Читать книгу Das Gewicht aller Dinge - Britta Röder - Страница 6

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Es gab viele trostlose Flecken in Frankfurt, aber dieser war einer der trostlosesten. Vor einigen Jahren von gelangweilten Städteplanern aufs Papier geworfen, kurz darauf auf den Mittelstreifen einer mehrspurigen Allee gepflanzt, war die Grünanlage ein Paradebeispiel dafür, welche Hässlichkeit menschliche Gleichgültigkeit produzieren konnte.

Kurz vor Sonnenaufgang erreichte die Trostlosigkeit dieses Ortes ihren Höhepunkt. Das Morgengrauen entzog der Grünfläche den letzten Rest an Farbe. Alle Spuren der Verwahrlosung, die die Straßenbeleuchtung eben noch überglänzt hatte, traten nun zu Tage: Das vor Dreck und Hundekot starrende Rasenstück, die verknöcherten Bäume, die ihre Stümpfe in den Himmel reckten, und die durch die Autoabgase ergraute Hecke, in der sich Plastiktüten verfangen hatten. Der einzige Mülleimer hatte keinen Boden mehr. Die Sitzbank aus Stahlrohr stand verwaist am Rand verwitternder Gehwegplatten. Selbst den Junkies und Obdachlosen der Stadt bot dieser vom Leben vergessene Flecken nichts, das sie anzog.

Doch dann ging die Sonne auf.

Rosig ergoss sich das Licht über die Erde und tauchte alles in zartes Pastell. Die schroffen Konturen des Astwerks verwandelten sich in einen filigranen Scherenschnitt. Das Grün der Blätter erglühte. Der Schmutz auf der Bank erschien als Patina, die der Raststatt eine rührende Vergänglichkeit verlieh. Eine Amsel sang ihr Lied. Der hässliche Fleck wurde zur Oase, zu einem Ort der Hoffnung, zu einer Idylle mitten im urbanen Dickicht.

Das Ganze geschah innerhalb weniger Sekunden. Kaum länger, als ein Atemzug dauert. Unbemerkt, so wie meistens, wenn ein Wunder passiert. Denn ein Wunder war es, weil etwas völlig Neues begann.

Der Platz auf der Bank war nun nicht mehr leer. Ein Mädchen schlief darauf. Eher eine junge Frau, die soeben erwachte. Sie trug nur ein helles Kleid, das ihr kaum bis zu den Knien reichte. Wie ein Kind rollte sie sich noch einmal zusammen, um sich schützend in sich selbst zurückzuziehen, in den Traum, der soeben noch ihre Welt gewesen war. Zögernd setzte sie sich auf und sah sich um.

Das Unkraut, das zwischen den verwitterten Gehwegplatten spross, erzitterte leicht. Oder waren es ihre Füße, die sie unsicher auf den grauen Beton setzte? Klamm stand die Morgenkühle zwischen den borstigen Sträuchern und Bäumen. Das graue Stahlrohr unter ihr war kalt. Es fröstelte sie.

Behutsam erhob sie sich und lenkte ihre Schritte in Richtung Straße. Der erwachende Berufsverkehr floss an ihr vorbei.

Kreuz und quer begann sie, die Stadt zu erkunden, beobachtete, hörte, schaute und staunte. Alles war neu. Alles war fremd. Mit jedem weiteren Schritt wuchs ihre Neugier.

Wer waren all diese Menschen? Woher kamen sie? Wohin gingen sie? Was war ihr Ziel?

Die Welt um sie herum war unfassbar groß. Eine Fülle, die ihre Sinne überflutete. Die sie berauschte. So viel auf einmal. Was war Antwort? Was war Frage? Was war was? Die Frau geriet leicht ins Taumeln.

Da drängte sich etwas in ihr Bewusstsein, das klarer war als alle anderen Eindrücke. Erst leise und dann immer fordernder. Wie an einem Seil klammerte sie sich daran fest. Es lenkte sie in sich selbst hinein. Es stach und biss. Ein Schmerz in ihrer Mitte. Auch ihr restlicher Körper machte sich bemerkbar. Ihre Beine waren schwer, die Füße wund. Doch der Schmerz in ihrer Mitte überlagerte alle anderen Empfindungen.

In einer Fußgängerzone blieb sie stehen. Aus der geöffneten Ladeklappe eines Lieferwagens wehte ihr ein köstlicher Duft entgegen. Warm und lebendig hüllte er sie ein. Kiste um Kiste trug ein Mann ofenfrische Ware in einen Laden, während sie nur dastand und roch.

