Читать книгу Kinderärztin Dr. Martens Staffel 3 – Arztroman - Britta Frey - Страница 9

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Die junge Frau mit den tizianroten Haaren und den grünen Augen ging unruhig in dem großen Wohnraum des hübschen Bungalows auf und ab. Immer öfter sah sie mit gerunzelten Augenbrauen auf die Uhr. Es war schon neunzehn Uhr, und Nils war immer noch nicht nach Hause gekommen. Dabei hatte sie ihm am Mittag befohlen, spätestens um siebzehn Uhr daheim zu sein. Überhaupt, seit sie sich von ihrem Mann Guido getrennt hatte, wurde der Junge von Tag zu Tag schwieriger. Manchmal war er sogar aggressiv und aufsässig. Seit vor drei Monaten die endgültige Scheidung von Guido ausgesprochen worden war, war es besonders schlimm geworden. Doch es gab auch Augenblicke, in denen Nils ihr nicht von der Seite wich.

Madlon van Enken war zweiunddreißig Jahre alt. Sehr früh schon hatte sie ihre erste große Liebe geheiratet. Kaum achtzehn Jahre alt war sie damals gewesen. Ihrer beider Glück schien vollkommen, als sehr bald Nils geboren wurde.

Doch das war alles schon lange her, lag schon so weit in der Vergangenheit. Für Madlon zählte jetzt nur ihr Junge, für den sie das Sorgerecht erhalten hatte.

Ja, das Sorgerecht hatte sie zwar, doch Nils verzehrte sich selbst nach diesen langen Monaten der Trennung noch immer nach seinem Vater.

Heute war ihr, wie schon so oft, wieder einmal der Verdacht gekommen, daß Nils Geheimnisse vor ihr hatte. Vielleicht traf er sich heimlich mit seinem Vater. Wenn es tatsächlich so war, mußte sie umgehend dafür sorgen, daß diese Zusammenkünfte ein für allemal aufhörten. Würde sie jetzt nicht eingreifen, käme Nils niemals zur Ruhe. Er mußte endlich akzeptieren, daß sie keine Familie mehr waren.

Madlon warf unwillig den Kopf in den Nacken, denn allein der Gedanke schmerzte schon. Auch der Gedanke an ihr verlorenes Glück schmerzte mehr, als sie sich eingestehen wollte.

Erneut zog die Uhr ihre Blicke an, und ihr Ärger steigerte sich. Wenn Nils heute nach Hause kam, wollte sie ihm einmal gehörig den Kopf zurechtrücken.

Ihr kam plötzlich eine Idee, wie sie es am besten fertigbringen konnte, Nils seinen Vater endlich vergessen zu lassen. Ja, das war es: Sie würde mit ihm verreisen, irgendwohin, weit weg von dieser Stadt, wo sie einen schönen Urlaub mit Nils verbringen würde. Sie war unabhängig, und gerade hatten die Ferien begonnen. Also war der Zeitpunkt günstig.

Um halb acht kam Nils endlich heim. Er murmelte eine knappe Entschuldigung und wollte sich an ihr vorbeidrücken. Doch sie hielt ihn fest.

»Wo warst du, Nils? Ich möchte eine ehrliche Antwort haben. Rede, laß mich nicht so lange auf eine Antwort waren.«

»Ich habe heute zufällig Vati getroffen, Mutti. Ich war mit Vati zusammen. Ich habe ihn lieb und ich will, daß er wieder zu uns zurückkommt. So, nun weißt du es endlich.«

Nils, mit seinen dreizehn Jahren ein kluger und aufgeweckter Junge, stand mit trotzigem Blick vor seiner Mutter, deren Augen ihn traurig ansahen.

»Das geht doch nicht, Junge. Du bist schon alt genug, um das zu verstehen. Das muß doch endlich in deinen Kopf hineingehen.«

Mit einer mütterlichen Geste strich Madlon ihrem Sohn über das tizianrote, leicht gewellte Haar.

Doch mit einer hastigen Bewegung schüttelte er ihre Hand ab und sagte aufbrausend: »Laß mich, Mutti. Ich will und kann es nicht verstehen. Wenn Vati nicht zu uns zurückkommt, will ich auch nicht hierbleiben.«

Als Madlon ihm kurze Zeit später beim Abendessen gegenübersaß, gab Nils während der ganzen Zeit nicht ein einziges Wort von sich. Nach dem Essen ging er sofort in sein Zimmer.

Madlon wartete, bis das Hausmädchen den Tisch abgeräumt hatte, dann ging sie in Nils’ Zimmer, wo sie ihn schon in seinem Bett vorfand.

Sie setzte sich zu Nils auf die Bettkante und sagte weich:

»Kannst du denn nicht verstehen, daß es mir weh tut, wenn du heimlich mit Vati zusammentriffst? Ich bin deine Mutti, und ich habe dich sehr lieb. Es ist nun mal nicht zu ändern, daß wir keine Familie mehr sind. Und wenn es dich glücklich macht, werde ich mich auch nicht dagegen sträuben, dich für immer zu Vati zu lassen. Ich will nicht, daß du traurig und unglücklich bist.«

»Und du, Mutti, kommst du dann auch mit zu Vati?« fragte Nils sie hoffnungsvoll. »Ich habe dich doch auch lieb. Ich will, daß wir alle zusammen sein können.«

»Das geht nicht mehr, Junge. Entweder Vati oder ich. Beides kannst du nicht haben. Du weißt, daß Vati und ich uns getrennt haben, weil wir uns nur noch gestritten haben. Aber ich mache dir einen Vorschlag. Wir zwei fahren in den nächsten Tagen in die Ferien. Wenn wir zurückkommen, reden wir noch einmal darüber. Einverstanden?«

»Ja, Mutti, wenn du es gern möchtest. Wohin fahren wir denn?«

»Ich habe mir überlegt, daß wir nach Österreich an den Millstätter See fahren. Ich kenne da einen kleinen hübschen Ort. Es wird dir dort gut gefallen. Du kannst im Millstätter See baden, soviel du willst. Glaube mir, es wird bestimmt eine schöne Zeit werden. So, mein Junge, jetzt schlaf schön. Denk immer daran, daß ich dich sehr lieb habe.«

Liebevoll fuhr Madlon über den roten Schopf und hauchte einen sanften Kuß auf seine Stirn.

»Gute Nacht, Mutti, ich habe dich sehr lieb«, entgegnete Nils und kuschelte sich in die Kissen.

*

»So nachdenklich am frühen Morgen, Frau Doktor?«

Schmunzelnd sah Jolande Rilla auf Hanna, die nun schon einige Minuten gedankenverloren in ihrer Kaffeetasse rührte, obwohl sie überhaupt keinen Zucker hineingegeben hatte.

»Entschuldige, ich war mit meinen Gedanken nicht bei der Sache. Ich muß an meine Mutter denken, die nun schon fast drei Wochen oben in Süddeutschland ist. Sie fehlt mir sehr. Ab morgen früh wird es noch stiller um mich, wenn mein Bruder auch nicht mehr hier ist. Es ist nur gut, daß ich dich um mich habe.«

»Wann fährt dein Bruder denn in Urlaub?«

»Noch heute im Laufe des Tages.«

»Dann liegt ja die ganze Verantwortung für die Kinderklinik bei dir.«

»Das stimmt, aber davor ist mir nicht bange. In der Klinik drüben wird es immer viel zu tun geben, das kenne ich ja. Mir geht es nur darum, daß es privat ein wenig einsam um mich sein wird. Diese Zeit wird auch vergehen. Ich werde jetzt die trübsinnigen Gedanken an die Seite schieben. Ich glaube, es wird heute wieder ein herrlicher Sommertag.«

»Es sieht ganz danach aus. Möchtest du noch eine Tasse Kaffee?«

»Nein, danke. Ich muß jetzt in die Klinik zur Frühbesprechung. Zum Mittagessen komme ich aber wieder ins Doktorhaus zurück. Mein Bruder wird wohl mitkommen, da seine Hausperle ja schon seit gestern im Urlaub ist. Koch uns mal etwas Ausgefallenes, wenn es dir nicht zuviel Mühe macht. Es soll für meinen Bruder ein kleines Abschiedsessen sein.«

»Das mache ich doch gern. Was ißt dein Bruder denn besonders gern?«

»Oh, da gibt es so einiges. Ich würde vorschlagen, daß du Putenmedaillons mit Dillkräutersoße sowie Butterböhnchen und Kroketten kochst. Als Abschluß vielleicht ein Himbeersorbet mit Vanillesoße. Wird das wohl möglich sein?«

Lächelnd sah Hanna Jolande an.

»Na, sicher, Hanna. Ich würde dazu einen trockenen Weißwein vorschlagen.«

»Fein, ich denke, daß wir da eine Auswahl im Keller haben. Du wirst schon den richtigen Wein auftischen. Jetzt möchte ich aber gehen, ich will niemanden unnötig auf mich warten lassen. Bis nachher.«

Noch ein letztes Lächeln, und schon verließ Hanna mit eiligen Schritten das Doktorhaus.

Schon um diese frühe Morgenstunde spannte sich ein wolkenloser Himmel über der Landschaft. Es hob Hannas Laune noch um einiges mehr. Lächelnd betrat sie Augenblicke später das Klinikgebäude und steuerte direkt auf den Konferenzraum zu, in dem üblicherweise die Frühbesprechungen stattfanden. Wie sie schon geahnt hatte, waren alle da und warteten nur noch auf sie.

Nachdem ihr fröhlicher Morgengruß erwidert worden war, kam Kay gleich auf die anliegenden Dinge zu sprechen. An diesem Morgen dauerte die Besprechung länger als gewöhnlich, da Kay ja am nächsten Morgen nicht mehr da sein würde.

Nach der ausführlichen Besprechung sagte Kay:

»Also, meine Damen und Herren, es bleibt so, wie wir es heute besprochen haben. Für die nächsten vierzehn Tage wenden Sie sich bitte in allem an meine Schwester. Falls jemand Fragen haben sollte, noch bin ich hier.«

Abwartend sah Kay Martens in die Runde seiner Mitarbeiter in der Kinderklinik Birkenhain. Es war für ihn die letzte Frühbesprechung vor Antritt seines Urlaubs.

»Alles klar, Chef. Und im Namen aller möchte ich Ihnen einen angenehmen und erholsamen Urlaub wünschen.«

Malte Dornbach wandte sich mit diesen Worten mit einem offenen Lächeln an seinen Vorgesetzten. Er war Herzspezialist im Kreise seiner Anwesenden. Seine Kollegen bekräftigten seine Worte mit einem zustimmenden Kopfnicken.

Hanna gönnte ihrem Bruder den wohlverdienten Urlaub von ganzem Herzen. Doch während sie zur Krankenstation hinaufging, dachte sie wehmütig an die Zeit zurück, die sie nach ihrer Lungenentzündung im Schwarzwald am Titisee verbracht hatte. Nein, schob sie die Erinnerung zurück, es war vorbei. Für ihr Glück mit einem geliebten Mann war es eben noch zu früh gewesen. Die Zeit sollte nur noch eine schöne Erinnerung bleiben.

Schon Augenblicke später waren ihre privaten Gedanken verflogen, und an deren Stelle traten die täglichen Pflichten in der Klinik.

*

Kay hatte in einem kleinen vorbildlich geführten Familienhotel ein Zimmer gebucht. Er fühlte sich sofort wohl, da er es nicht liebte, von zu großer Hektik und zuviel Rummel umgeben zu sein. Er wollte seinen Urlaub, vierzehn herrliche Tage in Kärnten, voll auskosten und genießen.

Gleich am ersten Tag, Kay hatte das Frühstück ausfallen lassen und richtig ausgeschlafen, betrat er erst gegen Mittag den Speisesaal des Hotels.

Während er auf die die junge Kellnerin wartete, um seine Bestellung aufzugeben, sah er sich unauffällig um. Menschen verschiedenen Alters umgaben ihn und ließen sich ihr Essen gut schmecken. Auch hier fiel ihm angenehm die Ruhe auf, denn auch das Personal war gelassen und ohne Hektik. Das war noch ein Grund mehr für ihn, sich über die Wahl seines Hotels zu freuen. Alles, was er bis zu diesem Zeitpunkt hier kennengelernt hatte, gefiel ihm ausgesprochen gut.

Nach dem Mittagessen machte Kay sich auf den Weg, um die nähere Umgebung von Millstatt zu erkunden, dem Städtchen am See, das er sich für sein Urlaubsquartier ausgewählt hatte.

Eine wunderschöne Umgebung zeigte sich ringsherum. Die hügelige Landschaft bestand zum größten Teil aus weitläufigen Waldgebieten zur einen Seite, und zur anderen Seite blickte man auf die schimmernde Wasserfläche des Millstätter Sees.

Dort zog es Kay jetzt auch hin, und er beobachtete das lustige Treiben vieler badefreudiger Menschen. Ein Sprung ins kühle Naß lockte ihn auch, und er bedauerte, daß er seine Badesachen nicht mitgenommen hatte. Ein Weilchen blieb er stehen und beobachtete eine Gruppe Kinder, die sich am Strandbad tummelten.

Als er sich abwandte, wurden seine Blicke wie magisch von einer jungen Frau angezogen. Ihr langes tizianrotes Haar leuchtete im Sonnenlicht, als sprühe es Funken. Kay konnte seinen Blick nicht von dem schmalen ebenmäßigen Gesicht der hübschen mittelgroßen Frau lösen, die ihn für Sekunden an eine Frau erinnerte, die er sehr mochte, die auch rotes Haar hatte, das jedoch wie dunkelroter Wein schimmerte. Doch er war für die Letztere nur ein guter Bekannter.

Diese Fremde aber ließ seine Bekannte völlig in den Hintergrund treten. Jetzt erst sah Kay, daß an der Seite der schönen Unbekannten ein etwa dreizehnjähriger Junge ging, auf den sie liebevoll einsprach. Der Junge mußte ihr Sohn sein, denn er hatte das gleiche rote Haar wie sie, nur hatte er es zu einer modischen Jungenfrisur geschnitten.

In Kay erwachte der Wunsch, diese Frau näher kennenzulernen.

Ganz plötzlich verdeckte ihm eine Gruppe junger Leute die Sicht, und als sie vorübergegangen waren, war die schöne Fremde verschwunden.

Er schlenderte in der gleichen Richtung weiter, konnte sie jedoch nirgendwo mehr entdecken, und gab seine Suche schließlich auf.

Gemächlich ging er den Weg zum Hotel zurück. Er holte sein Badezeug und suchte sich außerhalb des gut gefüllten Strandbades ein abgelegenes ruhiges Plätzchen.

Doch während des ganzen Nachmittags am See beschäftigte er sich in Gedanken mit dieser beeindruckenden Rothaarigen. So in Gedanken versunken, mit sich und der Natur allein, verstrich der Nachmittag sehr schnell, und er traf später als gewollt wieder im Hotel ein.

Nach einer leichten Abendmahlzeit zog er sich in sein Zimmer zurück, um Hanna, wie versprochen, anzurufen und ihr ausführlich von seinem Urlaubsort zu berichten.

Die gesunde Luft und das lange Bad im See hatten Kay ermüdet, und er ging bald zu Bett. Mit in seine Träume nahm er das Bild der schönen Fremden.

Am nächsten Tag kam ihm der Zufall zu Hilfe. Nachdem er fast den ganzen Tag vergeblich Ausschau gehalten hatte, aber weder sie noch ihren Jungen gesehen hatte, hatte er die Suche für diesen Tag aufgegeben.

Gegen neunzehn Uhr ging er zum Abendessen in den Speisesaal hinunter. Es schien ihm, als hätten sich sämtliche Hotelgäste für den heutigen Abend abgesprochen, zur selben Zeit zu essen, denn bis auf den Tisch, an dem er Platz nahm, waren alle Tische gut besetzt.

Die junge Kellnerin brachte Kay gerade das bestellte Essen, als die Tür zum Speisesaal sich wieder einmal öffnete. Kays Herz begann schneller zu schlagen, als er sah, wer den Raum betrat. Es war die schöne Fremde, und sie sah sich suchend nach einem freien Tisch um. An ihrer Seite war, wie tags zuvor, der Junge.

Die Kellnerin trat auf sie zu, sprach kurz mit ihr und kam dann mit ihr und dem Jungen geradewegs auf seinen Tisch zu.

»Ist es Ihnen recht, wenn die Herrschaften an Ihrem Tisch Platz nehmen, Herr Dr. Martens?« erkundigte sich die Kellnerin mit einem freundlichen Lächeln. »Wir sind wegen der Plätze heute in Verlegenheit geraten.«

»Aber natürlich, Fräulein Resi«, antwortete Kay und machte eine einladende Handbewegung. »Das ist doch wohl selbstverständlich. Es ist genug Platz für alle da.«

Innerlich dankte er dem Zufall für dieses unverhoffte Zusammentreffen.

»Und wir stören Sie auch wirklich nicht?« fragte eine klare helle Frauenstimme mit leisem Zweifel.

»Aber nein, wirklich nicht«, bestätigte Kay.

Er stand auf und schob ihr höflich einen Stuhl zurecht.

»Bitte, setzen Sie sich doch. Und du«, er wandte sich dem Jungen mit freundlicher Stimme zu, »setz dich ruhig auch. Ich beiße nicht.«

Nachdem die Kellnerin die Wünsche der Fremden und des Kindes entgegengenommen hatte, wandte sie sich an Kay und sagte mit ihrer angenehmen Stimme:

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Dr. Martens, nicht wahr? Mein Sohn wollte nicht noch länger mit dem Essen warten. Ich heiße van Enken, und das ist mein Sohn Nils.«

»Angenehm, Frau van Enken. Ich verbringe meinen Urlaub hier, Sie auch?«

Es entwickelte sich eine nette Unterhaltung zwischen den beiden Erwachsenen. Und obwohl Kay sich bemühte, Nils mit in die Unterhaltung einzubeziehen, blieb Nils zunächst doch sehr zurückhaltend.

Kurz nach zwanzig Uhr sagte Madlon zu ihrem Sohn:

»Komm, Nils, es wird Zeit für dich. Wir gehen in unser Zimmer hinauf. Morgen ist auch noch ein Tag.«

Sie wandte sich an Kay:

»Vielen Dank für Ihre nette Gesellschaft, Dr. Martens. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht.«

»Danke, gleichfalls, Frau van Enken. Es hat mich sehr gefreut, Sie kennengelernt zu haben. Ich bin sicher, daß wir uns heute nicht zum letzten Mal gesehen haben. Schlaf du auch gut, Nils «

Kay sah ihnen noch nach, wie sie den Speisesaal verließen, bevor auch er sich erhob, um noch einen Abendspaziergang um den See zu unternehmen.

Zu seiner Freude ergab es sich in den nächsten Tagen fast von allein, daß sie die Mahlzeiten gemeinsam einnahmen, und mehr als einmal erklang Madlons helles perlendes Lachen und machte es ihm immer schwerer, für sich zu behalten, daß er sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte. Bei einer dieser Mahlzeiten erfuhr er auch ihren Vornamen, und als er anschließend wieder allein seinen abendlichen Spaziergang unternahm, blieb er an einer ruhigen Stelle des Sees stehen und sah gedankenverloren auf die spiegelglatte Wasserfläche.

»Madlon«, sagte er leise, »welch ein schöner Name. Und wie gut er zu ihr paßt.«

*

Vier Tage kannten Kay und Madlon van Enken sich nun schon. Auch an diesem vierten Tag hatten Kay, Madlon und Nils viel Zeit zusammen verbracht, und zum ersten Mal war Kay aufgefallen, daß Nils ihm gegenüber immer verschlossener, ja, fast abweisend wurde. Er nahm sich vor, in den kommenden Tagen besonders darauf zu achten, woran das wohl liegen könnte. Es hatte Kay doch sehr befremdet, daß Nils ihm an diesem Abend nicht wie üblich zum Abschied die Hand gereicht hatte.

Doch auch Madlon war das veränderte Verhalten ihres Sohnes nicht entgangen. Als Nils an diesem Abend in seinem Bett lag, setzte sie sich zu ihm auf die Bettkante und sagte mahnend:

»Ich bin sehr enttäuscht von dir, Nils. Du warst heute abend Herrn Dr. Martens gegenüber sehr unhöflich. Er hat dir doch gar nichts getan. Ich dachte, daß du ihn genauso nett findest wie ich. Ich möchte nur wissen, was plötzlich in dich gefahren ist.«

»Ich will eben nicht, daß er immer so viel mit uns zusammen ist. Laß uns wieder nach Hause fahren. Ich möchte zu Vati.«

»Nils, du weißt doch, daß das nicht geht. Wir haben für volle vierzehn Tage bezahlt, und diese Zeit bleiben wir auch hier. Ich für meinen Teil unterhalte mich sehr gern mit Dr. Martens. Von dir erwarte ich zumindest, daß du ihm gegenüber höflich bist, hast du mich verstanden?«

»Ja, ja, Mutti«, brummte Nils widerwillig, »aber jetzt laß mich bitte schlafen, ich bin müde.«

In ihrem Zimmer stand Madlon ein paar Minuten später am Fenster und sah zum Himmel hoch, an dem schon ein paar Sterne leuchteten. Sie dachte an Kay Martens. Sie mochte den jungen Arzt, konnte sich seinem Charme nicht entziehen. Sein nettes Wesen, seine Natürlichkeit, überhaupt alles an ihm gefiel ihr. Sie fand, daß er sehr gut aussah, schlank, sportlich, schwarzes leicht gewelltes Haar, ein offenes Gesicht mit dunklen, immer fröhlichen Augen. Bei seinem Anblick begann ihr Herz jedesmal unvernünftig zu klopfen. Was ihr Sorgen machte, war allerdings Nils’ Verhalten. Madlon hatte das unbestimmte Gefühl, daß es Nils überhaupt nicht paßte, daß sie so häufig mit Kay Martens zusammentrafen. Vielleicht war es kindliche Eifersucht, sie dadurch nicht ganz allein für sich zu haben. Dabei war Kay ein solch angenehmer Gesellschafter. Nach den Monaten seit der Scheidung, in denen sie sich oft sehr einsam gefühlt hatte, tat es ihr jetzt gut, jemanden um sich zu haben, der ihr so sympathisch war. Nils war unvernünftig. Er würde sich sicher an Kay gewöhnen.

Inzwischen war die Dunkelheit vollends hereingebrochen, und unzählige Sterne übersäten den Himmel. Madlon öffnete einen Fensterflügel und beugte sich vor. Ungefähr hundert Meter unterhalb des Hotels konnte sie dunkel und geheimnisvoll die Wasserfläche des Millstätter Sees ausmachen. Irgendwoher erklang helles, perlendes Lachen, und es wurde Madlon bewußt, daß sie sich jetzt wieder einsam und verlassen fühlte. Der Abend war doch noch gar nicht so weit fortgeschritten. In ihr keimte mit einem Mal das Verlangen auf, noch einen kleinen Spaziergang am See entlang zu machen.

Leise öffnete sie die Tür zum Nebenzimmer, um zu sehen, ob Nils auch wirklich fest schlief. Seine gleichmäßigen Atemzüge bestätigten es ihr.

Genauso lautlos zog sie die Tür wieder zu, holte sich eine leichte Weste aus dem Schrank und verließ ihr Zimmer. Die älteste Tochter des Hotelbesitzers kam ihr entgegen und fragte lächelnd: »Noch hinaus an die Luft, Frau van Enken?«

»Ja, Fräulein Lechner, der Abend ist viel zu schön, um jetzt schon schlafen zu gehen«, erwiderte Madlon.

»Das finde ich auch, aber ich habe heute Spätdienst. Sie wissen ja, daß immer einer von uns die ganze Nacht über in der Portiersloge sitzt. Sie können also zurückkommen, wann immer Sie wollen.«

Madlon nickte freundlich und verließ die Hotelhalle. Sie schlenderte langsam in Richtung der schmalen Uferstraße. Hin und wieder hörte sie Musikfetzen, drangen Stimmen und fröhliches Lachen an ihr Ohr. Sie hinderte sie jedoch nicht daran, die milde Abendluft zu genießen und ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Wieder hörte sie Stimmen, und auf der Wasserfläche sah sie in der Ferne bunte Lichter tanzen.

Wohl ein Boot mit ausgelassenen jungen Menschen, ging es ihr durch den Sinn. Da hörte sie eine ihr vertraute Männerstimme hinter sich:

»Nanu, Frau van Enken, Sie sind noch so spät allein hier draußen am See? Das ist aber eine angenehme Überraschung. Konnten Sie auch noch nicht schlafen?«

»Der Abend ist viel zu schön zum Schlafen, Herr Dr. Martens. Ich freue mich, Sie zu treffen.«

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Frau van Enken. Darf ich Ihnen noch ein Weilchen Gesellschaft leisten?«

»Gern, Dr. Martens, da sage ich doch ganz bestimmt nicht nein«, gab Madlon lachend zurück.

Gemeinsam gingen Kay und Madlon weiter und waren bald in ein angeregtes Gespräch vertieft. Erst als die Uhr vom nahen Kirchturm elfmal schlug, sagte Madlon erschrocken:

»So spät schon! Da muß ich zum Hotel zurück. Wenn Nils wach wird, und ich nicht da bin, wird er sich ängstigen.«

»Das glaube ich nicht, Frau van Enken. Nils ist doch mit seinen dreizehn Jahren ein vernünftiger Junge. Es ist nur bedauerlich, daß er mich abzulehnen scheint. Was mich betrifft, kann ich nur sagen, daß ich Ihren Jungen mag, er gefällt mir wirklich. Doch kommen Sie, gehen wir zum Hotel zurück.«

Während sie den Rückweg einschlugen, sagte Madlon:

»Ich glaube eigentlich nicht, daß Nils Sie ablehnt, Herr Dr. Martens. Er ist im Augenblick nur sehr schwierig. Wir sollten das nicht überschätzen. Ich lebe seit einigen Monaten allein mit meinem Jungen, und er hat sich noch nicht an die veränderten Verhältnisse in seinem Leben gewöhnen können.«

»Bitte, halten Sie mich jetzt nicht für neugierig, Frau van Enken, aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, hat Nils seinen Vater verloren, nicht wahr? Es tut mir leid, wenn es so sein sollte, aber es erklärt das Verhalten Ihres Jungen.«

»Er hat seinen Vater nicht in dem Sinne verloren, wie Sie annehmen müssen, Dr. Martens. Es ist nur so, daß ich mich von meinem Mann habe scheiden lassen, und Nils leidet noch immer unter der Trennung. Er will sich einfach nicht damit abfinden. Es ist sonst nicht meine Art, mit anderen Menschen über meine ganz persönlichen Angelegenheiten zu reden, aber bei Ihnen habe ich das Gefühl, Ihnen vertrauen zu können, und es erleichtert mich auch etwas, darüber reden zu können.«

»Es ist auch nicht gut, wenn man alle schlechten Ereignisse in sich hineinfrißt, Frau van Enken. Ich bin ein guter Zuhörer, das bringt schon allein mein Beruf mit sich.«

»Ich danke Ihnen, und bitte, nennen Sie mich Madlon. Es klingt nicht so unpersönlich.«

»Gern, aber nur, wenn Sie mich auch bei meinem Vornamen nennen, einfach Kay.«

»Einverstanden, Kay.«

»Eigentlich ist es schade, ich wäre gern weiter mit Ihnen durch die Nacht spaziert. Wollen wir morgen etwas gemeinsam unternehmen? Vielleicht fahren wir nach Paternion in ein Freibad, oder wir unternehmen eine Autofahrt durchs Drautal bis nach Spittal?«

»Vielleicht. Ich werde Nils von Ihrem Vorschlag berichten, ich sage Ihnen beim Frühstück Bescheid.«

»Ich würde mich freuen, könnte ich wieder einen Tag mit Ihnen und Ihrem Sohn verbringen, Madlon«, sagte Kay, wahrend er sie noch zu ihrer Zimmertür begleitete.

