Читать книгу Die Buchwanderer - Britta Röder - Страница 7
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ОглавлениеZwei Häuser in Verona, würdevoll,
Wohin als Szene unser Spiel Euch bannt,
Erwecken neuen Streit aus alten Groll,
Und Bürgerblut befleckt die Bürgerhand …
eine Augen flogen über die bekannten Zeilen. In seinem Kopf verwandelten sie sich in den Klang fremder Stimmen, die desto deutlicher zu ihm sprachen, je tiefer er den Sinn des Gelesenen erfasste. Immer dichter wurde die Atmosphäre, die die Worte um ihn herum erschufen. Immer konkreter wuchs das Bild einer neuen Umgebung heran. Ein Luftzug streifte ihn. Hatte er in seiner Wohnung ein Fenster offengelassen? Plötzlich fühlte er sich beobachtet. Er spürte es ganz deutlich und hob überrascht den Kopf. Die Stimmen waren verklungen und er stand auf einem hell gepflasterten Platz inmitten einer fremden Stadt.
Wach und zufrieden lag die sorglose Betriebsamkeit eines ruhigen Vormittags auf der Piazza und den mehrstöckigen Gebäuden, die sie umsäumten. Die weitgeöffneten Fenster der oberen Etagen atmeten noch die klare Kühle des frischen Vormittags ein. Kinderstimmen und lachende Rufe entschlüpften taubengleich den hohen Mauern und umflatterten den sonnigen Platz. Fassungslos betrachtete Ron die Renaissancepracht der Fassaden, die stolzen Türme und Giebel der Palazzi, er hörte den klaren Glockenschlag einer nahen Kirchturmuhr, die freundlichen Zurufe sich grüßender Nachbarn, das hohle Echo von Hufgeklapper auf dem steinernen Pflaster als ein Junge ein ungesatteltes Pferd vorüberführte. Das Schnauben des edlen Tieres und die sanfte Stimme des Jungen, der beruhigend auf es einflüsterte, klangen Ron noch im Ohr, als sich langsam eine bizarre Gewissheit in seinem Kopf breitmachte. Wo war er? War das etwa Verona?
Sein Blick in das Blau des sich unendlich über ihm ausdehnenden Himmels ließ ihm keinen Zweifel. Das hier war keine Theaterkulisse. Er befand sich wirklich in Italien.
Aber was war geschehen? Wer oder was hatte ihn hierher gebracht? Lag in diesem Shakespeare-Stück ein solcher Zauber? Konnten die Worte eines Dichters so mächtig sein? Oder lag es an ihm selbst? War er ein Opfer seiner eigenen Phantasie?
Mit einem lauten Knall wurde ein Fensterladen über seinem Kopf zugeschlagen, um die steigende Hitze des Tages auszusperren. Erschrocken fuhr er zusammen. Nein, das war kein Traum. Was immer auch gerade hier mit ihm passierte, war real. Absolut real, auch wenn er dafür nicht die geringste logische Erklärung besaß.
Noch immer völlig durcheinander beobachtete er, wie Geschäft um Geschäft gerade geöffnet wurde und die Kaufleute ehrerbietig ihre ersten Kunden begrüßten. Die heimlichen Blicke vorbeigehender Passanten streiften Ron mit abwägendem Interesse. Doch offensichtlich war man den Anblick Fremder gewohnt und so verflüchtigte sich die erste Neugier schnell zu einem nachlässigen Blick und man wandte sich interessanteren Dingen zu.
Erleichtert atmete er auf. Seine Anwesenheit, so ungeheuerlich sie ihm selbst vorkam, erregte offenbar niemandes Misstrauen oder Unbehagen. Eigentlich seltsam, dachte er und wagte einen prüfenden Blick an sich herunter. Doch was er sah, verwirrte ihn noch mehr. Seine Kleidung war völlig verwandelt. Mit zittrigen Fingern betastete er das, was eben noch ein graues T-Shirt gewesen war. Verblüfft zupfte er an dem seidigen Kragen eines weitärmeligen, weißen Hemdes. Darüber trug er ein hellgraues, mit zahlreichen dunkelgrauen Applikationen gestepptes Wams, das er an der Hüfte ungewohnt eng tailliert fand, das aber an den Schultern bequem weit geschnitten war. Anstelle der blauen Jeans schmiegte sich ein strumpfhosenähnliches blaues Beinkleid um seine Waden, das sich auf der Höhe der Oberschenkel zu einem kürbisförmigen Stoffballon aufzubauschen begann. Aus seinen schwarzen kunstfasernen Sneakern waren schwarze Schuhe aus Leder geworden, deren weiche, flache Sohlen das Laufen angenehm machen würden.
