wir hier sehr genau, mußt du wissen. Das dauert schon seine Zeit. Kümmere dich also nicht weiter darum, sondern sei froh, daß Jörg bei dir liegt, mit dem du dich so gut verstehst.«

»Jörg hat Eltern, die ihn mögen. Ich habe niemanden, Dr. Hanna.«

»Doch«, widersprach sie ernsthaft und sah ihn entschlossen an. »Mich hast du auf jeden Fall, Florian. Auch, wenn du nicht mehr in der Klinik sein mußt, habe ich dennoch immer für dich Zeit. Das solltest du dir merken. Natürlich kann es vorkommen, daß ich gerade dann, wenn du mit mir reden willst, operieren muß oder sonstwie anderweitig beschäftigt bin. Aber du solltest dir darüber klar sein, daß ich dein Freund bin, der sich um dich kümmert, ganz gleich, was auch geschehen mag. Willst du mir versprechen, das nicht zu vergessen, Florian?«

Der Junge nickte. Man konnte ihm anmerken, daß er sich unendlich getröstet fühlte. Unsicher sah er Hanna an. Und dann fügte sie spontan hinzu:

»Du brauchst mich auch nicht, wie es die Kinder hier tun, Dr. Hanna zu nennen. Wenn du magst, kannst du Tante Hanna zu mir sagen. Dann weißt du immer, daß du Vertrauen zu mir haben kannst, einverstanden?«

Da legte Florian seine dünnen Arme um sie und preßte sich ganz fest an sie.

»Jetzt fühle ich mich schon sehr viel besser, Tante Hanna«, sagte er leise und sah sie mit Augen an, in die jetzt ein schüchternes Strahlen getreten war. Man merkte dem Jungen an, daß er neue Hoffnung bekommen hatte. Und als Hanna sich erhob, weil sie noch zu ihren anderen kleinen Patienten mußte, wußte sie, daß er neuen Lebensmut bekommen hatte. Sie nahm sich vor, ein offenes Wort mit Grete Vollmers zu sprechen, wenn sie es überhaupt der Mühe wert erachtete, noch einmal in die Klinik zu kommen, um ihren Neffen zu besuchen.

*

Als Jörg, der gesehen hatte, daß Grete Vollmers die Klinik Birkenhain wieder verließ, in das gemeinsame Zimmer zurückkehrte, war er fest entschlossen, Florian ausdrücklich seiner Freundschaft zu versichern und ihm vorzuschlagen, tagsüber einfach zu ihm nach Hause zu kommen. Dann brauchte er nur zum Schlafengehen zu seiner Tante zurück.

Aber Jörg kam gar nicht dazu, seinem Freund diesen Vorschlag zu machen. Florian lag im Bett und krümmte sich vor Schmerzen, die ganz schrecklich sein mußten, weil er ein so gequältes Gesicht machte. Jörg wußte im ersten Augenblick nicht, was er tun sollte, Florian zu helfen. Aber dann drückte er entschlossen auf die Klingel und atmete auf, als Schwester Tina, die heute Dienst hatte, kam.

»Sehen Sie nur«, stieß Jörg aufgeregt hervor. »Dem Florian geht es sehr schlecht. Können Sie nicht etwas für ihn tun?«

»Aber sicher kann ich das.« Schwester Tina verließ sofort das Zimmer und holte Hanna Martens, die Florian die Hand auf den Kopf legte und ruhig sagte:

»Das habe ich kommen sehen. Nur ruhig, Florian, ganz ruhig. Verkrampfe dich nicht. Ich mache dir jetzt eine Injektion, die dir die Schmerzen nimmt. Und dann denkst du nur noch an das, was wir beide miteinander besprochen haben, ja? Du wirst sehen, daß die Schmerzen dann ganz bald verschwinden.«

Florians Antwort bestand nur in einem Stöhnen, dem man anhören konnte, daß die Schmerzen schier unerträglich für ihn waren. Hanna spritzte ein krampflösendes Mittel. Und da dauerte es auch gar nicht lange, bis Florians Gesicht wieder ganz normal wirkte. Er seufzte einmal tief auf und stieß dann angstvoll hervor:

»Diesmal war es so schlimm, daß ich Angst hatte, ich müßte vor Schmerzen sterben.«

»So schnell stirbt es sich nicht, mein Kleiner. Ich freue mich, daß es dir wieder bessergeht. Denk an das, was wir beide heute miteinander besprochen haben, ja? Dann werden die Schmerzen so schnell nicht mehr wiederkommen.«

»Ich denke sehr gern an das, was wir miteinander besprochen haben. Das weißt du doch. Aber gegen die Schmerzen kann ich nichts tun.«

»Doch, das kannst du. Das werde ich dir zeigen, wenn wir uns das nächste Mal wieder miteinander unterhalten. Jetzt aber gibt es keinen Grund für deine Schmerzen, Florian. Ich werde dafür sorgen, daß der Grund für deine Schmerzen nicht mehr in die Klinik kommt, wenigstens vorerst nicht, jedenfalls so lange nicht, bis du so weit bist, nicht mehr so zu reagieren.«

»Dann möchte ich, daß Tante Grete gar nicht mehr kommt. Sie kommt ja auch nur her, weil die Leute sonst reden könnten und nicht, weil sie mich mag und mich sehen will.«

»Denke einfach an hübsche Dinge, Florian. Das sollte dir doch nicht schwerfallen, oder?«

Dann wandte sich Hanna an Jörg, der ängstlich dastand und nicht wußte, wie er sich verhalten sollte. Hanna sah ihn freundlich und anerkennend an.

»Es war richtig, daß du mich sofort hast rufen lassen, Jörg. Du bist ein sehr verständiger Junge, und ich bin sehr stolz auf dich.«

Jörg und Florian sahen einander verständnisinnig an, als Hanna das Zimmer verlassen hatte. Dann wollte Jörg wissen:

»Kann es sein, daß du Bauchweh bekommen hast, weil deine Tante hier und nicht nett zu dir war?«

»Das hört sich vielleicht merkwürdig an, aber es ist so. Tante Hanna weiß das auch.«

»Tante Hanna?«

»Ja, darf ich zu ihr sagen, weil ich doch sonst niemanden habe. Sie ist mein Freund. Hat sie ausdrücklich erklärt.«

»Das finde ich prima. Ihr kann man alles anvertrauen. Worum ging es denn diesmal?« fragte Jörg und setzte verlegen hinzu: »Oder darf ich das nicht fragen?«

»Klar darfst du! Tante Grete will mich in ein Heim geben, hat sie gesagt. Und Tante Hanna meinte, so schnell geht das nicht. Sie sagte, vielleicht findet sie Pflegeeltern für mich. Das sind Leute, die mich zu sich nehmen und auch sehr lieb zu mir sein wollen.«

»Aber das ist doch pfundig. Dann kommst du doch von deiner Tante Grete weg. Aber was wird dann aus unserer Freundschaft? Ich meine, wenn du keine Pflegeeltern findest, die in Ögela wohnen?«

»Ach, deswegen mache ich mir jetzt erst mal keine Sorgen. Tante Hanna wird schon dafür sorgen, daß alles in Ordnung kommt. Mit meinem Vati kann ich sowieso nicht rechnen. Ich kenne ihn wahrscheinlich kaum noch. Und er – nun, er schickt nur Geld für mich, aber sonst hat er mich ganz vergessen. Und Tante Grete will mich nicht mehr.«

»Ich glaube, daß es nur gut ist, wenn du auf Dr. Hanna hörst. Du brauchst nur zu tun, was sie sagt. Sie weiß alles und findet auch immer für alles eine Lösung.« Jörg sagte es im Brustton der Überzeugung und ließ sich nicht anmerken, daß er eine Idee hatte, die ihn faszinierte, über die er aber noch nicht sprechen mochte – eben, weil es nur eine Idee war. Er mußte ganz allein für sich ausgiebig darüber nachdenken. Dann konnte man weitersehen.