Der Schmerz brandete erneut in ihr auf. Wie ein Messer fuhr er ihr in die Eingeweide, sodass sie sich hilflos gegen die nächste Hauswand stützen musste.

Der Lieferant wandte sich erschrocken um. Er fühlte sich beobachtet. Hinter ihm stand eine junge Frau und starrte in seine Richtung. Ihr seltsames Verhalten weckte sein Misstrauen. Ein grobes Wort lag ihm auf der Zunge. Er hasste es, angebettelt zu werden. Wütend taxierte er sie, bereit, sie fortzujagen.

Da traf ihn ihr Blick und er erschrak erneut. Doch diesmal war es anders. Etwas Tröstendes ging von der Fremden aus. Ihr Gesicht erinnerte ihn an seine Schwester. Die gleichen grünen Augen. Das gleiche braune Haar, das offen über ihren schmalen Schultern lag. Sie hatte sogar die gleichen verspielten Sommersprossen über Nase und Oberlippe.

Natürlich war die Fremde nicht seine Schwester, das konnte ja auch gar nicht sein, denn seine Schwester war schon seit vielen Jahren tot. Gestorben, als sie fast noch ein Kind war. Und wenn man genauer hinsah, dann bemerkte man auch, dass die Haare dieser jungen Frau heller waren, die Augen etwas weniger grün, die Sommersprossen nicht so zahlreich. Aber nun war es zu spät. Seine Zuneigung war erwacht, die Besorgnis um ihr Wohlergehen konnte er nicht mehr rückgängig machen.

Er musterte das dünne Sommerkleid und die nackten Füße auf dem Straßenpflaster und schüttelte sogleich seinen Kopf. Wie eine Obdachlose sah sie nicht aus, dachte er erleichtert. Eher wie jemand, der eine durchfeierte Nacht hinter sich hatte und auf dem Weg in sein Bett war. Sicher hatte sie ihre Schuhe nur ausgezogen, weil sie sie beim Tanzen gestört hatten und sie dann vergessen. Allerdings trug sie auch keine Handtasche bei sich. Erneut schüttelte er den Kopf über so viel jugendlichen Leichtsinn. Das ersehnte Frühstück würde sie sich so nicht kaufen können.

»Hunger?«, fragte er.

Sie nickte.

»Geht aufs Haus«, sagte er und reichte ihr ein Brötchen.

Zaghaft nahm sie sein Geschenk entgegen, betrachtete es von allen Seiten, atmete tief den Duft ein und schlug ihre Zähne in die knusprige Kruste. Der Mann verfolgte, mit welcher Lust sie abbiss und wie die goldene Hülle zwischen ihren Zähnen splitterte.

In Sekundenschnelle hatte sie alles verschlungen, wischte sich zufrieden die letzten Krümel vom Stoff ihres Kleides und strahlte ihn an.

»Danke«, sagte sie und noch ehe er etwas erwidern konnte, war sie bereits weitergegangen.

Wie auf einem langsamen Fluss trieb sie voran. Schaute und staunte. Die Zeit zerrann. Immer besser gelang es ihr, sich die Dinge einzuteilen. Nicht ihr Schauen sollte sie lenken, sondern sie ihr Schauen. Vorausschauen. Planen. Der Hunger hatte sie eine wichtige Lektion gelehrt. Sie besaß einen Körper, dessen Bedürfnisse sie nicht übergehen konnte. Es galt nicht nur, die vielen offenen Fragen zu stillen, sondern auch einen vernünftigen Weg zu finden, um zu überleben.

Die Passanten, deren Weg sie kreuzte, schenkten ihr kaum Beachtung. In einer so großen Stadt wie dieser fiel der Anblick verlorener Seelen nicht weiter auf. Neugier und Anteilnahme waren die Ausnahme. Wie blind rannten die Leute an ihr vorbei zum Bus und zur Bahn. Die Gedanken fest verhaftet mit dem Unsichtbaren. Vielleicht wurden auch sie vom Schmerz gedrängt. Oder vielleicht durch etwas Wichtiges gelenkt? Vielleicht fehlten ihnen aber so wie ihr auch die Antworten auf die vielen Fragen, die das Gesehene aufwarf?

Schließlich mündete ihr erster Tag in den Abend.