Ungläubig griff er sich ans Kinn und zuckte sofort zurück. Anstelle der glattrasierten Haut berührte er einen schmalen, kurzen Bart. Nervös hielt er Ausschau nach einer Möglichkeit, sein Spiegelbild im Ganzen zu betrachten. Völlig benommen stakste er umher und blieb vor dem Fenster eines Tuchgeschäftes stehen. Der sonnige Morgen glänzte im blanken Fensterglas. Leuchtend warf ihm die Scheibe sein neues Ebenbild zurück. Die Verwandlung in einen jungen italienischen Edelmann Shakespearescher Zeit war so perfekt, dass er ebenso verwundert wie restlos fasziniert war.
„Eine Kamera“, stammelte er tonlos, „ein Königreich für eine Kamera.“ Das unbeabsichtigte Wortspiel ließ ihn schmunzeln. Mit seinem Humor kehrte allmählich auch seine Selbstsicherheit zurück. Nun gut, dachte er. Was immer ihn zum Teil dieser neuen Realität hatte werden lassen, wollte sicher, dass er umherging, um nach seiner schönen Unbekannten zu suchen. Wenn jemand eine Erklärung für all das parat hatte, dann ganz sicher sie, der er dieses unglaubliche Abenteuer zu verdanken hatte.
Das auffällig laute und hochmütige Gebaren zweier jugendlicher Gecken unterbrach die Beschaulichkeit der Szene. Ausgelassen wie zwei junge Hunde tollten sie so ungestüm umher, dass ihnen zwei ältere Kaufleute gerade noch ausweichen konnten und ihnen kopfschüttelnd nachsahen. Die Mienen der Ladenbesitzer verdüsterten sich schlagartig. Die jungen Männer schienen gut bekannt und ihre Absicht, zu ihrem Vergnügen einen Händel vom Zaune zu brechen, ebenso.
Mit großspuriger Selbstsicherheit schritten sie einher und boten mit jedem ihrer frechen Blicke eine Einladung zum Streit. Mit dem Mut der zahlenmäßigen Überlegenheit hatten sie schnell ihr Opfer ausfindig gemacht, einen jungen Kerl, der sich ihnen gedankenverloren näherte und ihren Weg bereits in wenigen Schritten kreuzen sollte.
Sich gegenseitig in die Seiten stoßend und boxend verlangsamten sie ihren Schritt und kamen an ihn heran. Unschuldig wie zum höflichen Gruße blickten sie ihm ins Gesicht und hielten ihm plötzlich feixend eine kindische Geste unter die Nase. Was folgen musste, folgte. Es kam zu einem Wortgefecht, in das sich, wie aus dem Nichts auftauchend, weitere junge Männer mischten. Ein Handgemenge entstand und ehe Ron sich’s versah, befand er sich inmitten einer bluternsten Auseinandersetzung, die mit Fäusten, Messern und Degen ausgetragen wurde.
In hektischer Eile rafften die umstehenden Kaufleute ihre Waren zusammen und schlugen ihre Läden zu. Die wenigen unbeteiligten Passanten stoben fluchtartig davon. Türen wurden verriegelt. Ron, der nicht wusste, in welcher Richtung er das Heil seiner Flucht am ehesten finden konnte, drückte sich schützend gegen einen Hauseingang, der ihm nur ungenügend Deckung bot.
Mit ausladenden Bewegungen schlug der streitende Haufen aufeinander ein. Hart wurde Ron vom Ellenbogen eines dunkelhaarigen Degenkämpfers an der Schulter getroffen.
„Verzeiht!“, stieß der junge Edelmann eine kurzatmige Entschuldigung hervor. Erstaunte braune Augen trafen Ron kurz. „Sucht Deckung, Fremder, dies ist nicht Euer Streit!“
Dem aufmerksamen Blick seines tückisch grinsenden Gegners war diese Sekunde der Ablenkung nicht entgangen und mit gestrecktem Degen stürzte er auf den Dunkelhaarigen zu. Ron konnte diesen gerade noch mit einem beherzten Tritt ins Hinterteil zur Seite stoßen, sonst hätte sich der feindliche Degen tief in dessen Seite gebohrt. Ohne Zeit für ein weiteres Wort stürmte der Gerettete mit wildem Gebrüll zurück ins Gemenge.