»Es waren schöne Stunden mit Ihnen«, verabschiedete er sich von ihr, »schlafen Sie gut, und träumen Sie etwas Schönes.«

»Gute Nacht, Kay«, sagte Madlon mit warmer Stimme, »Sie sind ein wahrer Freund.«

Ich will aber nicht nur dein Freund sein, hätte Kay am liebsten geantwortet, doch er wußte sich zu beherrschen. Da war Madlon auch schon in ihrem Zimmer verschwunden, und ihm blieb nichts anderes übrig, als das seine ebenfalls aufzusuchen.

In seinem Herzen blieb der heiße Wunsch, Madlon ganz für sich zu gewinnen.

*

Madlon knipste das Licht an und drehte sich um. Doch schon nach dem ersten Schritt blieb sie erschrocken stehen und starrte auf die schmale Jungengestalt, die mit angezogenen Beinen in einem Sessel kauerte. Graugrüne Augen sahen sie mit vorwurfsvollem Blick an.

»Nils, Junge, weshalb bist du nicht in deinem Bett und schläfst? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«

»Ich konnte nicht schlafen, Mutti. Warum hast du mich allein gelassen?«

»Geh, Nils, du bist doch kein Baby mehr. Ich war noch nicht müde und habe noch einen langen Spaziergang gemacht. Außerdem hast du fest geschlafen, als ich wegging. Jetzt husch, husch, in dein Bett. Morgen werden wir einen schönen Tag mit Dr. Martens verbringen. Er hat uns beide eingeladen, mit ihm eine Ausflugsfahrt durch das Drautal zu unternehmen. Dazu mußt du ausgeschlafen sein.«

»Ich will diese Fahrt gar nicht machen, Mutti«, begehrte Nils auf, »ich will mit dir allein sein. Immer ist er dabei. Du hattest mir einen schönen Urlaub versprochen, aber er ist überhaupt nicht schön. Der Doktor soll dich in Ruhe lassen.«

»Was soll das denn, Nils? Dr. Martens ist doch ein netter Mann, und er mag dich. Warum sprichst du so unfreundlich über ihn? Wenn er uns die Umgebung zeigt und uns Gesellschaft leistet, freue ich mich darüber.«

Mit leichtem Kopfschütteln sah Madlon ihrem Sohn nach. Es war also doch kindliche Eifersucht, die sein negatives Verhalten beeinflußte. Nun, sie würde sich trotz der Gesellschaft Kays noch mehr mit ihm beschäftigen, dann würde sich das schon geben. Er mußte doch seine Abwehr gegen Kay irgendwann einmal aufgeben, und das sicher je eher, je mehr sie mit Kay zusammen waren und er ihn richtig kennenlernen konnte. Sie jedenfalls freute sich auf den kommenden Tag.

Mit diesen Gedanken ging sie zu Bett, und zum ersten Mal begleitete das Gesicht des Mannes, der ihr Herz mit zärtlichen Gefühlen erfüllte, in ihre Träume.

Madlon ahnte nicht, daß Nils im Zimmer neben ihr nicht einschlafen konnte.

Unbewußt fühlte der Dreizehnjährige eine Gefahr in Person des Mannes, der immer öfter mit seiner Mutti zusammentraf, und innerlich wehrte er sich dagegen. Es war seine Mutti, sie gehörte nur ihm und seinem Vati. Auch wenn sie sich immer wieder gestritten hatten und auseinander gegangen waren, konnten sie sich doch auch wieder vertragen. Er wollte nicht immer nur bei der Mutti oder nur beim Vati bleiben, nein, sie sollten doch wie früher wieder eine richtige Familie sein.

Tränen füllten seine Augen, und verzweifelt drückte er sein Gesicht in die Kissen. Niemand, auch nicht seine Mutti, sollte wissen, wie ihm in diesem Moment zumute war.

Nur langsam ebbte seine Verzweiflung ab, und bevor er endlich einschlief, dachte er noch: Na wartet, ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt.

Als Madlon ihren Sohn am nächsten Morgen weckte, fiel ihr sofort auf, daß er blasser war als sonst. Besorgt fragte sie:

»Fehlt dir etwas, Nils? Fühlst du dich nicht gut?«

Doch Nils gab nur eine ausweichende Antwort.

Als sie wenig später mit Nils hinunter in den Frühstücksraum kam, wartete Kay schon auf sie und den Jungen.

Mit aufleuchtendem Blick begrüßte er sie und schob ihr fürsorglich einen Stuhl zurecht. Danach wandte er sich Nils zu. Er fuhr ihm über das leuchtende Haar und sagte fröhlich:

»Guten Morgen, Nils. Ich hoffe, du hast gut geschlafen. Wir haben einen langen, aber bestimmt schönen Tag vor uns, wenn ihr damit einverstanden seid, daß wir gemeinsam etwas unternehmen.«

Zwar merkte Kay sofort, daß Nils erstarrte, doch er überging seine Reaktion einfach. Er würde sich weiter bemühen, die innere Abwehr des Jungen zu durchbrechen, mit der er sich wie mit einem Panzer umgab. Es würde ihm bestimmt noch gelingen, wenigstens die Freundschaft des Jungen zu erringen.

Fragend sah Kay Madlon an.

»Ja.« Sie nickte bestätigend. »Wir machen die Fahrt gern mit.«

Das Frühstück verlief an diesem Morgen recht schweighaft. Als Madlon ihren Sohn nach dem Frühstück noch einmal aufs Zimmer schickte, um etwas zu holen, sagte sie zu Kay:

»Nils meint es sicher nicht böse. Bitte, haben Sie etwas Geduld mit ihm. Ich sagte Ihnen ja schon gestern abend, daß er immer noch so an seinem Vater hängt.«

»Keine Sorge, Madlon, ich habe volles Verständnis für Ihren Jungen. Ich bin sicher, daß er sein abwehrendes Verhalten mit der Zeit aufgeben wird. Reden wir jetzt nicht mehr darüber. Sorgen wir beide dafür, daß es für ihn ein schöner und abwechslungsreicher Tag wird. Was ich dazu beitragen kann, das werde ich tun.«

»Danke für Ihr Verständnis, Kay.«

Nils kam mit seiner Jacke zurück, und Kay führte Madlon und den Jungen zu seinem Wagen.

*

Eine volle Woche war inzwischen wieder verstrichen. Das tägliche Beisammensein mit Madlon machte Kay sehr glücklich. So sehr es ihn jedoch danach drängte, ihr gegenüber von seinen Gefühlen zu reden, so hielt ihn das Verhalten ihres Sohnes noch davon ab. Zwar ging Nils widerspruchslos überall mit ihnen hin, doch er ließ Kay und seine Mutter nicht aus den Augen.

An einem dieser herrlichen Sommertage waren sie wieder einmal zu einem langen Spaziergang am See unterwegs. Als sie ein hübsches Strandcafé erreichten, machte Kay den Vorschlag, eine längere Pause einzulegen. Madlon war sofort einverstanden, und so suchten sie sich einen schattigen Platz zum Sitzen aus. Nils, der auch an diesem Tag bis jetzt hartnäckig geschwiegen hatte, bat Madlon:

»Ich möchte nichts essen und trinken, Mutti. Darf ich mich ein wenig umsehen? Ich habe keine Lust, nur so herumzusitzen.«

Madlon, froh darüber, daß er doch endlich mal den Mund zum Sprechen aufmachte, verständigte sich mit Kay durch einen kurzen Blick und sagte:

»Natürlich darfst du, Nils. Aber bitte, geh nicht zu weit weg.«

Sofort sprang Nils auf.

»Nein, Mutti, ich lauf schon nicht zu weit weg«, antwortete er knapp und lief davon.

»Es war doch richtig, daß ich es ihm erlaubt habe, oder etwa nicht, Kay?« fragte Madlon zweifelnd.

»Warum sollte es nicht richtig gewesen sein? Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Nils ist vernünftig genug, um zu wissen, wie man sich verhält, wenn man fremd ist. Er wird sich sicher nicht verlaufen, aber so eher das Gefühl haben, nicht angebunden zu sein. Er ist schließlich ein Junge, und in jedem Jungen stecken Neugierde und Abenteuerlust. Sie dürfen ihn ruhig laufenlassen.«

»Sie haben sicher recht. Ich bin wohl immer viel zu besorgt, weil Nils mein einziges Kind ist. Doch genug davon. Erzählen Sie mir doch ein wenig aus Ihrem Leben. Sie wissen schon so viel von mir, und ich kenne eigentlich nicht viel mehr von Ihnen als Ihren Namen und Ihren Beruf. Wo leben Sie, wenn Ihr Alltag Sie wieder einholt?«

»Meine Schwester und ich führen eine Kinderklinik in der Lüneburger Heide. Die Kinderklinik liegt in Ögela und heißt Birkenhain. Ögela liegt in der Nähe von Celle. Waren Sie schon einmal in dieser Gegend? Die Heide ist um diese Jahreszeit wunderschön.«

»Sagten Sie tatsächlich Celle? Irgendwie kam mir Ihr Name zwar bekannt vor, aber ich kam nicht darauf, wo ich ihn schon einmal gehört habe. Sie sind demnach Eigentümer und Chefarzt der Kinderklinik Birkenhain?«

»Ja, wie schon gesagt, gemeinsam mit meiner Schwester Hanna. Aber wieso fragen Sie? Sie scheinen mir aus einem unerfindlichen Grund überrascht zu sein.«

»Das bin ich auch.« Ein helles, perlendes Lachen kam über Madlons Lippen. »Die Welt ist doch aber auch zu klein, Kay. Ich lebe nämlich in Celle in einem kleinen Haus, das ich von meinen Eltern geerbt habe. Es steht in der Kirchstraße. Wenn das kein schöner Zufall ist.«

»In der Tat, das ist es wirklich, die Welt ist tatsächlich klein«, staunte Kay. »Und ich freue mich über diesen Zufall. Aber zurück zur Klinik. Eine eigene Klinik war immer der gemeinsame Traum meiner Schwester und mir. Hanna ist eine ausgezeichnete Kinderärztin und Chirurgin.«

»Ja, die Kinderklinik Birkenhain genießt tatsächlich einen großartigen Ruf. Ich habe schon viel Gutes darüber gehört. Ich finde es schön, daß Sie ein gutes Verhältnis zu Ihrer Schwester haben. Leider habe ich keine Geschwister. Ich habe nur noch Nils. Wo er jetzt wohl stecken mag? Er ist nirgendwo zu sehen. Er könnte ja wenigstens zwischendurch einmal vorbeischauen. Es scheint ein Gewitter im Anzug zu sein. Schauen Sie mal den See an. Das Wasser ist auch nicht mehr so glatt wie noch vor einer halben Stunde.«

»Nils wird auch merken, daß das Wetter sich ändert, und wird zurückkommen. Noch scheint ja die Sonne. Es sind erst wenige Wolken in Sicht. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis wir hier etwas von einem Gewitter zu spüren bekommen. Warten wir noch ab.«

Nach einer weiteren halben Stunde, in der Madlon immer wieder beunruhigt auf ihre Uhr gesehen hatte, wurde auch Kay besorgt, weil nichts von Nils zu sehen war.

»Ich werde mich mal umsehen, ob ich den Jungen irgendwo entdecken kann«, sagte er zu Madlon. »Bitte, bleiben Sie hier, falls er in der Zwischenzeit zurückkommt.«

Mit einem beruhigenden Lächeln ging Kay davon. Zunächst konnte er von dem Jungen keine Spur entdecken, weder im angrenzenden Strandbad noch direkt am See.

Kays Besorgnis nahm zu, denn unvermittelt kam heftiger Wind auf, und der Himmel bezog sich immer mehr mit dunklen Wolken. Kay beschloß kurzerhand, Spaziergänger zu befragen. Er sprach vereinzelte Menschen an, die es nun alle sehr eilig hatten. Er beschrieb genau Nils Aussehen und seine Bekleidung und wies besonders auf das leuchtend rote Haar hin. Zuerst verneinten alle Angesprochenen, und Kay wollte schon aufgeben.

Diesen einen noch, nahm er sich vor, als er einen jungen Mann vom See aus auf sich zukommen sah, danach werde ich zu Madlon zurückgehen. Vielleicht ist Nils ja inzwischen zurückgekommen.

»Einen Moment bitte, ich möchte Sie nur kurz etwas fragen«, hielt er einen jungen Mann auf, der an ihm vorbeieilen wollte.

»Ja, was kann ich für Sie tun?«

»Ich suche einen Jungen. Er ist dreizehn Jahre alt und hat auffallend rotes, leicht gewelltes Haar. Haben Sie zufällig einen Jungen gesehen, auf den diese Beschreibung paßt?«

»Ja, das habe ich. Vor etwa einer halben Stunde. Ich hatte mich noch darüber gewundert, daß er ganz allein in einem Boot auf den See hinausruderte. Ich habe ihm zugerufen, daß er lieber zurückkommen solle, da wir in Kürze ein Gewitter bekämen, doch der Junge tat so, als habe er mich nicht gehört, und er ruderte einfach weiter auf die Mitte des Sees zu.«

Die letzten Worte übertönte Kay mit einem knappen Dank, und schon eilte er los, um sich am See beim nächsten Bootsverleiher ein Boot zu besorgen. Er mußte auf den See hinaus und Nils finden, denn jeden Moment konnte das Unwetter losbrechen. Der Himmel wurde von Sekunde zu Sekunde dunkler.

*

Völlig außer Atem langte Kay am Bootssteg an.

»Guten Tag. Ich brauche sofort ein Boot. Ein Motorboot, wenn es möglich ist.«

Der ältere Mann, der gerade dabei war, die Boote zu sichern, sah Kay verständnislos an und sagte:

»Das geht nicht, guter Mann. Motorboote dürfen nur in Ausnahmefällen auf den See. Und überhaupt, sehen Sie denn nicht, was wir für ein Wetter haben? Wir sind froh, wenn die hinausgefahrenen Boote rechtzeitig wieder einlaufen. Es sind nämlich immer noch einige draußen.«

»Es handelt sich doch um einen Notfall«, sagte Kay eindringlich, fast flehend. »Da ist ein dreizehnjähriger Junge allein auf den See gerudert. Wollen Sie es verantworten, wenn dem Jungen etwas passiert? Ich möchte ihn doch nur zurückholen.«

»Das ist in der Tat ein Notfall«, bestätigte der Mann, »dann kommen Sie rasch.«

Er löste die Sicherheitskette von einem Motorboot, und mit einem Satz sprang Kay hinein und brachte den Motor in Gang. Sekunden später schoß er mit dem Boot davon. Zu allem Unglück öffnete der Himmel in diesem Moment seine Schleusen, und die Wassermassen prasselten auf den aufgewühlten See.

Bis auf vereinzelte Boote, die wild auf dem Wasser schaukelten, war der See leer. Aber in welchem der Boote war Nils?

Kay hatte zusätzlich zu der schlechten Sicht durch den starken Regen auch noch Mühe mit dem Boot, das bedenklich auf den hohen Wellen schaukelte.

Angst stieg in Kay hoch, aber es war die Angst um den Jungen. Nils durfte einfach nichts passieren. Madlon würde es nicht verkraften.

Doch so sehr Kay auch suchte, er konnte Nils roten Haarschopf nicht entdecken.

Da drang ein verwehter Schrei an sein Ohr. Durch den Regenschleier sah er gerade noch unweit vor sich ein Boot umschlagen und erkannte im selben Augenblick an den roten Haaren des ins Wasser Stürzenden, daß es sich um Nils handeln mußte.

Kay riß das Steuer herum in diese Richtung, trat das Gaspedal durch, um näher an die Unfallstelle heranzukommen. Schon war er da, stellte den Motor ab und sprang mit einem mächtigen Satz ins Wasser, auf den wild um sich schlagenden Jungen zu. Er konnte ihn buchstäblich in letzter Sekunde fassen.

Kay brauchte alle seine Kräfte, um Nils festzuhalten und dessen Kopf über Wasser zu halten. Die hochschlagenden Wellen erschwerten alles noch zusätzlich. Als er sich umwandte, erkannte er mit eisigem Schrecken, daß Nils gekentertes Boot inzwischen versunken und sein Motorboot weit abgetrieben worden war. Er konnte es unmöglich erreichen.

O Gott, das ist zu weit bis zum Ufer, das schaffe ich nie, dachte Kay entsetzt. Und Nils, der inzwischen ohne Bewußtsein war, wurde in seinem Arm immer schwerer.

Ich darf nicht aufgeben, ich muß es einfach schaffen, dachte Kay verbissen, obwohl er spürte, daß seine Kräfte nachließen.

Doch das Unglück war vom Ufer gesehen worden, da der Bootsverleiher Kay mit den Blicken gefolgt war. So alarmierte er einige beherzte Männer, die schnell mit einem weiteren Motorboot auf Kay und Nils zusteuerten.

Ehe Kay die letzten Kräfte verließen, wurden er und seine Last von kräftigen Armen ins Boot gezogen. Obwohl es in seinen Ohren von der fast übermenschlichen Anstrengung rauschte, unternahm er sofort die ersten Wiederbelebungsversuche an Nils. Er wurde nur noch von dem einen dunklen Gedanken aufrecht gehalten, daß dem Jungen nichts passieren durfte.

Am Ufer wartete der inzwischen informierte Rettungswagen auch schon, der Nils nach Spittal ins Krankenhaus bringen würde.

»Gehören Sie zu dem Jungen?« wurde Kay gefragt.

»Ja.« Er nickte erschöpft. »Aber ich kann nicht mitfahren, ich muß erst die Mutter des Jungen informieren. Sie macht sich große Sorgen. Wir kommen so schnell wie möglich nach, In welches Krankenhaus wird der Junge gebracht?«

»Nach Spittal«, war die Antwort.

»Danke«, sagte Kay, »der Junge heißt Nils van Enken und ist dreizehn Jahre alt.«

»Gut, melden Sie sich bitte mit der Mutter an der Aufnahme. Wir müssen jetzt los.«

Einen Moment sah Kay dem Krankenwagen noch nach. Dann bedankte er sich bei den Männern für ihre umsichtige Hilfe und ging mit raschen Schritten dem Strandcafé zu, wo Madlon noch immer auf ihn wartete. Als sie ihn sah, sprang sie entsetzt auf und lief auf ihn zu.

»Kay! Wie siehst du denn aus?« Wie selbstverständlich kam ihr das Du von den Lippen. »Du bist ja ganz naß. Man hat gerade davon gesprochen, daß sie einen Jungen aus dem Wasser gefischt hätten. Kay, war das etwa Nils?«

Sie hielt sich an ihm fest, Angst saß in ihren Augen.

»Beruhige dich doch, Madlon, reg dich jetzt bitte nicht auf.«

Kay löste sich aus ihrem schmerzhaften Griff und führte sie wieder zum Café. Auf dem Weg dorthin erzählte er ihr in knappen Sätzen, was geschehen war.

»Man hat Nils nach Spittal ins Krankenhaus gebracht, es wird alles wieder in Ordnung kommen, ich weiß es. Wir besorgen uns jetzt ein Taxi, das uns in unser Hotel bringt. Dort werde ich mir nur trockene Kleidung anziehen, und dann fahren wir mit meinem Wagen ins Krankenhaus.«

Wenig später saßen sie im Taxi, und sie erreichten kurz darauf ihr Hotel.

»Bitte, warte in der Halle auf mich«, bat Kay und eilte nach oben in sein Zimmer, wo er sich rasch umzog. Nur weitere zehn Minuten später befanden sie sich schon auf dem Weg zum Krankenhaus.

*

»Ja, bitte?«

Die freundliche Krankenschwester sah Kay und Madlon fragend an, als sie das Krankenhaus betraten.

Kay sah, daß Madlon vor Aufregung nicht fähig war, zu sprechen, und er sagte:

»Wir möchten gern zu dem Jungen, der nach dem Unfall im Millstätter See heute hier eingeliefert worden ist. Und können Sie mir auch gleich sagen, wer der behandelnde Arzt ist?«

»Der Chefarzt Dr. Raimers hat den Jungen übernommen. Der Doktor erwartet Sie auf der Station. Gleich die Treppe hoch, und dann links, Station E.«

Kay bedankte sich höflich, nahm Madlons Arm und ging mit ihr den gewiesenen Weg.

»Ich darf ihn nicht verlieren«, kam es leise über ihre Lippen, und Kay merkte, wie sie gegen die Tränen ankämpfte.

»Du wirst ihn nicht verlieren«, sagte Kay zum wiederholten Male geduldig. »Ich habe noch im Boot erste Wiederbelebungsversuche gemacht. Er wird auch keinen Schaden zurückbehalten, denn er war ja nicht lange unter Wasser. Vertrau auf das, was ich dir sage, du weißt, daß ich auch Kinderarzt bin. Ich weiß doch, wovon ich rede.«

Der Chefarzt des Krankenhauses war ein weißhaariger bärtiger Herr, der einen sehr sympathischen Eindruck auf Kay machte, als er sich ihnen vorstellte.

»Darf ich zu dem Jungen?« bat Madlon.

»Selbstverständlich«, sagte der Arzt. »Es gibt keinen Grund, der dagegen spräche. Allerdings müssen wir den Jungen wenigstens einen Tag in unserer Obhut behalten, damit wir ihn noch beobachten können. Gehen Sie nur zu ihm. Wenn Sie hier aus der Tür kommen, ist es gleich die dritte Tür auf der linken Seite.«

»Danke, Herr Dr. Raimers. Gehst du mit, Kay?« Fragend drehte sich Madlon zu Kay um.

»Nein, geh du allein, wir wollen den Jungen nicht unnötig aufregen. Wen er jetzt braucht, das bist du. Ich würde jetzt nur stören.«

Mit einem dankbaren Lächeln sah Madlon Kay an und verließ zögernd den Raum.

Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, sagte Dr. Raimers zu Kay:

»Sie können gern hier auf Frau van Enken warten, Herr Dr. Martens. Ich habe noch Zeit und würde mich gern ein wenig mit Ihnen unterhalten.«

»Gern, wenn ich Sie nicht von Ihrer Arbeit abhalte.«

»Fein, darf ich Ihnen vielleicht einen Kognak anbieten? Ich kann mir vorstellen, daß Sie ihn nach all den Aufregungen vertragen können.«

Kay war einverstanden, und Jakob Raimers füllte zwei Gläser.

»Darf man fragen, wo Sie praktizieren und was Ihr Fachgebiet ist? Sie sind doch Doktor der Medizin, nicht wahr?«

»Ja, das bin ich. Ich bin Kinderarzt. Chirurg. Ich bin gemeinsam mit meiner Schwester Besitzer einer Kinderklinik in der Lüneburger Heide. Es ist keine große Klinik, doch es sind immerhin zwanzig Zimmer. Wir haben ein altes Schlößchen in eine Klinik umbauen lassen. Sie liegt in der Nähe von Celle. Hier in Millstatt verbringe ich meinen Urlaub.«

»Soso, Sie sind also auch Kinderarzt. So habe ich auch einmal angefangen. Allerdings nur als Chefarzt der Kinderabteilung. Die Lüneburger Heide ist ein schönes Fleckchen Erde. Wie gefällt es Ihnen denn hier bei uns in Kärnten?«

»Es ist wunderschön hier. Ich kenne Kärnten aber noch aus meiner Kinderzeit. Es hat eben jeder Landschaftsbereich seinen eigenen Reiz.«

»So ist es. Doch eine Frage hätte ich da noch. Sind Sie vielleicht mit einem Dr. Erich Martens verwandt? Er war ein Studienkollege von mir. Ich habe ihn vor lauter Arbeit völlig aus den Augen verloren. Erst Ihr Name erinnert mich wieder an die alten Zeiten. Ich weiß aber noch, daß er in Nürnberg gelebt hat.«

»Das war mein Vater. Wir haben ihn im letzten Jahr verloren. Er hatte schon viele Jahre mit einer Herzgeschichte zu kämpfen.«

»Oh, das tut mir ehrlich leid. Er war ein prima Kerl, und er konnte schon damals etwas. So gehen die Jahre dahin, doch ich bin überzeugt, daß er sehr stolz auf seine Kinder war.«

Ehe Kay noch etwas auf die Worte des alten Arztes sagen konnte, klopfte es, und eine Krankenschwester bat ihn zu einem dringenden Fall.

»Tut mir leid, junger Freund«, sagte er mit bedauerndem Schulterzucken, »aber Sie wissen ja, wie das so

ist.«

»Genau, Dr. Raimers. Ich warte dann draußen im Gang auf Frau van Enken.«

Nachdenklich verließ Kay nach dem Arzt den Raum. Er hätte nicht erwartet, einen alten Studienkollegen seines verstorbenen Vaters zu treffen. Die Welt war wirklich klein.

*

Leise war Madlon in das Krankenzimmer getreten, in dem ihr Junge lag. Es war ein Dreibettzimmer, und sie sah Nils sofort.

»Nils, mein Liebling.«

Mit einigen schnellen Schritten war sie an seinem Bett.

»Du machst aber auch Sachen, Junge. Ich habe schreckliche Angst um dich ausgestanden.«

Liebevoll küßte Madlon die blassen Wangen ihres Jungen und nahm ihn fest in die Arme.

