Читать книгу Die Buchwanderer - Britta Röder - Страница 8

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ls Magus an diesem Nachmittag das ‚Verona‘ verließ, hatte er drei vergnügliche Stunden in Gesellschaft seines Lieblingsweins und einiger besonders delikater Speisen verbracht. Angesichts der großen Fülle an kulinarischen Verheißungen, die allesamt hielten, was er sich von ihnen versprochen hatte, wäre seine Verärgerung über Rons Ausbleiben selbst dann längst verflogen, wenn sie mehr als einen rein formellen Charakter gehabt hätte. Magus hatte es sich längst abgewöhnt, sich über das Fehlverhalten seiner Mitmenschen zu ärgern. Darauf hatte er keinen Einfluss und daher fühlte er sich dafür auch nicht verantwortlich. Er hielt es für vernünftiger die Dinge so zu nehmen, wie sie kamen und aus der jeweiligen Situation das Beste zu machen. Und wenn die Dinge seinen Weg in Form sinnlicher und kulinarischer Annehmlichkeiten kreuzten – worauf er selbst ja immerhin einen gewissen Einfluss hatte –, dann war ihm dies sowieso lieber. Bereits mit dem ersten Glas Chianti hatte er sein Unbehagen darüber, dass Ron die Verabredung offensichtlich vergessen hatte, ad acta gelegt.

Obschon sich der Himmel zugezogen hatte und das Grau der Wolken heftig mit Regen drohte, beschloss er nach dieser üppigen Mahlzeit zu Fuß nach Hause zu gehen. Magus lief gerne. Er genoss die Stille beim Gehen, denn da die meisten seiner Mitmenschen diese Leidenschaft nicht teilten, war ein Spaziergang oft eine Sache, die er ganz mit sich allein genoss; und angeregt durch die Bewegung der Füße kamen meist auch die Gedanken in seinem Kopf in Gang und am Ende fühlte er sich nicht nur körperlich wohlig erschöpft, sondern auch geistig angenehm aufgeräumt und befreit.

Bestimmt war seinem Cousin Ron etwas Wichtiges dazwischen gekommen. Magus hatte nicht das dringende Gefühl sofort erfahren zu müssen, was Rons Ausbleiben verursacht hatte. Wenn er wollte, dann konnte er sich später nach dem Grund dafür erkundigen und alles würde sich aufklären.

Dabei war Magus durchaus nicht oberflächlich oder gleichgültig. Im Gegenteil, nur hatte er als ein außergewöhnlich empfindsamer Mensch schon früh erfahren, dass offen zur Schau getragene Gefühle ein enormes Verletzungsrisiko bargen. Um Verwundungen vorzubeugen, machte er es sich daher zur Gewohnheit, alle seine Empfindungen nur äußerst sparsam zu zeigen. Die wirklich gefährlichen Gefühle aber, die, welche echten Schmerz und Kummer verursachen konnten, wenn sie in die falschen Hände gelangten, vergrub er in den hintersten und geheimsten Kammern seines Herzens, so tief, dass er sie dabei selbst fast vergaß.

So groß diese verborgenen Leidenschaften auch waren, die in seinem Inneren tobten, brausten, brodelten, kochten und gegen die klammen Gefängnismauern aus Unsicherheit und Vorsicht anrannten ohne jemals zu ermüden, so sehr spezialisierte sich Magus darauf, diese überschäumende Energie zu bändigen. Diese Energie war es, die seine unermüdliche Ausdauer und eiserne Disziplin nährte, durch die er sein Leben jeden Tag aufs Neue zu einem wahrhaft beeindruckenden Beispiel an Ausgewogenheit und Ausgeglichenheit, an Kultiviertheit und Bildung, an Lebensstil und beruflichem Erfolg werden ließ. Magus war ein Mensch, von dem man sagte, dass er es wirklich geschafft hatte. Er gehörte zu den Auserwählten, die ihre Berufung auch ihren Beruf nennen konnten und damit auch noch ein kleines Vermögen verdienten. Er galt durchweg als begehrt und beliebt. In großer Gesellschaft glänzte er durch seine Eloquenz. Kleinen Zusammenkünften verlieh er stets eine exklusive Note. Seine Erscheinung war exquisit, seine Umgangsformen waren angenehm, ebenso wie der gepflegte Klang seiner Stimme. In Kollegenkreisen bewunderte man neidlos seine Erfolge, die er sich allesamt durch harte Arbeit und mit gnadenlosem Drill an seinem Talent erworben hatte. Man schätzte ihn und als ein Mann gänzlich ohne Allüren war er auch bei seinen Angestellten beliebt.