Als Thea und Achim Markmann am nächsten Tag kamen, ihren Sohn zu besuchen, hörten sie von Schwester Tina, daß Jörg und Florian im Klinikgarten seien.

»Die beiden heißen bei uns die siamesischen Zwillinge, weil sie unzertrennlich sind. Sie stecken ewig zusammen. Na, dem kleinen Florian kann man es nur gönnen, denn er ist ohne Jörg doch sehr einsam. Man sollte annehmen, er hat nur Jörg, dem er vertraut. Das ist doch sehr schade, finden Sie nicht?«

Während sie in den Klinikgarten gingen, sah Thea ihren großen, starken Achim von der Seite her an und sagte verhalten:

»Ich weiß nicht, woher es kommt – aber diese Frau Vollmers, die Beckhaus sich geholt hat, nachdem seine Frau gestorben war, habe ich noch nie leiden können. Sie ist eiskalt bis in die Fingerspitzen, so daß man immer das Gefühl hat, man erfriert in ihrer Nähe. Wieviel schlimmer ist es da für einen kleinen Jungen, der nicht begreifen kann, daß er nach der Mutter nun auch noch den Vater hat hergeben müssen. Er weiß doch, daß er eine neue Frau genommen und auch ein Töchterchen hat. Es muß grausam für den armen Florian sein.«

Achim Markmann fand das auch. Er war sehr nachdenklich, als er neben seiner Thea den breiten Kiesweg entlangging.

Sie sahen Jörg und Florian einträchtig nebeneinander auf einer Bank sitzen. Sie schienen ein ernsthaftes Gespräch miteinander zu führen, das die beiden Erwachsenen nicht einfach durch ihr Erscheinen unterbrechen mochten. Sie wußten als liebevolle Eltern, daß auch Kinder Gespräche führten, die sehr wichtig waren. Und so schlichen sie sich denn lächelnd ganz leise von hinten an.

Sie hätten sich gar nicht so große Mühe geben müssen, denn weder Jörg noch Florian achteten auf ihre Umgebung.

Unwillkürlich blieben Thea und Achim hinter einem alten, dicken Baum stehen. Es fiel ihnen gar nicht auf, daß sie das taten, was sie ihrem Jungen immer wieder als verabscheuungswürdig beschrieben – sie lauschten schlicht und einfach.

Und so hörten sie Florian eben zu seinem Freund sagen:

»Du hast es gut. Du hast prima Eltern, die dich lieben.«

»Ich liebe sie ja auch«, sagte Jörg zufrieden. Florian sah vor sich hin und malte mit der Schuhspitze Figuren auf den Boden. Dann erklärte er:

»Dein Vater ist in meinen Augen ganz besonders große Klasse. So stelle ich mir die Helden vor, so wie er ist. Wenn ich groß bin, möchte ich werden wie dein Vater.«

Thea Markmann sah ihren Mann von der Seite her an und lächelte. Achim Markmann schien noch gewachsen zu sein, obwohl er doch schon wirklich groß genug war. Seine Brust schien sich zu dehnen vor Stolz, weil ein kleiner Junge ihn, Achim Markmann, als Vorbild betrachtete.

»Vati und ich werden einen Hasenstall bauen, wenn ich wieder heim darf. Warum kommst du uns nicht öfter besuchen? Dann brauchst du doch nicht mit deiner Tante zusammen zu sein. Und dann wären wir beide doch wenigstens öfter zusammen. Ich mag dich nämlich sehr gern.«

»Ich dich doch auch. Aber ich fürchte, es wird nichts draus, daß ich euch öfter besuchen kann, obwohl ich mir nichts Schöneres wünschen könnte als das. Aber Tante Grete würde das verbieten.«

»Warum sollte sie? Sie könnte doch froh sein, dich los zu sein, Florian, denn dann würdest du sie nicht stören. Und Mami und Vati störst du ganz bestimmt nicht, denn sie sind beide ganz große Klasse. Aber das weißt du ja schon.«

»Tante Grete wäre schon froh, wenn ich zu euch ginge, aber dann würde sie denken, sie müßte dich auch einmal zu uns lassen. Und das wäre nicht sehr gemütlich, das kann ich dir jetzt schon sagen. Sie würde ständig hinter uns her sein, wahrscheinlich mit einem Staublappen in der Hand oder so was. Na, und daß das nicht sehr gemütlich wäre, kannst du dir an allen zehn Fingern abzählen, oder?«

Florian ließ den Kopf hängen. Und auch Jörg schien mit seinem Latein am Ende zu sein. Aber dann hob er den Kopf und gab seinem Freund einen kameradschaftlichen Rippenstoß.

»Na, nun laß man den Kopf

nicht gleich hängen. Es fällt uns schon noch eine Lösung ein. Wir haben ja noch ein bißchen Zeit,

was?«

Sie sprangen auf und schlenderten davon. Thea wollte sich bemerkbar machen, aber da hielt ihr Mann sie am Arm zurück, führte sie zu der Bank, auf der soeben noch die beiden Buben gesessen hatten und zog sie nieder. Er sah sie aufmerksam an.

»Achim Markmann, schau mich nicht so an!« befahl sie und lachte leise, als sie hinzufügte: »Ich wette, um was du willst, daß ich deine Gedanken ganz genau kenne.«

»Na? Was denke ich?« fragte er in herausforderndem Ton, denn er fand sich selbst ziemlich vermessen, je länger er darüber nachdachte. Aber der Gedanke hatte sich so in ihm festgesetzt, daß er ihn immer schöner fand.

»Du denkst darüber nach, wie du es mir schmackhaft machen kannst«, kam spontan Theas Antwort.

»Was sollte ich dir schmackhaft machen wollen?« fragte er mit unschuldsvoller Miene.

»Halt mich nicht für so naiv, Achim. Du denkst daran, Florian zu uns zu nehmen, und du weißt nur noch nicht, wie du es mir beibringen sollst.«

»Alle Achtung, mein Liebes. Du kannst wirklich Gedanken lesen. Wie machst du das nur?«

»Ich liebe dich, das ist es. Ich liebe dich und kann mich ganz auf dich einstellen. Und so kann ich auch fühlen, was du denkst.«

»Und?« wollte er wissen. »Was hältst du davon?«

»Ich halte es für eine gute Idee, in mehr als einer Hinsicht.« Thea war auch nachdenklich und ernst geworden und sah Achim offen an. »Wir können uns ruhig darüber unterhalten, Achim. Es tut nicht mehr weh, wenn es ausgesprochen wird. Ich kann keine Kinder mehr bekommen nach Jörgs Geburt. Ich habe eine Weile sehr darunter gelitten. Aber dann habe ich mich damit abgefunden und es endlich überwunden. Nun aber hätten wir die Gelegenheit, noch ein Kind aufzuziehen, es liebzuhaben und dabeizusein, wie es sich zu einem zufriedenen und vielleicht sogar glücklichen Menschen entwickelt.«

Er sah sie ernsthaft an. Dann legte er einen Arm um ihre Schultern und zog sie fest an sich.