Der Tumult wuchs weiter an, bis endlich eine Gruppe beherzter Bürger, mit Knüppeln bewaffnet, zwischen die Streithähne drang. Unsanft wurde auch Ron zur Seite gestoßen. Eine Gasse öffnete sich, durch die ein auffallend reich gekleideter Herr mit seinem Gefolge geschritten kam.
„Der Prinz, macht Platz für den Prinzen“, murmelten die umstehenden Leute erleichtert.
„Aufrührer! Friedensfeinde!“, tobte der eilig von seinem Frühstückstisch herbeigerufene Fürst, außer sich vor Wut. „Wilde Tiere!“ Mit hochrotem Kopf und perlendem Schweiß auf der Stirn rang der hochgewachsene Mann schweratmig um die ihm angemessene stadtväterliche Würde.
„Dreimal habt ihr bereits den Frieden unserer Straßen gebrochen“, empörte er sich zornig. „Verstört ihr jemals wieder unsere Stadt, so zahl’ eur Leben mir den Friedensbruch.“
Widerwilliges Gemurmel breitete sich unter den jungendlichen Kontrahenten aus. Doch schließlich ließen sie müde und zerschlagen ihre Köpfe hängen.
„Für jetzt begebt euch, all ihr Andern, weg!“ So als wollte er lästige Fliegen vertreiben, fuchtelte er mit seiner Rechten höchst ungehalten durch die Luft und verlieh damit seinem Befehl an die Menge sich zu zerstreuen den angemessenen königlichen Nachdruck. Die Leute begannen auseinanderzustreben. Die bedrohliche Spannung löste sich in friedliche Erleichterung auf. Mit strengem Auge hatte der Fürst jedoch die Häupter der blutigen Fehde ausgemacht und hielt sie nun mit herrischem Blick zurück. Kühl befahl er ihnen näher zu treten.
Zwei grauhaarige ältere Herren, offensichtlich adligen Standes, traten zögernd wie zerknirschte Knaben näher.
„Ihr aber, Capulet, sollt mich begleiten“, bedeutete er herrisch dem einen der beiden. Mit gesenktem, leichenblassem Haupt nahm der hagere Graf den freien Platz an der linken Seite des Prinzen ein.
„Ihr, Montague, kommt diesen Nachmittag zur alten Burg.“
Demütig versank der rundbeleibte gräfliche Gegenspieler Capulets in eine zierliche Verbeugung und tänzelte rückwärts gewandt in den schützenden Kreis der Seinen, um sich den zornigen Blicken des Prinzen zu entziehen.
Von dem schützenden Hauseingang aus, in den er sich zurückgezogen hatte, beobachtete Ron den Abzug des Prinzen. Mit ihm leerte sich der Platz und es kehrte wieder Ruhe ein.
Keine Frage, auch für ihn bestimmte ein Mindestmaß an Spannung und Aktion die Qualität der Unterhaltung, die er sich von einer Lektüre versprach. Aber die physische Intensität, mit der ihn diese Lektüre vereinnahmte, ging eindeutig zu weit. Ungläubig fuhr er sich über die schmerzhaft pochende Schulter. Die unsanfte Begegnung mit dem Ellenbogen des Degenkämpfers begann einen waschechten Bluterguss zu hinterlassen. Das Vernünftigste schien ihm jetzt, zuerst nach einem Ausweg aus diesem Phantasiegebäude zu suchen, bevor er sich erneut in eine unübersichtliche und gefahrvolle Lage gedrängt fand.
Hatte er in seiner Hast und Ungeduld auf dem Klappentext einen warnenden Hinweis auf die Gefahren dieser Lektüre überlesen? Er dachte an das vielsagende Lächeln der sommersprossigen Bibliothekarin. Sie immerhin hätte ihn doch warnen müssen. Verwirrt schüttelte Ron den Kopf. War es nicht verrückt von ihm, dieses phantastische Abenteuer wie eine reale Begebenheit zu betrachten? Das alles hier konnte doch gar nicht real sein. Aber sogar sein Wissen darüber, dass alles um ihn herum reine Fiktion sein musste, bewahrte ihn nicht davor, alles als völlig real zu empfinden. Wie sollte er bloß wieder aus dieser Geschichte herauskommen, wenn er die Grenzen zwischen Fiktion und Realität nicht mehr unterscheiden konnte?