Magus hatte einen enormen Bekanntenkreis. Professionell pflegte er seine zahlreichen Kontakte, erfüllte gewissenhaft alle täglichen Verabredungen, führte geschickt seine Verhandlungen, erschien immer pünktlich und gut vorbereitet zu seinen Meetings. Tagsüber war er ein Mann der vielen Gespräche. Abends kehrte er erleichtert heim, um die Ruhe und Erholung zu suchen, die er nur in der stillen Abgeschiedenheit seiner eigenen vier Wände fand. In diesen Stunden dämmerte ihm manchmal, dass er vielleicht der einsamste Mann der Welt war.

Der Regen war bereits sehr heftig geworden, als er den Haustürschlüssel aus seiner Jackentasche zog. Sehnsuchtsvoll dachte er an die belebende Gesellschaft eines warmen Tees, als ihn von der Seite eine leise Stimme aus seinen Gedanken rief.

„Lässt du mich mit rein?“ Der kleine Junge schien bereits seit einiger Zeit unter dem Vordach gewartet zu haben. Magus erkannte Florian, den etwa siebenjährigen Sohn seiner Nachbarin, einer jungen Frau, die in der kleinen Wohnung im Souterrain wohnte.

„Flo, ist denn deine Mutter nicht zu Hause? Hast du keinen Wohnungsschlüssel dabei?“, fragte Magus, während er das durchnässte Kind in den Hausflur schlüpfen ließ.

„Nö, vorhin zu Haus vergessen. Aber Mama kommt bald heim. Heute ist Samstag und da arbeitet sie nur bis vier.“

Magus warf erst einen raschen Blick auf seine Armbanduhr, deren Zeiger auf kurz nach Drei standen, und dann zurück auf das nasse Kind.

„Komm mit rein. Ich geb dir was zum Abtrocknen und wir hängen deiner Mama einen Zettel an die Tür, damit sie weiß, dass du bei mir wartest. Ich mach uns inzwischen einen heißen Tee.“

„Mit Schokokeks?“, fragte Flo erwartungsvoll.

„Mit Schokokeks“, versprach Magus. „Mit allem, wie beim letzten Mal“. Er ging voran und Flo sprang behände hinterher. Unaufgefordert stellte der Junge seine lehmverschmierten Schuhe neben Magus’ Eingangstür, bevor er in die Wohnung hüpfte. Magus brachte ein großes Handtuch, half dem Jungen aus den nassen Kleidern und verpackte ihn in seinen viel zu großen Bademantel.

„Darf ich Bilder gucken, bis du so weit bist?“, fragte Flo artig und als Magus nickend in die Küche ging, um seinen Gastgeberpflichten nachzukommen, zog er auch schon mit gezieltem Griff einen riesigen Bildband über ausgestorbene Tiere aus dem Regal und machte es sich damit auf der Couch gemütlich.

„Die Saurier waren ganz doll gefährlich, nicht wahr?“, rief er Magus in die Küche hinterher.

„Ja, vor allem der Tyrannosaurus Rex, der größte Jäger, der je auf der Erde gelebt hat“, antwortete Magus und kam aus der Küche zurück. „Sag mal, hast du schon lange gewartet? Hast du überhaupt zu Mittag gegessen? Ich mache dir lieber erst mal ein Brot, damit du zuerst etwas Vernünftiges isst, bevor du die ganzen Kekse futterst.“

„Das sagt Mama auch immer“, stimmte Flo zu und blätterte ungerührt weiter.

Mit zärtlicher Fürsorge dachte Magus an Florians Mutter, Charlotte, seine Nachbarin. Die alleinerziehende junge Frau kam oft in letzter Minute nach Hause, um zu kochen, ihre Einkäufe zu erledigen oder Flo aus der Tagesstätte abzuholen. Und heute war offensichtlich mal wieder etwas schiefgelaufen. Magus war heilfroh, dass er Flo von seiner unbequemen Warterei hatte erlösen können. Das war doch nichts, so ein Kind alleine auf der Straße.

Der heranwachsende Flo rief immer häufiger Bilder seiner eigenen Kindheit in ihm wach. Was die hübsche Charlotte in ihm wachrief, das war mehr, als er in Worte fassen konnte. Und immer wenn er zu oft an sie dachte, dann war er peinlichst schnell bemüht, es vor allem vor sich selbst in den tiefsten Abgründen seines Herzens zu verbergen.