»Bitte, versprich mir, daß du so etwas nie wieder tust. Weshalb bist du nur allein hinausgerudert? Wir wären doch alle drei zusammen gefahren. Ich bin ja so glücklich, daß dir nichts passiert ist. Jeden Tag danke ich Gott im Himmel, daß du dieses Unglück überlebt hast.«

»Ach was, dir wäre es doch egal gewesen, Mutti. Und mir auch, wenn ich nicht mehr zum Vati darf. Mich braucht ja auch niemand. Du auch nicht. Du hast ja diesen Doktor Martens. Was willst du da auch mit mir? Ich störe ja nur. Für mich allein hast du ja gar keine Zeit mehr. Warum bist du überhaupt gekommen? Geh doch wieder zu deinem Doktor.«

Madlon zuckte zusammen. So viel leidenschaftliches Aufbegehren und zugleich kindlicher Trotz lagen in den Worten ihres Sohnes. Es verschlug ihr sekundenlang die Sprache. Bemüht, ihre Fassung zu wahren, sagte sie:

»Nils, was redest du denn da? Natürlich brauche ich dich. Du bist alles, was ich habe. Du mußt das mit Vati doch verstehen. Ich habe es dir schon so oft erklärt. Und was du auch immer über Dr. Martens denken magst, er ist für mich ein guter Freund, und das möchte er auch für dich sein. Ich war lange einsam, seit ich von Vati geschieden bin, aber ich brauche auch einen vertrauten Erwachsenen, mit dem ich mich gut unterhalten kann. Das hat überhaupt nichts damit zu tun, ob und wie lieb ich dich habe.«

»Ich will ihn aber nicht«, kam es eigensinnig über Nils’ Lippen.

Madlon wandte sich abrupt ab und wollte das Krankenzimmer verlassen.

»Bitte, Mutti, geh nicht«, hielt Nils Stimme sie zurück. Sie drehte sich noch einmal um und sagte mit fester Stimme:

»Es muß sein, Nils, ich komme aber morgen früh wieder. Ich kann nur hoffen, daß du bis dahin vernünftiger geworden bist.«

Madlon wartete keine Erwiderung mehr ab, sondern verließ das Zimmer. Erst als sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, verließ sie ihre Beherrschung. Mit einem trockenen Aufschluchzen preßte sie die Hände vors Gesicht. Die Aufregungen der letzten Stunden und noch zusätzlich das aufsässige Verhalten ihres Sohnes waren jetzt zuviel, und sie konnte ihre Tränen nicht zurückhalten.

»Madlon, was ist los mit dir? Warum weinst du denn? Ist etwas passiert?«

Kay, der auf denn Gang auf sie gewartet hatte, sah sie betroffen an. Er trat an ihre Seite und legte beruhigend einen Arm um ihre Schultern.

Doch sie antwortete nicht, weinte nur noch heftiger. Mit sanfter Stimme bat er:

»Wein doch nicht, Madlon. Komm, wir gehen zum Auto, und dann sagst du mir, weshalb du so verzweifelt bist, ja?«

Behutsam führte Kay sie zu seinem Wagen und öffnete ihr die Tür. Als er selbst auch hinter dem Lenkrad Platz genommen hatte, fragte er:

»Willst du mir nicht sagen, was dich bedrückt?«

»Ach, Kay, ich bin dir so dankbar, daß du Nils das Leben gerettet hast, und er, er ist so…«

Sie stockte plötzlich.

»Was ist, warum redest du nicht weiter?«

»Ich verstehe bald gar nichts mehr, Kay. Was ist nur mit meinem Jungen los? Er hat dir mehr zu verdanken, als er jemals wiedergutmachen könnte, und er lehnt dich nach wie vor ab. Es will mir einfach nicht in den Kopf.«

»Nils ist mit seinen dreizehn Jahren noch ein Kind, und er steckt zudem in einer schwierigen Entwicklungsphase. Er ist auf dem Weg, ein Jugendlicher zu werden, und da sind die Gefühle in ihm oft auch für ihn selbst sehr verwirrend. Hinzu kommt noch, daß er so sehr an seinem Vater hängt, wie du mir erzählt hast. Es ist doch daher sehr begreiflich, daß er Angst hat, dich an mich zu verlieren.«

»Aber wir sind doch nur gute Freunde, Kay. Ich habe versucht, es ihm zu erklären.«

Ihre Worte gaben Kay einen schmerzhaften Stich. Was für Madlon nur Freundschaft war, war für ihn Liebe. Er wußte es schon lange. Und was er für Nils getan hatte, war für ihn eine Selbstverständlichkeit gewesen. Schon allein sein Eid, kranken und bedrohten Kindern zu helfen, setzte voraus, daß er immer und zu jeder Zeit sein bestes gab. Doch in Anbetracht des Zwischenfalls am See konnte er nicht wagen, von seinen wirklichen Gefühlen zu sprechen.

»Du sagst ja nichts, Kay. Ist irgend etwas?« Madlons Stimme riß ihn aus seinen Gedanken.

»Vielleicht haben wir deinen Jungen überfordert. Ich habe mich sehr bemüht, seine Freundschaft zu gewinnen, aber man kann ein Kind nicht dazu zwingen, nicht vorhandene Gefühle vorzutäuschen. Du und Nils habt noch einige Tage hier in Kärnten. Verbringe diese Tage nach Möglichkeit mit Nils allein. Ich kann dir gar nicht sagen, wie schwer es mir fällt, auf deine Gesellschaft zu verzichten. Aber ich denke, daß es so besser sein wird. Vielleicht kann Nils sich so eher wieder fangen. Wenn er abends schläft, können wir uns ja immer noch für ein Stündchen zusammensetzen. Laß uns jetzt zum Hotel zurückfahren, damit du dich ausruhen kannst. Vielleicht essen wir später gemeinsam zu Abend und trinken anschließend ein Gläschen Wein? Morgen fahre ich mit dir nach Spittal, und wir holen den Jungen wieder ab. Anschließend lasse ich euch dann allein. Bist du damit einverstanden?«

»Ich muß ja wohl, obwohl es mir aufs äußerste widerstrebt.«

»Es ist für uns alle besser so, Madlon, glaube mir. Wir wollen ja nicht noch einmal einen solchen Zwischenfall heraufbeschwören wie den vom heutigen Nachmittag. Ich werde mich eben auf die Abende mit dir freuen.«

»Gut, ich bin einverstanden. Fahr mich jetzt bitte zum Hotel zurück.«

*

Nils war am nächsten Tag recht schweigsam, als er von seiner Mutter und Kay vom Krankenhaus abgeholt wurde.

Als er vor dem Hotel aus dem Wagen stieg, streckte er Kay seine Hand hin und murmelte mit gesenktem Kopf:

»Es tut mir leid, daß ich so viel Arger gemacht habe, Herr Doktor. Ich möchte mich dafür bedanken, daß Sie mir das Leben gerettet haben. Mutti hat es mir gestern gesagt.«

»Das ist schon in Ordnung, Nils, ich habe es gern getan, und außerdem mag ich dich. Versprich mir nur, so etwas nicht wieder zu wagen. Es ist zu gefährlich. Nicht immer ist jemand zur Stelle, der das Schlimmste verhindern kann. Deine Mutti hat sich sehr große Sorgen um dich gemacht. So, und nun Schwamm drüber. Reden wir am besten nicht mehr davon. Und ruh dich noch ein wenig aus.«

»Ich werde es gewiß nie wieder tun, Herr Doktor, ich habe es auch meiner Mutti versprochen.«

»Dann ist es ja gut, Junge. Also, mach es gut, wir sehen uns sicher noch einmal, ehe du mit deiner Mutti wieder nach Hause fährst.«

Wehmütig sah Kay Nils und seiner Mutter nach, als sie das Hotel betraten. Dann atmete er tief durch, setzte sich wieder hinter das Lenkrad und fuhr davon. Er wollte Madlon und dem Jungen tagsüber wirklich aus dem Weg gehen, und damit wollte er gleich beginnen. Madlon sollte nicht auch noch in einen Zwiespalt geraten.

So verliefen die letzten Tage so, wie er es mit Madlon abgesprochen hatte. Wenn Nils schlief, trafen sie sich in der kleinen Hotelbar. Sie tranken ein Glas Wein, unterhielten sich und tanzten auch hin und wieder auf dem spiegelglatten Parkett.

Es fiel Kay immer schwerer, seine Gefühle für Madlon für sich zu behalten.

Es kam der letzte Abend vor der Abreise. Wieder trafen sie sich in der kleinen Bar. Da sagte Madlon, als sie gedankenverloren mit ihrem Weinglas spielte:

»Ich möchte diesen letzten Abend mit dir nicht ausschließlich in der Bar verbringen. Komm, laß uns noch einmal am See entlangspazieren und die Abendluft genießen.«

»Gern, das ist eine ausgezeichnete Idee. Ich hatte auch schon daran gedacht. Meinetwegen können wir sofort gehen. Oder möchtest du noch einmal nach deinem Jungen sehen?«

»Nein, das ist nicht notwendig. Nils schläft. Er weiß ja auch, daß wir morgen schon sehr früh aus den Federn müssen. Unser Zug fährt um neun Uhr dreißig ab Spittal.«

»Wenn du einverstanden bist, bringe ich dich und Nils zum Bahnhof.«

»Das Angebot nehme ich gern an, doch jetzt laß uns gehen, damit wir auch noch etwas von diesem Abend haben.«

Gemächlich schlenderten sie kurz darauf zum See hinunter. Mondschein und ein sternklarer Himmel begleiteten sie und zauberten geheimnisvolle Lichter auf die Wasserfläche.

»Wie schön es hier ist, Kay, und noch schöner ist es, dabei einen vertrauten Freund an der Seite zu haben. Ich werde diese Stunden mit dir sehr vermissen, wenn ich wieder zu Hause bin«, kam es leise über Madlons Lippen.

»Bin ich wirklich nur dein Freund?« fragte Kay verhalten, und er merkte, wie es ihm die Kehle zuschnürte. Jetzt war für ihn die letzte Gelegenheit gekommen.

»Ich kann es nicht länger für mich behalten, Madlon. Mich zieht mehr als Freundschaft zu dir hin. Ich liebe dich, und ich möchte mehr als deine Freundschaft. Ich will dich. Bitte, werde meine Frau.«

Sanft umfaßte Kay ihr Gesicht mit seinen Händen, und ehe sie es verhindern konnte, hauchte er einen zarten Kuß auf ihre Lippen.

»Bitte nicht, Kay, es kommt alles viel zu schnell für mich. Laß mir Zeit. Ich mag dich auch, ich mag dich sogar sehr. Doch ich muß erst einmal Abstand gewinnen.«

Kay sagte einen Augenblick lang nichts mehr, und sie spürte seine übergroße Enttäuschung. Einem plötzlichen Impuls folgend, hob sie sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuß.

»Bitte, sei mir nicht böse, aber du mußt mich verstehen. Ich muß auch an Nils denken. Er kommt noch nicht drüber weg. Wir werden uns wiedersehen, dann bekommst du meine Antwort. Celle ist ja nicht weit weg. Bis dahin laß uns Freunde bleiben. Deine Freundschaft bedeutet mir sehr viel.«

»Wie könnte ich dir böse sein, wo ich dich so sehr liebe? Ich werde auf dich warten. Komm, gehen wir noch ein Stück. Ich möchte noch nicht zum Hotel zurück. Es ist heute unser letzter Abend, und den möchte ich bis zum letzten Augenblick mit dir verbringen.«

Bis kurz nach Mitternacht blieb Kay mit Madlon unten am See, dann brachte er sie zum Hotel zurück. Vor ihrer Zimmertür hielt er ihre Hand noch etwas länger fest.

»Laß mich nicht zu lange auf dich warten, Madlon.«

»Das werde ich nicht, Kay, bestimmt nicht. Bringst du uns nicht auch morgen früh noch zum Bahnhof?«

»Natürlich, aber dann ist Nils dabei, und das wollte ich dir gern noch unter vier Augen gesagt haben.«

»Du bist lieb, du hast so viel Verständnis für mich. Ich danke dir dafür.«

Noch einmal hob sie sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn. Ehe er zugreifen konnte, war sie jedoch schon in ihrem Zimmer verschwunden.

Als Kay am nächsten Morgen kurz vor sieben zum Frühstücken hinunterging, wurde er schon von Madlon und Nils erwartet.

»Wir können noch zusammen frühstücken. Es bleibt genügend Zeit, bis wir zum Bahnhof müssen. Unser Gepäck ist auch schon unten in der Halle.«

»Ich pack es schon in den Wagen, bevor das Frühstück kommt. Möchtest du mir helfen, Nils?«

»Ja, gern, Herr Doktor«, antwortete Nils und stand sofort auf. Kay lächelte ihm zu.

»Wieder alles in Ordnung?«

»Ja, es ist alles wieder gut, Herr Doktor. Ich freue mich schon sehr auf zu Hause.«

»So soll es auch sein – Na, dann wollen wir mal.«

Das Gepäck war schnell verstaut, und als Kay mit Nils den Frühstücksraum betrat, wurde gerade das Frühstück gebracht.

Es war wohl wirklich die Freude, nach Hause zu fahren, die den Dreizehnjährigen heute nicht so schweigsam sein ließ wie an all den vorhergegangenen Tagen. Auch später in Spittal am Bahnhof war Kay mehr als überrascht, als der Junge ihm zum Abschied die Hand reichte und mit fester Stimme sagte:

»Ich wünsche Ihnen alles Gute, und ich werde nie vergessen, was Sie für mich getan haben, Herr Dr. Martens.«

»Ich wünsche dir und deiner Mutti noch alles Gute. Ich hoffe, daß wir uns irgendwann einmal wiedersehen. Bis dahin mach es gut und bleib ein vernünftiger Junge.«

Ein langer Blick zu Madlon, die ihm ein weiches Lächeln schenkte, dann fuhr der Zug langsam an und verschwand bald Kays Blicken.

Noch zwei Tage, dann folge ich dir in die Heimat, geliebte Madlon, dachte Kay und verließ mit langsamen Schritten den Bahnhof.

*

Für Hanna waren die vierzehn Tage, in denen ihr Bruder in Kärnten war, trotz aller Arbeit viel zu langsam vorübergegangen. Sie gestand sich ein, daß sie sich schon auf seine Rückkehr freute.

Während dieser Zeit hatte sie ein paarmal mit Kay telefoniert, aber auch mit der Mutter, die ihre feste Zusage gegeben hatte, bald nach Ögela zurückzukommen.

Kay würde sich bestimmt auch darüber freuen, wenn er bei seiner Rückkehr davon hörte.

Hanna rechnete damit, daß Kay im Verlauf des nächsten Tages von seiner Urlaubsreise zurückkommen würde. Um so überraschter war sie, als Kay noch am selben Abend ankam.

»Hallo, Schwesterherz, da bin ich wieder«, begrüßte er sie und mußte herzhaft über ihr verdutztes Gesicht lachen.

»Hat es dir doch nicht so gut gefallen, daß du schon einen Tag eher zurückkommst?« erkundigte sie sich nach einer herzlichen Begrüßung.

»Doch, es war wunderschön am Millstätter See, aber du weißt ja selbst, daß es einen nach einer gewissen Zeit doch wieder in heimatliche Gefilde zurückzieht. Ich hatte mich entschlossen, einen Tag früher abzufahren, weil sich das Wetter verschlechtert hatte. So bin ich also wieder da.«

»Willkommen daheim«, sagte Hanna und machte eine scherzhafte übertriebene Verbeugung.

Kay gab ihr einen leichten Rippenstoß.

»Willst du dich etwa über mich lustig machen?« beschwerte er sich, doch ein schelmisches Lächeln um seine Mundwinkel strafte seine Worte Lügen.

»Wie ist hier alles gelaufen? Alles in Ordnung?« erkundigte er sich, wieder ernst werdend.

»Ja, es ist alles in Ordnung. Obwohl wir einige schwierige Fälle drüben in der Klinik haben. Aber das hat noch Zeit bis morgen. Heute ruhst du dich nach der langen Fahrt erst einmal richtig aus. Wie ich dich kenne,

hast du bestimmt keine Pausen gemacht.«

»Stimmt, aber das wirft mich noch lange nicht um. Da ich aber bis morgen noch allein in meiner Wohnung bin, möchte ich dich bitten, mir einen kleinen Imbiß zu machen, wenn es dich nicht so viel Mühe kostet. Deine Füchsin ist sicher um diese Zeit nicht mehr verfügbar, nicht wahr?«

»Die Füchsin hat heute ihren freien Tag. Wir sind ganz unter uns. Es macht mir auch keine Mühe, dir rasch etwas herzurichten. Entschuldige mich bitte ein paar Minuten, gleich hast du etwas Gutes vor dir stehen. Möchtest du etwas Warmes dazu trinken oder lieber eine Flasche Bier?«

»Bitte Letzteres, Hanna.«

Hanna ging in die Küche und schob für ihren Bruder eine Pizza in die Mikrowelle. Ein Schälchen Tomatensalat war auch schnell zubereitet.

Als sie mit dem Tablett ins Wohnzimmer trat, stand Kay am Fenster und sah zum sternenklaren Nachthimmel hoch. Ein weiches, zärtliches Lächeln lag dabei auf seinem Gesicht.

So hatte Hanna ihren Bruder noch nie erlebt. Er mußte gerade an etwas sehr Schönes denken, denn er überhörte ihr Eintreten.

»Hallo, Bruderherz, jetzt wird nicht geträumt«, sagte sie und stellte das Tablett ab.

»Oh, entschuldige, ich war mit meinen Gedanken ganz woanders«, kam es verlegen über Kays Lippen, und er nahm wieder Platz.

»Das habe ich wohl bemerkt. Es war wohl etwas sehr Schönes, an das du gerade gedacht hattest, nicht wahr?«

»Ja, das war es«, antwortete Kay, doch mehr sagte er nicht dazu, und Hanna war viel zu taktvoll, um nachzuhaken. Wenn ihr Bruder ihr etwas erzählen wollte, tat er es von ganz allein. Das wußte sie.

Sie goß ihm ein Glas Bier ein und sah vergnügt zu, daß es ihm ausgezeichnet schmeckte.

»Was sagst du dazu, daß Mutti bald wieder zu uns kommt? Ich habe vor drei Tagen zum letzten Mal mit ihr telefoniert, und da eröffnete sie mir, daß sie in vierzehn Tagen wieder für längere Zeit käme.«

»Na, prima, Hanna. Ich freue mich natürlich darüber. Einmal wird sie sich sicher entscheiden, für immer zu uns zu kommen.«

»Das denke ich auch. Es wird wohl auch nicht mehr so lange dauern, glaube ich.«

»Bist du mir böse, wenn ich mich jetzt zurückziehe? Ich spüre die lange Fahrt allmählich doch in meinen Knochen.«

»Geh nur, und schlaf dich richtig aus. Morgen ist schließlich auch noch ein Tag, und es bleibt uns noch so viel Zeit zum Erzählen. Gute Nacht, und träum was Schönes.«

»Gute Nacht, Hanna.«

Obwohl Kay inzwischen wirklich sehr die Müdigkeit spürte, gingen seine Gedanken nach Celle zu der Frau, die er liebte und für sich zu erringen hoffte. Madlon… Ob sie wohl auch an ihn dachte?

So nahm er, wie so oft, ihr Gesicht wieder mit hinein in seine sehnsüchtigen Träume.

*

Die Tage reihten sich aneinander, wurden zu Wochen. Der Alltag hatte Kay mit all seinen Pflichten wieder eingenommen.

Doch in jeder freien Minute dachte er an Madlon und wünschte ein Wiedersehen mit ihr herbei. Wie hatte sie noch beim Abschied gesagt: Wir werden uns wiedersehen…

Trotzdem kam es Kay manchmal so vor, als wäre das alles nur ein schöner Traum, und obwohl Celle so nah war, schien es ihm eine Entfernung von Tausenden von Kilometern zu sein.

Manchmal, wenn er mit seinen Gedanken bei Madlon war, war er für niemanden mehr ansprechbar. Das war Hanna schon sehr bald aufgefallen. Zu gern hätte sie gewußt, was ihren Bruder so verändert hatte, ihn so still hatte werden lassen. Ihr war wohl klar, daß es mit seinem Urlaub in Kärnten zu tun haben mußte.

Eine ganze Weile beobachtete sie ihn heimlich, wartete eine Gelegenheit ab, um ihn zu fragen.

Die Gelegenheit kam, als die Mutter sie eines Abends anrief und ihr Kommen für die nächsten Tage ankündigte. Hanna wollte nicht bis zum nächsten Morgen warten, um es Kay zu sagen. So suchte sie ihn in seiner Wohnung auf, um ihm die erfreuliche Mitteilung zu machen.

»Hast du ein bißchen Zeit für mich?« erkundigte sie sich, nachdem sie ihm die Neuigkeit gesagt hatte.

»Für dich doch immer, Hanna. Setz dich doch. Möchtest du etwas trinken?«

»Ja, gern, wenn du eine Limo da hast. Es war heute reichlich warm. Ich habe schon den ganzen Tag über einen Riesendurst gehabt.«

Kay holte für seine Schwester ein Glas Limo, für sich Mineralwasser und setzte sich zu ihr.

»Nun schieß los, Schwesterchen. Was hast du für Probleme?«

Hanna überlegte einen Moment. Sie wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen. Sie liebte es nicht, ihren Bruder auszufragen, wenn er nicht selbst anfing. Aber sie spürte, daß es sich um eine ernste Sache handelte, und hoffte, ihm helfen zu können.

»Ich habe keine Probleme, Kay«, tastete sie sich vor, »aber mir scheint, du hast welche. Ich beobachte dich schon eine ganze Weile. Seit dem Urlaub kommst du mir verändert vor, ja, fast melancholisch. Muß ich mir Sorgen um dich machen? Du bist gar nicht mehr so fröhlich wie früher. Und du bist mit deinen Gedanken immer weit weg.«

»Glaubst du nicht, daß es eine ganz private Angelegenheit ist, die mich beschäftigt, über die ich eigentlich gar nicht reden möchte?«

Hanna schluckte. Sie fühlte sich abgewiesen.

»Wenn das so ist, erübrigt sich ja jede weitere Frage«, antwortete sie.

»Nun sei doch nicht gleich eingeschnappt, Hanna. So war es doch nicht gemeint. Aber du brauchst

dir keine Sorgen um mich zu machen.«

»Dann ist es ja gut, ich laß dich besser wieder allein.«

Hanna erhob sich und wollte wieder gehen, doch Kay hielt sie zurück.

»Setz dich bitte wieder, Hanna. Ich habe noch nie Geheimnisse vor dir gehabt, und es soll sich auch jetzt nichts daran ändern. Ich will dir erzählen, was mich beschäftigt.«

Mit ruhiger Stimme erzählte Kay, wie er Madlon van Enken und deren dreizehnjährigen Jungen kennengelernt und was sich alles daraus entwickelt hatte.

»Du scheinst diese Madlon van Enken wirklich sehr zu lieben«, stellte Hanna nachdenklich fest. »Dabei dachte ich immer, dein Interesse gilt der Architektin, Susanne Schumann.«

»Das hatte ich auch geglaubt, bis ich Madlon traf. Das Gefühl für sie ist so stark, daß ich an nichts anderes mehr denken kann.«

»Und ich darf gar nicht daran denken, in welcher Gefahr du dich befandest, als du den Jungen aus dem Wasser holtest. Allein der Gedanke daran jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken.«

»Es ist vorbei, und ich sitze dir wohlbehalten gegenüber.«

»Und wann wirst du sie wiedersehen?«

»Ich weiß es nicht, Hanna. Es geht schließlich darum, daß Nils sich damit abfinden muß, daß seine Eltern sich getrennt haben. Außerdem muß er seine Ablehnung mir gegenüber aufgeben. Der Abschied in Spittal hat mir gezeigt, daß der Junge das schaffen könnte, wenn er wirklich will.«

»Ich wünsche dir von Herzen, daß du das Glück endlich findest, das du verdienst. Kannst du dich nicht bei ihr melden? Du weißt doch, wo sie wohnt, oder nicht?«

»Doch, ich weiß schon, wo sie wohnt. Aber ich will mich auf keinen Fall ungefragt in ihr Leben drängen. Wenn sie eine Antwort für mich hat, wird sie sich bestimmt bei mir melden. Sie weiß doch, wie sehr ich auf Antwort warte. Ich bitte dich, uns dieses Thema für heute beenden zu lassen. Einverstanden?«

»Einverstanden, Kay. Es wird sowieso Zeit für mich, in die Federn zu kommen. Ich drücke dir auf jeden Fall beide Daumen, daß die Angelegenheit sich zu deinen Gunsten entwickelt.«

Lächelnd sah Kay auf die geschlossene Tür. Seine kleine Schwester verstand es doch immer wieder, ihm Dinge zu entlocken, über die er nichts sagen wollte. Doch irgendwie fühlte er sich dabei auch erleichtert. Blieb eigentlich nur noch die brennende Frage, wann er endlich etwas von Madlon hören würde.

Ob sie auch an ihn dachte? Zu gern hätte er gewußt, ob zwischen ihr und ihrem Sohn alles in Ordnung war, und wie sie die Zeit verbrachten, seit sie aus dem Urlaub zurückgekehrt waren.

*

»Darf ich heute wieder zu Vati fahren? Es ist doch Sonnabend. Du hattest gesagt, ich dürfe jede Woche einen Tag.«

Bittend sah Nils seine Mutter an.

»Ja, du darfst, aber sei heute abend pünktlich wieder zurück. Warte, ich gebe dir das Busgeld.«

»Ich brauche heute kein Busgeld. Ich fahre mit dem Rad. Ich mache nämlich heute mit Vati eine Radtour, und ich freue mich schon riesig darauf«, gab Nils zurück.

»Fahr aber vorsichtig, und überanstrenge dich nicht«, bat Madlon. »Mir gefällst du sowieso in den letzten Tagen nicht. Wenn sich das nicht bessert, werden wir in der nächsten Woche mal zum Arzt gehen, verstanden?«

»Ja, Mutti. Und ich paß schon auf mich auf. Darf ich jetzt fahren?«

»Ja, fahr schon, und vergiß nicht, was ich dir gesagt habe.«

Kaum fünf Minuten später war Madlon allein. Es paßte ihr auch weiterhin nicht, daß Nils keinen der Besuchertage, die sie ihm eingeräumt hatte, ausließ, aber es war nicht zu ändern. Sie seufzte. Zuerst hatte sie noch einiges zu tun, mußte auch noch für das Wochenende einkaufen, doch ab Mittag lag erneut ein einsamer Nachmittag vor ihr.