»Ist es nicht wunderbar, daß wir beide stets einer Meinung sind?« fragte er und zog sie zärtlich an sich.

Sie lachte ihn an und schüttelte den Kopf. Dann machte sie ein strenges Gesicht und sagte mit vorwurfsvoller Miene:

»Als du aber mit deiner Dienstpistole herumfuchteltest, als das mit Jörg passierte, da war ich ganz und gar nicht deiner Meinung.«

»Das ist auch ganz normal, denn heute kann ich mich ja selbst nicht mehr begreifen. Ich hätte nie gedacht, daß ich zu so was fähig sein könnte. Aber es ist nun einmal geschehen. Ich kann als Entschuldigung nur angeben, daß ich vor Angst um Jörg einfach ausgeflippt bin.«

»Und kein Mensch macht dir das mehr zum Vorwurf, denn wenn es so wäre, hätte man dich schon längst angezeigt. Immerhin warst du doch eine richtige Bedrohung, nicht wahr?«

»Laß uns nicht mehr darüber reden, Thea. Ich schäme mich sonst noch zu Tode.«

»Unsinn. Ich schlage vor, wir suchen Frau Dr. Martens auf und reden mit ihr. Schließlich haben wir ja gehört, daß Florian ganz sicher mit allem einverstanden sein würde.

Na – komm schon, alter Brummbär.«

»Eigentlich wollten wir doch Jörg besuchen«, wandte er ein. Aber Thea blieb hartnäckig. Sie zupfte ihn am Ärmel und sagte überredend:

»Du hast dich doch selbst davon überzeugen können, daß weder Jörg noch Florian uns vermissen, wenn wir mal nicht pünktlich bei ihnen sind. Schließlich verspäten wir uns ja, weil wir an ihr Wohl und an ihre Zukunft denken, oder?«

Das war ein Argument, fand Achim Markmann. Und so überwand er dann seine Scheu, die er immer noch vor Hanna empfand, und ging mit Thea zum Klinikgebäude zurück und überließ es Thea, nach Dr. Hanna Martens zu fragen.

Es dauerte auch gar nicht lange, bis sie endlich in Hannas Sprechzimmer vor ihrem Schreibtisch saßen. Hanna sah sie freundlich an und sagte sofort:

»Wenn Sie sich doch noch Sorgen um Ihren kleinen Sohn machen – ich kann Sie beruhigen. Er wird noch ein bißchen üben müssen, bis die Hand wieder voll beweglich und einsatzfähig ist. Aber das ist nur ein kleines Übel, das er sehr schnell vergessen hat.«

»Eigentlich sind wir wegen Florian hergekommen, Frau Dr. Martens.« Thea sah Hanna bittend an und berichtete, daß sie und ihr Mann Jörg und Florian belauscht hatten.

»Wir sind beide der Meinung, daß wir da etwas tun sollten«, schloß sie. Hanna schwieg eine ganze Weile und sagte dann bedächtig:

»Ich finde es großartig, daß Sie beide sich wegen Florian Gedanken machen. Meiner Ansicht nach wäre das eine hervorragende Lösung für den armen kleinen Kerl, der vor lauter innerer Einsamkeit krank geworden ist. Aber ich muß Sie auch darauf hinweisen, daß es nicht nur sonnige Tage gibt. Doch das wissen Sie sowieso, denn Sie haben ja Ihren Jörg.«

»Sie könnten wie Brüder miteinander aufwachsen. Wir würden Florian all unsere Liebe geben.«

»Wenn Sie wirklich entschlossen sind, Florian zu helfen, werde ich mich darum kümmern«, versprach Hanna endlich. »Ich muß erst mit meinem Bruder darüber sprechen. Und dann müssen wir uns ans Jugendamt und Vormundschaftsgericht wenden. Es wird eine Menge Formalitäten geben, die alle erledigt werden müssen.«

»Das geht schon in Ordnung«, sagte Achim Markmann in seiner bedächtigen Art. Plötzlich hatte er alle Hemmungen verloren, die ihm sonst zu schaffen machten. Er fand, daß Hanna sich ihm gegenüber einfach großartig verhielt. Nicht mit einem Wort, nicht mit einer einzigen Silbe, erwähnte sie sein Benehmen ihr gegenüber. Er nahm sich vor, mit ihr über alles zu reden, wenn er erst innerlich zur Ruhe gekommen war. Das bedeutete, er würde zu Hanna gehen, wenn er seinen Jungen wieder daheim hatte und wußte, daß alles in Ordnung kam.

»Ich werde mich darum kümmern, so schnell wie möglich. Aber ich glaube, ich kann Ihnen jetzt schon sagen, daß Florian nicht ins Heim muß. Es ist ja heutzutage gottlob so, daß man nicht einfach über die Kinder bestimmt, wenn sie schon im denkfähigen Alter sind. Und das ist Florian, denn er geht schließlich zur Schule und ist, wie Jörg mir erzählte, sogar ein ausgezeichneter Schüler. Machen Sie sich also keine Sorgen. Ich glaube schon, daß man Ihnen Florian anvertrauen wird.«

»Fein.« Thea Markmann strahlte Hanna an und sagte erleichtert: »Sie haben keine Ahnung, wie traurig es sich anhörte, als Florian mit unserem Jörg sprach. Man muß kein besonders weiches Herz haben, wenn man offen zugibt, daß es einen angerührt hat.« Sie erhob sich und reichte Hanna die Hand. Achim stand neben seiner Frau. Er wirkte wie ein Fels in der Brandung, ehrlich, zuverlässig und grundanständig. Hanna lachte ihn an und sagte aufmunternd:

»Na, warten wir es ab, Herr Markmann. Wenn Florian von seinem Vater zur Adoption freigegeben worden wäre, wäre das eine ungleich schwierigere Angelegenheit. Es geht aber nur um eine Pflegestelle. Ich bin ganz sicher, daß man Ihnen Florian anvertrauen wird, wenn mein Bruder und ich ausdrücklich betonen, daß das wirklich nur zu Florians Wohl sein wird.«

»Danke!« stieß Achim Markmann heiser hervor und stammelte dann: »Es ist nämlich so… ich mein, ich sollte mit Ihnen reden und Ihnen erklären, wie ich…« Er hatte sich plötzlich restlos verheddert und sah sie an wie ein Kind, das sich große Mühe gegeben hat, ein Gedicht auswendig zu lernen und es nun, da es das Gelernte vortragen sollte, völlig vergessen hatte.

»Ist schon gut, Herr Markmann«, sagte Hanna und sah ihn offen an. Dann legte sie ihm freundschaftlich die Hand auf den Ärmel. »Ich weiß schon, was Sie sagen wollten. Es ist schon gut. Ich finde es großartig, daß Sie sich auch noch Sorgen um Florian Beckhaus machen. Schließlich hat das niemand von Ihnen beiden erwartet oder gar verlangt. Sie können sicher sein, daß wir, mein Bruder und ich, alles tun werden, damit diese Angelegenheit so schnell wie möglich erledigt werden kann.«

Thea und Achim Markmann waren mehr als zufrieden, als sie Hannas Sprechzimmer verließen und nach oben gingen, um nachzusehen, ob Jörg und Florian mittlerweile auf ihr Zimmer zurückgekehrt waren.

*

Drei Tage später kam Grete Vollmers noch einmal in die Klinik. Diesmal hatte sie saubere Wäsche für Florian und auch noch seine Schulbücher bei sich. Sie räumte die Wäsche in den Schrank und sagte dabei:

»Wenn du schon nutzlos herumliegst, kannst du meiner Meinung nach auch mal einen Blick in deine Lehrbücher werfen. Schaden würde dir das jedenfalls nicht.«

»Danke, daß du daran gedacht hast«, sagte Florian höflich. Man sah ihm an, daß er sich in der Gegenwart seiner Tante bedrückt und irgendwie schuldbewußt fühlte.