Ratlos sah er sich um. Hilfe war von niemandem zu erwarten. Die inzwischen heiße Mittagssonne verkürzte die von den Häusern geworfenen Schatten zusehends und das alltägliche Leben in den Geschäften und auf der Straße stellte sich mit der ursprünglichen Beschaulichkeit wieder ein. Nur dass die Leute an diesem Tag mit der erneut entbrannten Fehde zwischen den beiden Häusern Capulet und Montague einen aufregenden Stoff für ihre lebhaften Gespräche gefunden hatten, deren Faden mit den Namen der beiden Familien und der des Prinzen immer wieder erregt aufgenommen wurde.
Ron wandte sich um und bog in eine stillere Seitengasse. Wenn dies nur ein Traum gewesen wäre, dann hätte er jetzt einfach erwachen können. Doch so verwirrt er auch sein mochte, dass dies kein Traum war, daran hatte er keinen Zweifel. Er konnte keine symbolhaften Bilder erkennen, die ihm ein Zerrbild seiner Wirklichkeit vorgaukelten, keine Außenansicht seiner eigenen Person, die ihn sich selbst betrachten ließ, als wäre er ein anderer und er selbst zugleich. Was er sah, hörte, spürte und roch, konnte nur sehen, hören, spüren und riechen wer wie er hellwach und bei vollem Bewusstsein war. Das ihn umgebende Geschehen war so real wie er selbst. So real wie sein Umzug in die neue Stadt, so real wie die Begegnung mit der schönen Unbekannten in der Straßenbahn und sein anschließender Besuch in der Bibliothek. Und für den panischen Bruchteil einer Sekunde durchfuhr ihn die Erkenntnis, dass, wenn er an der Echtheit seines Abenteuers keinen Grund zu zweifeln hatte, er genauso gut an der Echtheit seiner ursprünglichen Wirklichkeit zweifeln konnte.
Eine grün gekleidete Frau erschien wenige Meter vor ihm und verschwand ebenso plötzlich wieder in der Menge. Nur einen Wimpernschlag lang konnte er ihr zartes Profil, ihre schmalen Schultern und den schlanken, sehr geraden Rücken sehen und doch wusste er sofort, wer diese Gestalt war. So stark hatte sich ihr Bild in sein Bewusstsein eingebrannt, dass ihm der kleinste Hinweis zum Wiedererkennen ausreichte. Jeden möglichen Einwand verdrängend folgte er ihrer wendigen Gestalt mit schnellen Schritten und angehaltenem Atem durch das dichte Menschengewühl.
An einer Abbiegung blieb sie unverhofft stehen und wandte sich zu ihm um. Eine Locke ihres kupferfarbenen Haares war ihr aus dem sorgfältig aufgesteckten Kopfputz entwischt. Mit nachlässiger Geste strich sie sie zurück und schenkte Ron ein wiedererkennendes Lächeln, bevor sie ihm den Rücken kehrte und nun völlig in der Menge aufging.
Auf einen Schlag hatten alle seine Zweifel keine Bedeutung mehr für ihn. Sie war hier. Das alleine zählte und war Grund genug für ihn ebenfalls hier zu sein. Er hatte sie gesucht und gefunden. Also hatte er bis hierhin alles richtig gemacht.
Und doch hatte sie sich ihm entzogen. Ohne einen Hinweis ließ sie ihn zurück. Der hellen Freude über seinen kleinen Erfolg folgte die pechschwarze Ernüchterung darüber, völlig im Dunkeln zu tappen. Dieses Katz- und Mausspiel verdross ihn zunehmend. Wenn sie ein Spiel spielen wollte, so verlangte er als ebenbürtiger Partner in die Regeln eingeweiht zu werden. Vielleicht würde er dann auch begreifen, was tatsächlich mit ihm passierte. War es nicht unvernünftig, ja sogar gefährlich, sich auf dieses Spiel einzulassen, dessen Gesetzmäßigkeiten er nicht durchschaute?
„Ihr seid’s, mein unverhoffter Freund“, grüßte ihn ausgelassen der angenehme Bariton einer bekannten Stimme. Neben ihm stand der dunkelhaarige Degenkämpfer vom Vormittag und beeilte sich, ihn kameradschaftlich auf die Seite zu ziehen.