Da der Tag sehr schön war, machte sie es sich hinter dem Haus auf der Terrasse bequem. Etwas zum Lesen, ein erfrischendes Getränk dabei, so ließ es sich in dem bequemen Liegestuhl aushalten. Madlon konnte sich jedoch nicht recht auf ihre Lektüre konzentrieren. Sie dachte an Nils, um den sie sich Sorgen machte. Sorgen, die sich täglich vergrößerten. Nils machte nicht den Eindruck, als hätte er sich im sonnigen Kärnten erholt. Er war blaß, immer etwas unlustig. Manchmal hatte Madlon das Gefühl, daß er sich doch noch nicht richtig von seinem Bootsunfall erholt hätte. Es war nur ein Gefühl, doch im allgemeinen lag sie damit immer richtig. In den letzten beiden Tagen war ihr aufgefallen, daß Nils das linke Bein nachzuziehen schien. Sie hatte Nils gefragt, ob er Schmerzen in dem Bein hätte, aber er hatte es verneint. Trotzdem stimmte da etwas nicht.

Madlons Gedanken wanderten weiter. Ein schmales, lächelndes Männergesicht tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Sie hörte wieder Kays Worte: Ich liebe dich…

Kay... Wenn er doch jetzt hier wäre und ihr einen Rat geben könnte. Hatte sie ihm nicht versprochen, daß sie sich wiedersehen würden?

Sie dachte sehr viel an ihn. Sie fühlte sich stark zu ihm hingezogen. Es war ein schönes Gefühl. Aber sie war sich nicht sicher, ob es Liebe war. Oder war sie nur unsicher, weil sie nicht noch einmal eine Enttäuschung erleben wollte?

Sie mußte ihn wiedersehen, um sich Klarheit über ihre Gefühle zu verschaffen. Bei diesem Beschluß fühlte sie sich gleich nicht mehr so einsam.

Die Ruhe, die Sonne und die Gedanken an einen schönen Traum machten sie schläfrig, und Madlon schlummerte ein wenig ein.

Durch lautes Hupen vor dem Haus wurde sie plötzlich aufgeschreckt. Wieder ertönte die Autohupe vor dem Haus. Das konnte doch nur für sie sein!

Hastig erhob sie sich und eilte zur Vordertür. Fassungslos sah sie auf den Mann, der dem Wagen entstieg.

»Was willst du hier, Guido? Wenn du Nils auch jede Woche einmal sehen kannst, wünsche ich nicht, daß du herkommst.«

Alles in Madlon stellte sich auf Abwehr ein. Sie fühlte sich völlig überrumpelt.

»Reg dich nicht gleich auf, Madlon. Wenn ich herkomme, so werde ich wohl auch einen Grund haben. Ich bringe Nils zurück. Ich konnte es nicht riskieren, eine Radtour mit ihm zu machen. Mit ihm scheint etwas nicht in Ordnung zu sein. Du solltest so bald wie möglich mit ihm zum Arzt gehen.«

»Was ist denn mit ihm?«

Angstvoll sah sie ihren geschiedenen Mann an.

»Es ist doch nichts, Mutti«, mischte Nils sich ein, »ich bin schon wieder ganz in Ordnung, ehrlich.«

»Ja, aber Vati sagte doch…« Verärgert sah Madlon Guido an.

»Es ist ja auch nichts Schlimmes passiert, Madlon. Nils ist einfach mit seinem linken Bein weggeknickt, und er sagte, er habe keine Schmerzen. Merkwürdig. Ich habe ein ungutes Gefühl und mache mir Sorgen um den Jungen. Das wenigstens kannst du mir nicht verwehren. Wenn ich ihn mit dem Fahrrad hätte fahren lassen, und es wäre noch einmal geschehen... Nicht auszudenken, was dabei passieren kann. Ich hole nur noch sein Rad aus dem Kofferraum, dann bin ich auch schon wieder weg. Ich hatte ja keine Ahnung, daß dir mein Anblick so zuwider ist. Darf ich mich wenigstens telefonisch erkundigen, ob Nils etwas Ernsthaftes fehlt?«

»Selbstverständlich werde ich es dich sofort wissen lassen, wenn es dich interessiert.«

»Wenn es mich interessiert, Madlon, sag mal, für was hältst du mich eigentlich? Nils ist genauso mein Sohn wie der deine. Ich liebe Nils und möchte, daß er gesund und glücklich ist«, entfuhr es dem Mann empört.

»Das fällt dir aber reichlich spät ein, Guido.«

»Schon gut, Madlon, es ist wohl besser, wenn ich fahre. Mit dir kann man ja schon lange kein vernünftiges Wort mehr reden. Ich kann dich nur bedauern. Ruf mich an, wenn du mit Nils beim Arzt warst, um mehr bitte ich dich ja gar nicht.«

Guido van Enken wandte sich abrupt ab und stieg in seinen Wagen. Mit aufheulendem Motor schoß der Wagen davon.

Ein schmerzliches Gefühl stieg in Madlon hoch, als sie dem Wagen nachsah. Es war das erste Mal seit der Scheidung, daß sie Guido wiedergesehen hatte. Und was das Schlimme war, sie erkannte gleichzeitig, daß sie sich etwas vorgemacht hatte.

Ein trauriges Lächeln spielte um ihren Mund, als sie ihrem Jungen folgte, der schon längst im Haus verschwunden war.

Es dauerte noch einige Minuten, ehe sie ihre innere Ruhe einigermaßen zurückgewonnen hatte.

Langsam ging sie nach oben zu Nils ins Kinderzimmer. Nils hatte sich auf sein Bett gelegt und starrte gegen die Decke. Madlon setzte sich auf die Bettkante und bemerkte, daß in seinen Augen Tränen glitzerten.

»Was ist denn mit dir, Kind? Du weinst ja. Hast du Schmerzen?«

»Nein, Mutti, mir tut nichts weh. Aber du und Vati, ihr habt euch schon wieder gestritten.«

»Wenn du älter geworden bist, wirst du das verstehen. Jetzt erzähle mir aber bitte, was denn eigentlich geschehen ist, daß eure Radtour ausfallen mußte. Ich habe nicht so richtig verstanden, was Vati gemeint hat.«

»Na, weißt du, Mutti, es ist manchmal so komisch in meinem Knie, so als ob es ganz schwer ist. Manchmal zieht es ein bißchen da drin, aber das geht immer schnell wieder vorbei. Und heute war es so, als ob ich auf einmal gar kein linkes Bein mehr hätte, und da bin ich hingefallen. Deshalb hat Vati mich auch mit dem Auto nach Hause gebracht. Es hatte nicht weh getan, und es tut auch jetzt nicht weh. Komisch, nicht?«

»Wir werden sofort am Montag zu einem guten Arzt gehen, der dich mal gründlich untersuchen wird und dein Knie röntgt. Ich weiß auch schon, wohin wir zur Untersuchung fahren werden. Am besten bleibst du bis Montag schön liegen. Ich werde dir unten im Wohnzimmer die Couch zurechtmachen, und dann werden wir beide ein gemütliches Wochenende verbringen.«

»Och, Mutti, ich darf bei dem schönen Wetter nicht nach draußen gehen?«

»Nein, besser nicht, sonst passiert noch etwas. Wir wollen lieber vorsichtig sein, bis wir beim Arzt waren. Du gefällst mir überhaupt in den ganzen letzten Tagen schon nicht so recht.«

»Mir fehlt aber nichts, ganz bestimmt, Mutti. Ich bin nur so oft müde.«

»Dann schlaf ein bißchen, und danach mache ich uns ein gutes Essen.«

Madlon verließ lächelnd das Kinderzimmer. Nachdem sie die Tür von außen zugeschoben hatte, fiel das Lächeln wie eine Maske ab.

Das Nahen drohenden Unheils legte sich ihr wie ein Ring um die Brust. Sie begann sich zu fragen, ob sie einen Fehler gemacht und nicht richtig auf den Jungen geachtet hatte. Sie wollte ihm gegenüber zwar auch weiterhin ein lächelndes Gesicht zeigen, aber sie wußte schon in diesem Moment, daß sie am Montagmorgen unverzüglich mit ihm zum Arzt fahren würde, um sich Klarheit zu verschaffen.

Sie hatte den festen Entschluß gefaßt, daß Kay jetzt der einzige war, der für diese Untersuchung in Frage käme.

*

Wie immer hielt Hanna am Montagmorgen ihre ambulante Sprechstunde ab, als Kay zu ihr ins Sprechzimmer kam.

»Hast du heute viel zu tun, Hanna?«

»Es reicht. Weshalb fragst du?«

»Ich wollte dich bitten, heute etwas früher Schluß zu machen. Ich brauche dich im Operationssaal. Es wird ein Notfall gebracht, und Dr. Küsters ist gerade aus dem Haus. Du weißt ja, daß er in der vergangenen Nacht den Bereitschaftsdienst hatte.«

»Ja, sicher, Kay. Du kannst auf mich zählen. Wann, denkst du, ist es soweit?«

»Sobald man die Patientin, ein zehnjähriges Mädchen, eingeliefert hat, werde ich die notwendigen Voruntersuchungen durchführen. Ich rechne damit, daß wir in etwa einer Stunde operieren können. Bis jetzt weiß ich noch recht wenig.«

»Gut, bis dann bin ich auch fertig. Solltest du meine Hilfe schon eher benötigen, dann schick mir eine Schwester. Ansonsten komme ich zur Operationsabteilung, wenn ich hier mit der Sprechstunde fertig bin. Hoffentlich ist es nicht zu ernst.«

»Hoffentlich, Hanna, also, bis dann.«

Noch während Kay den Raum verließ, bat Hanna Schwester Jenny: »Holen Sie bitte den nächsten Patienten.«

Obwohl die Zeit drängte, arbeitete Hanna genauso umsichtig und behutsam wie immer. Ob es sich nun um ein kleines Wehwehchen oder etwas Größeres handelte, immer hatte sie für jeden ihrer kleinen Patienten ein liebes Wort übrig, manchmal auch einen Scherz. Sie war noch vor Ablauf der mit ihrem Bruder besprochenen Zeit fertig, und so konnte sie in die Operationsabteilung hinübergehen.

»Nun, wie sieht es aus?« wollte sie von Kay wissen.

Ihr Bruder war gerade dabei, seine Hände zu bürsten, und sie tat es ihm nach.

»Ein Autounfall. Es hat die Kleine ganz schön erwischt. Soweit ich eine genaue Diagnose erstellen konnte, liegt ein Milzriß vor. Es ist alles schon vorbereitet, wir können gleich beginnen.«

Während Dr. Martina Dirksen-Andergast die Anästhesieapparatur überwachte, übernahmen Hanna und Dr. Dornbach die Assistenz Kays. Dr. Olegra kontrollierte die Blutplasmaübertragung, da das zehnjährige Mädchen sehr viel Blut verloren hatte. Die Operationsschwestern und Hilfsschwestern hatten ebenfalls alle Hände voll zu tun, um einen reibungslosen Ablauf der Operation zu gewährleisten.

Wie immer konnte Kay sich blind auf sein eingespieltes Team verlassen.

Nach fast drei Stunden war es endlich geschafft. Die kleine Patientin wurde auf die Intensivabteilung gebracht, und die anderen konnten aufatmend den Operationssaal verlassen.

»Welche Chancen räumst du der Kleinen ein?« fragte Hanna, als sie nebeneinander am Waschtisch standen, um sich zu reinigen.

»Wenn keine Komplikationen eintreten, recht gute. Zum Glück war es nur ein Anriß. Wenn der große Blutverlust erst einmal ausgeglichen ist, wird, so hoffe ich wenigstens, alles gutgehen.«

»Sind Angehörige mitgekommen?«

»Ja, die Mutter des Kindes ist hier. Schwester Dorte hat sie ins kleine Wartezimmer gebracht. Ich werde gleich mit ihr reden.«

»Gut, dann werde ich jetzt mit Schwester Elli die Visite durchführen. Anschließend habe ich noch eine Besprechung mit Dr. Andergast.«

»Gut, Hanna, dann wollen wir mal.«

Als sie auf den Gang hinauskamen, sahen sie Martin Schriewers. »Was gibt es, Martin?« fragte Hanna lächelnd. »Sagen Sie bloß, schon wieder ein Notfall?«

»Nein, Hanna, dieses Mal nicht. Aber da wartet schon mehr als eineinhalb Stunden eine Frau mit ihrem Jungen auf Sie, Kay. Sie möchte Sie gern persönlich sprechen. Eine Frau van Enken.«

»Sie wartet schon über eineinhalb Stunden, sagen Sie?«

»Ja, und gerade hat sie mich gebeten, einmal nachzuschauen, wie lange es noch dauern kann.«

»Danke, Martin, ich kenne Frau van Enken und werde mich gleich um sie kümmern. Bitten Sie sie doch mit ihrem Jungen schon in mein Sprechzimmer.«

»Ich werde es ausrichten.«

Martin Schriewers wandte sich um und ging zur Empfangshalle zurück.

Kay sah Hanna bittend an und sagte:

»Würdest du es bitte übernehmen, mit der Mutter des frischoperierten Mädchens zu reden? Ich bin doch unruhig, daß Madlon gekommen ist, um…«

»Das geht schon in Ordnung«, unterbrach Hanna ihn. »Selbstverständlich übernehme ich das. Ich möchte aber deine Madlon auch gern kennenlernen. Du weißt ja, daß ich, wie alle Frauen, sehr neugierig bin.«

»Das glaub ich dir gern, Hanna. Aber noch ist es nicht meine Madlon, wie du dich ausgedrückt hast.«

»Na ja, wie auch immer, kümmere du dich jetzt um sie und ihren Sohn. Sag mir nur noch, wie das kleine Mädchen heißt, damit ich weiß, wie ich die Mutter ansprechen soll.«

»Ina Giesing heißt die Kleine. Bitte, entschuldige, daß ich nicht eher daran gedacht habe. Wir sehen uns später.«

Mit diesen Worten verschwand Kay hinter der Tür zu seinem Sprechzimmer, und Hanna ging ein paar Türen weiter ebenfalls in einen Raum auf dessen Tür »Wartezimmer« stand.

Eine junge Frau sah ihr aus angsterfüllten Augen entgegen, und ihr Gesicht war vom Weinen gerötet.

»Wie geht es meiner kleinen Ina?« fragte sie sorgenvoll, und schon wieder traten Tränen in ihre Augen.

»Bitte, beruhigen Sie sich, Frau Giesing. Ihr kleines Mädchen hat die Operation gut überstanden.«

»Ist das wirklich wahr?«

»Ich pflege in solchen Situationen immer die Wahrheit zu sagen«, antwortete Hanna mit einem leichten verständnisvollen Lächeln.

»Wird sie am Leben bleiben?«

»Wenn keine Komplikationen eintreten, wird Ihre Tochter es schaffen. Die Kleine hat durch den Unfall sehr viel Blut verloren und ist deshalb auch geschwächt. Sie liegt jetzt auf der Intensivabteilung und steht unter ständiger Überwachung. Wie ist es überhaupt zu dem Unfall gekommen? Können Sie uns darüber etwas sagen?«

»Nein, ich weiß auch noch nichts Genaues, Frau Doktor, aber es passierte direkt vor unserem Haus. Eine Autofahrerin ist in diesen Unfall verwickelt. Es ging alles viel zu schnell, und ich war so geschockt, daß ich mich nur noch für meine Ina interessiert habe. Die Polizei wird sicher wissen, wie alles passiert ist.«

»Nun, es ist auch im Augenblick nicht ganz so wichtig, Frau Giesing.«

»Darf ich meine Ina sehen?«

»Davon möchte ich abraten, Frau Giesing. Die Operation war sehr schwierig, und es wird lange dauern, bis Ihre Kleine Sie überhaupt wieder richtig wahrnehmen wird.«

Als Hanna das enttäuschte Gesicht bemerkte, faßte sie tröstend nach dem Arm der besorgten Mutter.

»Na, kommen Sie, einen Blick auf Ihr Töchterchen werde ich Ihnen gestatten. Kommen Sie heute nachmittag wieder, dann kann ich Sie ein paar Minuten zu Ihrer Tochter lassen. Sie können uns vertrauen, daß wir alles für Ihr Mädel tun werden. Kommen Sie, ich bringe Sie hinüber, dann können Sie sich selbst davon überzeugen.«

»Ich darf mein Kind nicht auch noch verlieren, Frau Doktor«, sagte die Frau in dumpfer Verzweiflung. »Ina ist alles, was ich noch habe. Alles gäbe ich dafür her, daß sie mir erhalten bleibt. Ich habe erst vor gut einem Jahr meinen Mann verloren.«

»Oh, das tut mir leid, Frau Giesing, aber ich bin sehr zuversichtlich, daß Sie Ihr Mädchen behalten werden.«

Hanna brachte die junge Frau in den Vorraum der Intensivabteilung, von wo aus sie durch ein kleines Fenster auf ihre Tochter sehen konnte.

Voller Mitleid sah Hanna auf die Mutter, die ihren Blick nicht von der stillen Gestalt lösen konnte. Tränen liefen ihre Wangen hinunter, und Hanna war tief gerührt über dieses stille Leid.

»Es sieht im Moment durch die Schläuche schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist. Bitte, glauben Sie mir, daß all das nur der Überwachung gilt. Lassen Sie mir bitte noch Ihre Anschrift und die Telefonnummer hier, damit wir Sie notfalls verständigen können. Auch Sie können zu jeder Zeit hier bei uns anrufen, um sich nach dem Befinden Ihrer Tochter zu erkundigen. Kommen Sie jetzt, im Augenblick können Sie nichts für Ihre Tochter tun.«

Frau Giesing wandte sich ab, und sie wischte sich verstohlen die Tränen ab.

Behutsam führte Hanna die Mutter der kleinen Patientin aus der Intensivabteilung. Sie notierte sich noch deren Anschrift und Telefonnummer und erkundigte sich:

»Wie kommen Sie nach Haus, Frau Giesing? Kann ich Ihnen ein Taxi bestellen?«

»Danke, nein, Frau Dr. Martens, das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber ich bin dem Unfallwagen mit meinem eigenen Auto gefolgt. Wann darf ich denn heute nachmittag wiederkommen?«

Hanna überlegte ein paar Sekunden und antwortete nach einem Blick auf ihre Uhr:

»Wir haben jetzt ungefähr zwölf Uhr. Sagen wir mal, so etwa um sechzehn Uhr.«

»Vielen Dank, Frau Doktor. Bis heute nachmittag.«

Für einen kurzen Moment sah Hanna der jungen Frau nach, die mit schleppenden Schritten dem Ausgang zustrebte. Diese Mutter hatte der Unfall ihrer Tochter hart getroffen.

Solche Situationen erlebte Hanna häufiger, nur war sie in diesem Fall sehr zuversichtlich, daß Ina wieder gesund werden würde, wie das leider in manchen Krankheitsfällen nicht war.

Sie wandte sich ab und ging hinauf zur Krankenabteilung, um die verspätete Visite nachzuholen. Sie mußte an Kay und seinen überraschenden Besuch denken. Was mochte diese junge Frau wohl von ihrem Bruder gewollt haben?

*

Den Rest des Samstags und den ganzen Sonntag über hatte Madlon ihren Jungen ganz bewußt beobachtet. Dabei fiel ihr zum wiederholten Mal auf, daß er müde und hinfällig wirkte. Unter seinen Augen hatten sich bläuliche Schatten gebildet, die sie sonst an ihm nicht kannte. Große Sorgen bereitete es ihr auch, daß sein Appetit sehr gering war, obwohl sie ihm doch seine Lieblingsspeisen zubereitet hatte. Sie stellte besorgt fest, daß er nur lustlos darin herumstocherte.

Erneut und viel deutlicher merkte sie, daß Nils tatsächlich sein linkes Bein leicht nachzog. Das steigerte ihre Angst um ihn beträchtlich.

Sie wartete am Montagmorgen bis nach dem Frühstück, zu dem Nils wieder nur ein Glas Milch trank, und sagte dann zu ihm:

»Wir werden uns gleich auf den Weg machen und zu einem Arzt fahren, Nils. So kann und darf es mit dir nicht weitergehen. Ich werde dafür sorgen, daß du sehr gründlich untersucht wirst. Wir fahren zu Herrn Dr. Martens in die Kinderklinik Birkenhain. Er ist ein guter Arzt, und du kennst ihn ja schon aus unserem Urlaub. Er wird schon herausfinden, was mit dir los ist.«

»Ich will aber nicht in eine Klinik, Mutti, und zu Dr. Martens schon mal gar nicht.«

»Du hast überhaupt gar nichts zu wollen, mein Kind. Wir fahren jetzt, und von dir möchte ich dazu gar keinen Kommentar mehr hören, hast du mich verstanden? Dr. Martens hat dir ja wohl schon bewiesen, daß er dich mag. Denk daran, daß er dir dein Leben gerettet hat. Ich erwarte von dir, daß du dich jetzt endlich mal vernünftig benimmst. Außerdem habe ich Vati versprochen, daß ich mit dir zu einem Arzt fahre.«

»Ich sag ja schon nichts mehr, Mutti, aber…«

»Kein Aber, Nils. Ich packe gleich Wäsche und Nachtzeug für dich zusammen, denn es könnte ja möglich sein, daß man dich für ein paar Tage zur Beobachtung in der Klinik behalten möchte. Also, in einer Viertelstunde fahren wir. Es ist ja knapp eine Stunde Fahrzeit bis nach Ögela.«

Nils gab seiner Mutter nichts mehr zurück, sondern trottete mit gesenktem Kopf nach oben in sein Zimmer.

Kopfschüttelnd sah Madlon ihrem Jungen nach. Gerade wollte sie ihm folgen, um die Tasche für ihn zu packen, als lautes Gepolter sie zusammenzucken ließ.

Die Schrecksekunde war schnell vorüber, und sie hastete los, um zu sehen, was vorgefallen war. Sie bekam noch mit, daß Nils sich mühsam aufrappelte.

»Um Gottes willen, Kind, was ist denn passiert?« kam es entsetzt über ihre Lippen, und schon war sie an seiner Seite.

»Hast du dir weh getan?«

»Es war schon wieder mein verflixtes Bein, Mutti, genau wie am Samstag, als ich mit Vati unterwegs war. Was ist das denn bloß mit meinem Knie, Mutti? Es ist so komisch schwer. Aber es tut gar nicht weh. Mutti, ich habe auf einmal solche Angst.«

»Du mußt keine Angst haben, Nils. Doch du siehst jetzt sicher ein, daß wir keine Zeit mehr verlieren dürfen. Komm, setz dich ins Wohnzimmer. Du läufst mir keinen einzigen Schritt mehr allein.«

Widerstandslos ließ Nils sich ins Wohnzimmer führen, wo seine Mutter ihn mit sanfter Gewalt in einen Sessel drückte.

»So, und hier bleibst du jetzt, bis ich wiederkomme. Ich werde mich beeilen, damit wir schnellstens fahren können. Soll ich dir noch etwas aus deinem Zimmer mit runterbringen? Vielleicht ein paar Bücher?«

»Nein, Mutti, ich brauche nichts, ich fahre bestimmt wieder mit dir zurück.«

»Nun, wir werden sehen. Aber wenn du nichts mitnehmen willst, gut.«

Madlon ging schnell nach oben und beeilte sich, Nils’ Sachen zusammenzupacken. Obwohl er nicht gewollt hatte, packte sie ihm doch vorsichtshalber zwei von seinen Jugendbüchern in die Tasche und brachte sie anschließend schon einmal in ihren Wagen.

Danach sorgte sie dafür, daß Nils bequem im Auto saß, und schon machte sie sich auf den Weg.

Je näher Madlon ihrem Ziel kam, um so heftiger begann ihr Herz zu pochen. Was würde Kay denken, wenn sie so unverhofft vor ihm stand? Hatte sie zu lange damit gewartet, sich bei ihm zu melden? Oder war sie für ihn vielleicht nur eine Urlaubsbekanntschaft, die er längst wieder vergessen hatte?

Wie viele unbeantwortete Fragen ihr doch durch den Kopf gingen.

Sie warf einen Blick in den Rückspiegel auf das blasse Gesicht ihres Sohnes und wurde wieder ruhiger.

Ganz gleich, wie ihre und Kays Gefühle auch immer aussahen, sie mußten zurückstehen, denn ihre Sorgen um Nils nahmen die erste Stelle in ihrem Herzen ein. Nur um Nils ging es jetzt, und alles andere war dagegen so banal und unwichtig.

Mit diesen Gedanken beschäftigt, erreichte sie schließlich ihr Ziel, die Kinderklinik Birkenhain.

Schon vor der hohen Eingangstür fragte Nils drängend:

»Müssen wir denn wirklich hier hineingehen, Mutti? Können wir nicht zu einem anderen Arzt einfach in eine Praxis fahren?«

»Geh, Nils, benimm dich doch nicht kindisch. Jetzt sind wir einmal hier und werden auch bestimmt nicht wieder umkehren. Sei vernünftig und nimm dich zusammen. Wenn ich bei dir bin, brauchst du keine Angst zu haben.«

Sie legte einen Arm um die schmalen Schultern ihres Sohnes, und mit leichtem Druck schob sie ihn weiter. Sie ging mit Nils zum Aufnahmeschalter und bat:

»Kann ich den Chefarzt Dr. Martens sprechen? Mein Name ist van Enken.«

»Es tut mir leid, Frau van Enken, im Augenblick ist Dr. Martens verhindert. Er befindet sich mitten in einer schwierigen Operation. Wenn Sie warten wollen?«

»Ja, ich warte, denn es geht um meinen Jungen. Sagen Sie Herrn Dr. Martens bitte Bescheid, wenn die Operation vorüber ist?«

»Selbstverständlich. Bitte nehmen Sie so lange dort drüben in der Besucherecke Platz. Die Kantine steht Ihnen auch zur Verfügung, falls Sie sich die Wartezeit mit einem Imbiß oder eine Tasse Kaffee verkürzen wollen.«

»Danke, im Augenblick nicht«, antwortete Madlon freundlich lächelnd.

Sie steuerte mit Nils auf die Besucherecke zu, und sie nahmen in den bequemen Sesseln Platz. Es begann ein zermürbendes Warten.