Charlotte war nicht die Frau, die sich für einen Mann wie ihn interessiert hätte. Ihre Freunde waren praktisch veranlagte Leute, Handwerker, Arbeiter, Techniker. Männer, die zupacken konnten und denen man das auch ansah. Leute, die ohne Umstände geradeaus dachten und sprachen und die stets wussten, was zu tun ist. Leute, für die Bildung etwas in barer Münze Messbares bedeutete und die recht damit hatten. Dies waren die Leute, die die gleiche Sprache wie Charlotte sprachen, in der sich vieles um finanzielle Engpässe, Überstunden, ungerechte Chefs und Sonderangebote drehte. Leute, die ihre Nachbarn meist mit Namen kannten, deren Topfpflanzen in Urlaubszeiten gossen und die sich auch für deren Wehwehchen und Haustiere interessierten. Es war eine Welt, in der Magus nie wirklich zurechtgekommen war, so sehr er sich anfangs auch darum bemüht hatte.

Seit er ein Kind war, wusste er, dass es nicht die Welt war, die sich vor ihm verschloss, sondern dass er selbst es war, der den Zugang zu ihr überhaupt nicht suchte. Die Welt, so wie alle Anderen sie sahen, interessierte ihn nicht im Geringsten. Zuerst schämte er sich noch ein wenig und versuchte ungeschickt sein Defizit zu verbergen. Doch nach und nach begann er, seine Einsicht ganz offen vor sich herzutragen. Zwar machte er sich dadurch nun ganz und gar zum einsamen und bespöttelten Einzelgänger, aber er hatte dadurch auch etwas Wesentliches gewonnen. Es störte ihn nicht mehr, der Außenstehende, der Andere, der Seltsame zu sein.

Er brauchte keine unsinnige Kraft mehr damit zu verschwenden, so sein zu wollen wie die Anderen. Er wusste nicht nur, dass er es nicht konnte, er wusste, dass er es auch gar nicht wollte.

Anfangs glaubte er, die Ursache seiner Fremdheit läge im frühen Tod seiner Mutter begründet. Er verlor sie, als er gerade fünf Jahre alt war, und in seine Sehnsucht nach der bedingungslosen mütterlichen Liebe mischte sich die Gewissheit, mit ihr auch die einzige Person verloren zu haben, die ihn ganz so verstanden und angenommen hatte, wie er eben war. Da auch sein Vater sich nur wenige Monate nach dem Tod der Mutter aus dem Staub gemacht hatte, um nie wieder in den Kreisen seiner Familie gesehen zu werden, wuchs Magus bei seiner Tante auf. Diese versorgte ihn so gut man den Sohn der zu jung verstorbenen Schwester eben versorgen kann, wenn man selbst drei Söhne großzuziehen und einen zum Alkoholismus neigenden Melancholiker zum Mann hat. Sie tat damit ihr Bestes, aber das einsame Kind verstehen zu können lag eindeutig außerhalb ihrer Möglichkeiten.

Dort wo in der Kindheit Freunde zu den wichtigsten und engsten Vertrauten werden, erlebte Magus anfangs nur schroffe Befremdung und rohe Ablehnung. Dabei war es nicht die Schuld der anderen Kinder. Obwohl Magus sich immer sehr bemühte ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, so fehlte es ihm völlig an der inneren Überzeugung, es ihnen wirklich gleich zu tun. Seine Tante sorgte sich darüber nicht wenig, denn dieser verschlossene Neffe war so anders geraten als ihre eigenen wilden Söhne, die ihr völlig unkompliziert die jeweils altersgerechten Kümmernisse bereiteten. Doch schon bald konnte sie daran auch gewisse Vorzüge feststellen. Magus, der sich mit seiner Außenseiterstellung nach und nach zufrieden gab, war unkompliziert und ausgeglichen. Er konzentrierte sich auf die Schule und aufs Lernen. Unbeeindruckt von den draufgängerischen Heldentaten seiner pubertierenden männlichen Altersgenossen folgte er zielstrebig seinen eigenen geheimnisvollen Idealen. Gute Leistungen und das hilfsbereite Entgegenkommen, diese mit anderen zu teilen, entwaffneten bald die Neigung der Anderen ihn abzulehnen und machten ihn beliebt. Man begann ihn zu bewundern und zu schätzen.

Nach seinem Schulabschluss erwartete man, dass er endlich anfangen würde sein eigenes Geld zu verdienen. Da er so gar keine der sonst üblichen männlichen Interessen zeigte, engagierte sich sein Onkel in einem seiner seltenen nüchternen Augenblicke dafür, ihn über Beziehungen als Lehrling bei einem Frisör unterzubringen.

Dieser Ausbildungsplatz lag zwar völlig außerhalb von Magus’ Erwartungen, aber er fand sich nicht nur mit seiner neuen Lage ab, er absolvierte die Lehre sogar mit großem Engagement und überraschend hoher Begabung. Er hatte erkannt, dass ihm fast nichts Kreatives misslingen konnte und er seine Bestimmung nur in einem künstlerischen Werdegang finden würde.