„Erlaubt, dass ich meine Dankesschuld, wenn auch verspätet, abtrage und Euch frage, wie ich Euch gefällig sein darf.“
In dieser Fremde ein freundliches Gesicht wiederzuerkennen, war für Ron kein unbeträchtlicher Trost und so strahlte er den dunklen Mann mit offener Sympathie an.
„Meine Tat war klein“, entgegnete Ron mit nicht geringem Stolz.
„Da will ich widersprechen.“ Der junge Edelmann rieb sich mit gespielt schmerzverzerrtem Gesicht die Rückseite und grinste jungenhaft wie über einen gelungenen Streich.
„Der Tritt war groß und groß war Eure Tat. Habt Ihr mir nicht sogar das Leben, so doch mindestens die Gesundheit gerettet. Wie ist Euer Name?“
„Ron … Ronaldo“, hörte Ron sich selbst sagen.
„So erlaubt, dass ich Euch, Ronaldo, meinen Freund nenne und Euch zum Essen einlade. Ihr seid fremd hier?“
„Das kann man wohl sagen.“
„So nennt mich Benvolio, den Freund Ronaldos. Denn wo man einen Freund hat, wird man als Fremder zum Gast erhöht.“
Noch während dieser Rede hatte sich Benvolio mit starkem Griff eingehakt, war vom belebten Marktplatz in eine ruhigere Straße eingebogen und führte nun Ron zu einem kleinen hübschen Platz, auf dem ein blumengeschmückter Brunnen klares Wasser spendete und mit seinem kühlenden Geplätscher eine benachbarte Taverne höchst musikalisch unterhielt. Sie setzten sich gegenüber an einen der Tische.
„Bringt vom besten Wein! Und das beste Essen, das Ihr heute zu bieten habt, für meinen Freund hier.“
Eiligst kam der geschäftstüchtige Gastwirt angetrabt und rannte sogleich wieder davon, kam zurück mit einem riesigen Tonkrug von kühlem roten Wein, hüpfte wieder davon, brachte frisches, noch warmes Brot und versprach mit der unterwürfigen Beflissenheit eines Mannes, dem das Schicksal einen spendierfreudigen Auftraggeber zugespielt hatte, in der Küche auf besondere Eile zu drängen.
Ron, der seit Stunden nichts gegessen hatte, bemerkte nun, wie hungrig er war. Ein weiteres Indiz dafür, dass dies kein Traum sein konnte. Und auch die leicht berauschte Stimmung, in die ihn der Wein auf nüchternen Magen nach dem ersten kräftigen Schluck versetzte, war ihm ein deutliches Zeichen dafür, dass er weiterhin den Gesetzmäßigkeiten der Realität unterworfen war. Er nahm sich vor, erst auf das Essen zu warten, um eine Grundlage zu schaffen.
Zufrieden betrachtete er seinen Gastgeber. Sein Gegenüber war jung, aber nicht mehr jugendlich. Sein schmales Gesicht trug einen sehr gepflegten, kurz geschnittenen schwarzen Bart, der das hell aufblitzende häufige Lachen vorteilhaft betonte. So kräftig und drahtig er im Kampfgeschehen gewirkt hatte, so schlank und besonnen war jetzt seine Erscheinung. Im Selbstbewusstsein seines edlen Standes war er es gewohnt, sich vornehm zurückzuhalten ohne dabei seiner angenehmen Präsenz etwas von ihrer gewinnenden Wirkung zu nehmen. Es fiel Ron nicht schwer, ihn auf den ersten Blick zu mögen und ihm zu vertrauen.
„Sagt, Ronaldo, was führt Euch in unsere schöne Stadt?“, begann Benvolio das Gespräch, nachdem der Wirt sich ins Haus zurückgezogen hatte.
„Das ist schwer zu sagen“, seufzte Ron und fuhr sich mit einer nachdenklichen Geste an seinen neuen Bart. „Ich glaube, ich bin hier wegen einer Frau.“
„Ach, mein Freund“, Benvolios Miene verdunkelte sich mitfühlend als spräche er mit einem Kranken. „Ihr seid verliebt?“
„Verliebt? Es muss wohl so sein. Sonst wäre ich nicht hier.“ Die Einsicht, das Opfer eines ebenso seltsamen wie mächtigen Zufalls geworden zu sein, trübte Rons Stimmung schlagartig.