Auf einer Brücke hinter dem Bahnhof sah sie hinunter auf die Schienen, ein verwirrendes Netz aus Gleisen und Weichen. So viele Wege, dachte sie. Ein wenig ratlos nahm sie auf den glatten Stufen einer Treppe Platz und streckte erschöpft die Beine von sich.

›Ich werde Schuhe brauchen‹, dachte sie und merkte dabei nicht, wie sie diese Worte tatsächlich vor sich hin flüsterte.

»Du siehst so aus, als seien Schuhe dein geringstes Problem.«

Die Stimme, die ihre Einsamkeit unterbrach, war rau. Aus dem Schatten eines Mauervorsprungs tauchte eine graue Gestalt auf, das Gesicht halb verborgen hinter einer Sonnenbrille. Die Sonnenbebrillte, eine Frau mittleren Alters, kam näher.

»Hat man denn nirgends mehr seine Ruhe?«, schimpfte sie und nahm ihre schwarzen Gläser vom Gesicht, um der jungen Frau einen wütenden Blick zuzuwerfen.

»Guck nicht so blöd!«, fuhr sie verärgert fort. »Das ist ganz alleine meine Sache, was ich hier mache. Und wenn ich springen will, dann springe ich halt.«

Sie stützte sie sich erschöpft auf das Brückengeländer.

»So geht das nicht«, murmelte sie. »Ich muss allein sein. So geht das einfach nicht.« Sie weinte.

Das Mädchen zu ihren Füßen schwieg.

»Hau endlich ab!« Erneut machte sie einen Schritt in Richtung der ungebetenen Zuschauerin, die nur dasaß und sie ansah. Voller Wut beugte sie sich über das junge Gesicht und erstarrte. Es war wie der Blick in einen Spiegel.

Dieses unschuldige Gesicht wiederzuerkennen, war ein Schock. Die braunen Augen, die schmale, etwas zu lange Nase, das blonde Haar, die ungleichmäßig geröteten Wangen.

Fassungslos taumelte sie zurück.

Natürlich war das Mädchen da zu ihren Füßen nicht sie selbst. Wie sollte das auch gehen? Und wenn man genauer hinsah, dann bemerkte man auch, dass die Augen nicht wirklich braun waren, die Nase kürzer war und das Haar dunkler. Aber nun war es zu spät. Wer immer auch diese Fremde sein mochte, nichts änderte sich daran, dass sie gerade eben sich selbst erblickt hatte, so wie sie früher einmal gewesen war. Eine Ausreißerin auf der Straße.

Konnte es einen solchen Zufall überhaupt geben? An Wunder glaubte sie schon lange nicht mehr. Aber ein bisschen wie ein Wunder war diese Begegnung, ausgerechnet jetzt, in diesem Moment. Und mehr noch. Ein Ausweg. Ihr Selbstmitleid verwandelte sich in Mitleid für das fremde Mädchen. Plötzlich war da ein Sinn, nach dem sie greifen konnte. Denn die junge Frau im hellen Kleid schwebte in Gefahr. Niemand wusste besser als sie, wie schnell man aus der Verzweiflung heraus in der Kriminalität, in der Prostitution und am Ende in einem ruinierten Leben stranden konnte. Niemand wusste das besser als sie und darum konnte auch niemand besser helfen.

»Haste dich verlaufen?« Ihre Worte klangen fast wie ein Vorwurf. Im Freundlichsein war sie völlig aus der Übung. Selbstlose Freundlichkeit war keine Währung, mit der man in ihrer Welt zahlen konnte. Um ihre gute Absicht zu betonen, versuchte sie sich an einem Lächeln.

Plötzlich fühlte sie sich nackt. Der Blick des fremden Mädchens durchdrang sie schonungslos. Doch sie hielt mit aller Kraft stand. Nun war sie sich sicher. Sie würde die Kleine retten. Das war sie sich selbst schuldig.

»Hab keine Angst.« Behutsam beugte sie sich der Ausreißerin entgegen. »Du kannst mit mir kommen. Dich ausruhen. Was essen.« Mit einer leichten Kopfdrehung deutete sie in Richtung Stadt.

»Übrigens, ich bin Maria«, sagte sie und hatte auf einmal das Gefühl, der Fremden mit ihrem Namen ihr Leben zu Füßen zu legen. So wie man einem Kind die Hand entgegenstreckt, hielt sie der Fremden die Hand entgegen. Ohne zu zögern, griff die Ausreißerin zu.