Das begeisterte Angebot seines Lehrherrn, sofort nach Abschluss der letzten Prüfung bei ihm festangestellt zu werden, lehnte er ohne Überheblichkeit und ohne Zögern ab. Er war bereits auf dem Weg eine zweite Ausbildung zum Maskenbildner abzuschließen. Sein erstes Ziel war das Theater und mit dem Ausweis hervorragender Noten gelang ihm bald mühelos der Eintritt in diese phantastische Welt hinter der Welt. Hier, an der Grenze zwischen Imagination und Realität, beim Hervorholen gedachter Bilder, beim Sichtbarmachen von geträumten Phantasien, spürte er das erste Mal, dass er seinen Weg gefunden hatte. Als ihm klar wurde, dass er beim Film über noch umfangreichere Mittel und vielfältigere Methoden verfügen könnte, wechselte er das Genre.

Ein glücklicher Zufall verhalf ihm im Rahmen einer deutsch-amerikanischen Filmproduktion zu einem Stipendium an der Filmakademie. Von nun an verlief seine Karriere wie am goldenen Schnürchen. Was immer er anfing, es gelang.

Als technischem Leiter eines großen Studios oblag ihm schon bald die komplette Visualisierung begehrter Filmproduktionen. Es ging für ihn nun nicht mehr nur um Masken und Kostüme, um Farbgebung und Licht, um Special Effects oder Regieanweisungen. Er hatte erkannt, dass er mehr wollte, als nur die Ideen anderer umzusetzen. Er wollte alles selber machen.

Mithilfe seines Ehrgeizes und nennenswerter Beziehungen gründete er seine eigene kleine Produktionsfirma. Er schrieb eigene Drehbücher und setzte sie vollständig um. Seine Spezialität waren kurze Sequenzen, wie sie vor allem in der Werbung gebraucht wurden, und sein eigenwilliger Stil, mit wenigen sehr ausdrucksstarken Bildern äußerst effektvoll eine abgeschlossene Geschichte zu erzählen, wurde schnell sein Markenzeichen.

Großes Kino mochte er nicht. Er wollte keine Filme in voller Länge, die das Leben imitieren mussten, um zu funktionieren. Das Leben einfach so abzubilden, wie es war, empfand er nicht als Kunst. Seine Filme sollten ein originelleres Leben zeigen. Er wollte die Ideen visualisieren, die sich hinter der sichtbaren Welt versteckten. Er wollte das Unsichtbare sichtbar machen. Er wollte verblüffen, überraschen, hinterfragen, anrühren, nachdenklich machen, aber vor allem wollte er eine Botschaft vermitteln. Er wollte an das Geschenk der Zeit erinnern, an die Schönheit des Lebens und an seine universelle Kraft, die ihren Ausdruck in der Liebe fand. Im klassischen Sinne war Magus kein gläubiger Mensch, aber diese Überzeugung war seine Art des Glaubens. Nur durch die Liebe erhielt das Leben für ihn seinen tiefen Sinn.

Obwohl viele seiner Filme – oder besser Filmchen – ausgezeichnet und prämiert wurden, gelang es ihm, anders als den Filmemachern großer Produktionen, in der breiten Öffentlichkeit unbekannt zu bleiben. Außerhalb seiner Branche nahm niemand an, dass an diesem mittelgroßen, mittelblonden, sehr gepflegten aber immer verschlossen wirkenden Durchschnittstypen Ende Dreißig, Anfang Vierzig irgendetwas Besonderes sein könnte.

Unter seinen Kollegen und Mitstreitern betrachtete man es als einen Spleen, dass Magus so bar jeder Eitelkeit ein wenig glamouröses Leben führte.

Die Wahrheit war aber nicht, dass Magus besonders bescheiden, besonders uneitel oder besonders unempfänglich für Aufmerksamkeit und Lob gewesen wäre. Die Wahrheit war, dass es ihm mit der Welt der Reichen und Schönen, der Einflussreichen und Berühmten genauso erging, wie zuvor mit der Welt der durchschnittlichen und gewöhnlichen Menschen. Die Menschen in dieser glamourösen Welt waren ihm in der Mehrheit mit all ihren täglichen, kleinlichen Befindlichkeiten genauso herzlich egal wie die Leute, aus deren Mitte er stammte. Er kannte beide Welten und war weder in der einen noch in der anderen wirklich zu Hause.