Benvolio, der seinen neuen Freund nicht so mutlos lassen wollte, erhob eilig seinen Becher.
„Dann trinken wir auf die baldige Erfüllung Eures Liebesglücks.“
Doch Ron fehlte die rechte Überzeugung den Trinkspruch zu erwidern.
„Mein Liebesglück? Dazu müsste ich sie erst einmal finden. Ja, ich müsste erst einmal wissen, wer sie überhaupt ist.“
Benvolios sehnige Rechte umschloss mit zuversichtlichem Druck Rons Arm. „Wenn sie hier in Verona ist, dann werden wir sie finden. Glaubt mir, ich kenne mich aus mit den Schönen dieser Stadt.“
Der Wirt brachte Teller, Besteck, riesige Schüsseln mit gut gewürztem Fleisch und delikaten Saucen, in die Benvolio genüsslich das frische Brot tunkte, ehe er es sich in den Mund steckte. Das Essen war vorzüglich und mit dem guten Gefühl eines satten Bauches empfand sich auch Ron bald wieder in seiner Zuversicht gestärkt.
„Seht Ihr, Ronaldo, das Schicksal meint es gut mit Euch. Als Fremder kamt Ihr in die Stadt auf der fast aussichtslosen Suche nach einer schönen Unbekannten. Nun seid Ihr Gast in Verona, fandet einen treuen Freund, habt wohl gespeist und auch die Schöne werdet Ihr bald wiedersehen. Ja, ich glaube, ich kann es Euch fast sicher versprechen.“
Beherzt lachte Benvolio über Rons überraschte Miene. Kopfschüttelnd schob er die leeren Teller zur Seite und näherte sich über den Tisch gebeugt verschwörerisch Rons ungläubigem Gesicht.
„Ihr erinnert mich an meinen Freund Romeo. Ihr solltet, ja, Ihr werdet ihn sicher bald kennenlernen. Ein guter Mann. Eine Seele von einem Mann. Und ein Mann mit verletzter Seele. Auch ihn traf Amors Pfeil.“
„Romeo? Ihr seid ein Freund Romeos?“
Sofort waren Fiktion und Realität wieder zu einem dichten Nebel verwirbelt, der Rons Sinne taumeln ließ. Gerade erst hatte er kurz die Sicherheit gespürt, einen festen Weg gefunden zu haben, der es ihm erlaubte, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Nun schwand ihm wieder der Boden unter den Füßen.
„Ihr kennt Romeo bereits?“ Benvolios Überraschung war voller Freude.
„Oh nein, ich kenne ihn nicht, leider, noch nicht“, bemühte sich Ron, die Sache klarzustellen. Er wollte den vorgegebenen Ablauf der Handlung nicht behindern. Hoffentlich hatte er nicht schon viel zu viel durcheinandergebracht. „Ich hörte nur von ihm und seiner traurigen Liebesgeschichte“, fügte er voreilig hinzu und bereute bereits diesen letzten Satz, kaum dass der Ton seiner Stimme verklungen war. Wie unvorsichtig von ihm, das tragische Ende vorweg auszuplaudern, ohne den genauen Stand der Handlung zu kennen.
Aber Benvolio schien keine Ungereimtheiten in Rons Rede bemerkt zu haben und nickte nur traurig.
„Ja, die Spatzen pfeifen es bereits von den Dächern. Doch Romeo will einfach nicht zur Vernunft kommen und von Rosalia lassen.“
„Rosalia?“
„Die schöne Rosalia. Schön und kalt zugleich. Man sagt, sie schwor der Liebe ab und nun ist dieses Gelübde der Tod für meinen Freund Romeo, der sie so sehr liebt und so sehr deswegen leidet.“
„Sie schwor der Liebe ab?“
„Und nun spielt sie mit Romeo. Wie sie zuvor auch mit den Herzen anderer
Verehrer spielte. Die glühende Bewunderung eines Mannes, die verzehrende Leidenschaft eines brennenden Herzens, die blinde Gefolgschaft einer Seele, das alles zählt ihr nichts. Sie lacht nur und vergrößert dadurch die gefährliche Waffe ihrer Schönheit, um damit ihr nächstes Opfer zu vergiften.“
„Wow“, gab Ron beeindruckt von sich.