*

Nachdem Kay von Martin Schriewers gehört hatte, wer ihn da so unverhofft zu sprechen wünschte, begann sein Herz unvernünftig schnell zu schlagen. Endlich würde er die heimlich geliebte Frau wiedersehen. Im ersten Augenblick war es für ihn zweitrangig, daß Madlon Nils mit nach Ögela gebracht hatte.

Konnte es sein, daß sie ihm die so sehnlich erwartete Antwort brachte?

Als es Augenblicke später zaghaft an die Tür seines Sprechzimmers klopfte, rief er mit belegter Stimme: »Herein.«

Die Tür öffnete sich und Madlon, nach der er sich so sehr gesehnt hatte, trat ein. Wie verzaubert starrte er sie an. Sie war noch schöner, als er sie in Erinnerung behalten hatte.

Doch bevor er etwas sagen konnte, kam ihm zum Bewußtsein, daß sie ja nicht allein gekommen war. Nils stand neben ihr, und er glaubte in seinen Augen so etwas wie Feindseligkeit sehen zu können.

»Guten Tag, Kay. Hast du etwas Zeit für uns?« fragte Madlon auch schon mit ihrer dunklen liebenswerten Stimme.

»Guten Tag, Madlon, guten Tag, Nils.«

Mit ausgestreckter Hand ging er auf sie zu. Er reichte beiden die Hand und entgegnete:

»Ich freue mich, euch zu sehen. Für euch beide habe ich immer Zeit. Was kann ich für dich tun, Madlon? Aber bitte, setzt euch doch.«

»Es geht nicht um mich, Kay, und ich hatte mir unser erstes Wiedersehen nach dem Urlaub auch anders vorgestellt. Es geht um Nils«, sagte Madlon und nahm mit Nils Platz.

»Was ist mit Nils, Madlon? Was soll das heißen, es geht um ihn?«

»Irgend etwas stimmt in der letzten Zeit nicht mit Nils. Eigentlich begann es schon wenige Tage nach unserer Rückkehr aus dem Urlaub. Es wurde mir zuerst aber nicht richtig bewußt, daß Nils’ Befinden sich änderte. Vor ein paar Tagen fiel mir aber auf, daß er das linke Bein leicht nachzieht. Nils behauptet, er habe keine Schmerzen. Aber er ist auch ständig müde und ißt sehr schlecht. Am Samstag geschah zum ersten Mal etwas Seltsames. Nils hatte seinen Besuchstag bei seinem Vater, ich selbst habe nicht mitbekommen, was geschah.«

»Und was war das?« Gespannt beugte Kay sich ein wenig vor.

Als Madlon Kay nun erzählte, daß Nils schon zweimal einfach so mit seinem linken Bein weggeknickt war, stutzte er und sagte:

»Ich möchte Nils gern einmal untersuchen.«

»Ja, das ist gut. Deshalb bin ich ja hergekommen. Ich habe so schreckliche Angst um meinen Jungen. Das alles kommt mir nicht ganz geheuer vor.«

»Noch kann ich dir auch nicht sagen, was Nils fehlt. Dazu muß ich ihn erst einmal gründlich untersuchen. Ich würde vorschlagen, den Jungen für ein paar Tage in unserer Obhut zu lassen. Nils, was meinst du dazu?«

»Ich möchte lieber wieder mit meiner Mutter nach Hause fahren, Herr Doktor. Können Sie mich denn nicht jetzt schnell untersuchen?«

»Mit einer schnellen Untersuchung ist es da nicht getan. Wir wollen es schließlich gründlich machen, nicht wahr? Dazu müssen verschiedene Röntgenaufnahmen gemacht werden. Aber auch Blutuntersuchungen sind nötig und noch einiges mehr. Daher ist es besser, wenn du ein paar Tage hierbleibst. Es erspart deiner Mutti nur unnötiges Hin- und Herfahren. Du vertraust mir doch, und du möchtest doch bestimmt auch, daß wir herausfinden, was deine Beschwerden verursacht, nicht wahr? Deine Mutter kann dich zu jeder Zeit und so lange sie will besuchen. Alles verstanden oder hast du noch Fragen dazu? Ich beantworte sie dir gern.«

»Nein, Herr Doktor, ich habe keine Fragen.«

Man sah Nils an, daß er alles andere als begeistert von der Vorstellung war, einige Tage in der Klinik zu bleiben, aber er wußte selbst, daß die Untersuchungen wohl unumgänglich für ihn und seine Gesundheit waren. Wenn er noch einmal so an die beiden Male zurückdachte, als ihm das Bein so einfach weggerutscht war... Nein, irgendwie hatte er doch Angst davor, daß er nie mehr richtig laufen können würde. Da waren ihm ein paar Tage in der Klinik doch lieber.

»Gut, Nils, dann werde ich gleich eine Schwester rufen, die dich auf die Krankenstation in ein hübsches Zimmer bringt. Ich muß noch einiges mit deiner Mutti besprechen, danach bringe ich sie zu dir hinauf.«

Kay sah fragend auf Madlon. Leise sagte sie:

»Tu, was gut für Nils ist. Ich möchte wirklich wissen, was ihm fehlt, und ob du ihm helfen kannst.«

»Wir werden sehen. Dann werde ich mal eine Schwester kommen lassen.«

Kay griff zum Telefon, wählte eine Nummer und sagte:

»Dr. Martens hier. Bitte schicken Sie mir Schwester Laurie in mein Zimmer, um einen Patienten abzuholen. Ich möchte, daß er gut untergebracht wird.«

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis Schwester Laurie nach kurzem Anklopfen das Zimmer betrat.

Kay stellte sie vor und erklärte:

»Sie wird sich in Zukunft um dich kümmern, Nils. Wenn du einen Wunsch hast, brauchst du es ihr nur zu sagen.«

»Nils heißt du also«, stellte Schwester Laurie fest, »das ist ein hübscher Name. Was meinst du, werden wir beide uns wohl vertragen?«

Nils nickte verlegen, und Madlon sagte:

»Geh ruhig mit, Nils, ich komme später nach.«

»Ganz bestimmt, Mutti?«

»Natürlich, ganz bestimmt«, bestätigte Madlon lächelnd.

Einen Augenblick später war sie mit Kay allein.

»Wirst du meinem Jungen helfen können, Kay?«

»Das weiß ich nicht, wir müssen erst alle Untersuchungsergebnisse abwarten. Vorher will ich dich nicht entmutigen, aber ich möchte dir auch keine voreiligen Hoffnungen machen. Ich verspreche dir aber, daß ich alles in meiner Macht Liegende tun werde, um ihm zu helfen, falls es notwendig werden sollte. Du mußt dir keine unnötigen Sorgen machen. Vielleicht ist alles ganz harmlos.«

»Vielleicht, Kay«, sagte Madlon zweifelnd. Sie machte eine kleine Pause.

»Es tut mir leid, daß wir uns nicht unter erfreulicheren Umständen wiedergesehen haben«, sagte sie dann. »Ich bin mit Nils zu dir gekommen, weil ich dir vertraue.«

»Alles andere ist jetzt auch nicht so wichtig. Ich bin in erster Linie Arzt.«

»Wann wirst du die Untersuchungen abgeschlossen und die Ergebnisse vorliegen haben?«

»Übermorgen. Jetzt stelle ich dich meiner Schwester vor, danach bringe ich dich zur Krankenstation hinauf. Du hast doch nichts dagegen?«

»Aber nein«, Madlon lächelte fein. »Wie lange kann ich bei Nils bleiben?«

»Heute nicht mehr lange. Ich möchte möglichst rasch mit den Untersuchungen beginnen. Du kannst ganz beruhigt sein. Nils wird es hier bestimmt gefallen.«

Kay verließ mit Madlon sein Sprechzimmer. Auf dem Gang kam Hanna ihnen entgegen, denn sie stand gerade im Begriff, nach ihm zu sehen. Höflich lächelnd trat sie auf Kay und seine Besucherin zu.

»Darf ich vorstellen, Hanna, das ist Frau van Enken. Madlon, das ist meine Schwester Hanna.«

Mit einem herzlichen Lächeln reichten die beiden Frauen sich die Hand.

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Frau van Enken. Mein Bruder hat mir schon sehr viel von Ihnen erzählt. Fehlt Ihrem Sohn etwas Ernsthaftes?«

»Ich weiß es nicht. Ihr Bruder soll es erst herausfinden.«

»So ist es, Hanna, ich behalte Nils ein paar Tage hier in der Klinik, um ihn auf den Kopf zu stellen. Ich bringe Madlon hinauf zu ihrem Jungen, danach unterhalten wir uns weiter darüber.«

»Einverstanden, Kay, ich muß jetzt auch noch ins Labor hinunter. Auf Wiedersehen, Frau van Enken.«

»Auf Wiedersehen, Frau Dr. Martens.«

Kay brachte Madlon nun zu Nils. Obwohl er sie am liebsten in seine Arme gezogen und um ihre Antwort auf seine sehnsüchtige Frage gebeten hätte, war ihm klar, daß es wieder einmal nicht der richtige Zeitpunkt war, um über solche tiefgehenden Gefühle zu sprechen.

*

Es war am nächsten Vormittag nach der Visite, die Hanna mit Dr. Küsters und Oberschwester Elli durchgeführt hatte. Nachdem sie noch einige Anweisungen gegeben hatte und gerade das Schwesternzimmer verlassen wollte, schlug das Telefon an.

Schwester Elli nahm den Hörer ab und meldete sich.

»Für Sie, Frau Doktor«, hielt sie ihre Vorgesetzte zurück, »es ist Ihr Bruder.«

Sie reichte Hanna den Hörer weiter.

»Ja, was gibt es?« sprach Hanna in die Muschel.

»Hast du einen Moment Zeit, um zu mir ins Untersuchungszimmer zu kommen, Hanna?«

»Ja, natürlich. Ich bin hier sowieso für den Augenblick fertig.«

»Gut, dann erwarte ich dich. Ich habe nämlich die ersten Untersuchungsergebnisse von Nils van Enken vorliegen. Ich hätte gern deine Meinung dazu.«

»Ich komme sofort.«

Hanna legte den Hörer auf die Gabel und informierte die Oberschwester:

»Also, Schwester Elli, Sie haben es ja mitbekommen. Falls ich gebraucht werde, bin ich bei meinem Bruder in dessen Sprechzimmer zu finden.«

»In Ordnung«, sagte Schwester Elli knapp und beugte sich wieder über ihre Arbeit.

Nachdenklich verließ Hanna nun das Schwesternzimmer. Kays Stimme hatte sehr ernst geklungen. Was mochte er bei dem Jungen festgestellt haben?

Während sie die Treppe hinunterging, mußte sie an die Mutter des Dreizehnjährigen denken. Diese Madlon van Enken war ja wirklich eine wunderschöne Frau. Sie konnte Kay gut verstehen, daß er sich ausgerechnet in sie verliebt hatte. Außerdem schien Kay eine Vorliebe für rotes Haar zu haben, denn es war schon das zweite Mal, daß eine rothaarige Frau seine besondere Aufmerksamkeit erregt hatte. Nur schien es dieses Mal ausgesprochen ernster Natur zu sein. Zudem war Madlon van Enken überaus sympathisch. Sie würde Kay von ganzem Herzen gönnen, daß er an der Seite dieser Frau sein Lebensglück fand.

Augenblicke später betrat Hanna das Sprechzimmer ihres Bruders.

»Da bin ich, Kay. Was gibt es? Deine Stimme hat gerade am Telefon

so ernst geklungen. Du hast keine guten Ergebnisse erhalten, nicht wahr?«

»Wie gut du mich kennst. Nein, es ist wirklich kein gutes Ergebnis, worüber ich mir dir sprechen möchte. Mich interessiert dazu sehr dein fachliches Urteil.«

»Dann laß mich mal sehen.«

Kay spannte ein paar Röntgenaufnahmen in die Bildplatte. Hanna betrachtete sie intensiv und mit Betroffenheit sagte sie:

»O nein, das ist doch nicht möglich!«

»Denkst du das, was mir auch schon die ganze Zeit nicht aus dem Kopf geht?«

»Möglich, Kay. Es könnte sich um ein osteogenes Sarkom oder ein Spindelzellensarkom handeln. Aber nach den Anzeichen hier auf den Röntgenbildern würde ich eher sagen, daß es ein Spindelzellensarkom ist. Außerdem verursacht ein osteogenes Sarkom zeitweise heftige Schmerzen, die Nils ja nicht hat. Oh, mein Gott! Was wirst du jetzt machen?«

Kay fuhr sich mit einer Hand durch das dichte Haar.

»Was würdest du tun, Hanna?«

»Wenn du eine hundertprozentige Diagnose stellen willst, mußt du zuerst eine Probeexzision vornehmen.

Wie gefährlich es in diesem Fall sein könnte, muß ich dir ja nicht sagen. Mich würde nur interessieren, wie der Junge daran gekommen ist. Es muß doch eine Ursache dafür geben.«

»Klar, Hanna. Ich glaube, daß die Ursache in dem Unfall am Millstätter See zu suchen ist. Wahrscheinlich ist Nils beim Sturz aus dem Boot mit dem Knie angeschlagen, und die Verletzung ist übersehen worden. Manchmal passiert das ja leider. Ich hatte gleich ein ungutes Gefühl, als ich von Nils schlechtem Allgemeinbefinden hörte.«

»Und wenn du das Bein nicht mehr retten kannst und es amputieren mußt?«

»Daran denke ich jetzt lieber noch nicht. Der Junge ist erst dreizehn, er hat das ganze Leben noch vor sich. Es ist aber auch oft wirklich zum Verzweifeln. Wenn man persönlich betroffen ist, fällt es einem noch mal so schwer, es einem lieben Menschen beizubringen. Ich weiß gar nicht, wie ich es Madlon sagen soll.«

»Vielleicht sehen wir beide zu schwarz, und es handelt sich um eine gutartige Geschwulst. Du mußt nur schnell entscheiden, was du jetzt tun willst.«

»Zuerst werde ich mit Madlon reden, wenn sie nachher zur Klinik kommt. Wie sie mir gestern sagte, kommt sie so gegen elf Uhr.«

»Hast du Martin schon gesagt, daß er sie zuerst zu dir schicken soll?«

»Nein, ich glaube, das ist nicht nötig. Madlon wird sowieso zuerst zu mir kommen, um nach den Untersuchungsergebnissen zu fragen.«

»Du liebst sie sehr, nicht wahr?«

»Ja, ich liebe sie sehr. Da ist

nur immer noch die Ungewißheit,

ob sie dasselbe fühlt wie ich. Ich hätte so gern schon die Antwort darauf. Nur, so wie es im Augenblick mit dem Jungen ausschaut, kann ich sie nicht auch noch bedrängen. Ich muß wohl, ob es mir gefällt oder nicht, im Moment noch damit warten. Lassen wir unsere privaten Dinge jetzt beiseite, Hanna. Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich noch ein paar Minuten allein sein, bis Madlon kommt. Ich muß mir überlegen, wie ich ihr diese neue Hiobsbotschaft

so schonend wie möglich beibringe. Das verstehst du doch sicher, nicht wahr?«

»Ja, Kay, natürlich. Doch wie auch immer, sag ihr am besten die Wahrheit. Sie ist vielleicht stärker, als du glaubst.«

»Ich hoffe es. Ich sage dir später, wie das Gespräch verlaufen ist.«

»Gut, bis nachher.«

Hanna verließ mit ernstem Gesicht das Sprechzimmer ihres Bruders. Sie wußte aus vielen Erfahrungen, daß es keine leichte Aufgabe war, die da vor Kay lag.

*

Bevor Madlon das Haus verließ, um nach Ögela zu fahren, klingelte das Telefon.

Es wird doch wohl nicht die Klinik mit einer unangenehmen Nachricht sein? dachte sie erschrocken und eilte zum Telefon.

Mit wild pochendem Herzen hob sie den Hörer ab.

»Van Enken«, meldete sie sich, und sie konnte nicht verhindern, daß ihre Stimme vor Aufregung rauh und heiser klang.

»Hier ist Guido. Du hattest doch versprochen, daß du mich sofort anrufst, wenn du mit Nils vom Arzt kommst. Ich habe gestern den ganzen Nachmittag vergeblich versucht, dich zu erreichen. Was ist los? Deine Stimme klingt auch so eigenartig.«

»Es ist nichts, Guido, ich bin nur außer Atem, weil ich gerade das Haus verlassen wollte. Tut mir leid, daß du mich gestern nachmittag nicht erreichen konntest. Ich bin gestern mit Nils zur Kinderklinik Birkenhain nach Ögela gefahren, um ihn dort von einem mir gut bekannten Arzt gründlich untersuchen zu lassen. Bis zu diesem Zeitpunkt weiß ich aber noch nicht, was Nils fehlt. Man behält ihn ein paar Tage dort, um ihn gründlich zu untersuchen. Ich werde gleich hinfahren und hoffe, daß ich heute schon mehr erfahren kann. Sobald ich zurückkomme und mehr weiß, werde ich es dich wissen lassen. Du mußt dich also noch etwas gedulden.«

»Ich verlasse mich darauf, denn ich mache mir große Sorgen um unseren Jungen. Bitte, vergiß nicht, mich zu informieren. Ich werde auf deinen Anruf warten.«

»Ja, ja, ich werde schon dran denken. Jetzt laß uns Schluß machen, ich will endlich fahren.«

Kurz darauf verließ Madlon das Haus.

Unwillig über sich selbst schüttelte sie den Kopf, denn sie verstand nicht, daß sich ihre Gedanken mehr mit Guido beschäftigten, als sie vor sich selbst zugeben wollte.

Warum mußte er sich auch neuerdings wieder in ihr Leben einmischen? Dadurch, daß Nils so sehr an ihm hing, konnte sie selbst auch nicht den nötigen Abstand gewinnen, um die Jahre mit Guido zu vergessen. Aber – sie wollte sie vergessen. Die letzten davon waren zu schmerzhaft gewesen. Schmerzhaft dadurch, daß sie erkennen mußte, daß es in seinem Leben noch eine andere Frau gegeben hatte.

Oh, wie sehr hatte sie sich damals gedemütigt gefühlt. Eine ganze Welt war vor zwei Jahren in ihr zerbrochen. Zwei Jahre, in denen so viel geschehen war, bis sie sich endlich dazu durchgerungen hatte, die Scheidung einzureichen. Wenn auch Guido ihr immer und immer wieder versichert hatte, daß alles mit dieser anderen Frau vorbei war und sie ständig gebeten hatte, ihm doch zu verzeihen, hatte sie nicht mehr das Vertrauen zu ihm aufbringen können, das für sie die Voraussetzung für eine gute Ehe war. Sie war fertig mit ihm, wollte ihn für immer vergessen. Als sie dann im vergangenen Urlaub Kay kennengelernt hatte, sich zu ihm hingezogen gefühlt hatte, hatte sie fest geglaubt, eine neue und schöne Zukunft vor sich zu haben. Doch seit einigen Tagen war ihr klargeworden, daß sie sich geirrt hatte. Sie konnte die Zeit mit Guido nicht abschütteln. Und dann war da auch noch Nils, der die Erinnerung an Guido wachhielt. Und er liebte seinen Vater wohl unauslöschlich.

Du bist eine dumme Gans, Madlon, schalt sie sich ärgerlich. Auf diese Weise wirst du dich nie von ihm lösen können. Schalte ab und bemühe dich, an etwas anderes zu denken.

Wieder schüttelte sie, unwillig über sich selbst, den Kopf.

Wie rasch über alle diese Gedanken die Zeit verstrichen war, merkte sie, als sie das Ortsschild von Ögela sah. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis sie wieder bei ihrem Jungen war.

Ihre Unruhe wuchs von Minute zu Minute.

Was würde Kay heute sagen? Ob er schon etwas herausgefunden hatte?

Ein Stück voraus gewahrte sie die beiden Giebeltürme der Klinik hinter den hohen Birken, und Augenblicke später fuhr sie durch den schmiedeeisernen Torbogen auf das Klinikgebäude zu.

Mit zögernden Schritten ging sie wenig später auf den Eingang zu.

»Ist Dr. Martens in seinem Sprechzimmer?« wollte sie von Martin wissen, der mit einem freundlichen Lächeln aus der Aufnahme kam.

»Ja, Frau van Enken, der Chefarzt ist in seinem Sprechzimmer. Sie können gleich zu ihm durchgehen. Den Weg kennen Sie ja?«

»Ja, ich weiß Bescheid, Herr Schriewers, vielen Dank.«

Ein beklemmendes Gefühl stieg in Madlon auf, als sie ihm wenige Minuten später in seinem Arbeitszimmer gegenüberstand und in sein ernstes Gesicht sah.

»Ich habe dich schon erwartet, Madlon. Schön, daß du so früh gekommen bist.«

»Du hast also schon die Ergebnisse und weißt, was meinem Jungen fehlt?«

»Ja, aber setz dich doch bitte erst hin. Ich werde es dir erklären, aber es ist nicht mit ein paar Worten getan«, antwortete Kay.

»Ich kann jetzt nicht einfach still sitzen, kannst du das verstehen?« bat sie. »Es geht schließlich um mein Kind. Ich sehe dir doch an, daß dieses Gespräch nichts Gutes bringen wird, habe ich recht?«

»Bitte, Madlon, setz dich erst«, wiederholte Kay sehr bestimmt.

Er nahm ihren Arm und drückte sie in einen Sessel. Dann nahm er ihr gegenüber Platz und sagte:

»Du darfst dich jetzt nicht aufregen, Madlon. Ich habe dir wirklich etwas Negatives mitzuteilen, aber ich bitte dich, mir bis zum Ende zuzuhören.«

Ausführlich und mit ruhiger Stimme versuchte Kay, ihr zu erklären, was bei den Untersuchungen herausgekommen war. Sie unterbrach ihn mit keinem Wort, doch ihre Augen weiteten sich im Verlauf seiner Erklärungen entsetzt. Erst als er am Ende war, fragte sie fassungslos:

»Das heißt doch wohl Krebs, nicht wahr? Wie kann das denn sein? Nils ist doch noch ein Kind. Ich will es einfach nicht glauben, das muß ein Irrtum sein. Bitte, Kay, sag doch, daß es ein Irrtum ist.«

Bei ihren letzten Worten war ihre Stimme lauter geworden, und flehentlich sah sie ihn an. Ihre Hände krallten sich in die Sessellehne, so daß die Knöchel weiß hervortraten, und sie zitterte am ganzen Körper.

»Bitte, beruhige dich doch, Madlon.« Kay beugte sich vor und umspannte ihre Hände mit festem Druck. »Ich habe dir doch versucht zu erklären, daß es noch nicht hundertprozentig feststeht. Wir müssen diese Möglichkeit nur vorsichtshalber ins Auge fassen. Erst dann, wenn wir eine Gewebeprobe entnommen haben, kann eine Untersuchung zeigen, ob es sich wirklich um eine bösartige Geschwulst handelt. Allerdings sollten bei einer so ernsten Sachlage beide Elternteile Bescheid wissen, sofern sie erreichbar sind. Wir müssen auch das Einverständnis für einen operativen Eingriff haben. Willst du persönlich mit deinem geschiedenen Mann sprechen, oder soll ich es dir abnehmen?«

»Ich weiß nicht, Kay. Ich habe Guido zwar gesagt, daß ich ihn anrufen würde, wenn ich Bescheid wüßte, aber ich bezweifle, daß ich in der Lage bin, es ihm zu sagen. Ich habe Angst davor. Ist es denn wirklich kein Irrtum?«

»Nein, eine Geschwulst liegt tatsächlich vor. Wir wissen eben nur noch nicht, ob sie gut- oder bösartig ist. Doch zurück zu Nils’ Vater. Gib mir doch einfach seine Telefonnummer, und ich setze mich dann mit ihm in Verbindung. Ich kann als Arzt sicher leichter mit ihm reden. Das heißt, wenn du mit dieser Lösung einverstanden bist.«

»Ja, ich bin einverstanden. Kann ich jetzt zu Nils? Weiß er, was er hat?«

»Nein, natürlich nicht. Er sollte auch nur zu wissen bekommen, daß er am Bein operiert werden muß, mehr nicht. Es würde ihn zu sehr belasten. Wirst du stark genug sein und dir Nils gegenüber nichts anmerken lassen?«

»Es wird mir sehr schwer fallen, aber es muß sein, und ich werde es schaffen.«

»Gut, Madlon, so ist es richtig. Wenn du willst, kannst du jetzt zu Nils gehen. Vergiß aber nicht, mir vorher die Nummer deines geschiedenen Mannes zu geben.«

»Nein, nein, hier hast du sie.«

Madlon kramte in ihrer Handtasche und gab Kay eine schmale Visitenkarte mit immer noch zitternden Händen.

»Soll ich mit hochgehen?«

»Nein, das muß ich allein hinter mich bringen. Ich habe nicht vor, so schnell schon wieder nach Hause zu fahren. Wir werden uns also bestimmt im Laufe des Nachmittags noch sehen. Bis später.«

Tiefes Mitgefühl war in Kay, als er ihr nachsah, wie sie gefaßt den Raum verließ.

*

Guido van Enken, der als Abteilungsleiter in der Stadtsparkasse arbeitete, war gerade in der Kontenabteilung, als er ans Telefon gerufen wurde.

»Ein Gespräch für Sie, Herr van Enken.«

»Bitte, stellen Sie das Gespräch in mein Büro um«, sagte er und ging mit langen Schritten davon. Unruhe breitete sich in ihm aus. Madlon wollte ihn doch erst anrufen, wenn sie aus der Klinik zurückkam. Aber dafür war es noch zu früh. Weshalb wollte sie ihn jetzt schon sprechen?

Guido dachte gar nicht nicht an die Möglichkeit, daß ihn jemand anders sprechen wollte, zu sehr beschäftigte er sich in Gedanken mit seinem Sohn, um den er sich so große Sorgen machte. So sagte er in die Telefonmuschel:

»Madlon, bist du es?«

»Guten Tag, Herr van Enken«, antwortete eine Männerstimme, »mein Name ist Martens. Ich bin der behandelnde Arzt Ihres Sohnes, und Ihre Frau hat mich gebeten, Sie anzurufen.«

»Weshalb spricht meine Frau denn nicht persönlich mit mir?« fragte Guido höchst alarmiert.

»Sie fürchtete, nicht die richtigen Worte zu finden, Herr van Enken. Können Sie es einrichten, hierher zur Klinik zu kommen? Es ist sehr wichtig für mich, Sie persönlich zu sprechen. Am Telefon läßt es sich nicht behandeln.«

»Ich entnehme Ihren Worten, daß Sie bei unserem Sohn etwas Ernsteres festgestellt haben?« fragte Guido, und war selbst erstaunt über seine so fremd klingende Stimme.