»Und wie heißt du?«, fragte Maria, während sie durch eine schmale Gasse liefen.

Es überraschte sie nicht, dass die Fremde schwieg. »Du musst es mir nicht sagen. Ist schon okay.«

Nur wenige Straßen weiter erreichten sie ein dichtbebautes Wohnviertel. Graffitibesprühte Hauswände, aber auch Blumenkästen an den Fenstern. Sie betraten ein Mehrfamilienhaus. Vor dem Gebäude befand sich ein Spielplatz. Ein Rosenbeet zierte den Eingangsbereich.

Marias Wohnung wirkte wie ein gut gehütetes Geheimnis. Sie war winzig, aber sehr gepflegt. Ein Ort, an dem man sich sofort geborgen fühlte.

In der Küche setzte Maria Wasser auf und deckte den Tisch.

»Setz dich«, bat sie ihren Gast. »Ich weiß ja nicht, was du so magst.«

Eine tiefe Zufriedenheit erfüllte sie – das fast vergessene Glück, etwas uneigennützig Gutes zu tun. Nachdem sie gegessen hatten, führte sie die Fremde in ihr Schlafzimmer zum Kleiderschrank.

Schnell fand sich ein passendes Outfit. Eine Jeans, ein T-Shirt, eine Strickjacke und ein paar flache Schuhe.

Noch immer hatte die junge Frau kaum gesprochen, hatte außer ›danke‹ so gut wie kein Wort hervorgebracht. Dafür sprach Maria umso mehr. Schon lange hatte ihr keiner mehr richtig zugehört. Und Zuhören, das konnte diese Fremde. In ihren Augen lag etwas, das ihr nahezu grenzenlos Trost schenkte.

Inzwischen war es Nacht geworden und Maria deutete auf die Couch. »Du kannst hier übernachten«, sagte sie und bereitete ihrem Gast mit einem Kissen und einer Decke ein Bett.

»Ich war auch mal in so einer Situation wie du. Wäre froh gewesen, wenn mir jemand geholfen hätte.« Seufzend nahm Maria neben dem fremden Mädchen Platz. »Ich bin von zu Hause weg, weil ich mit dem neuen Freund meiner Mutter nicht klarkam.«

Plötzlich war alles wieder da. Die Wut, die Angst, die Verzweiflung, die Scham. Ihre Hände zitterten, Tränen schossen ihr in die Augen. Maria nahm ihre ganze Kraft zusammen. Es war ein Kampf gegen sich selbst. Ein letztes Aufbäumen gegen die Flut lang angestauter Erinnerungen, aufgewühlt durch den Anblick der Fremden. Ein Wirbel in ihrem Innern, ein Tosen, ein Sturm. So sehr sie sich auch wehrte, jetzt brach der Damm.

»Ich war vierzehn, als er mich das erste Mal angefasst hat.«

Abwartend, fast unbeteiligt, sah die Fremde sie an. Ihre Zurückhaltung verlieh Maria Sicherheit. Vor ihr musste sie sich nicht beherrschen und so sank sie schluchzend in sich zusammen. Minutenlang heulte sie hemmungslos, den Kopf im Schoß der Fremden, die ihr mit mechanischen Gesten übers Haar strich. Zwischen ihr und ihrem Gast war nichts, das sie trennte. Marias Vertrauen war grenzenlos. Wie von alleine flossen ihr die Worte von den Lippen.

»Meine Eltern haben sich früh scheiden lassen. Meinen Vater kenne ich gar nicht. Viele Jahre haben meine Mutter und ich alleine gelebt. Doch dann tauchte dieser neue Kerl in Mamas Leben auf. Ich konnte ihn von Anfang an nicht ausstehen. Ständig hat er sich eingemischt. Hat geglaubt, er könne mir Vorschriften machen. Okay, vielleicht habe ich es meiner Mutter nicht immer leicht gemacht. In der Schule lief es nicht so rund. Ich hatte auch ein paar schräge Freunde. Aber ist das nicht normal, wenn man dreizehn ist? Irgendwann fiel mir auf, dass er immer dann besonders streng zu mir wurde, wenn Mama in der Nähe war. So als wolle er sich ihr gegenüber stark zeigen. Doch sobald ich mit ihm alleine war, wurde er ganz sanft und nachsichtig. Und irgendwann rückte er mir dabei sogar richtig auf die Pelle. Anfangs hielt ich das für Zufall. Aber mit der Zeit gab es keine Zweifel mehr. Der Typ baggerte mich an, sobald meine Mutter nicht in der Nähe war.«

Maria richtete sich auf und schnaubte empört auf. Dann warf sie ihre Haare in den Nacken und wurde wieder zu dem aufbegehrenden Mädchen von damals.