Grete blieb nicht lange. Sie erklärte, daß sie noch eine Unmenge zu tun habe, und ging nach kurzem Abschied wieder. Jörg hatte sie gar nicht beachtet. Sie fand es sowieso nicht richtig, daß man Florian auf das Zimmer gelegt hatte, in dem Jörg untergebracht war.

Florian atmete erleichtert auf, als Grete endlich wieder gegangen war. Und prompt hatte er eine halbe Stunde später wieder einen Schmerzanfall. Schwester Dorte, die heute Dienst auf der Station hatte, rief sofort Hanna, die wenig später vor Florians Bett stand und ihn mitleidig ansah.

»Es tut so weh, Tante Hanna!« sagte Florian und keuchte vor Schmerzen.

»Ich weiß, mein Kleiner«, sagte Hanna ruhig und zog schon die Injektionsspritze auf. »Du brauchst mir nichts zu sagen.«

Jörg war zurückgetreten und sah zu, wie man seinem Freund die Injektion machte. Beinahe in dem gleichen Augenblick, in dem Hanna die Nadel aus Florians Armvene zog, entspannte sich sein vor Schmerz verkrampftes Gesicht. Er sah Hanna an und brachte schon wieder ein etwas schiefes Lächeln zustande.

»Ich dachte, die Schmerzen würden nicht mehr wiederkommen, weil ich doch ein paar Tage Ruhe hatte.«

Plötzlich meldete sich Jörg zu Wort. Es war ihm beinahe, als habe er soeben eine Erleuchtung gehabt. Er stand da und sah auf seinen Freund hinab. Und dann sprach er das aus, was ihm durch den Kopf ging.

»Ich glaube, ich weiß, warum Florian immer Bauchweh hat.«

Hanna wandte sich zu ihm und sah ihn antwortheischend an. Jörg wurde sehr rot und verlegen und sagte tapfer:

»Florian will eine richtige Familie, Dr. Hanna.«

Hanna nickte ihm zu und zog ihn ein wenig näher zu sich heran. Dann sagte sie freundlich:

»Ja, das glaube ich auch. Florian braucht eine richtige Familie. Die braucht jeder Mensch, wenn er glücklich und zufrieden sein soll.«

»Und er hat jedesmal Bauchweh, wenn seine Tante Grete hiergewesen ist«, stellte Jörg fest.

»War sie denn heute auch hier?« wollte Hanna wissen. Florian nickte nur, und Jörg sagte erbittert:

»Sie hat ihm nicht mal ein paar Bonbons mitgebracht oder eine Tafel Schokolade. Aber seine Schulbücher, die hat sie ihm mitgebracht und dazu gesagt, er soll lernen, wenn er schon nutzlos hier herumliegt.«

Man hörte Jörg deutlich an, wie zornig er auf Grete Vollmers war. Hanna äußerte sich nicht dazu, obwohl sie eigentlich das gleiche empfand wie der Junge. Sie strich Jörg über das Haar und klopfte Florians Hand. Dabei sagte sie tröstend:

»Sollst mal sehen, Florian, das kriegen wir schon wieder hin.« Der Junge sah zu ihr hoch und nickte. Man sah ihm an, daß er jedes Wort glaubte, das Hanna ihm sagte.

»Das glaube ich auch, Tante Hanna«, sagte er mit rührender Tapferkeit und fügte noch ehrlich hinzu:

»Wenn ich noch ein Weilchen hierbleiben darf, mit Jörg zusammen, werde ich mich ganz sicher wieder besser fühlen.«

»Nun, wenn es weiter nichts ist – das kann man doch einrichten, meinst du nicht auch?« Damit ging sie schnell aus dem Zimmer.

Als sie Kays Sprechzimmer betrat, fand sie Dr. Klaus Mettner bei ihm. Die beiden Herren unterhielten sich lebhaft miteinander. Kay sah seine Schwester an und sagte einladend:

»Komm, setz dich zu uns. Wir unterhalten uns ausgezeichnet miteinander.«

»Nun, dann kann ich auch noch etwas zu eurer Unterhaltung beitragen.« Hanna setzte sich und sah ihren Bruder ernst an. »Ich komme gerade eben von unserem Sorgenkind Florian. Ich glaube, nein, ich weiß sicher, worin seine Schmerzanfälle ihren Ursprung haben. Der kleine Jörg Markmann hat eine Diagnose gestellt, die an Präzision nichts zu wünschen übrig läßt.«

»Da bin ich aber gespannt.« Klaus Mettner strich sich über den mit Sommersprossen übersäten Nasenrücken und sah Hanna aufmerksam an. Sie lachte leise auf und wiederholte, was Jörg ausgesprochen hatte.

»Florian will eine richtige Familie«, sagte sie und merkte nicht einmal, daß sie wortwörtlich das wiederholte, was Jörg gesagt hatte – und wie er es gesagt hatte.

Ehe die beiden Herren sich äußern konnten, fuhr Hanna eilig fort:

»Jörg Markmann hat deutlich erkannt, wo bei Florian der Hase im Pfeffer liegt. Es ist seine Tante. Grete Vollmers ist nämlich bei ihm gewesen. Und prompt hat der Junge wieder einen dieser rätselhaften Schmerzanfälle gehabt.«

»Wenn du mich fragst, ich möchte auch nicht dauernd mit Grete Vollmers zusammen sein müssen«, sagte Kay aus tiefstem Herzensgrund.

»Sie fühlt sich durch Florian überfordert«, berichtete Hanna still. Kay sah seine Schwester scharf an. Und dann sagte er:

»Ich kenne dich ganz genau, Hanna, und weiß deshalb, daß du noch mehr zu sagen hast. Also?«

»Na, viel gibt es nicht mehr darüber zu sagen. Sie möchte, daß der Junge so schnell wie möglich einen Heimplatz zugewiesen bekommt, damit sie die Belastung los ist.«

Klaus Mettner beugte sich vor. Er sah Hanna eindringlich an.

»Das – das ist ungeheuerlich!« sagte er endlich. Und Kay nickte dazu. »Soweit ich über den Fall unterrichtet bin, hat der Junge doch nur noch sie. Der Vater hat ihn doch schon im Stich gelassen und förmlich abgeschrieben.«

»Genauso ist es, Herr Mettner.« Hanna nickte ihrem Kollegen zu. »Der Junge bekommt seine Schmerzanfälle, wenn seine Tante ihn besucht hat. Sie ist es also, die das alles bei ihm auslöst. Und deshalb begrüße ich es, wenn der Junge von ihr ferngehalten wird.«

»Ja, schon – aber wenn man ihn in ein Heim steckt, wird er vielleicht richtig organisch krank. Sie sagten doch eben, daß dem Jungen eine richtige Familie fehlt. Na, und die hat er im Heim nun wirklich nicht.«

»Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu, Herr Kollege«, sagte Hanna bereitwillig. Jetzt meldete sich Kay wieder zu Wort.