»Ja, Herr van Enken, so ist es. Kann ich also mit Ihrem Besuch rechnen?«

»Ja, selbstverständlich. Ich könnte gegen fünfzehn Uhr, möglicherweise sogar schon eine Stunde früher, da sein. Wäre Ihnen diese Zeit recht?«

»Ja, kommen Sie dann, wann Sie es am besten einrichten können. Fragen Sie Herr Schriewers an der Aufnahme, und er wird mir sofort Bescheid geben. Ich erwarte Sie also.«

»Ja, und vielen Dank für Ihren Anruf.«

Während Guido den Telefonhörer auflegte, rasten die Gedanken hinter seiner Stirn. Was fehlte seinem Jungen, daß der Arzt ihn sogar persönlich sprechen wollte? Die Sorgen, die er sich schon seit dem Samstagnachmittag gemacht hat, wurden zu einem schier unüberwindlichen Berg. Am liebsten hätte er sofort alles stehen und liegen gelassen und wäre zur Klinik gefahren. Aber das war heute, am Dienstag, nicht möglich. Bis vierzehn Uhr war er auf keinen Fall abkömmlich.

Die Zeit, bis er sich endlich auf den Weg machen konnte, verging quälend langsam. Kurz vor vierzehn Uhr war es soweit. Da er einen leistungsstarken Mercedes fuhr, benötigte er für die Strecke bis zur Kinderklinik nur eine knappe Dreiviertelstunde. Er hatte Glück, daß ihn unterwegs keine Streife angehalten hatte, denn sein Tempo war streckenweise höher gewesen als erlaubt.

Kay stand am Fenster und sah einen Wagen mit Celler Kennzeichen vorfahren.

Das wird Madlons geschiedener Mann sein, dachte er, als er den hochgewachsenen blonden Mann aus dem Wagen steigen sah. Er schätzte ihn auf fünfunddreißig bis achtunddreißig Jahre. Der Mann machte auf ihn einen sehr gepflegten Eindruck, und er sah gut aus, das mußte er selbst als Mann neidlos zugeben. Im Gesicht des sich nähernden Mannes machte er eine gewisse Ähnlichkeit mit Nils aus.

Kay fragte sich, was wohl der Grund dafür gewesen sein mochte, daß Madlons Ehe mit ihm zerbrochen war. Doch lange Zeit zum Überlegen hatte er nicht, denn wenig später klopfte es, und dann standen die beiden Männer sich gegenüber.

»Dr. Martens?«

»Ja, und Sie sind Herr van Enken, nicht wahr? Ich freue mich, daß Sie so rasch kommen konnten. Bitte, nehmen Sie Platz.«

Kay wies auf einen Besuchersessel und wartete, bis Guido Platz genommen hatte, dann setzte er sich ihm gegenüber.

»Ich bin so rasch wie möglich gekommen, Dr. Martens. Ich mache mir seit Ihrem Anruf verständlicherweise große Sorgen um meinen Jungen. Sagen Sie mir also bitte ohne Umschweife, was ihm fehlt.«

Wie schon Stunden zuvor Madlon, erklärte er Guido van Enken nun ebenso ausführlich wie vorsichtig, was die Auswertungen der Untersuchungen an Nils ergeben hatten.

Mit unnatürlicher ruhiger Stimme, aber kalkweißem Gesicht sagte Guido, als Kay geendet hatte:

»Das bedeutet also im schlimmsten Fall, daß Sie Nils das betroffene Bein amputieren müssen, wenn sich herausstellt, daß es sich um ein Spindelzellensardom handelt?«

»Nur dann, wenn sich schon Metastasen gebildet haben oder die Gefahr dahingehend besteht, Herr van Enken. Aber lassen Sie uns noch nicht so weit daran denken.«

»Doch, Herr Doktor, wir müssen daran denken. Ich weiß nicht, wie Madlon es verkraftet, wenn es wirklich soweit kommen sollte. Aber eines sollen Sie wissen. Wenn auch unsere Ehe zerbrochen ist, und zwar durch meine Schuld, so liebe ich Madlon trotzdem immer noch. Nein, sogar mehr als zuvor. Ich habe die Hoffnung nie aufgegeben, daß wir durch unseren Sohn wieder zusammenkommen könnten, und es zerreißt mir beinahe das Herz, wenn ich an die Krankheit von Nils denke, weil ich weiß, wie sehr Madlon ihn liebt. Wie hat sie Ihre Information denn aufgenommen?«

»Erwarten Sie darauf wirklich eine Antwort, nach dem, was Sie gerade über Ihre Beziehung zu Nils sagten?«

»Sie haben recht, es war eine dumme Frage. Ich kann mir vorstellen, wie Madlon zumute ist. Ist sie jetzt bei dem Jungen?«

»Ja, sie ist oben auf der Krankenstation. Wenn Sie hinaufgehen, lassen Sie sich von einer Schwester zu Nils’ Zimmer bringen. Reden Sie aber mit Ihrer Frau nach Möglichkeit nicht im Beisein des Jungen über dessen Erkrankung. Wir möchten Nils gern psychisch stabil halten, das ist für die Operation vorteilhafter, zu der ich im übrigen noch Ihre Einwilligung benötige.«

»Geht es denn nicht auch ohne Operation?«

»Nein, die Geschwulst muß in jedem Fall operativ entfernt werden. Ich möchte zunächst eine Gewebeprobe entnehmen, die wir im Pathologischen Institut in Lüneburg untersuchen lassen wollen. Wenn das Ergebnis dieser Untersuchung vorliegt, kann ich weiter entscheiden. Mehr kann ich im Augenblick nicht dazu sagen. Entschuldigen Sie mich jetzt bitte, ich habe noch viel zu tun.«

»Ja, sicher. Ich danke für die gründliche Aufklärung. Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen, Herr van Enken.«

Kay atmete auf, als er wieder allein war. Da hatte dieser Mann doch von seiner Hoffnung gesprochen, sich wieder mit Madlon auszusöhnen, weil er sie noch immer liebe… Er aber liebte Madlon doch auch von ganzem Herzen. Er konnte nicht glauben, daß sie bereit wäre, die Scherben ihrer zerbrochenen Ehe zu kitten. Und Kinder waren nicht dazu da, um…

Ach was, unterbrach er seinen Gedankengang. Diese Entscheidung mußte Madlon ganz allein treffen. Was hatte er sich da einzumischen, wenn auch nur in Gedanken? Sie hatte ihn nur um Zeit gebeten, um ein wenig Abstand zu gewinnen, sich von ihrer Vergangenheit zu lösen.

Trotzdem bereitete ihm allein schon der Gedanke, daß sie sich doch gegen ihn und für ihren geschiedenen Mann entscheiden würde, fast körperliche Schmerzen.

Ein Anruf Schwester Margrets, der ihn dringend zur Intensivabteilung rief, lenkte ihn von seinen trübsinnigen Gedanken ab.

*

Nils war glücklich, die geliebte Mutti bei sich zu haben. Ihrem geduldigen und liebevollen Zureden war es zuzuschreiben, daß er sich nach erstem Aufbegehren darein schickte, noch in der Klinik zu bleiben. Ruhig lag er im Bett und hörte geduldig der weichen Stimme seiner Mutter zu, als sie ihm aus einem seiner Bücher vorlas.

So vertieft, überhörten beide das Klopfen an der Tür. Erst als die Tür sich öffnete, sah Nils hoch.

»Vati, Vati!« rief er glückstrahlend aus. »Daß du gekommen bist!«

Madlon zuckte erschrocken zusammen und fuhr herum.

»Hallo, mein Junge, du machst ja vielleicht Sachen. Ich kann doch da nicht so in meiner Wohnung herumsitzen, während du hier im Krankenhaus liegen mußt.«

»Ich freue mich ja so, daß du gekommen bist. Wer hat dir denn gesagt, daß ich hier bin? Mutti wollte dich doch erst heute abend anrufen.«

»Dr. Martens hat mich angerufen, Nils.«

»Ehrlich?«

»Wenn ich es doch sage.«

»Dann weißt du bestimmt auch schon, daß Dr. Martens mich vielleicht am Bein operieren muß.«

»Ja, das weiß ich auch schon. Aber darüber reden wir auch noch. Jetzt muß ich etwas mit Mutti besprechen. Es ist dir doch recht, Madlon?«

Fragend sah er sie an, und sie nickte wortlos.

»Gibt es hier im Haus eine Ecke, in der wir uns ungestört unterhalten können?«

Madlon hatte ihre Sprache wiedergefunden. Sie antwortete:

»Ja, wir können in die Kantine gehen. Mir würde eine Tasse Kaffee ganz guttun. Für ein Viertelstündchen wird Nils sich schon allein beschäftigen, hab ich recht?«

»Ja, Mutti, aber bitte, kommt alle beide wieder zurück.«

»Klar, schon versprochen«, sagte Guido schnell, noch ehe Madlon etwas einwenden konnte. »Ich habe den weiten Weg ja schließlich nicht gemacht, um dir nur eben guten Tag zu sagen. Also, halt die Ohren steif, bis gleich.«

Nils sah weder im Gesicht seiner Mutter noch in dem des Vaters den versteckten Ernst und die Unruhe. Für ihn war in diesen Minuten nur von Bedeutung, daß sein Vati und seine Mutti sich unterhalten wollten. Das hatten sie schon lange Zeit nicht getan. Und wenn sie doch einmal einige Worte am Telefon gewechselt hatten, war das stets in Streit ausgeartet.

Mit leuchtenden Augen sah Nils den beiden nach, als sie sein Krankenzimmer verließen. Hoffnung keimte in ihm auf. Vielleicht würden die beiden sich ja wieder vertragen. Ja, er wollte doch so gern alle beide wieder um sich haben und seinen Vati nicht nur einmal in der Woche besuchen dürfen.

Die Gedanken des dreizehnjährigen Jungen gingen in die Vergangenheit zurück. Er konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, zu der sein Vati zum Dienst gekommen war und sie immer Fußball gespielt hatten. Überhaupt, er hatte immer mit all seinen Sorgen zu ihm gehen können, hatte immer Verständnis erwarten können.

Damals war auch seine Mutti immer lieb zu ihm gewesen, und sie war immer fröhlich gewesen. Gut, heute war sie auch lieb zu ihm aber auch oft traurig, und sie war eben eine Frau. Sein Vati war sein großer Freund gewesen, das war er heute zwar auch noch, aber leider war er für ihn nur einmal in der Woche erreichbar.

So hing der Junge in Gedanken seinen Wunschträumen nach, und die beiden Menschen, um die sich seine Gedanken drehten, saßen sich in diesen Minuten in der Kantine gegenüber.

»Ich weiß, daß dir meine Anwesenheit alles andere als angenehm ist«, sagte Guido. »Aber nach dem Anruf von Dr. Martens hielt mich nichts mehr in Celle. Ich mußte mit dem Arzt sprechen und Nils sehen. Wir sollten jetzt zuerst nur an den Jungen denken. Bitte, laß uns nicht als Feinde gegenübersitzen.«

»Reden wir, worüber wir reden müssen, und danach geh wieder aus meinem Leben. Ich lasse nicht zu, daß du dich erneut hineindrängst. Du hast mir einmal sehr weh getan, das kann ich einfach nicht vergessen. Du hast alles Schöne zwischen uns zerstört.«

»Ich weiß, daß ich dich sehr verletzt habe, Madlon. Wie sehr ich alles bereue, weiß ich nur allein. Du solltest aber wissen, daß ich nur dich allein liebe und dich immer lieben werde. Warum kannst du mir nur nicht verzeihen? Nils braucht uns doch

beide, und jetzt ganz besonders. Dr. Martens hat mir alles gesagt. Bist

du mit einer Operation einverstanden?«

»Ich weiß nicht, und soweit ist es ja Gott sei Dank noch nicht. Erst soll eine Gewebeprobe entnommen werden.«

»Ich weiß, Madlon, aber wir müssen mit der Operation rechnen. Die Geschwulst ist nun mal da und muß so oder so entfernt werden. Aber sollten wir unsere Augen nicht vor den Tatsachen verschließen, wir müssen damit rechnen, daß die Geschwulst bösartig ist. Ich möchte so gern, daß unser Junge am Leben bleibt, wie immer dieses Leben nach der Operation auch aussehen mag.«

»Nein, ich werde nicht zulassen, daß man…«

Erregt sprang Madlon auf und starrte Guido entsetzt an.

»Madlon, bitte, setz dich wieder hin, wir sind nicht allein in der Kantine. Wir erregen Aufsehen.«

»Das ist mir egal Es ist ungeheuerlich, daß du an so etwas denken kannst.«

»Wir müssen daran denken«, sagte Guido eindringlich.

Er faßte nach ihrer Hand und zwang sie, sich wieder hinzusetzen.

»Wenn sich die Geschwulst als bösartig herausstellt, ist es der einzige Weg, um zu verhindern, daß auch andere Organe befallen werden und es dann gar keine Hilfe mehr für Nils gibt. Willst du, daß er dann quälend langsam dahinsiecht? Ich bete zu unserem Herrgott, daß es nicht so ist. Aber wir müssen doch darüber reden.«

»Nein, ich will nicht an diese Möglichkeit denken. Ich weiß, daß Kay Nils retten will. Er ist ein guter Chirurg, und er wird alles tun. Ich bin mit einer Operation einverstanden, bei der die Geschwulst entfernt wird, aber mit mehr nicht. Ich bitte dich, stelle dich nicht gegen mich, wenn du mich wirklich liebst.«

»Gut, Madlon, stellen wir unsere Entscheidung zurück und warten erst das Ergebnis der Gewebeprobe ab. Bist du damit einverstanden?«

»Ja, aber ich werde mich, wie immer auch das Ergebnis ausfällt, nicht anders entscheiden. Ich möchte jetzt zu Nils zurück, damit er sich keine Gedanken über unser langes Ausbleiben macht. Du kannst auch zu jeder Zeit zu ihm gehen. Ich werde nichts dagegen einwenden, bis er wieder aus dem Krankenhaus entlassen wird. Du bist ja sein Vater.«

Schon bei ihren letzten Worten hatte Madlon sich erhoben, und gemeinsam mit Guido verließ sie die Kantine.

*

Bevor Madlon und Guido van Enken an diesem Tag die Klinik verließen, bat Kay sie noch einmal zu sich ins Sprechzimmer, in dem jetzt auch Hanna anwesend war.

»Haben Sie sich nun mit Ihrer Frau abgesprochen und eine Entscheidung gefällt, Herr van Enken? Ich möchte gleich morgen vormittag die Gewebeprobe entnehmen. Um des Jungens willen dürfen wir es nicht länger hinauszögern.«

»Tun Sie, was Sie für richtig halten, Dr. Martens. Unsere Entscheidung hängt davon ab, wie das Ergebnis der Probe ausfällt.«

»Denkst du so wie dein Mann?« erkundigte Kay sich bei Madlon.

»Ja, Kay, ich werde niemals zulassen, daß Nils das Bein abgenommen wird. Mit der Entfernung der Geschwulst dagegen bin ich einverstanden, mit mehr nicht.«

»Sind Sie sich der Folgen für Nils bewußt, falls es sich herausstellt, daß die Geschwulst bösartig ist, Frau van Enken?« mischte Hanna sich in das Gespräch ein. »Sie können diese Tatsache nicht ausschließen. Wenn es so ist, kann eine Amputation Ihrem Jungen das Leben retten. Denn auch, wenn wir nur die Geschwulst entfernen, gibt es keine Garantie dafür, daß sich nicht im Umfeld schon Tochtergeschwülste gebildet haben, die andere Körperorgane befallen können. Es würde eine nie endende Kette bedeuten, die für den Jungen die reinste Quälerei wäre. Auf die Dauer gesehen, könnten wir das Leben Ihres Jungen nicht erhalten. Sie sollten alle Seiten betrachten. Denken Sie noch einmal in aller Ruhe darüber nach. Es ist doch alles nur für den schlimmsten Fall. Es muß durchaus nicht so kommen.«

»Was meine Schwester sagt, stimmt, Madlon. Wenn wir das Ergebnis der Gewebeprobe haben, müssen wir gegebenenfalls überschnell handeln. Überschlafe es noch einmal. Wir werden uns morgen noch einmal darüber unterhalten. Du solltest doch wissen, daß ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, um dem Jungen zu helfen. Ungerechtfertigterweise würde ich auch eine Amputation niemals vornehmen, das kannst du mir glauben. Ich hoffe, Sie glauben mir das auch, Herr van Enken?«

Guido sah Kay offen an und erwiderte ruhig:

»Ja, Dr. Martens, ich glaube Ihnen und Ihrer Schwester. Danke.«

Nach diesen Worten wandte Guido sich an Madlon: »Willst du deinen Wagen nicht hier stehen lassen und mit mir nach Celle zurückfahren? Ich bringe dich auch morgen wieder her.«

»Nein, danke, ich fahre lieber allein. Ich werde mir ein paar Sachen holen und dann hier in Ögela ein Zimmer mieten. Ich möchte in Nils’ Nähe und jederzeit für ihn erreichbar sein. Kann man hier irgendwo ein Zimmer günstig mieten, Frau Dr. Martens?«

»Ja, Frau van Enken«, beruhigte sie Hanna mit einem Lächeln, »Sie können sich im Heidekrug einquartieren, aber auch im Haus Daheim gibt es hübsche Zimmer. Ich könnte für Sie anrufen und ein Zimmer bestellen, wenn es Ihnen recht ist.«

»Ja, danke, das wäre sehr nett.«

»Gut, dann warten Sie bitte noch einen Augenblick.«

Schon griff Hanna zum Telefon und wählte die Nummer des Heidekruges in Ögela. Sie wechselte ein paar freundliche Worte mit der Wirtin und nickte bejahend in Richtung zu Madlon, bevor sie den Hörer wieder auflegte.

»Alles erledigt, Frau van Enken. Wenn Sie zurückkommen, melden Sie sich im Heidekrug bei Herrn oder Frau Bachmann.«

»Vielen Dank, Frau Dr. Martens. Bis morgen.«

Madlon und Guido verließen kurz darauf die Klinik, und Kay war mit Hanna allein.

»Weißt du, was ich festgestellt habe, Kay?«

»Nein, was denn?«

»Dieser Herr van Enken liebt seine Frau noch immer, obwohl sie geschieden sind, wie du sagtest. Ich habe seine Blicke gesehen. Jetzt kommt noch die Krankheit des Jungen hinzu. Ich glaube nicht, daß er so schnell aufgeben wird. Es wird bestimmt nicht leicht für dich zu gewinnen. Auch in ihren Augen konnte ich lesen wie in einem Buch. Die Erkrankung des Jungen wird die beiden einander wieder näherbringen. Halte dein Herz fest, Kay, damit du keine herbe Enttäuschung erlebst.«

»Ich liebe Madlon, und ich hoffe nur, daß sie meine Gefühle erwidert. An etwas anderes weigere ich mich zu denken. Gehst du jetzt hinüber ins Doktorhaus? Es ist immerhin schon fast neunzehn Uhr. Oder hast du noch hier zu tun?«

»Nein, ich bin für heute auch fertig. Außerdem wird die Füchsin schon mit dem Essen auf mich warten. Komm, laß uns gehen, morgen ist auch noch ein Tag, der bestimmt wieder genug Arbeit für uns auf Lager hat.«

»Du hast recht, denn ich werde als erstes Nils auf dem Plan haben.«

Nachdem Hanna und Kay sich noch aus der Anwesenheitsliste an der Aufnahme ausgetragen hatten, gingen sie gemeinsam durch den Klinikpark zum Doktorhaus hinüber.

»Ich wünsche dir noch einen ruhigen Abend, Hanna«, sagte Kay verabschiedend, bevor er seine Wohnung betrat. Hella Sandberg, seine Haushälterin, wartete tatsächlich schon mit dem Abendbrot auf ihn. Während der Mahlzeit, die sie immer gemeinsam einnahmen, warf Hella hin und wieder einen prüfenden Blick auf Kay. So schweigsam, ja, fast verschlossen, hatte sie Kay noch nicht erlebt. Ob drüben in der Klinik heute etwas schiefgelaufen war?

Erst nach Beendigung der Mahlzeit konnte sie ihre Frage nicht länger zurückhalten.

»Hat es Ärger in der Klinik gegeben, Herr Doktor?«

»Wieso fragen Sie?« war Kays erstaunte Gegenfrage.

»Nun, Sie sind heute so schweigsam. Es ist völlig fremd für mich. Sonst haben Sie immer irgend etwas Interessantes aus der Klinik zu erzählen.«

»Nein, ich kann Sie beruhigen. Es hat keinen Ärger gegeben. Es ist eine private Angelegenheit, die mir durch den Kopf geistert, sie hat nur indirekt mit der Klinik zu tun. Sie brauchen sich also keine Gedanken um mich zu machen. Ich gehe noch etwas an die Luft. Sollte jemand nach mir fragen, sagen Sie ihm bitte, daß ich in etwa einer Stunde wieder da bin.«

»Ja, gut, Herr Doktor. Soll ich Ihnen später noch einen Kaffee bereiten?«

»Nein, danke, Frau Hella. Ich brauche Sie heute nicht mehr. Gönnen Sie sich einen ruhigen Abend. Wenn ich zurückkomme, werde ich mich gleich in mein Schlafzimmer zurückziehen. Morgen liegt ein schwieriger Tag vor mir, da muß ich ausgeruht sein.«

Mit einem freundlichen Kopfnicken verließ Kay das Haus.

Sein Ziel war die Heide, die Ruhe und die Stille, in der er seinen Gedanken ohne Stören freien Lauf lassen konnte.

*

Auch Hanna wurde von Jolande erwartet. Doch hier war es genau umgekehrt wie bei Kay, denn es ging wieder einmal während der Mahlzeit recht lebhaft zu. Hanna

berichtete von der Arbeit, und Jolande stellte zwischendurch interessierte Fragen. Durch nichts wurde das freundschaftliche Verhältnis zwischen Hanna und ihrer Füchsin getrübt.

Nach dem Essen bat Hanna: »Sorg doch bitte für ein Kännchen Kaffee, Füchsin, und ich möchte gern noch etwas arbeiten. Ich möchte mich über gewisse Neuerungen in der Medizin orientieren. Die Fachliteratur, die ich bestellt hatte, ist gestern eingetroffen.«

»Mach ich doch gern, Hanna. Haben Sie sonst noch einen Wunsch?«

»Nein, danke, für heute nichts mehr.«

Jolande wollte gerade das Wohnzimmer verlassen, um sich um den gewünschten Kaffee zu kümmern, als das Telefon läutete.

»Nehmen Sie bitte ab, Füchsin? Hoffentlich ist es nicht die Klinik.«

»Wer wohl sonst? Es ist doch nichts Neues. Wenn du schon mal einen

ruhigen Abend verbringen willst, kommt garantiert etwas dazwischen.«

»Tja, das ist nun mal mein Beruf«, erwiderte Hanna, während Jolande abnahm und sich meldete.

»Es ist nicht die Klinik, es ist deine Mutter«, sagte Jolande schmunzelnd, und reichte Hanna den Hörer.

»Hallo, Mutti, schön, daß du anrufst«, sagte Hanna erfreut, und ein weiches Lächeln legte sich um ihren Mund.

»Grüß dich, Mädel, ich rufe an, weil ich eine große Überraschung für dich und für Kay habe. Rate mal, von wo aus ich anrufe?«

»Was meinst du damit, Mutti? Doch sicher von daheim.«

»Falsch geraten, Mädel. Ich bin hier in Celle am Bahnhof. Kann mich einer von euch abholen, oder soll ich eine Taxe nehmen?«

»Du bist schon in Celle, Mutti? Das ist wirklich eine Überraschung. Ich sage Kay sofort Bescheid. Er wird vielleicht Augen machen. Diese Überraschung ist dir wahrlich gelungen. Du glaubst ja nicht, wie ich mich freue. Bitte, setze dich ins Bahnhofsrestaurant und bestelle dir eine Erfrischung. Kay wird dich bestimmt holen. Oh, ich kann es kaum erwarten, dich nachher in die Arme schließen zu können. Bis später, Mutti.«

»Bis später, Mädel«, antwortete die Mutter und legte auf.

»Hast du gehört, Füchsin? Meine Mutter ist schon in Celle eingetroffen. Vergessen Sie erst mal den Kaffee für mich und richten Sie oben das Zimmer für meine Mutter. Ich sage kurz meinem Bruder Bescheid, dann helfe ich Ihnen.«

»Geh nur. Mit dem Zimmer werde ich schon fertig, da ist ja nicht viel zu tun. Eigentlich fehlen nur frische Blumen. Ich freue mich schon auf deine Mutter. Sie ist so eine liebe alte Dame. Da kommt doch wieder etwas Leben ins Haus.«

»Gut, ich gehe dann schnell rüber, und dann kümmern wir uns um einen kleinen Willkommensimbiß. Ist genug im Haus?«

»Immer.«

Hanna ging zur Wohnung ihres Bruders hinüber und klopfte an der Tür. Hella Sandberg öffnete ihr.

»Ist mein Bruder da, Frau Hella? Ich muß ihn kurz sprechen.«

»Das tut mir leid, Frau Doktor, er hat vor knapp zehn Minuten zu einem Spaziergang das Haus verlassen. Er wollte so etwa in einer Stunde wieder zurück sein.«

»Na, da kann man nichts machen. Er sollte nämlich unsere Mutter vom Celler Bahnhof abholen. Ich werde dann selbst fahren. Bitte, tun Sie mir den Gefallen und sagen Sie ihm nicht, daß ich nach ihm gefragt habe. Mutter und ich werden ihn eben überraschen. Ich kann mich darauf verlassen?«

»Klar, Frau Doktor, ich werde schweigen wie ein Grab. Wenn ich Ihnen beiden drüben zur Hand gehen soll, brauchen Sie es nur zu sagen. Ich helfe gern aus.«

»Danke. Ich werde es Jolande ausrichten. Jetzt will ich mich aber nicht lange aufhalten, sondern sofort losfahren.«

Kaum fünf Minuten später saß Hanna hinter dem Lenkrad ihres Wagens und steuerte Celle an. In ihrem Herzen war eine unbändige Freude. Wie sehr hatten sie und Kay während der vergangenen Wochen darauf gewartet, daß die Mutter zu ihnen nach Ögela zurückkam. Jetzt war es endlich wieder soweit. Der Gedanke, ihre geliebte Mutter erneut für einen längeren Zeitraum bei sich zu haben, machte Hanna glücklich und froh. Wie verdutzt würde Kay schauen, wenn die Mutter plötzlich vor ihm stand. Hanna konnte sich sein Gesicht bildlich vorstellen, und es entlockte ihr ein helles, perlendes Lachen.