»Schließlich nahm ich allen Mut zusammen und erzählte meiner Mutter davon. Aber die flippte völlig aus. Sie hielt meine Geschichte für eine Lüge, einen pubertären Trick, um ihren Freund zu vergraulen. Von da an wurde alles nur noch schlimmer. Zwischen meiner Mutter und mir herrschte Eiszeit. Zwar hatte ich das Gefühl, dass sie uns ab und an beobachtete, aber ihr Macker war nicht so dumm gewesen, sich mir zu nähern, solange sie in der Nähe war. Also hielt sie ihn weiter für unschuldig. Dafür hatte sie jetzt ständig etwas an mir auszusetzen. Nichts konnte ich ihr mehr recht machen. Und dieser Kerl war clever genug, das für sich auszunutzen. Wenn Mama mal besonders in Fahrt kam und mit mir schimpfte, dann sprang er auf einmal für mich ein. Tat so, als wäre er der verständnisvolle Erwachsene. Ein, zwei Mal haben sie sich sogar wegen mir gezofft. Das führte dazu, dass meine Mutter noch wütender auf mich wurde. Für sie war klar, dass ich versuchte, einen Keil zwischen ihr und ihn zu treiben. Ich war völlig allein. Mama wollte mir einfach nicht glauben. Was hätte ich denn tun sollen?«

Maria zögerte kurz, straffte ihren Rücken und fuhr fort:

»Ich konnte doch nicht zulassen, dass er alles kaputt macht. Ich hatte doch nur noch meine Mutter. Sie war meine Familie. Und er war dabei, sie mir wegzunehmen. Dagegen musste ich etwas tun. Um ihn zu entlarven, wollte ich ihn vor ihren Augen bloßstellen. Wenn sie sah, wie weit er ging, dachte ich, dann würde sie endlich begreifen, was für ein Mistkerl er war.

Ich beschloss, mein Vorhaben an einem Freitag umzusetzen. Denn jeden Freitag war Mama beim Chor. Ihr einziges echtes Hobby. Solange ich denken kann, ging sie zu diesen Treffen, um zu singen. Sogar als ich noch ganz klein war und wir alleine lebten, hielt sie daran fest. Anfangs bat sie noch eine Nachbarin, auf mich aufzupassen. Später, als ich groß genug war, blieb ich eben allein. Pünktlich um acht verschwand sie und kam stets um elf zurück.

Als ihr Freund bei uns einzog, war er natürlich nicht so begeistert davon, jeden Freitagabend allein dazusitzen. Doch Mama ignorierte seine Nörgelei. Der Chor war ihr heilig, und das sagte sie ihm auch. Nichts konnte sie davon abhalten, sich im Gemeindehaus mit anderen Frauen zu treffen, um dort alte Schlager und Gospels zu trällern. Diese drei Stunden am Freitag gehörten ganz allein ihr. Für mich bedeutete dies, dass ich mich an den Freitagabenden in meinem Zimmer verkroch, um ihm nicht über den Weg zu laufen.

Mein Plan sah vor, dass ich ihn dazu bringen wollte, mich vor den Augen meiner Mutter zu begrabschen. Das würde ihr sicher die Augen öffnen.

Anfangs lief alles so, wie ich es mir ausgemalt hatte. Mama ging pünktlich los, der Idiot hockte sich ins Wohnzimmer vor seinen Laptop. Ich wartete bis kurz nach zehn in meinem Zimmer, dann schritt ich zur Tat. In der Küche holte ich Bier aus dem Kühlschrank und nahm, um mir Mut einzuflößen, ein paar tiefe Züge. Alkohol war ich damals noch nicht gewohnt. Das Bier stieg mir sofort in den Kopf. Ich fühlte mich leicht und mutig. Mit der angebrochenen Flasche in der einen und einer neuen Flasche in der anderen Hand ging ich ins Wohnzimmer.«

Noch einmal unterbrach Maria ihre Worte und holte tief Luft, um auch die letzte Hürde zu nehmen. Nun gab es kein Zurück mehr, sich daran zu erinnern und davon zu erzählen war eins. Widerstandslos flossen ihr die Worte aus dem Mund. Die Erinnerung war so lebendig geworden, dass sie sich von nun an ganz allein vorwärts bewegte. Unaufhaltsam. Wie ein Film lief alles vor ihrem inneren Auge ab:

»Zehn Uhr zwanzig.