»Ich spüre doch, daß du noch ein As im Ärmel hast. Willst du es uns nicht zeigen?«

»Ich bin bisher noch gar nicht dazu gekommen, es mit dir zu besprechen. Nein, nein, Herr Mettner«, unterbrach sie sich, als Dr. Mettner Anstalten machte, sich zu erheben und das Zimmer zu verlassen. »Bitte, bleiben Sie. Ich finde, das gehört zu Ihrem Fachgebiet, und Sie können mir sagen, ob ich es richtig gemacht habe, obwohl ich bisher noch nichts unternehmen konnte.«

Und dann berichtete sie von dem Besuch der Markmanns und davon, was sie mit ihnen besprochen hatte. Und endlich schloß sie:

»Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn das nicht klappen würde, oder?«

»Du bist sicher, daß Florian mit einer solchen Lösung einverstanden wäre?«

»Ich bin mir selten einer Sache so hundertprozentig sicher gewesen, Kay«, erwiderte Hanna ernst. Kay wandte sich Mettner zu und wollte wissen:

»Wie denken Sie darüber, Mettner?«

»Ich denke, daß Ihre Schwester eine ausgezeichnete Psychologin ist, Chef. Dem Jungen könnte gar nichts Besseres passieren, als in die Familie seines Freundes aufgenommen zu werden.«

»Du bist also einverstanden, wenn ich mit dem Jugendamt verhandle?« fragte Hanna eifrig. »Sie werden froh sein, daß wir eine Lösung gefunden haben, denn Heimplätze sind rar. Wenn wir, als Kinderklinik, alles befürworten, wird man schon in Florians Sinne entscheiden.«

Das war auch die Meinung der beiden Herren. Hanna sah sie beide zufrieden an und sagte dann mit entschlossenem Gesicht:

»Als erstes müssen wir Grete Vollmers von Florian fernhalten. Das übernehme ich.«

Aufatmend lehnte sich Kay in seinem Stuhl zurück und warf Hanna einen halb dankbaren und halb bewundernden Blick zu.

»Da bin ich dir aber sehr dankbar«, sagte er erleichtert. »Ich mag so beherrschende Menschen nicht besonders. Und wenn sie dazu weiblich sind, schon gar nicht. Meiner Ansicht nach können Frauen ruhig tüchtig oder meinetwegen auch emanzipiert sein. Aber wenn sie dann noch anfangen, alles und jeden beherrschen zu wollen, sind sie mir schlichtweg ein Greuel.«

»Nun, ich kann auch nicht behaupten, daß ich Frau Vollmers ausgesprochen freundschaftliche Gefühle entgegenbringe.« Hanna lachte leise auf bei dieser Vorstellung, während sie fortfuhr: »Aber ich traue mir durchaus zu, mit ihr fertig zu werden. Wenn ich Frau Vollmers übernehme, solltest du dich mit dem Lüneburger Jugendamt in Verbindung setzen.«

»Das werde ich liebend gern tun, und zwar sofort«, erklärte Kay und griff schon nach dem Telefonhörer. Da wußte Hanna, daß die Angelegenheit in den besten Händen war und die Schlacht schon so gut wie gewonnen war.

*

Hanna hatte Martin Schriewers, der an der Aufnahme saß, wenn er nicht gerade mit dem Krankenwagen einen Einsatz zu fahren hatte, gebeten, sie sofort zu benachrichtigen, wenn Grete Vollmers ihren Neffen besuchen wollte.

»Ich möchte Frau Vollmers unter allen Umständen sprechen, bevor sie zu Florian geht, Martin«, betonte Hanna noch einmal. Sie wußte, daß sie sich auf Martin Schriewers verlassen konnte. Er würde nur tun, was sie von ihm erwartete, und sich eher in Stücke schlagen lassen, als eine ihrer Anweisungen nicht ganz genau zu befolgen.

Am Nachmittag des übernächsten Tages war es dann soweit. Martin sah durch die breite Glastür, wie Grete Vollmers ihren Wagen auf dem Parkplatz abstellte und dann zielstrebig auf die Eingangstür zukam.

Martin ging ihr entgegen und sah sie verbindlich-kühl an.

»Frau Dr. Martens läßt sie bitten, Frau Vollmers, zuerst zu ihr zu kommen, bevor Sie Florian aufsuchen.«

»Ist wieder was geschehen?« wollte Grete Vollmers alarmiert wissen. »Ist was mit Florian? Liebe Zeit, der Junge macht einem aber auch nichts als Sorgen.«

Grete Vollmers sah Martin alarmiert an. Und als er nicht sofort auf sie einging, wollte sie aufgeregt wissen:

»Wo ist Florian eigentlich? Ist wieder was Neues, weil Frau Dr. Martens mich sprechen will?«

»Das glaube ich nicht. Ich habe vorhin gesehen, daß Florian mit seinem Freund in den Garten gegangen ist. Also muß er sich doch wohl fühlen, denke ich mir.«

»Na, dann will Frau Dr. Martens mir wahrscheinlich nur sagen, daß Florian entlassen wird. Wenn er schon wieder im Klinikgarten spazierengehen kann, dann kann es mit seiner Krankheit auch nicht weit her sein, oder?«

»Das kann ich nicht beurteilen, Frau Vollmers. Ich bin hier nur der Hausmeister und für die Annahme zuständig.«

»Na schön. Hören wir uns an, was Frau Dr. Martens zu sagen hat.« Grete Vollmers ging mit den ihr eigenen energischen Bewegungen davon. Martin sah ihr nach und dachte, daß es ihm ungleich lieber war, Grete Vollmers von hinten zu sehen statt von vorn. Aber er hütete sich, sich das anmerken zu lassen. Schließlich wußte er, was sich gehörte.

Hanna hatte am Fenster ihres Sprechzimmers gestanden und gesehen, daß Grete Vollmers angekommen war. Sie wußte, daß Florian und Jörg im Garten waren, und war froh, Florian in sicherer Entfernung seiner Tante zu wissen. Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch und wartete auf Grete Vollmers, die gleich kommen mußte. Und schon klopfte es. Hanna forderte mit freundlicher Stimme zum Eintreten auf und ging Grete Vollmers entgegen, reichte ihr die Hand und bat sie, Platz zu nehmen.

Grete ließ sich mit ablehnendem Gesichtsausdruck auf den Stuhl vor dem Schreibtisch nieder und sah Hanna an, als sei sie entschlossen, genau das Gegenteil von dem zu sagen, was man vielleicht von ihr erwartete. Als Hanna noch nicht sofort zu sprechen begann, ergriff Grete die Initiative.

»Sicher wollen Sie mir sagen, daß Florian nun doch kerngesund ist, daß Sie nichts bei ihm gefunden haben und ich ihn wieder mit heimnehmen kann, nicht wahr?«

»Aber nein, ganz und gar nicht, Frau Vollmers. Ich will zwar über Florian mit Ihnen sprechen, aber ich habe nichts davon gesagt, daß Sie ihn mit heimnehmen können.«

»Nicht? Aber wie ich erfuhr, geht er schon wieder mit diesem – diesem Markmann-Jungen im Klinikgarten spazieren. Also ist er wieder gesund und kann heim.«

»Noch bin ich die behandelnde Ärztin, Frau Vollmers«, sagte Hanna freundlich, aber auch in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Und als eben diese behandelnde Ärztin werde ich Florian noch nicht nach Hause entlassen, weil ich weiß, daß er schon bei der Nachricht, daß er mit heim soll, einen schlimmen Schmerzanfall bekommen wird.«

»Na, wenn diese sogenannten Schmerzanfälle keine organischen Ursachen haben – und das scheint mir doch der Fall zu sein – dann werde ich sie ihm schon austreiben, darauf können Sie sich verlassen. Dazu braucht der Junge nicht in der Klinik zu bleiben.«

»Ich denke, das zu entscheiden, sollten Sie ruhig mir überlassen.«

»Warum wollten Sie mich dann sprechen?« fragte Grete Vollmers ablehnend.