Nach ungefähr einer Stunde Fahrt lagen Hanna und ihre Mutter sich strahlend in den Armen.

»So schnell laß ich dich jetzt nicht mehr fort, Mutti. Du hast mir sehr gefehlt«, kam es leise über Hannas Lippen, und in ihren Augen glitzerten Freudentränen.

»Du hast mir gefehlt, Mädel, du und auch Kay. Da war plötzlich nichts mehr, was mich von dieser Reise zurückgehalten hätte, und hier bin ich also. Was sagt Kay denn dazu? Warum ist er nicht gekommen, um mich abzuholen? Hat er in der Klinik etwas Dringendes zu tun?«

»Kay war nicht da, er hatte seine Wohnung zu einem Spaziergang verlassen. Er weiß also noch nichts. Er wird vielleicht staunen, wenn er dir plötzlich gegenübersteht. Warum hast du die lange Bahnfahrt auf dich genommen? Es hätte doch gereicht, wenn du angerufen hättest. Kay wäre sofort gekommen, um dich zu holen.«

»Ich wollte ihn nicht so egoistisch von seiner Arbeit wegholen, Mädel, und so tüddelig bin ich ja noch nicht, daß ich nicht allein mit dem Zug fahren könnte. Die Fahrt hat mir Freude gemacht.«

»Es wäre aber bequemer für dich gewesen.«

»Jetzt ist es doch vorbei, also laß uns nicht mehr davon sprechen. Wir holen jetzt mein Gepäck, und dann laß uns nach Ögela fahren.«

Hanna ließ sich von ihrer Mutter den Gepäckfahrschein geben und holte damit die Koffer, die sie im Kofferraum ihres Wagens verstaute Nur wenig später befanden sie sich auf dem Weg nach Ögela.

Während der Fahrt sagte Hannas Mutter aus ihren Gedanken heraus mit leiser Stimme:

»Ist es immer noch euer Wunsch, daß ich für immer zu euch nach Ögela komme, Hanna?«

Hanna warf ihrer Mutter einen Seitenblick zu.

»Natürlich, Mutti, daran besteht überhaupt kein Zweifel. Kay und ich wären sehr, sehr glücklich, wenn du dich endlich dazu durchringen könntest. Weshalb fragst du gerade jetzt danach, sag mal?«

»Eigentlich wollte ich es noch ein Weilchen für mich behalten. Aber jetzt habe ich das Gefühl, nach Hause zu kommen, und deshalb möchte ich mit dir darüber sprechen. Ich habe bereits alles Erforderliche dafür in die Wege geleitet, bei euch bleiben zu können. Ich habe einen Anwalt damit beauftragt, gute Mieter für unser Haus zu suchen. Vatis Grab wird in Zukunft gut gepflegt werden, davon habe ich mich auch überzeugen können. Wenn ihr damit einverstanden seid, daß ich einige mir lieb gewordene Möbelstücke, an denen Erinnerungen hängen, mitbringen darf, würde ich gern zum Ende dieses Jahres für immer zu euch kommen. Was später mit unserem Haus geschieht, wenn ich mal nicht mehr bin, müßt ihr beide dann entscheiden. Aber habe ich dich jetzt mit meinem Entschluß nicht einfach überfahren, Mädel?«

Hanna traf auf die Bremse und ließ den Wagen am Straßenrand ausrollen. Sie beugte sich zu ihrer Mutter und nahm die zierliche alte Dame in ihre Arme.

»Mich überfallen, Mutti? Wie kommst du nur auf diesen absurden Gedanken? Und du kannst mitbringen, was immer du willst. Mir ist alles recht. Dein Entschluß ist das schönste Geschenk, was du mir und Kay machen konntest. Jetzt aber weiter

nach Hause, damit Kay es auch erfährt.«

*

In Gedanken versunken schritt Kay langsam durch die abendliche Heide. Was Hanna über Madlon und ihren geschiedenen Mann gesagt hatte, machte ihm doch mehr zu schaffen, als er vor sich selbst zugeben wollte. Wenn er an die Urlaubstage in Kärnten dachte, an die Ablehnung und die kindliche Eifersucht von Madlons Sohn, war die Hoffnung, daß sich das in naher Zukunft ändern würde, verschwindend gering. So sehr er Madlon auch liebte, auf Kosten eines Dreizehnjährigen, der – mit abgöttischer Liebe an seinem Vater hing, wollte er keine Ehe erzwingen. Das würde ja doch kein dauerhaftes Glück geben. Trotzdem wollte er Madlon die Entscheidung überlassen. Wie auch immer ihre Antwort ausfallen würde, er würde sie akzeptieren, auch dann, wenn sie für ihn schmerzhaft sein sollte.

Leichtes Rascheln holte Kay aus seinen Gedanken heraus. Aufmerksam sah er sich um und hatte das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Doch da die beginnende Abenddämmerung die Heide mit ihrem diffusen Licht überzog, konnte Kay die schmale Person, die ihm entgegenkam, erst genau sehen, als sie wenige Meter vor ihm war.

Doch was war das? Narrten ihn seine Augen? Das war doch die Frau, an die er die ganze Zeit gedacht hatte. Fassungslos entfuhr es ihm:

»Madlon, du? Wie kommst du denn hierher?«

»Kay, was bin ich froh, gerade dich zu treffen. Ich glaube, ich habe mich doch zu weit vom Ort entfernt. Ich hatte schon befürchtet, mich verlaufen zu haben. Dabei wollte ich nur einen kleinen Spaziergang machen.«

»Wenn man sich nicht auskennt, ist es leichtsinnig, so weit in die Heide zu gehen, Madlon. Trotzdem freue ich mich, dich zu treffen. Wenn du noch Zeit hast, können wir gemeinsam die wunderbare Stille genießen. Ich begleite dich dann selbstverständlich zurück zum Heidekrug.«

»Ich habe noch Zeit, Kay. Es ist schon eine Weile her, daß die Abendstunden uns allein gehörten.«

»Ja, drei lange Wochen. Trotzdem denke ich jeden Abend daran, was ich dir am letzten Abend am See gesagt habe. Daran hat sich nichts geändert. Ich liebe dich, Madlon, heute mehr als je zuvor. Kannst du dir nicht vorstellen, wie sehr ich möchte, daß du meine Frau wirst?«

»Ich mag dich, Kay, und doch bin ich mir über meine Gefühle noch nicht im klaren. Bitte, dränge mich nicht zu einer Entscheidung. Im Augenblick hat mich Nils’ Erkrankung völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich kann an gar nichts anderes mehr denken.«

»Ich werde dich nicht drängen, Madlon, denn ich verstehe, daß deine Sorgen sich jetzt nur um deinen Jungen drehen. Ich werde warten.«

»Du bist ein lieber Freund, Kay. Ich bin so froh, daß du es bist, der sich um Nils kümmert. Ich flehe dich an, was auch immer sich herausstellen mag, rette sein Bein. Er ist noch so jung, hat sein ganzes Leben noch vor sich. Laß nicht zu, daß ich dich hasse, wenn du ihm nicht hilfst.«

»Madlon, hör zu, Ärzte sind doch auch nur Menschen, die keine Wunder vollbringen können. Ich kann dir jetzt nur versprechen, daß ich alle Möglichkeiten genau gegeneinander abwäge.

Du darfst dir dein Herz nicht so schwer machen. Vielleicht ist alles ganz harmlos. Wir müssen geduldig warten, bis wir auch die letzten Fakten beieinander haben. Gleich morgen früh wird der erste Schritt getan, der uns endgültige Gewißheit bringt. Jetzt denk nicht mehr daran. Du mußt einfach abschalten, damit du ein wenig zur Ruhe kommst.«

»Ich will es versuchen, Kay. Bringst du mich jetzt bitte zum Heidekrug zurück? Die Abendluft hat sich doch merklich abgekühlt.«

»Ja, komm. Hier, nimm meine Jacke, dann wird es dir gleich wärmer.«

Kay streifte seine Jacke ab und legte sie über Madlons Schultern. Fürsorglich legte er den Arm um sie und führte sie durch die dämmrige Heidelandschaft zum Heidekrug.

»Danke, Kay.«

Auch heute bedankte sie sich bei ihm mit einem scheuen Kuß auf seine Wange. Ehe er so richtig begriffen hatte, war sie hinter der Tür zur Gaststube verschwunden.

Einen Moment starrte Kay auf die Tür, dann wandte er sich ab und machte sich auf den Weg zur Kinderklinik.

Als er das Doktorhaus erreicht hatte, wunderte er sich, daß die Fenster, die zu Hannas Wohnung gehörten, hell erleuchtet waren. Aber ihm war nicht danach, sich jetzt noch mit seiner Schwester zu unterhalten, und so schlich er sich förmlich ins Haus, schob leise einen Schlüssel in seine Wohnungstür.

Doch im selben Moment öffnete sich Hannas Wohnungstür, und sie sagte mit fröhlicher Stimme:

»Das könnte dir so passen, dich jetzt heimlich in die Federn zu schleichen. Komm doch mal rüber, ich habe eine Riesenüberraschung für dich.«

Kay verdrehte die Augen.

»Hanna, muß das unbedingt jetzt noch sein? Hat das nicht Zeit bis morgen?«

»Nein, hat es nicht. Komm doch. Du wirst Augen machen, das verspreche ich dir.«

Kay gab nach.

»Na gut, wenn es unbedingt sein muß. Aber ich komme wirklich nur für einen Moment. Ich bin wirklich müde, und ich höre schon mein Bett rufen.«

»Einen Grund mehr für dich, jetzt schnell mitzukommen.«

Lachend zog Hanna ihren Bruder am Arm in ihre Wohnung und in Richtung Wohnzimmer.

»Mutti, wo kommst du denn her?«

»Na, ist das keine Überraschung?« amüsierte Hanna sich, als sie das

verblüffte Gesicht ihres Bruders

sah.

»Du hast uns ja gar nicht mitgeteilt, daß du heute kommen wolltest«, sagte Kay weiter. »Das ist wirklich eine Überraschung! Ich freue mich.«

Zärtlich begrüßte Kay seine Mutter und wirbelte sie übermütig im Kreis herum.

»Willst du mich wohl runterlassen, Junge? So etwas macht man doch nicht mit einer alten Frau.«

Sachte stellte Kay sie auf den Fußboden zurück und sagte weich:

»Wenn du mich so überraschen mußt, darfst du dich nicht wundern, wenn ich mich darüber freue. Aber sag mal, wann und wie bist du angekommen?«

»Ich bin mit der Bahn bis Celle gefahren, und von da hat Hanna mich abgeholt, weil du nicht da warst.«

»Tut mir leid, Mutti, das konnte ja auch keiner von uns wissen. Doch ehrlich, ich freue mich, daß du gekommen bist. Hoffentlich bleibst du recht lange bei uns.«

Kay setzte sich neben seine Mutter und erfuhr so von der Entscheidung, die sie für ihre weitere Zukunft getroffen hatte. So war die Überraschung auch für ihn noch größer. Er freute sich genauso darüber wie seine Schwester Hanna.

Eine Weile unterhielten sie sich noch, bis die zierliche alte Dame mit leichtem Gähnen sagte:

»Ab in die Federn, Kinder, sonst schlafe ich euch noch hier auf der Couch ein, und ihr müßt mich ins Bett tragen. Wir haben jetzt wieder so viel Zeit für Gespräche. Ich bin ja nicht den letzten Tag hier.«

So dauerte es nicht mehr lange, bis Ruhe ins Doktorhaus einkehrte.

*

Obwohl es am vergangenen Abend sehr spät geworden war, war Kay schon wieder sehr früh munter. Während die Kaffeemaschine lief, ging er in Gedanken noch einmal die Handgriffe durch, die für eine Probeinzision notwendig waren. Er wußte ganz genau, daß er dabei die Geschwulst nicht beschädigen durfte, sondern nur in unmittelbarer Nähe des Gewächses die Gewebeprobe entnehmen durfte. Das Röntgenbild würde ihm dabei hilfreiche Dienste leisten.

»Guten Morgen, Doktor. Warum haben Sie mir denn gestern abend nicht gesagt, daß Sie heute morgen eher frühstücken wollen?«

»Guten Morgen, Frau Hella. Gestern abend wußte ich es noch nicht. Ich konnte aber nicht mehr schlafen, darum habe ich schon einmal die Kaffeemaschine angestellt. Ich frühstücke jedoch wie gewöhnlich. Lassen Sie sich also ruhig Zeit. Im Augenblick reicht mir eine Tasse Kaffee, damit ich richtig munter werde. Durch das Eintreffen meiner Mutter ist es gestern abend doch später geworden.«

Hella Sandberg brachte eine Tasse und füllte sie mit dem aromatischen Getränk.

»Das tut gut, Frau Hella, Sie können mir gleich noch einmal nachgießen «

»Gern, Doktor, und in zehn Minuten ist Ihr Frühstück fertig. Ich schaue mal nach, ob der Bäckerjunge schon die Brötchen gebracht hat.«

Als Kay gegen sieben Uhr seine Wohnung verließ, zog Hanna auf der gegenüberliegenden Seite gerade die Tür zu. Sie begrüßten sich herzlich, und Hanna sagte:

»Na, dann wollen wir mal wieder. Weißt du schon, wann Frau van Enken heute zur Klinik kommen wollte?«

»Nein, aber ich denke, so wie gestern gegen zehn Uhr. Ich habe sie gestern abend zufällig auf einem Spaziergang getroffen, aber ich habe nicht über die Zeit gesprochen, zu der sie heute wohl kommen will. Doch das spielt ja keine große Rolle.«

»Und sonst, Kay? Bist du bei Madlon ein bißchen weitergekommen?«

»Nein, und sei mir nicht böse, aber ich möchte im Augenblick auch nicht näher darauf eingehen.«

»Gut, das verstehe ich. Ich bin die Letzte, die sich in deine Privatangelegenheiten drängen möchte.«

Sie betraten das Klinikgebäude und begrüßten Martin Schriewers, der auch wenige Minuten zuvor seinen Dienst in der Aufnahme angetreten hatte.

Während Hanna wie jeden Morgen auf die Krankenstation ging, begab Kay sich in sein Sprechzimmer, um noch einmal alle Unterlagen für die Frühbesprechung durchzugehen. Die Unterlagen und Röntgenaufnahmen von Nils legte er obenauf, denn sein Hauptaugenmerk würde die Erkrankung und die damit verbundene Behandlung des Jungen sein.

Als er und Hanna später ihre Mitarbeiter um sich versammelt hatten, kam er auch sofort auf den Fall Nils zu sprechen. Er gab zuerst die nötigen Erläuterungen dazu und beantwortete anschließend die Fragen seiner Mitarbeiter.

Michael Küsters hielt sich besonders lange vor den in die Lichtplatte eingespannten Aufnahmen auf, um sie millimetergenau anzusehen.

Kay, der ihn dabei beobachtete, trat hinter ihn und erkundigte sich:

»Was halten Sie von der Sache, Dr. Küsters?«

»Sieht nicht gerade gut aus. Es ist schon ein Jammer, daß wir trotz so klarer Aufnahmen nicht mit Bestimmtheit sagen können, ob es sich um eine gute oder bösartige Sache handelt.«

»Ja, leider, Dr. Küsters. Wir müssen also die pathologische Untersuchung der Gewebeprobe abwarten. Ich möchte die Probe gleich nach der Visite entnehmen und per Boten auf die Reise schicken. Hier, schauen Sie sich die Aufnahmen genau an. Auf der einen sieht es aus wie eine spindelförmige Gewebesammlung, auf der anderen Aufnahme könnte man annehmen, daß es sich um eine in einem Sack befindliche Flüssigkeitsansammlung handelt. Das ist ein Umstand, der mich ein wenig irritiert. Ich bin selbst gespannt darauf, was wir für Erkenntnisse erlangen. Wie würden Sie denn vorgehen, wenn die Entscheidung bei Ihnen läge?«

»Wenn die Untersuchung ergibt, daß es sich um ein Spindelzellensarkom handelt, denke ich, daß die einzig richtige Entscheidung die Amputation des betroffenen Beins wäre.«

»Sie würden also nicht erst den Versuch unternehmen, das Bein des Jungen trotzdem zu retten?«

»Es wäre ein Versuch, der von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre, Dr. Martens. Es ergäbe sich für den Jungen nur ein quälender Tod.«

»Im Prinzip haben Sie recht. Trotzdem kommt für mich eine Amputation wirklich nur dann in Frage, wenn es keinen anderen Ausweg gibt. Ich werde alles, aber auch alles tun, um diesem Kind das Bein zu erhalten.«

Kay sah in die Runde und wollte dann wissen:

»Hat noch jemand Fragen zum vorliegenden Fall?«

»Ja, ich«, meldete sich Wenke Andergast zu Wort. »Können die Begleiterscheinungen wie Müdigkeit und Appetitlosigkeit nicht auch andere Ursachen haben?«

»Das ist eine berechtigte Frage, Dr. Andergast. Da organisch nichts feststellbar war, könnten diese Symptome seelischen Ursprungs sein, aus der familiären Situation heraus. Der Junge leidet darunter, daß seine Eltern sich getrennt haben, weil er beide Elternteile sehr liebt.«

»Das würde schon einiges in einem anderen Licht erscheinen lassen, Herr Dr. Martens, das sollten wir bedenken.«

»Vielleicht hängt es damit zusammen, ich will es nicht ausschließen. Wir werden erst einmal abwarten, bis wir die andere Sache hinter uns gebracht haben. Wenden wir uns jetzt dem nächsten Fall zu.«

Die Frühbesprechung dauerte noch etwa eine halbe Stunde, und während dieser Zeit warf Hanna immer wieder einen Blick auf Kay. Sie dachte über die Worte der Kinderpsychologin Wenke Andergast nach. Auch sie pflichtete innerlich der Ärztin bei, und Kay hatte es ja auch mit wenigen Worten auf den Punkt gebracht. Darüber zu sprechen, war für ihn sicher nicht einfach gewesen, weil er ja indirekt selbst betroffen war.

Als alle anderen den kleinen Konferenzraum verlassen hatten, fragte Hanna:

»Wen willst du nach der Gewebeprobeentnahme nach Lüneburg schicken?«

»Ich habe gestern schon mit dem Pfleger Dieter Häßler gesprochen. Er wird die Probe direkt ins pathologische Institut bringen. Es würde zu lange dauern, wenn wir sie per Post verschicken würden. Ich nehme an, daß unsere Anästhesistin inzwischen bei unserem Patienten ist, um ihn über die Narkose aufzuklären.«

»Ich habe heute schon mit ihr gesprochen. Sie wird ihm neben der Narkose für den kleinen Eingriff heute einer Spritze auch schon alles für die große Operation erklären, um ihm gleich die Furcht vor der Narkose zu nehmen. Gleich übermorgen gehen wir die Sache durch. Ich denke, daß bis dahin alle restlichen Untersuchungsergebnisse da sind.«

»Ja, deshalb schicke ich Dieter Häßler ja auch gleich heute los. Er wird das Ergebnis aus dem Institut heute schon wieder mitbringen. Ich habe die Zusage von Professor Löblich, daß er sich persönlich darum kümmert, weil es so dringend ist.«

»Ach ja, ich hatte gar nicht mehr an Professor Löblich gedacht. Es ist auch besser, wenn wir schnell Genaueres wissen. Ich werde jetzt meine Sprechstunde abhalten. Ich hoffe, daß bei dir alles klappt. Du hast ja in Michael Küsters einen sehr tüchtigen Assistenzarzt an deiner Seite. Vielleicht ist Frau van Enken auch schon in der Klinik eingetroffen.«

»Möglich. Sie hat ja jetzt keinen weiten Weg hierher. Bis später.«

*

Dr. Dirksen-Andergast, die junge Anästhesistin der Kinderklinik, hatte gerade das Krankenzimmer von Nils verlassen, als ihr auf dem Gang die Mutter des Jungen entgegenkam.

»Wie geht es meinem Jungen heute morgen?«

Besorgt sah Madlon Martina an.

»Es geht, Frau van Enken. Er ist zwar ein wenig aufgeregt, doch das ist eine ganz normale Reaktion, die gleich vorbei ist. Ich habe ihm gerade etwas zur Beruhigung gegeben. Sie müssen wissen, daß ich Narkoseärztin bin und ihm gerade alles über die Narkose erklärt habe. Er hat alles gut verstanden. Die Gewebeprobe, die der Chefarzt gleich entnehmen wird, ist ja eigentlich nicht als Operation zu bezeichnen und wird auch nicht lange dauern. Ich muß jetzt hinunter, denn der Junge wird in wenigen Minuten für den Eingriff nach unten gebracht. Machen Sie sich keine Sorgen.«

Mit einem beruhigenden Lächeln wandte die junge Ärztin sich ab und ging davon. Madlon betrat das Krankenzimmer ihres Sohnes.

»Mutti, da bist du ja. Ich hatte schon Angst gehabt, daß du nicht kommst.«

»Guten Morgen, mein Schatz. Warum sollte ich nicht kommen? Ich hatte es dir doch versprochen, und mein Wort halte ich auch.«

»Kommt Vati auch gleich? Ich möchte doch so gern, daß er auch herkommt.«

»Ich weiß nicht, ob er heute kommt. Aber er wird bestimmt kommen, wenn du operiert wirst. Du mußt vernünftig sein. Er kann nicht jeden Tag aus der Bank fort, er hat ja seine Arbeit dort zu leisten.«

Bevor Nils seiner Mutter antworten konnte, wurde die Tür geöffnet, und Schwester Laurie kam herein, gefolgt von Schwester Regine.

»So, junger Mann, dann wollen wir dich jetzt mal etwas spazierenfahren. Ist es nicht prima, daß du dafür noch nicht einmal aus deinem Bett raus mußt?«

Hilfesuchend sah Nils seine Mutter an.

»Mutti, du gehst doch nicht fort?«

»Nein, ich werde hier im Zimmer warten, bis du zurückgebracht wirst. Also, mein Junge, halte die Ohren steif, es ist überhaupt nicht schlimm.«

»Nils hat jetzt auch keine Angst mir, nicht wahr, Nils?« sagte Schwester Laurie mit fröhlicher Stimme und blinzelte Nils vergnügt an.

Das Beruhigungsmittel begann zu wirken. Nils wirkte zunehmend schläfrig, und er sagte nichts mehr.

Während sie die Räder des Bettes löste, nickte er nur schwach.

*

»So, Dieter, Sie können sofort fahren«, sagte Kay zu dem jungen Pfleger, der vor der Operationsabteilung wartete, und überreichte ihm die gut gesicherte Gewebeprobe.

»Fragen Sie im Institut nach Professor Löblich und geben Sie ihm die Probe persönlich.«

»Alles klar, Chef, ich werde mich genau an Ihre Anweisungen halten. Ich komme erst zur Klinik zurück, wenn ich das Untersuchungsergebnis in Händen halte. Sie können sich auf mich verlassen.«

»Das weiß ich, Dieter, ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt.«

Nils war wieder auf die Krankenstation gebracht worden, und Kay sagte erleichtert zu Michael Küsters, der noch auf ihn wartete:

»So, Dr. Küsters, den ersten Schritt hätten wir hinter uns gebracht. Jetzt müssen wir warten.«

»Es wird schon gutgehen, Chef, ich kann mich zwar täuschen, aber ich habe bei der Sache ein gutes Gefühl.«

»Schön, wenn es sich bewahrheiten würde. Nichts wäre mir lieber. Ich bin für die nächste Zeit unten im Labor, um meinerseits einige Untersuchungen durchzuführen. Übernehmen Sie bitte die Kleine von Zimmer sieben. Ein EKG und eine Lungenaufnahme sind erforderlich. Legen Sie mir die Auswertungen bitte nach der Mittagszeit vor. Meine Schwester wird nach Beendigung ihrer Sprechstunde die Visite durchführen. Achten Sie doch bitte darauf, daß ich nicht gestört werde, es sei denn, es liegt ein Notfall vor.«

»Ja, gut, ich werde Bescheid geben.«

»Ach, noch eines, bevor ich es vergesse. Wenn Frau van Enken nach mir fragen sollte, bin ich nach der Mittagszeit für sie zu sprechen.«

»Ich werde es ihr ausrichten.«

Mit einem kurzen Nicken trennten sich die beiden Ärzte. Kay ging ins Kellergeschoß hinunter, in dem sich außer der Küchenregion auch noch die Laborräume befanden, und Michael Küsters schickte Schwester Dorte hinauf auf die Krankenstation, um die achtjährige Samantha Bieber für die angeordneten Untersuchungen zu holen.

Im Krankenzimmer ihres Jungen saß Madlon an dessen Bett und sah mit einem traurigen Lächeln auf den schlafenden Jungen hinunter. Nils war vor wenigen Minuten aus der Narkose erwacht, war aber gleich in Folge der Nachwirkungen der Narkose und des Beruhigungsmittels wieder eingeschlafen.

Als Schwester Laurie das Zimmer betrat und Madlon van Enken so still am Bett ihres Sohnes sitzen sah, sagte sie:

»Nils wird jetzt bestimmt noch ein bis zwei Stunden schlafen. Nutzen Sie doch die Zeit und trinken Sie eine Tasse Kaffee in der Kantine. Gehen Sie anschließend im Klinikpark ein wenig spazieren. Der Tag hier im Krankenzimmer ist auch so lang genug für Sie.«

»Ich weiß nicht recht, Schwester Laurie«, meinte Madlon zweifelnd. »Ich hatte Nils doch versprochen, daß ich hierbleiben würde. Ich kann doch jetzt nicht einfach so gehen.«

»Doch, Sie können beruhigt gehen, Frau van Enken. Er wird davon gar nichts mitbekommen. Bis Ihr Sohn erwacht, sind Sie längst wieder hier. Sollte er doch eher wach werden, sage ich ihm, daß Sie sich nur ein wenig die Füße vertreten. Gehen Sie ruhig, ich werde schon auf Nils aufpassen.«

Einen Moment zögerte Madlon noch, dann erwiderte sie leise: »Wenn Sie wirklich meinen, Schwester. Einen Kaffee könnte ich schon vertragen.«

»Na also, gehen Sie ruhig.«

Nach einem langen Blick auf ihren schlafenden Jungen verließ Madlon das Zimmer. Auf dem Gang traf sie auf Hanna, die gerade mit Schwester Elli mit der Visite beginnen wollte. »Ist etwas nicht in Ordnung, Frau van Enken? Sie wirken so traurig. Im Augenblick brauchen Sie sich nicht übermäßig zu sorgen. Der Eingriff war eine Routinesache und völlig ungefährlich.«

»Ich weiß, Frau Dr. Martens, das hat Ihr Bruder auch schon gesagt. Aber ich habe Angst vor dem Untersuchungsergebnis. Das lange Warten ist es, das mich zermürbt. Was glauben Sie, wann das Ergebnis vorliegen wird?«

»Ich denke, heute gegen Abend. Wir müssen uns alle in Geduld fassen, die Untersuchung braucht eben ihre Zeit. Mein Bruder wird Sie sofort informieren, wenn er das Ergebnis hat. Was macht Ihr Sohn im Moment?«

»Er schläft noch. Schwester Laurie sagte mir, ich solle ruhig in die Kantine gehen, da Nils wohl noch einige Zeit schlafen würde.«

»Das ist eine gute Idee, dabei geht die Zeit viel schneller vorbei.«

Hanna lächelte noch einmal beruhigend, bevor sie mit Schwester Elli hinter der nächsten Zimmertür verschwand.