Er saß auf der Couch und spielte Computer. ›Was machst du?‹, fragte ich. Und: ›Willst du es mir zeigen?‹

Sofort rückte er zur Seite, um mich besser sehen zu lassen. Er klickte im Bild herum und faselte was von Punkten und Highscore. Ich nickte, obwohl ich vor Aufregung kein Wort verstand. Mein Herz schlug so laut, ich hörte kaum etwas anderes.

Ich gab ihm die volle Flasche und betete darum, er würde mich nicht durchschauen und wegschicken. Doch er schüttelte nur kurz sein ungläubiges Gesicht und musterte mich grinsend. Sein Blick klebte auf mir, es war eklig. Die Zeiger auf der Wohnzimmeruhr riefen mir Mut zu.

Zehn Uhr fünfundzwanzig.

Noch fünfunddreißig Minuten. Solange musste ich noch durchhalten.

›Darf ich mich zu dir setzen?‹, fragte ich. Ich spürte, wie ich rot wurde, und hoffte, er würde es nicht merken.

Kaum saß ich neben ihm, ging es los.

›Du bist eine schöne Frau‹, sagte er und hauchte dabei gegen meinen Hals. Seine Finger folgten dem biergetränkten Atem und wanderten von meinen Schultern die Arme hinunter.

Inzwischen war ich völlig erstarrt. Ich versuchte zu lächeln, damit er nicht misstrauisch wurde. Ich trank einen tiefen Schluck aus der Flasche und gab mich lässig. Die Zeiger auf der Uhr bewegten sich kaum. Zehn Uhr dreißig.

›Du bist so schön‹, wiederholte er. ›So schön.‹ Inzwischen lag seine Hand auf meinem Oberschenkel. Er rückte immer näher. Schnell hob ich die Flasche an den Mund und trank. Ein kläglicher Versuch, irgendetwas zwischen mich und ihn zu bringen. Eine Ablenkung, eine Geste, eine weitere Verzögerung.

Zehn Uhr zweiunddreißig.

Noch achtundzwanzig Minuten, dachte ich und ertappte mich das erste Mal bei dem Gedanken, ich könnte die Situation vielleicht doch nicht wirklich unter Kontrolle haben. Aber mein Kopf war leer, mir fehlten weitere Ideen, um Zeit zu schinden.

›Warum so schüchtern?‹, sagte er. Seine widerlichen Hände waren nun überall, sie nestelten an meiner Kleidung herum, sie suchten nach einem Weg, um den Stoff loszuwerden. Wie gelähmt saß ich da. Alles, woran ich dachte, war: Nur nicht weglaufen. Durchhalten.

Zehn Uhr vierzig.

Als seine Hand meine Brust berührte, hielt ich es nicht länger aus. Ich sprang auf. Ein Reflex. Aber auch ein Rückzug.

›Nein‹, rief ich. Nein zu ihm, nein zu mir, zu meinem Plan, der gescheitert war. Längst gescheitert. Es war zu spät. Nein! Ich hatte keine Chance.

Seine Hände waren wie Schraubstöcke. Er hielt mich fest und zwang mich zurück auf die Couch. Er drückte mich so tief in das weiche Polster, so tief, dass ich kaum Luft bekam.

Ich wollte wissen, wie spät es war. Aber die Uhr war außer Sicht geraten. Jeder meiner Versuche, mich nach oben zu kämpfen, spornte ihn an, noch schneller zu werden. Nichts passte mehr zusammen. Die Zeit war zum Stillstand gekommen, jede Sekunde eine Ewigkeit, während das Unsagbare immer schneller, hastiger, gieriger über mich hereinbrach.

Es hätte doch nun endlich soweit sein müssen, dass meine Mutter nach Hause kam. Jeden Moment hätte das Geräusch der Wohnungstür zu hören sein sollen.

›Wenn du willst, hole ich uns noch ein Bier‹, bettelte ich. Mein letzter Versuch zu entkommen. Er durchschaute ihn sofort.

›Halt endlich dein Maul‹, zischte er und schlug mir ins Gesicht.