»Weil ich mit Ihnen über Florian reden will. Sie sagten mir, daß Sie beabsichtigen, Florian in ein Heim zu geben.«

»Sehr richtig. Ich sehe nicht ein, daß ich mich mit ihm abplagen soll. Mein Bruder hat mich ganz schön mit Florian hängen lassen.«

»Sagten Sie nicht, daß er monatlich eine stattliche Summe für seinen Sohn überweist?«

»Na – und? Das ist doch wohl auch das mindeste, was man von ihm erwarten kann, oder? Immerhin habe ich meine hübsche, gemütliche Wohnung aufgegeben und bin nach Ögela gezogen und…«

»Und leben mietfrei in dem hübschen Haus, das Ihrem Bruder gehört. Oder zahlen Sie Miete?«

Grete Vollmers sah Hanna vernichtend an und fragte spöttisch:

»Ich wüßte nicht, was Sie das angeht, Frau Dr. Martens. Ich bin hier, um mit Ihnen über meinen Neffen zu sprechen. Bleiben Sie also gefälligst beim Thema.«

»Oh, das ist mein Thema, Frau Vollmers. Das Jugendamt ist damit einverstanden, daß Sie Florian abgeben.«

Nun war Grete doch für einen Augenblick sprachlos. Aber wirklich, wie gesagt, nur für einen Augenblick. Dann beugte sie sich vor und zischelte, ohne Hanna aus den Augen zu lassen:

»Woher wollen Sie das denn wissen? Noch habe ich ja nichts unternommen.«

»Nein, aber Sie haben Ihre Absichten sehr deutlich bekanntgegeben. Deshalb haben wir von der Klinik uns mit dem Jugendamt in Lüneburg in Verbindung gesetzt. Wir sind schließlich hier die behandelnden Ärzte und wissen besser Bescheid, was für den Jungen gut ist oder nicht.«

»Und Sie sagen, daß es für ihn gut ist, wenn er in ein Heim kommt?«

Grete Vollmers’ Gesicht zeigte nicht, was sie dachte.

»Von einem Heim habe ich nichts gesagt. Ich habe da eher an eine Pflegestelle gedacht.«

»Was soll das? Ich will, daß der Junge in ein Heim kommt, damit er mit anderen Kindern aufwachsen und sich in die Gemeinschaft einfügen kann.«

»Sie wissen, daß es heutzutage nicht mehr so einfach ist wie noch vor einigen Jahren, ein Kind einfach in ein Heim zu geben, nicht wahr?« sagte Hanna unverändert freundlich. »Ein Kind ist keine Sache, derer man sich so einfach entledigen kann. Heutzutage steht das Wohl des Kindes im Vordergrund, Frau Vollmers. Ich finde, das ist ein Wandel, den man durchaus begrüßen kann.«

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich habe mir nur vorgenommen, Florian in ein Heim zu geben, weil ich es nicht mehr schaffe.«

»Also, um es kurz zu machen – das Jugendamt ist mit der Pflegestelle, die mein Bruder vorgeschlagen hat, einverstanden. Und Florian auch, sehr sogar.«

»Florian!« stieß Grete Vollmers verächtlich hervor. »Hat der auch was zu sagen? Er ist ein Kind.«

»Oh, immerhin geht es doch um ihn, Frau Vollmers, nicht wahr? Ich sagte ja schon, daß man heute zunächst einmal herauszufinden versucht, was für das Kind am besten ist. Und das Jugendamt meint, für Florian sei es besser, wenn er in einer intakten Familie aufwächst und nicht als Heimkind.«

»In einer intakten Familie!« Jetzt sah Grete Vollmers ausgesprochen höhnisch drein. »Die finden Sie man erst, Frau Dr. Martens. Mit intakten Familien ist es wie mit der berühmten Nadel im Heuhaufen. Man findet sie nicht oder nur höchst selten.«

»Nun, dann kann Florian ja froh sein, daß er eine Familie gefunden hat, in der er aufwachsen darf.«

»Alle Achtung, das ging aber schnell. Daß man erst mein Einverständnis einholen muß, scheint hier niemandem eingefallen zu sein.«

»Aber ich bitte Sie, Frau Vollmers! Ich finde, mein Bruder hat Ihnen da eine ganze Menge Arbeit abgenommen. Sie haben nicht nur einmal gesagt, daß Sie den Jungen in ein Heim geben wollen. Das hat Florian verängstigt. Und da wir eine Familie kannten, die ihn sehr gern bei sich aufnehmen würde, haben wir sie der Behörde auch vorgeschlagen.«

»Ich dachte, Sie sind Ärztin!« Nun sah Grete Vollmers ausgesprochen wütend drein. Und Hanna gab ehrlich vor sich selbst zu, daß sie das ein wenig freute. Aber selbstverständlich ließ sie sich das nicht anmerken, auch dann nicht, als Grete hämisch hinzufügte: »Sollten Sie sich da nicht lieber auf das leibliche Wohl Ihrer Patienten beschränken?«

»Das leibliche und seelische Befinden eines Menschen gehören zusammen, Frau Vollmers. Ist die Seele nicht gesund, kann auch der Körper nicht gesund werden. Eigentlich eine ganz einfache und logische Erkenntnis, die aber erst in unserer Zeit an Bedeutung gewonnen hat.«

»Streiten wir uns nicht über Auffassungen. So interessant finde ich das nicht. Ich will nur wissen, wie weit die Sache mit Florian gediehen ist. Im Prinzip begrüße ich es sehr, wenn der Junge von mir fortkommt, weil ich nicht mit ihm zurechtkommen kann. Aber wo soll er hin? Und dann – ob mein Bruder damit einverstanden ist, weiß man doch auch nicht. Er hat den Jungen zwar im Stich gelassen – aber er ist immer noch der Vater.«

»Bis Florian mündig ist und selbst bestimmen kann, wohin er gehen will – und wenn es Brasilien sein sollte – behält sich die Behörde vor, zu entscheiden, was für ihn gut oder nicht gut ist. Und man entscheidet auch nicht willkürlich, sondern immer nach dem Gesichtspunkt, was für Florian am besten ist. Und man hat eingesehen, daß eine richtige Familie besser für Florian ist als das Heim.«

»Kann ich wenigstens erfahren, wohin Florian kommt? Ich meine, ich möchte es gern wissen, damit ich ihn dann und wann besuchen kann.«

»Da werden Sie es nicht weit haben, Frau Vollmers. Florian kommt zu den Markmanns, die Sie ja auch kennen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie glücklich er sein wird, wenn er es erfährt. Noch weiß er es nämlich nicht.«

»Ich höre wohl nicht recht?« Grete Vollmers starrte Hanna wütend an. »Sagten Sie wirklich, daß Florian zu den Markmanns soll?«

»Ja, das ist wunderbar, nicht wahr? Die beiden Buben sind miteinander befreundet. Und bei den Markmanns ist das, was Florian braucht – Harmonie, Verständnis, Zuwendung und Liebe.«

»Ich will nicht, daß Florian im Hause eines Zuchthaus-Beamten aufwächst.«

»Es gibt nichts gegen diesen Beruf einzuwenden, Frau Vollmers. Außerdem gibt es doch auch gar keine Zuchthäuser mehr. Es gibt nur noch Strafvollzugs-Anstalten.«

»Ach was, das sind alles Wortklaubereien. Für mich ist ein Zuchthaus immer noch ein Zuchthaus. Und ich wehre mich ganz entschieden dagegen, daß man Florian ausgerechnet zu den Markmanns gibt. Ich will nicht, daß er überhaupt in Ögela bleibt. Was sollen denn die Leute sagen?«

»Ach, darum würde ich mich an Ihrer Stelle gar nicht kümmern, Frau Vollmers. Geklatscht wird

überall und zu jeder Zeit. Aber es dauert nicht lange, dann wird das Thema gewechselt.«

Grete Vollmers erhob sich und sah Hanna, die ebenfalls aufstand, verächtlich an.