Beruflich erfolgreich und finanziell unabhängig erlaubte er sich immer mehr, sich den profanen Äußerlichkeiten eines ungeliebten Alltags zu entziehen. Nach und nach erschuf er sich eine eigene Kunstwelt. Sogar sein eigenes Leben erschien ihm wie eines seiner phantastischen Drehbücher. In den von ihm selbst geschaffenen Bedingungen fühlte er sich aufgehobener und sicherer, als er es in der konkreten Welt je vermocht hätte. So oft es ging, wählte er die Klausur seiner Privatidylle. Und da die Welt nicht stehen blieb, um auf ihn zu warten, verpasste er mehr und mehr den Anschluss an soziale Zusammenhänge und musste sich immer mühevoller von Neuem dieser äußeren Welt annähern.

Seine innere Einsamkeit war dabei schon so fest ein Wesenszug von ihm, dass er sie gar nicht mehr in Frage stellte.

Nun war er keineswegs blind für das, was ihn umgab. Im Gegenteil. Seine außergewöhnliche Distanz erlaubte ihm einen Blick auf Details, die den meisten anderen Menschen entgangen wären. Mit Bestürzung beobachtete er die täglichen Verletzungen, die sich seine Mitmenschen gegenseitig zufügten, oft ohne es wirklich zu wollen, meist sogar ohne es zu bemerken. Nur ihrer Oberflächlichkeit schob er es zu, dass sie so unberührt darüber hinweggehen konnten.

Bis vor gut drei Jahren hatte sein System aus Einsamkeit und Abstand perfekt funktioniert. Bis zu jenem Tag vor etwa drei Jahren, als er das erste Mal Charlotte begegnete.

An einem Spätnachmittag kam er nach Hause, schloss die Haustür auf, konnte sie aber nur öffnen, indem er sich fest mit der ganzen Kraft seines Körpers gegen die schwere Glastür stemmte. Eine Barriere aus Umzugskartons und sperrigen Möbelstücken versperrte ihm den Zugang und zwang ihn kletternd das Treppenhaus zu betreten. Irritiert stolperte er über eine der vielen Kisten und stieß sich unsanft das Schienbein an einem Stapel lose aufgetürmter Bücher, die polternd in sich zusammenfielen.

Was sollte diese unverschämte Unordnung bedeuten? Dieses blindwütige Chaos verstimmte ihn. Verärgert bückte er sich, um die zu Boden gefallenen Bücher aufzuheben. Er nahm ein italienisches Kochbuch in die eine und einen Band Goethe-Dichtung in die andere Hand und fühlte sich wie in einer Falle, da er nun keine dritte Hand mehr frei hatte, um weitere Bände aufzuheben. Dieses simple Problem überforderte ihn derart, dass ihm ein nachlässiges Aufeinanderstapeln der aufgehobenen Bücher auf den freien Treppenstufen erst gar nicht in den Sinn kam.

Hilflos sah er sich um. Linkisch unternahm er einen Versuch über die am Boden verstreuten Bücher hinwegzusteigen, ohne auf eines zu treten. Er wollte die Treppe erreichen, was ihm aber ohne Möglichkeit sich am Geländer festzuhalten nicht gelang. Völlig unelegant schwankte er hin und her und verlor um ein Haar sowohl sein Gleichgewicht als auch seine Fassung. Vorwurfsvoll starrte er auf das Schwergewicht Goethe in seiner rechten Hand, dachte unfreiwillig an Goethe in Italien und fühlte sich durch das übergewichtige Italienkochbuch in seiner Linken zusätzlich verspottet.

Es half nichts. Er musste die Hände freibekommen. Zögernd entschied er sich dazu, das Kochbuch wieder auf den Boden zu legen. Er bückte sich, und als er sich wieder aufrichtete und noch einmal zurück auf das Chaos sah, versank sein Blick völlig unvermittelt in einem Paar rehbrauner Augen, das ihn offensichtlich bereits seit einigen Sekunden aufmerksam beobachtet hatte.

„Sie können sich wohl nicht entscheiden, Poesie oder Pasta?“, blitzte ihm übermütig das bezauberndste Lächeln aller Zeiten aus dem hübschen Gesicht einer jungen Brünetten entgegen.

„Äh, nein, ich wollte …“ Seine einstudierte Galanterie blieb ihm im Halse stecken. Er verschluckte sich und musste husten.

„Entschuldigen Sie bitte das momentane Chaos“, fuhr sie unbeeindruckt fort, als sei ihr Magus’ Verlegenheit gar nicht aufgefallen. „Die Bücherkiste war mir zu schwer und daher habe ich einige Titel herausgenommen, um sie leichter tragen zu können.“

„Sie ziehen heute hier ein?“, kommentierte Magus völlig überflüssig die eindeutige Situation.