„Weib?“ Benvolio hatte sich so in Rage geredet, dass er Ron nur mit halbem Ohr zuhörte. „Ja Weib! Da habt Ihr recht, Ronaldo. Ein Weib, wie es im Buche steht. Und noch viel mehr, das ist sie.“
Rons nachdenkliches Schweigen erinnerte Benvolio daran, dass er eigentlich seinem neuen Freund versprochen hatte, ihm bei der Suche nach der schönen Unbekannten zu helfen.
„Der gleiche Weg, der Romeo heilen wird, wird auch Euch die passende Medizin zuführen“, zwinkerte er listig. „Wollt Ihr meinen Plan hören?“
Ron nickte.
„Also hört, mein Freund. Durch Zufall erfuhr ich von einem Fest, das heute Abend im Hause der Capulets gegeben wird. Der halbe Adel dieser Stadt wird dort zusammenkommen. Denn wie Ihr sicher schon bemerkt habt, ist die Stadt durch eine Fehde in zwei Parteien gespalten. Das Haus des reichen Capulet ist das Haupt der einen Partei. Die andere Seite, das sind wir, die Familie Montague. Doch das tut nichts zur Sache. Dieses Fest versammelt die Hälfte der schönsten Frauen Veronas unter dem Dach des alten Hagestolzes Capulet. Eine gute Chance auch Eure schöne Unbekannte dort zu entdecken. Und meine letzte Hoffnung Romeos Herz vom Leiden an Rosalia zu heilen. Denn wenn er im Glanze dieses fürstlichen Festes die Schönheit so vieler heißblütiger Frauenherzen sieht, dann sollte ihn dies endgültig von der gefühlskalten Schönheit Rosalias heilen.“
Ron erkannte nun nur zu gut, an welcher Stelle in diesem Drama er sich befand. Die Geschichte stand noch völlig am Anfang und er beschloss, sich rechtzeitig wieder aus dem Staub zu machen, bevor sie sich weiter zuspitzte. Wie gefährlich dieser Konflikt zwischen den Häusern werden konnte, hatte er für sein persönliches Dafürhalten bereits ausreichend erfahren. Darum nahm er sich auch zusammen und behielt seine Bedenken an diesem Plan, für Romeo ein neues Objekt der Begierde ausgerechnet im Haus seines Feindes zu suchen, für sich. Doch die Idee, im Hause Capulets nach seiner eigenen Schönen zu suchen und auch Zeuge einer solch erlesenen Festivität zu werden, reizte ihn sehr.
„Sagtet Ihr nicht, Benvolio, das Fest sei im Hause Eures Feindes? Man wird Euch kaum einladen.“
Benvolio lachte sein unbekümmertes Jungenlachen.
„Wir werden um nichts bitten, was man uns nicht bieten möchte. Ungebeten laden wir uns selber ein. Im Schutz von abendlicher Dunkelheit und Maskenspiel ist unser beherztes Eintreten selbst die Einladung, die wir uns geben.“
Erleichtert fiel Ron in Benvolios Lachen ein. Ein Kinderspiel würde es werden, da dieser eben entworfene Plan in Wahrheit bereits längst beschlossene Sache war. Vertrauensvoll gab er seine Zustimmung, bei diesem Streich dabei zu sein.
Benvolio warf zur Bezahlung einige Münzen auf den Tisch und erhob sich. „Kommt, mein Freund, ich zeige Euch nur noch, wo wir uns heute Abend treffen und dann werden sich unsere Wege vorerst trennen, denn ich habe noch einige Geschäfte zu erledigen.“
Seite an Seite kehrten sie zurück an den Schauplatz ihrer ersten Begegnung. Benvolio deutete mit einem dezenten Blick auf das prächtigste Gebäude am Platze, ein mit reichverzierten Fresken geschmückter Palazzo, der Ron bereits am Morgen aufgefallen war.
„Hier ist das Haus der Capulets. Dort drüben seht Ihr die Pforte einer kleinen Kirche. Wendet Ihr Euren Schritt nach links in den schmalen Durchgang daneben, so gelangt Ihr zum Seiteneingang derselben. Dort werden wir uns treffen noch ehe die Uhr zehn geschlagen hat.“
Sie reichten einander die Hände und Benvolio schlug Ron kameradschaftlich auf die Schulter. Ein letztes verschwörerisches Zwinkern aus seinen braunen Augen und ein munteres Lächeln aus seinem schön geschnittenen Gesicht, und Benvolio war im nachmittäglichen Trubel verschwunden.