»Ich sage Ihnen jetzt schon, daß ich mich selbstverständlich mit allen Mitteln wehren werde.«

»Das bleibt Ihnen unbenommen, Frau Vollmers. Bedenken Sie aber auch, daß man, wenn es sein muß, auch Florian hören wird. Und ich glaube sicher, daß er sich für das Verbleiben in der Familie Markmann entscheiden wird.«

»Das wird sich noch herausstellen. Ich gehe jetzt augenblicklich zu Florian und rede ihm ins Gewissen.«

»Sehen Sie, Frau Vollmers – und gerade das wollen wir vermeiden. Wir haben festgestellt, daß Florians Leiden seelische Ursachen hat. Ursachen, die unmittelbar mit Ihnen zusammenzuhängen scheinen.«

Man konnte ordentlich spüren, daß Grete erstarrte. Sie ließ sich wie kraftlos auf den Stuhl zurücksinken und starrte zu Hanna, die am Fenster stehengeblieben war, empor.

»Das wird ja immer schöner! Jetzt fehlt nur noch, daß Sie behaupten, ich würde den Bengel krank machen.«

»Aber ich fürchte, genau darauf läuft es hinaus!« sagte Hanna ruhig und fuhr fort, ehe Grete wieder das Wort ergreifen konnte. »Es steht jedenfalls fest, daß Florian seine Schmerzanfälle bekommt, wenn Sie ihn besucht haben. Ich finde, wenn wir schon wissen, was ihm schadet, sollten wir das vermeiden.«

»Das bedeutet also, daß Sie mir verbieten, meinen Neffen zu besuchen, nicht wahr?« fragte Grete heiser. Sie war beinahe unfähig, ein Wort hervorzubringen, so wütend war sie. Aber Hanna blieb freundlich und verbindlich, als sie nickte und erwiderte:

»Wir sind dazu da, unsere kleinen Patienten gesund zu machen, Frau Vollmers. Dazu gehört, daß sie sich einigermaßen wohl fühlen. Wenn wir also feststellen, daß es etwas gibt, das unseren Patienten schadet, stellen wir es ab. Deshalb bitte ich Sie, Florian vorerst in Ruhe zu lassen. Es wird sich ergeben, daß Sie einander begegnen, weil der Junge ja in Ögela bleibt. Aber dann werden Sie ein ganz anderes Verhältnis zu ihm haben.«

»Ich meine, man sollte meinen Bruder benachrichtigen. Eine so einschneidende Veränderung muß er doch wissen.«

»Ich denke, das wird er auch amtlicherseits erfahren, Frau Vollmers, denn er muß ja seine Zahlungen nun nicht mehr an Sie, sondern an die Markmanns leisten.«

»Ach, so ist das! Ich begreife allmählich alles! Man will mir das Geld, das mein Bruder schickt, nicht mehr gönnen. Ich soll leer ausgehen. Das ist der Dank für alles, was ich bisher getan habe.«

»Nun, so würde ich das nicht sehen, Frau Vollmers. Immerhin haben Sie doch auch ihre Vorteile, wenn man bedenkt, daß Sie das hübsche Haus nun für sich haben. Zumindest solange, bis Florian erwachsen ist und es selbst übernehmen kann.«

Man sah deutlich an Gretes Gesicht, wie es in ihr arbeitete, wie sie sich beherrschen mußte, um nicht aus der Haut zu fahren. Aber dann sah sie Hanna nur verächtlich an und sagte eisig: »Ich finde, Sie haben da eine sehr unschöne Rolle gespielt. Aber das eine sage ich Ihnen, Frau Dr. Martens: wenn Florian sich bei den Markmanns nicht wohl fühlt – und das wird er ganz sicher nicht – sind Sie es, Sie und Ihr Bruder, die sich an die Brust klopfen müssen. Ich kann dann meine Hände in Unschuld waschen. Aber ich werde dann nichts rückgängig machen.«

»Das wird kaum nötig sein, Frau Vollmers. Ich bin eigentlich ganz sicher, daß Florian sich wohl fühlen wird bei den Markmanns.«

»Na schön, ich kann wohl nichts dagegen tun, obwohl ich es weiß Gott gern möchte. Ich werde Florian auch nicht mehr besuchen, damit man mir nicht die Schuld zuschieben kann, wenn es ihm mal nicht so gut geht. Aber sagen Sie den Markmanns, daß ich noch heute alle Sachen, die Florian persönlich gehören, einpacken werde. Sie können ab morgen bei mir abgeholt werden. Ich will nichts mehr davon im Haus haben.«

»Sie können sich darauf verlassen, Frau Vollmers, daß ich es Herrn Markmann ausrichten werde. Sicher wird er sich bei Ihnen melden.«

»Das wird er wohl müssen, denn niemand kann erwarten, daß ich jederzeit bereitstehe.«

Es gelang ihr, sich noch einen einigermaßen guten Abgang zu verschaffen. Sie ging zur Tür. Hanna blieb unbeweglich am Fenster stehen und sah sie schweigend an.

»Auf Wiedersehen«, sagte Grete kalt. »Ich werde selbstverständlich Ihrem Wunsch entsprechen und nicht mehr herkommen, um meinen Neffen zu sehen. Aufgedrängt habe ich mich noch niemandem.«

Da bin ich noch nicht einmal so sicher, dachte Hanna, als sich die Tür hinter Grete geschlossen hatte.

*

Die letzten Fäden bei Jörg waren gezogen worden. Seiner Entlassung stand nichts mehr im Wege. Florian sah ihn unglücklich an.

»Ich weiß gar nicht, was ich tun soll, wenn du heim darfst und ich hierbleiben muß. Ich werde dich schrecklich vermissen.«

Jörg wollte ihm eben versichern, daß er ihn selbstverständlich jeden Tag besuchen werde, weil er selbst ja noch öfter in die Klinik mußte, um seine Bewegungsübungen zu machen. Aber dazu kam Jörg nicht mehr, denn die Tür wurde geöffnet, und Achim Markmann und Thea erschienen. Sie strahlten. Und hinter ihnen war das lachende Gesicht Dr. Hanna Martens’ zu sehen.

Achim legte seinem Jungen die Hand auf die Schulter und sagte glücklich: »Morgen holen wir dich heim, mein Sohn.«

Thea zog Florian, der aussah, als könne er nur noch mit Mühe die Tränen zurückdrängen, an sich und fragte ruhig: »Was würdest du dazu sagen, Florian, wenn wir nicht nur Jörg, sondern auch dich morgen mit zu uns nach Hause nehmen würden?«

Florians Augen strahlten. Aber dann wurden sie gleich wieder traurig, als er sagte: »Lieber nicht, wenn ich dann von Ihnen wieder fort muß, wäre es noch viel schlimmer für mich.«

»Aber – wer sagt denn, daß du wieder fort mußt? Ich meine doch, daß wir dich gern für immer nehmen wollen. Du und Jörg könntet dann immer zusammen sein.«

»Es wäre zu schön«, sagte Florian sehnsüchtig. Seine Stimme klang traurig. »Aber das wird Tante Grete niemals zulassen.«

»Da irrst du dich aber ganz gewaltig«, sagte Achim polternd. Er war gerührt und wollte das nicht so deutlich zeigen. Aber jedermann, der ihn nur ein wenig kannte, wußte sofort Bescheid. »Ich habe gestern deine Sachen von deiner Tante abgeholt. Und ein zweites Bett steht auch schon in Jörgs Zimmer. Ihr braucht euch also nicht einmal nachts voneinander zu trennen.«

»Sie waren bei Tante Grete? Hat sie nicht schrecklich geschimpft und…« Florian brach überwältigt ab.