„Ja, heute. Und morgen ist wieder alles im Lot“, versprach sie.

Nein, nichts würde je wieder im Lot sein, begriff Magus schlagartig. Nicht solange sie unter einem Dach mit ihm lebte. Nicht solange er an sie denken würde. Und dass er an sie denken würde, war ihm ebenso scharf und deutlich bewusst, wie die unumstößliche Gewissheit, sich in diesem einen Moment unsterblich verliebt zu haben.

Noch immer hielt er den Goethe fest umklammert, so, als wollte er sich an ihm festhalten, um seine eigene Sprachlosigkeit zu überwinden.

„Heut ist mir alles herrlich; wenn's nur bliebe! Ich sehe heut durchs Augenglas der Liebe“ kamen ihm unwillkürlich die Worte des großen Meisters in den Sinn. Doch mehr als ein blödes Lächeln brachte er nicht zustande.

„Berger. Charlotte Berger“, stellte sie sich vor und reichte ihm ihre zartgliedrige Hand zur Begrüßung.

Natürlich hieß sie Charlotte, wie auch sonst, dachte Magus wie betäubt und versank immer tiefer in ihrem bezaubernden Anblick und seine stumme Unbeholfenheit.

„Wir werden uns dann ja noch öfter sehen“, plauderte sie ungerührt weiter. Ihr unbezweifelbares Geschick, derart ungezwungen und charmant die Unterhaltung mit einem scheinbar schwachsinnigen Taubstummen fortzusetzen, war bewundernswert. Er liebte sie augenblicklich noch mehr um ihrer rührenden Hartnäckigkeit willen, an einer einmal begonnenen Liebenswürdigkeit derart bedingungslos festzuhalten.

„Ich hab die Wohnung im Souterrain genommen“, fuhr sie fort.

„Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah. Lerne nur das Glück ergreifen: Denn das Glück ist immer da“, lachte Magus stumm Goethe zitierend in sich hinein.

Charlotte schien das alles nicht weiter zu stören. Ihr fehlte eindeutig der Vergleich zum „normalen“ Magus, den sie noch nicht kannte. Wenigstens war der wohlhabende Penthousebewohner, von dem sie bereits gehört hatte, kein überheblicher Yuppie oder angeberischer Klugscheißer. Allerdings könnte er langsam mal ihre Hand loslassen. Vorsichtig zog sie ihre Rechte aus seinem festen Griff und nahm ihm, wie um diese Bewegung zu rechtfertigen, den schweren Goetheband ab.

Für Magus wurde es höchste Zeit, sich aus seiner Betäubung zu lösen, wenn er nicht als Volltrottel aus dieser Szene scheiden wollte.

„Ich bin Magus. Ich wohne ganz oben. Unterm Dach“, fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein.

„Also dann“, wandte sie sich um, „morgen sieht es wieder ordentlich aus. Versprochen.“

Noch immer fassungslos starrte er ihr nach. Erst als er oben in seine Wohnung trat, kam er langsam wieder zu sich.

Was war geschehen? Wie konnte ihm das passieren? Er war derart unbeholfen gewesen, dass ihm noch nicht einmal eingefallen war, ihr seine Hilfe anzubieten. Was war bloß los mit ihm? Ihm waren einfach die Worte weggeblieben. Er hatte nur noch in Goethe-Zitaten denken können.

Magus glaubte an die Liebe. Immerhin hatte er sie bereits tausendmal in seinen Filmen inszeniert. Sie war für ihn die Grundlage der Menschlichkeit. Die Liebe war eine unantastbare Größe. Ein perfektes Abstraktum. Schwebend, vage, mysteriös. Sie hatte tausend Gesichter und Geschichten.

Wie also um alles in der Welt konnte er damit rechnen, dass sie ihm ausgerechnet hier begegnete? So unmittelbar. So direkt. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Niemand konnte darauf vorbereitet sein. Er noch weniger als Andere, nahm er sich in Schutz und wusste, dass er sich auch damit belog. In dieser Lebenssituation gab es für niemanden eine Ausnahme oder Sonderregelung. Die Liebe war kompromisslos und unberechenbar und er alleine musste nun für sich damit klarkommen.

Mehr schlecht als recht kam Magus damit klar. Seit drei Jahren waren Charlotte und ihr Sohn Florian sein wertvollstes Geheimnis. Ihr Leben, das so völlig anders war als das seine und sich an keinem einzigen Punkt mit seiner Lebenswelt überschnitt, war vom heimlichen Nebenschauplatz seiner anfänglichen Neugierde längst zu seinem Hauptinteresse geworden.