Madlon ging in die Kantine und besorgte sich einen Kaffee. Das heiße Getränk tat ihr wirklich gut, und sie merkte, daß der Kaffee sie ein bißchen aufmunterte. Trotzdem war sie so voll innerer Unruhe, daß sie sich mit zitternden Fingern eine Zigarette ansteckte. Sie rauchte nur in Ausnahmefällen, dann, wenn sie besonders nervös war, und heute war so ein Tag.

Als sie zehn Minuten später erneut die Eingangshalle betrat, um durch den Hintereingang in den Klinikpark zu gehen, kam Guido mit langen Schritten auf sie zu.

»Was macht Nils, Madlon?« fragte er sie, nachdem er sie begrüßt hatte. »Hat er es schon hinter sich? Ich hatte einfach keine Ruhe und habe mir ein paar Tage Urlaub genommen.«

»Nils hat es schon hinter sich. Er liegt jetzt in seinem Zimmer und schläft. Ich habe gesagt bekommen, daß die Gewebeentnahme eine Routineuntersuchung war und völlig ungefährlich. Ich wollte gerade ein wenig an die frische Luft gehen.«

»Bitte, laß mich mitgehen, schick mich nicht wieder weg, Madlon. Ich möchte mit dir über unseren Jungen reden.«

»Dann komm.«

Draußen im Klinikpark zog Guido Madlon zu einer Bank und sagte:

»Setzen wir uns, da können wir uns besser unterhalten.«

»Meinst du nicht, daß es nicht viel gibt, worüber wir uns noch unterhalten könnten?« entgegnete Madlon, doch sie nahm auf der Bank Platz.

»Wie hart du bist, Madlon. Hab doch wenigstens ein bißchen Verständnis für mich. Ich habe dich doch schon so oft um Verzeihung gebeten. Kannst du denn so herzlos sein?«

»Guido, laß das. Du hattest doch dein Glück selbst in der Hand. Ich glaube nicht, daß ich dir noch einmal vertrauen könnte. Wenn du also unbedingt mit mir reden willst, dann über Nils und nicht über uns beide.«

Madlon schloß sekundenlang die Augen. Wenn sie sich nach außen auch mit Abwehr wappnete, so sah es in ihr doch ganz anders aus. Gegen ihren Willen fühlte sie sich auf unerklärliche Weise mehr zu Kay hingezogen, als ihr lieb war. Sie versuchte gewaltsam, sich Kays Gesicht vorzustellen, doch es war wie verhext, immer wieder schob sich Guidos Gesicht davor.

»Wann erwartet Dr. Martens das Ergebnis aus dem pathologischen Institut?« holte Guido sie jäh in die Wirklichkeit zurück.

»Er sagte etwas von heute abend. Wir müssen noch Geduld haben.«

»Warten, warten, warten... Ich halte diese Ungewißheit nicht mehr lange aus. Warum mußtest du den Jungen herbringen? Wir hätten ihn doch auch in eine Klinik nach Lüneburg bringen können, in eine größere Klinik. Meinst du nicht, daß da ganz andere Möglichkeiten bestehen?«

»Nein, Guido, ich kann mir keinen besseren Arzt als Dr. Martens für Nils vorstellen!« entfuhr es Madlon mit blitzenden Augen. »Kay ist der beste Arzt, den ich kenne.«

»So, Kay. So weit ist es also schon«, sagte Guido mit einem eigenartigen Unterton in der Stimme.

Madlons Herz pochte einige Takte schneller. Das hörte sich ja ganz so an, als wenn Guido auf Kay eifersüchtig wäre. Sie zwang sich mit Gewalt zur Ruhe.

»Ja, du hast richtig gehört. Ich nenne ihn Kay, und er ist mir ein lieber Freund geworden. Ohne ihn wäre ich im Urlaub immer allein gewesen, von Nils mal abgesehen. Ohne ihn säße ich heute nicht hier, denn dann gäbe es Nils nicht mehr. Kay hat ihn aus dem Millstätter See gezogen und ihm damit das Leben gerettet.«

»Was sagst du da? Nils war in Lebensgefahr? Das höre ich heute zum ersten Mal. Nils hat nie etwas davon erzählt. Überhaupt hat er von eurem Urlaub so gut wie gar nichts erzählt, nur, daß es ihm nicht gut gefallen hat. Warum hast du mir dieses schreckliche Erlebnis von Nils verschwiegen?«

Entsetzt starrte Guido seine geschiedene Frau an und umfaßte ihre Arme.

»Guido, au, laß mich los, du tust mir ja weh.«

Schnell zog Guido seine Hände zurück.

»Verzeih, das wollte ich nicht. Aber warum hast du davon nichts erzählt?«

»Weshalb regst du dich im Nachhinein so darüber auf? Dank Kays schnellem Eingreifen ist ja alles gutgegangen.«

»Trotzdem hättest du es mir sagen müssen. Nils ist immerhin auch mein Kind. Begreifst du nicht, was du mir damit antust? Du strafst mich hart für einen Fehltritt, Madlon. Ich habe dich schon verloren, und das tut sehr weh. Wenn ich auch den Jungen verlieren würde, hätte mein Leben gar keinen Sinn mehr. Ich habe in der vergangenen Nacht nicht schlafen können, ich mußte immerzu an Nils denken. Ich würde ihn jetzt gern sehen. Gehst du mit, oder möchtest du lieber noch im Park bleiben?«

»Geh schon vor, Guido, ich komme auch gleich.«

*

Als Nils erwachte, sah er in das lächelnde Gesicht seines Vaters.

»Vati, du bist doch gekommen?« fragte er noch leicht benommen.

Zwei Jungenarme schlangen sich um Guidos Hals, als er sich zu seinem Jungen hinunterbeugte, und Nils schmiegte sich an ihn.

»Ich hab dich so lieb, Vati. Aber wo ist Mutti? Sie wollte doch nicht weggehen.«

»Sie kommt auch gleich. Sie mußte ein wenig an die frische Luft gehen. Sie ist unten im Klinikpark. Wie fühlst du dich denn. Hast du Schmerzen?«

»Nein, Vati.«

Nils schlug die Bettdecke zurück.

»Sieh mal, Vati, an meinem Knie ist nur ein großes Pflaster. Es war gar nicht schlimm. Jetzt habe ich auch keine Angst mehr vor der Operation. Weißt du, der Doktor ist doch ganz nett. Ich konnte ihn überhaupt nicht leiden, weil ich nicht wollte, daß Mutti so viel mit ihm zusammen war. Das war im Urlaub in Österreich. Ich war immer ungezogen zu ihm, wenn wir etwas zusammen gemacht hatten. Einmal habe ich etwas ganz Dummes getan. Ich bin einfach allein mit einem Boot auf den See gerudert. Aber ich hatte Pech, denn es gab ein schlimmes Gewitter. Ich wollte doch den Doktor und die Mutti nur ärgern, sie sollten Angst um mich bekommen. Aber dann ist mein Boot im starken Sturm umgeschlagen. Ich wäre fast ertrunken, und Mutti sagte mir später, daß Dr. Martens mir das Leben gerettet hätte. Sie sagte, daß er auch fast dabei ertrunken wäre. Ich glaube, er ist doch so etwas wie mein Freund. Ich bin überhaupt nicht mehr böse auf ihn. Aber so sehr wie dich mag ich ihn trotzdem nicht.«

»Ich freue mich, daß du mir alles so ehrlich gesagt hast, Nils. Du bist also doch mein großer, vernünftiger Junge. Ich habe dich sehr lieb. Aber das weißt du ja längst.«

»Ja, Vati, das weiß ich. Darum macht es mich ja so traurig, daß ich nicht wie früher mit dir und Mutti zusammen sein darf.«

»Darüber reden wir ein anderes Mal, einverstanden? Ich werde mal ein ernsthaftes Gespräch mit dir führen, wenn du wieder entlassen bist, und dann werde ich dir alles ganz genau erklären. Jetzt mußt du erst wieder richtig gesund werden. Versprochen?«

»Ja, Vati, versprochen.«

»Hast du Hunger? Soll ich die Schwester fragen, ob du etwas bekommen kannst?«

»Ich habe keinen Hunger, nur Durst.«

»Gut, dann gehe ich mal nachschauen, ob ich etwas für dich bekommen kann.«

»Brauchst du nicht, Vati. Du brauchst nur auf die Klingel an meinem Bett zu drücken, dann kommt sofort die Schwester Laurie. Sie bringt mir dann etwas zu trinken. Schwester Laurie und Schwester Regine sind sehr nett. Auch die Frau Dr. Martens mag ich gut leiden.«

Guido drückte auf den Klingelknopf, und schon einen Augenblick später betrat Schwester Laurie das Krankenzimmer.

»Ich habe großen Durst, Schwester Laurie. Kann ich etwas zu trinken bekommen?«

»Klar doch, Nils, ich hole dir sofort etwas. Möchtest du vielleicht auch eine Tasse Suppe, oder etwas anderes? Die anderen Patienten haben alle schon zu Mittag gegessen.«

»Nein, ich möchte nur etwas trinken.«

»Gut, dann bringe ich dir etwas, und wenn du Hunger bekommen solltest, meldest du dich bei mir. Heute darfst du noch essen, aber falls du morgen operiert wirst, bekommst du ab zweiundzwanzig Uhr heute abend nichts mehr. Das ist eine Maßnahme wegen der Narkose. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen…«

Nur wenige Minuten später kam Schwester Laurie mit einem Kännchen Tee und einem Glas zurück.

»Sollten Sie noch etwas für Ihren Sohn benötigen, läuten Sie ruhig«, sagte sie noch, bevor sie wieder ging.

Madlon blieb noch einige Zeit allein unten im Park. Seit dem kurzen Gespräch mit Guido kannte sie sich in ihren Gefühlen überhaupt nicht mehr aus. Daß Guido Nils sehr liebte, bezweifelte sie nicht. Er hatte ja auch ihr immer wieder beteuert, auch sie zu lieben, sogar am Tag ihrer Scheidung. Sie hatte ihm letzteres nicht glauben können. Doch an diesem Tag nun hatte etwas in seiner Stimme gelegen, das sie seltsam angerührt und ihr Herz zum Klopfen gebracht hatte. Dann war da auch noch seine versteckte Eifersucht auf Kay. Waren seine Gefühle für sie doch noch echt? Würde sie doch noch einmal Vertrauen zu Guido aufbauen können?

Von inneren Zweifeln gepeinigt, ging sie schließlich langsam ins Klinikgebäude zurück. Sie dachte auch an Kay, doch ihr Herz klopfte bei diesem Gedanken nicht schneller. Da war nur noch das Gefühl einer warmen Zuneigung, einer freundschaftlichen Regung. Aber wie sollte sie es ihm sagen, der sich doch so viel mehr erhoffte? Sie wollte ihn nicht verletzen, wußte sie doch plötzlich, daß sie ihm zwar keine Liebe geben konnte, aber auch seine Freundschaft nicht verlieren wollte.

Als sie die Tür zu Nils’ Krankenzimmer öffnete, blieb sie einen Moment gerührt stehen. Nils’ strahlende Augen und das glückliche Lächeln in seinem Gesicht, während er sich mit seinem Vater unterhielt, sprach sie seltsam an.

Wie sollte sie sich nur weiter Guido gegenüber verhalten? Da entdeckte Nils sie auch schon und rief ihr mit heller Stimme zu:

»Da bist du ja endlich, Mutti. Ist das nicht einfach klasse, daß Vati auch heute gekommen ist? Ich freue mich ja so, ich bin so glücklich.«

»Das ist schön, Nils. Wenn du glücklich bist, bin ich es auch.«

So verbrachten sie die nächste Zeit zu dritt, und gegen vierzehn Uhr schlief Nils wieder ein, ein Umstand, der trotz seiner Munterkeit anzeigte, daß er nicht ganz gesund war.

»Wir sollten jetzt in den Ort fahren, und etwas essen, Madlon. Darf ich dich einladen? Wir sind bestimmt wieder zurück, wenn Nils wach wird. Für mich ist es nicht so wichtig, aber du kannst nicht ohne zu essen den ganzen Tag am Bett unseres Jungen sitzen. Der Tag kann noch lang werden, und du solltest deine Kräfte einteilen. Bist du einverstanden?«

»Und wenn die Untersuchungsergebnisse eher kommen?«

»Das glaube ich nicht. Dr. Martens hatte dir doch etwas davon gesagt, daß es wohl erst gegen Abend soweit sein würde. Und wir sind ja nicht lange fort.«

»Ja, gut, ich bin einverstanden.«

Guido informierte Schwester Laurie, und sie verließen die Klinik.

»Ob ich wohl auch noch ein freies Zimmer bekommen könnte? Ich möchte auf keinen Fall wieder nach Hause fahren, ehe Nils außer Gefahr ist«, sagte Guido, während sie die kurze Strecke bis nach Ögela fuhren.

»Ich kann es dir nicht sagen, du mußt es eben versuchen. Da vorn ist der Heidekrug schon. Du kannst ja etwas zu essen bestellen, während ich mich in meinem Zimmer frisch mache. Bitte für mich nur etwas Leichtes, ich habe keinen großen Appetit.«

»Wie du möchtest. Ich kümmere mich in der Zwischenzeit auch darum, ob ich noch ein Zimmer mieten kann. Meine Tasche mit den nötigen Kleinigkeiten habe ich vorsichtshalber im Wagen. Mal sehen.«

Madlon nickte nur und betrat mit Guido das Gasthaus. Sie ging nach oben, während Guido sich um die anderen Dinge kümmerte.

Madlon mußte sich eingestehen, daß es ihr guttat, so umsorgt zu werden. Sie dachte an das glückliche Gesicht ihres Sohnes, als er beide Elternteile bei sich sah, und ein zärtliches Lächeln legte sich um ihren Mund.

Dieses Lächeln blieb auch noch, als sie Guido wenig später beim Essen gegenübersaß. Sie war in Gedanken vertieft und bemerkte nicht seine zärtlichen und zugleich sehnsüchtigen Blicke, mit denen er sie schweigend musterte.

Als sie es doch gewahrte, zuckte sie leicht zusammen, und ihr Gesicht überzog sich mit einer dunklen Röte, als Guido mit leiser Stimme sagte:

»Du bist noch schöner geworden, Madlon. Was war ich doch nur für ein Dummkopf. Willst du es dir nicht überlegen, und es noch einmal mit mir versuchen?«

Zunächst lag eine scharfe Erwiderung auf Madlons Zunge, doch sie schluckte sie hinunter und sagte statt dessen:

»Bitte, laß mir Zeit, Guido. Erst muß die Sache mit Nils vorüber sein. Laß uns jetzt bitte wieder zu Nils in die Klinik fahren.«

Guido wußte, daß jetzt nicht der Zeitpunkt war, mehr zu sagen. Wortlos stand er auf.

*

Es ging schon auf neunzehn Uhr zu, und Guido war noch immer mit Madlon in der Kinderklinik.

Bis zu diesem Zeitpunkt waren weder Kay noch Hanna im Zimmer des Jungen gewesen. Madlon sah es als ein schlechtes Zeichen an, und mit jeder verstreichenden Minute wurden ihre Unruhe und ihre Sorgen größer. Dabei hatte Kay es nur vermieden, Nils im Krankenzimmer aufzusuchen, weil er zufällig gesehen hatte, wie Madlon und ihr geschiedener Mann gemeinsam die Klinik betreten hatten.

Es hatte ihm einen wehen Stich versetzt, und seine Hoffnung, sie doch für sich zu gewinnen, war geringer geworden

Gegen halb acht kam Dieter Rößler zu Kay ins Sprechzimmer und überreichte ihm einen verschlossenen Umschlag. Mit Spannung nahm Kay ihn entgegen.

»Mit herzlichem Gruß von Professor Löblich«, überbrachte Dieter Rößler.

»Danke. Hoffentlich ist es eine gute Nachricht. Gehen Sie jetzt nach Hause. Für Sie war es ein langer Tag heute. Kommen Sie morgen ein paar Stunden später zum Dienst.«

»Aber Chef, das ist doch nicht notwendig. Ich hab’s doch gern getan.«

»Ich weiß, aber trotzdem ist es ganz gut so. Ich möchte auch nicht weiter darüber diskutieren. Alles klar?«

»Alles klar. Und vielen Dank.«

Erst als er allein war, riß Kay hastig den Umschlag auf und zog den Bogen mit den Untersuchungsergebnissen hervor. Ein bißchen flau war ihm dabei schon in der Magengegend, denn was würde er jetzt zu lesen bekommen?

Schon nach den ersten Reihen atmete er erleichtert auf, und seine gerunzelten Brauen glätteten sich. Er hatte hier schwarz auf weiß stehen, daß es sich bei Nils um eine gutartige Geschwulst handelte.

Ihm fiel ein Stein vom Herzen, denn dieses Ergebnis erleichterte die weitere Behandlung kolossal. Alle Sorgen der vergangenen Tage verflogen im Nu. Den ganzen Tag über hatte er in Gedanken sorgfältig abgewogen, was er weiter tun würde, wenn…

Doch das, was er den Eltern von Nils so sehr gewünscht hatte, vor allen Dingen natürlich Nils selbst, war Wirklichkeit geworden. Er mußte jetzt sofort hinauf auf die Krankenstation und Nils’ Eltern von ihrer bangen Ungewißheit befreien. Sie warteten sicher schon sehnsüchtig auf ihn.

Er stand auf, straffte sich und machte sich auf den Weg nach oben.

Unterwegs nahm er sich vor, daß er im Anschluß an das Gespräch mit Nils’ Eltern sofort ins Doktorhaus hinübergehen und es Hanna erzählen würde. Jetzt konnten sie am kommenden Morgen die Operation durchführen, die Nils von seinen Beschwerden befreien wurde. Bei der nun anstehenden Operation zur Entfernung der Geschwulst waren keine Komplikationen zu befürchten. Mit weit ausgreifenden Schritten näherte er sich der Zimmertür und klopfte energisch an.

Madlon sah ihn mit aufgerissenen Augen entgegen, und in ihren Blicken konnte er die bange Frage lesen. Auch Guido sah ihn erschrocken an.

»Hallo, Nils. Wie fühlst du dich?« wandte er sich zunächst an den Jungen.

»Gut, Herr Doktor. Sehen Sie mal, mein Vati und meine Mutti sind hier.«

»Schön«, antwortete Kay schmunzelnd.

Dann wandte er sich an die beiden Erwachsenen.

»Kann ich Sie beide mal einen Moment sprechen?«

»Ja, natürlich«, sagten Madlon und Guido wie aus einem Mund und erhoben sich sofort.

Sie folgten Kay auf den Gang und schlossen sorgfältig die Tür hinter sich. Dann hefteten sich zwei bange Augenpaare an seinen Mund.

»Sie haben das Ergebnis, Dr. Martens?« fragte Guido mit einer Stimme, die ihm kaum gehorchen wollte.

»Ja, nicht wahr?« sagte auch Madlon aufgeregt. Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach, denn von Kays Antwort hing es ab, wie sich die nächsten Tage gestalten würden.

»Bitte, sei ganz ruhig, Madlon«, bat Kay. »Es ist kein Grund zur Sorge mehr vorhanden. Ich habe gerade das Ergebnis erhalten. Und ich habe eine ausgesprochen gute Antwort erhalten. Es handelt sich bei Nils um eine gutartige Geschwulst. Wir können Nils operieren, ohne Komplikationen befürchten zu müssen. Ich kann Ihnen beiden gar nicht sagen, wie erleichtert ich über diese Benachrichtigung bin.«

Sekundenlang starrte Madlon Kay nur an. Sie war nicht fähig, auch nur ein Wort hervorzubringen. Dann aber begann es in ihren Augen zu glänzen, und Freudentränen sickerten hervor.

»Wie wunderbar das ist. Unser Herrgott hat unser Gebet erhört. Guido, unser Junge wird wieder gesund werden.«

Ihr unbewußt, tastete ihre Hand zu der von Guido, der sie mit festem Druck umspannte. Nur Kay sah es, und es traf ihn tief.

Äußerlich ließ Kay sich jedoch nichts von seinen Gefühlen anmerken, und er sagte:

»Ich lasse Sie jetzt allein, denn ich muß noch einige Anweisungen geben, damit jeder weiß, daß die Operation morgen stattfinden kann.«

Kay erwartete weder ein Wort von Madlon noch eine Antwort von ihrem geschiedenen Mann. Hastig wandte er sich um und ging mit langen Schritten davon.

Als Kay das Doktorhaus betrat, öffnete Hanna ihre Wohnungstür.

»Kay, ich habe schon auf dich gewartet. Hast du inzwischen das Ergebnis? Schaut bestimmt nicht gut aus, nicht wahr?« Prüfend sah Hanna ihren Bruder an. »Du machst so ein ernstes Gesicht.«

»Ganz im Gegenteil, besser hätte das Ergebnis gar nicht ausfallen können. Wir werden morgen vormittag operieren. Es handelt sich bei Nils glücklicherweise um eine gutartige Geschwulst. Ich habe es gerade den Eltern mitgeteilt«, erwiderte Kay.

»Das ist doch wunderbar. Freust du dich denn gar nicht darüber? Aber was reden wir hier in der Diele, komm doch noch für ein Stündchen zu Mutti und mir.«

»Heute nicht mehr, Hanna. Mir geht so einiges im Kopf herum, und ich möchte gern allein sein. Ich komme lieber an einem der nächsten Abende. Sag Mutti einen schönen Gruß von mir, und wir sehen uns ja morgen früh wieder.«

Kay betrat rasch seine Wohnung, und kopfschüttelnd sah Hanna auf die geschlossene Tür. Ihn mußte wirklich etwas sehr beschäftigen, denn so kurz angebunden kannte sie ihn nur kaum. Nachdenklich ging sie zurück in ihre eigenen vier Wände zu ihrer Mutter, die im Wohnzimmer auf sie wartete.

*

Hand in Hand saßen am nächsten Tag gegen Mittag Madlon und Guido am Krankenbett von Nils und warteten darauf, daß er aus der Narkose erwachte. Nils war kurz nach acht aus dem Zimmer geholt und hinunter in die Operationsabteilung gebracht worden. Erst nach mehr als zwei Stunden war er zurückgebracht worden, und Hanna, die nach der Operation mit Guido van Enken gesprochen hatte, hatte ihm gesagt, daß alles ohne Komplikationen verlaufen war.

Während sie nun warteten, lag ein weiches, zärtliches Lächeln auf Madlons Gesicht. Sie dachte an den vergangenen Abend zurück. Nachdem Kay ihr und Guido die erleichternde Nachricht gebracht hatte, daß Nils kein bösartiges Sarkom im Knie hätte, waren sie noch kurze Zeit bei Nils geblieben – und hatten dann in Hochstimmung die Klinik verlassen, um noch einen Abendspaziergang zu machen. Überglücklich durch die gute Nachricht war es fast von allein gekommen, daß sie doch nachgegeben und sich mit Guido versöhnt hatte.

Guido bemerkte das weiche Lächeln und fragte:

»Woran denkst du, Madlon?«

»An uns und unsere Zukunft. Und daran, was unser Junge wohl für Augen machen wird, wenn wir ihm sagen, daß wir für immer zusammen bleiben werden.«

»Er wird überglücklich sein, Madlon, genau wie ich. Hier am Krankenbett unseres Jungen verspreche ich dir, daß du es niemals bereuen wirst, noch einmal den Versuch mit mir zu wagen.«

Mit einem Blick voller zärtlicher Liebe zog er sie an sich und küßte sacht die roten Lippen.

Genau in diesem Augenblick erwachte Nils. Mit ungläubigem Staunen in der Stimme entfuhr ihm ein leises:

»Vati… Mutti…?«

»Da bist du ja endlich wieder, mein Junge!« entgegnete Guido weich.

»Mutti und ich möchten dir etwas sagen. Würde es dir gefallen, wenn ich wieder zu euch zurückkomme und wir drei für immer zusammenbleiben?«

»Ist das wahr, Mutti?«

»Ja, mein Junge, es ist wahr.«

Mit leuchtenden Augen erwiderte der Junge:

»Das habe ich mir schon so lange gewünscht. Ich habe euch beide doch so lieb.«

»Wir dich auch, Nils, und wir werden alle drei wieder sehr glücklich sein.«

»Ja, das wird wunderschön.«

Die letzten Worte konnten Madlon und Guido schon nicht mehr richtig verstehen. Ohne Übergang schlief Nils wieder ein, bewacht von zwei glücklichen Menschen.

*

Für Kay Martens nahm es dagegen kein so glückliches Ende. Madlon gestand ihm, daß sie ihm nur Freundschaft bieten konnte, daß sie ihren Mann immer noch liebte.

Doch wenn auch für ihn ein Traum vom Glück zerrann, so entschädigte ihn ein glücklich strahlendes Jungengesicht für alles. Kay wußte selbst nur zu gut, daß ein Kind die Liebe beider Elternteile brauchte, um sich richtig entfalten und zufrieden sein zu können.

Als Nils vierzehn Tage später von seinen Eltern abgeholt wurde, wußte Kay, daß die Zeit mit Madlon am Millstätter See für ihn nur eine sehr schöne Erinnerung bleiben würde.

Kinderärztin Dr. Martens Staffel 3 – Arztroman

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