»Hat sie nicht. Es war sogar alles schon gepackt, so daß ich es nur noch in den Wagen laden mußte. Na, wie gefällt dir das? Ich dachte, wir alle dachten, du würdest dich darüber freuen.«

Und da tat Florian etwas, was sie alle, die dabei waren, zu Herzen rührte. Er lehnte sich aufschluchzend gegen Thea, die sich neben ihn auf sein Bett gesetzt hatte. Und sie tat das einzig Richtige: sie legte beide Arme fest um den Jungen und küßte ihn auf die Wange.

»Ist das alles wirklich wahr?« schluchzte Florian. Thea Markmann mußte an sich halten, um nicht gleich mitzuschluchzen. Jörg endlich rettete unbewußt die Situation, ehe alle in gerührtes Weinen ausbrechen konnten.

»Und ihr habt alle dichtgehalten! Kein Mensch hat etwas gesagt. Aber ich find’s einfach prima. Florian, stell dir das doch nur vor! Jetzt können wir den Hasenstall zu dritt bauen. Ach, Mami, Vati, ich habe euch beide schrecklich lieb.«

»Ich kann das alles noch gar nicht glauben«, stammelte Florian unsicher. Da nickte Hanna ihm zu und sagte überredend:

»Das solltest du aber, denn es stimmt. Du kannst bei den Markmanns bleiben. Und sie werden dich liebhaben, als wenn du ihr eigenes Kind wärest.«

»Menschenskind, Florian!« schrie Jörg selig. »Jetzt brauchst du keine Angst mehr davor zu haben, daß sie dich ins Heim stecken.«

»Ich bin ja so glücklich!« sagte Florian und drückte sich an Thea, der es zumute war, als sei Florian schon immer ihr Kind gewesen. Hanna schlich sich mit glücklichem Gesicht hinaus. Jetzt hatten sie erst einmal sehr viel miteinander zu bereden. Sie war überzeugt davon, daß Florians Bauchweh sich nicht wieder einstellen würde. Und damit sollte sie auch recht behalten.

*

Bei den Markmanns war alles vorbereitet wie zu einem Fest, als Jörg und Florian zwei Tage später aus der Klinik kamen. Florian kniff sich dann und wann heimlich in die Arme, um festzustellen, daß er nicht schlief und nur einen unendlich schönen Traum hatte.

Natürlich begleitete er Jörg und Achim in den ehemaligen Schweinestall, der zu einem Hasenstall umgebaut werden sollte, wo die Hasen frei umherhoppeln konnten. Im Sommer würden sie dann auch so etwas wie ein Freigehege bauen, damit die Tiere auch hinaus konnten.

Florian war überwältigt, als er endlich im gemeinsamen Zimmer im Bett lag. Jörg stützte sich auf den Ellbogen und sah ihn lachend an.

»Findest du es nicht auch einsame Spitze, daß alles so gekommen ist?« wollte er wissen. Florian nickte und sagte leise:

»Seit Mami gestorben ist, war es nicht mehr schön für mich. Manchmal habe ich mir gewünscht, ich wäre auch tot. Dann kam Tante Grete zu uns, und Vati fuhr nach Brasilien. Und von da an war ich noch unglücklicher, denn Vati hat sich eine neue Frau genommen und mich vergessen.«

»Denk doch einfach nicht mehr darüber nach, Florian. Von nun an wird alles anders werden. Mami und Vati haben dich genauso lieb wie mich. Und daß ich eifersüchtig sein würde, darum brauchst du dich nicht zu sorgen. Du bist von nun an eben mein Bruder. Und dazu gehört, daß Mami und Vati dich auch liebhaben, oder?«

»Ach, Jörg! Ich kann dir gar nicht sagen, was das alles für mich bedeutet«, sagte Florian still und rutschte tiefer unter seine weiche Decke.

Jörg begriff instinktiv, daß er Florian Zeit lassen mußte, sich an alles zu gewöhnen. Deshalb legte auch er sich zurecht und sagte nur noch:

»Schlaf gut, Florian. Bis Montag haben wir noch frei, und dann gehen wir zusammen zur Schule. Paß nur auf, es wird ein wunderschönes Leben werden für uns beide.«

»Hm«, sagte Florian zustimmend, drehte sich auf die andere Seite.

Als Achim und Thea Markmann eine halbe Stunde später noch einmal ins Zimmer schlichen, um nach ihnen zu sehen, schliefen beide tief und fest. Und auf Florians Gesicht stand immer noch ein leuchtendes Lächeln. Man wußte, wenn man ihn anschaute, daß er nicht nur zufrieden, sondern von Herzen glücklich war. Thea und Achim sahen einander lächelnd an und verließen das Zimmer wieder. Sie sprachen es nicht aus, aber sie wußten, daß sie nicht nur die beiden Buben, sondern auch sich selbst glücklich gemacht hatten, als sie beschlossen, Florian bei sich aufzunehmen.

Am anderen Ende von Ögela, etwas außerhalb, saßen Hanna und ihr Bruder Kay zusammen. Kay beobachtete seine Schwester und sagte endlich neckend:

»Wetten, daß ich deine Gedanken genau kenne?«

»Nun, dazu braucht man wohl kein Hellseher zu sein, nicht wahr? Ich denke an Florian und daran, daß es stimmt, wenn man sagt, daß glückliche Menschen viel schneller gesund werden als unglückliche.«

Kay stand auf und zog sie zu sich empor. »Komm«, sagte er überredend, »laß uns noch einen Spaziergang durch den Garten machen. Ich liebe ihn, wenn er so still und dämmrig daliegt. Dann ist es mir, als sei ich unversehens in ein Märchenbuch geschlüpft.«

»Ich wußte gar nicht, daß du dich noch an Märchen erinnerst.« Hanna lachte erstaunt auf. Kay zog sie mit sich und erklärte ernsthaft:

»Hast du eine Ahnung, an was ich mich noch alles erinnern kann. Zum Beispiel daran, daß du mir immer meine Abenteuerbücher gemopst hast, weil du nicht genug davon kriegen konntest.«

Arm in Arm wanderten sie in den Garten hinaus, der zur Klinik Birkenhain gehörte. Morgen würde es nicht mehr so still wie eben jetzt sein, weil morgen die Kinder, die schon aufstehen durften, hier sein würden.

»Ist unser Leben nicht wundervoll?« fragte Kay und blieb unwillkürlich stehen.

»Das ist es«, bestätigte Hanna. »Besonders an einem Tag wie diesem, an dem man erfahren hat, wie glücklich ein Kind sein kann, dem Liebe entgegengebracht wird.«

Kay antwortete nicht. Er fand, daß Hanna genau das ausgesprochen hatte, was auch er empfand…

Kinderärztin Dr. Martens Staffel 3 – Arztroman

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