Der Tee hatte gerade lang genug gezogen, als es an der Tür klingelte. Abgehetzt und mit regennassem Haar stand Charlotte vor seiner Tür.

„Hallo Magus, hat Flo Sie wieder mal überfallen?“ Zur Begrüßung schenkte sie ihm ihr unvergleichliches Lächeln.

„Nein, im Gegenteil, ich bat ihn, mir etwas Gesellschaft zu leisten und mir den verregneten Nachmittag aufzuheitern.“ Magus trat zur Seite um sie hereinzulassen. Ohne zu fragen nahm er ihr die nasse Jacke ab, hing sie an die Flurgarderobe und bat Charlotte mit einem stummen Nicken ins Wohnzimmer zu kommen.

„Und Ihnen dabei den Kühlschrank leer zu futtern.“ Ihre Strenge war mehr gespielt als ernst gemeint. Lachend strich sie sich eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr und betrachtete liebevoll kopfschüttelnd ihren kleinen Sohn, der sich sicher behütet in der flauschigen Geborgenheit von Magus’ Frotteebademantel seinem aufregenden Bilderabenteuer mit phantastischen Riesenechsen hingab.

„Aber nicht doch“, besänftigte sie Magus galant. „Ich esse eben nicht gerne alleine und da ich selbst hungrig war … Bitte, Charlotte, setzen Sie sich doch für einen Moment. Ich habe gerade Tee gekocht.“

Erschöpft nahm sie Platz. Mit dem sonnigen Wohlgefallen einer Katze beobachtete sie ihren fürsorglichen Nachbarn, der eine weitere Tasse aus dem Schrank holte und mit wenigen geschickten Griffen den leeren Esszimmertisch in eine gastliche Tafel verwandelte. Sie, die den ganzen Tag ausschließlich Dienstleistungen für andere ausführte, empfand die aufmerksame Selbstverständlichkeit, mit der er sie so zuvorkommend bediente, wie eine vertraute Zärtlichkeit. In sich versunken lächelte sie verlegen über diesen verwegenen Vergleich, der sich ihr nicht zum ersten Mal aufdrängte.

„Ach, Magus“, seufzte sie mehr für sich. „Was würden wir nur ohne Sie machen?“

Er kannte diesen entrückten Blick, dieses verträumte Leuchten, das sich vor ihm verborgen sekundenlang in ihrem Innern ausdehnte, um dann plötzlich in der Winzigkeit eines einzigen Wimpernschlags im schwarzen Glanz ihrer Augen zu explodieren und mit leisem Funkeln wieder wie spurlos zu versinken. Er liebte diesen Moment, da er in diesem Blick die Tiefe von Gedanken ahnte, um deren willen er sie noch mehr liebte.

„Zucker? Milch?“, hörte sich Magus fragen und träumte davon, seiner Liebsten viel eher die ganze Welt zu Füßen zu legen.

Zutraulich schob sie ihm ihre Tasse über den Tisch, damit er die gewohnte Menge Zucker und Milch hinzufügen konnte. Sie schien heute Abend besonders müde zu sein.

„War es heute sehr stressig im Laden?“

Charlotte legte sofort los. Mit einem lauten Schnauben unterstrich sie den Grad ihrer Empörung.

„Absolut überfüllt. Und eine Kollegin war auch noch krank. Ich wäre sonst wirklich früher hier gewesen. Aber dafür hätte der Chef kein Verständnis gehabt. Und dabei rührt er selber keinen Finger, nicht einmal, wenn es so voll ist wie heute!“

Obschon Magus die Einzelheiten ihres Lebens in- und auswendig kannte, wurde er nie müde zum tausendsten Mal davon zu hören. Er kannte die Inkompetenz von Charlottes Chef, die Rücksichtslosigkeit einzelner Kollegen, den Zeitdruck, die mäßige Bezahlung, die fehlenden Pausen, die morgendliche Rennerei zum pünktlichen Arbeitsbeginn und die Hetze, um ebenso pünktlich wieder zu Hause zu sein und auf dem Weg noch die nötigsten Besorgungen zu erledigen. All das kannte er und nahm es als gegeben hin, weil auch Charlotte es geduldig akzeptierte. Er bewunderte ihre anscheinend unermüdliche Ausdauer, diese Dinge zu ertragen.

Aber noch mehr bestaunte er ihre Fähigkeit, sich inmitten dieser trostlosen Gleichförmigkeit den Blick für das Wesentliche zu bewahren. Charlotte hatte das Talent, das Glück auch dann zu entdecken, wenn es sich im unscheinbar Kleinsten verbarg. Und sie hatte die beneidenswerte Gabe, sich am Jubel der Anderen zu entzücken und ihn dadurch zu ihrer eigenen Freude zu machen. Ja, mehr noch: indem sie das Glück der Anderen zu ihrem Glück machte, warf sie es vervielfältigt auf ihre Umgebung zurück und bereicherte sie.

Heimlich genoss er die festlichen Momente, wenn sie ihm mit wenigen Worten ein weiteres Erlebnis ausbreitete. Mal ging es um das schüchterne Kind, das sich erst nicht entscheiden konnte und dann glücklich mit einem neuen Märchenbilderbuch nach Hause ging. Mal ging es um eine einsame, früh ergraute Stammkundin, manische Konsumentin tragischer Liebeslyrik, die sich plötzlich frisch verliebt einfand und nach Rezeptbüchern für aufwendige Gerichte verlangte. Ein unbekannter Passant schenkte einmal Charlottes übellauniger Kollegin eine einzelne Blume und brachte sie damit wenigstens einen Tag lang zum Lächeln. Der Eisverkäufer von gegenüber spendierte an einem Tag allen Kunden und Verkäuferinnen ein Eis, um die Geburt seines ersten Kindes zu feiern.

Magus hatte den Eindruck, Charlotte säße direkt an der Quelle solcher Geschichten. Oder war es so, dass sie daraus am reichhaltigsten schöpfte? Alle diese Episoden waren für ihn kleine, liebevolle Mitbringsel, versöhnliche, hoffnungsfrohe Aufheller des eigenen Alltags. Er konnte nie genug von ihnen bekommen und empfand auch eine zufällige Wiederholung nie als langweilig.

Nachdem Charlotte mit ihrem Sohn gegangen war, blieb Magus in seiner großen, stillen Wohnung alleine zurück. Der Klang ihrer Stimme vibrierte noch in seinem Ohr, der Duft ihres Parfums hing noch in der Luft. Es war wie immer schön gewesen, sie hier bei sich zu haben. Er verlor sich leicht in der Vorstellung, dass sie regelmäßig zu ihm nach Hause kommen könnte, obwohl er wusste, dass dies in der Tat eher selten und nie aufgrund eines vorher gefassten Planes passierte.

Dennoch genoss er diese Idee ausgiebig und rief sich die Schönheit und den Reichtum einzelner mit ihr erlebter Augenblicke in fortwährender Wiederholung wach. So konzentrierte er von Mal zu Mal das Destillat seiner Erinnerung, welches ihm bald intensiver schmeckte als die flüchtige Gegenwart selbst und er geriet in den gefährlichen Sog eines trügerischen Rausches, in dem die Illusion gefälliger erscheint als die unbequeme Wirklichkeit.

Es entsprach seiner Gewohnheit lange wach zu bleiben und seinen verträumten Gedanken nachzuhängen. Daher war er auch kaum überrascht als gegen Mitternacht sein Telefon klingelte und er Rons Stimme am anderen Ende der Nacht vernahm. Geduldig wie ein Buch hörte er sich Rons hastig gestammelte Entschuldigung an. Nein, konnte er seinen Cousin überzeugend beruhigen, er war wirklich nicht beleidigt.

„Das macht nichts“, beteuerte er wiederholt. „Darf ich dich dennoch fragen, was dir dazwischen gekommen ist?“

Ron schluckte. Natürlich hatte er mit dieser Frage rechnen müssen und dennoch schien ihn die Aufgabe, eine plausible Erklärung zu formulieren, nun völlig zu überfordern. Magus baute ihm geduldig eine Brücke aus Schweigen.

„Das ist etwas kompliziert“, erwiderte Ron schließlich nach ewigen, sprachlosen Sekunden. „Wenn du einverstanden bist, möchte ich es dir gerne persönlich erzählen. Können wir uns morgen sehen?“

„Gerne. Gleiche Uhrzeit? Gleicher Treffpunkt?“

Magus traf häufig Verabredungen zum Essen, da er fand, es gäbe keinen aufschlussreicheren Weg, um einen anderen kennenzulernen, als beim gemeinsamen Mahl. Die Art wie jemand aß und trank, ob er nur aß und trank, oder ob und wie er kostete, schmeckte, kaute, schluckte, ob hastig oder mit Bedacht, nachlässig oder andächtig, ob genießend oder oberflächlich, all dies ließ sehr tief auf den Charakter schließen.

Er war neugierig auf Ron, der ihm durch die vielen Jahre, in denen sie sich nicht gesehen hatten, fremd geworden war, und darauf, wie sie sich verstehen würden.

„Ich werde da sein“, versprach Ron und legte auf. Als Magus schlafen ging, war er gespannt, wie sich die Geschichte weiterentwickeln würde.

Die Buchwanderer

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