Ich war so schockiert, dass ich noch nicht einmal den Schmerz spürte.

Und dann ging alles ganz schnell. Ein Ruck und er riss mir die Hose von den Beinen. Ein Ruck, der Moment, in dem er in mich drang. Ein Ruck, mit dem er mich von sich warf wie eine Sache, die er nicht mehr brauchte.

In dem Maße, in dem ich wieder zu mir kam, verwandelte sich mein Körper in Schmerz. Ich sah, wie er sich die Hose wieder anzog, als sei nichts passiert. So beiläufig, als käme er gerade von der Toilette.

›Zieh dich an, Schlampe.‹ Er grinste mich an. In Zeitlupe raffte ich mich auf. Endlich fiel mein Blick auf die Uhr an der Wand.

Elf Uhr zwanzig.

›Oh, wartet die Kleine auf ihre Mama?‹, spottete er und beugte sich noch einmal über mich. ›Hast wohl nicht gewusst, dass sie heute später heimkommt? Geburtstagsfeier. Wolltest mich also reinlegen? Aber dir hab ich’s gezeigt.‹ Lachend verließ er den Raum und ich blieb allein zurück.«

Endlich hatte Maria alles erzählt. Nun durfte sie wieder schweigen. Erleichtert schweigen. Eine Schweigeminute für ihre verlorene Kindheit.

Als sie wieder zu sprechen begann, hatte sie sich gefasst. »Ich habe mich so sehr geschämt. Ich dachte, das alles sei meine Schuld. Wenn ich nicht so dumm gewesen wäre, wäre an diesem Abend nichts passiert.«

Sie seufzte und stand auf.

»Noch nie habe ich mit jemandem darüber gesprochen. Immer habe ich geschwiegen. Ich traute mich nicht, meiner Mutter etwas zu sagen, und tat so, als wäre alles wie immer. Doch dabei fühlte ich mich noch schuldiger. Wie eine Lügnerin kam ich mir vor.

Die Stimmung zu Hause wurde immer schlechter. Mutter merkte, dass etwas nicht stimmte, und schimpfte nun noch mehr mit mir. Und ihren Kerl, den konnte ich einfach keine Sekunde länger in meiner Nähe ertragen. Also bin ich abgehauen. Hab mich irgendwie durchgeschlagen. Hab einiges gemacht, auf das ich nicht sehr stolz bin.«

Maria lächelte.

»Weißt du, wie schwer es ist, sich selbst zu verzeihen? Jetzt begreife ich, dass mir etwas passiert ist, wofür ich nichts kann. Vielen Menschen passieren schlimme Dinge. Ich bin absolut nicht allein. Aber man kann damit leben. Der erste Schritt ist, zu akzeptieren, dass das passiert ist, was passiert ist. Eine Wunde heilt nicht, indem man sie ignoriert. Es ist okay, wenn man Hilfe annimmt. Es ist wichtig, seinen Schmerz mitzuteilen. Schweigen ist wie Weglaufen und Weglaufen bringt nichts. Du kannst nicht vor dir selbst weglaufen oder vor dem, was dir passiert ist. Alles, was dir passiert ist, ist von da an ein Teil von dir.«

Maria nickte ihrer Zuhörerin zufrieden zu.

»Wir sollten uns jetzt gute Nacht sagen. Morgen sehen wir weiter. Und natürlich kannst du vorerst hierbleiben.« Sie klopfte auf die Sitzfläche. »Die Couch ist sehr bequem. Du wirst schon sehen.«

Sie wandte sich zur Tür, drehte sich dann aber noch einmal um.

»Wie soll ich dich nennen? Magst du mir nicht doch deinen Namen verraten?«

»Ja schon, aber …« Die junge Frau sah ratlos zu ihr auf. »Ich weiß ihn nicht.«

»Du weißt deinen Namen nicht mehr?« Nur mühsam konnte Maria ihr Entsetzen zügeln.

»Ich weiß ihn einfach nicht«, erklärte die Fremde völlig ruhig.

»Ach Gott, Kind.« Maria nahm wieder neben ihrem Gast Platz. Am liebsten hätte sie die Besucherin umarmt, doch sie hielt sich zurück. »Da lasse ich meinen ganzen Ballast bei dir ab und du, du hast deinen eigenen Kummer.«

»Kummer? Ich bin nicht traurig.«

»Du bist so tapfer, Schätzchen.« Aufmunternd tätschelte Maria ihre Hand. »Alles wird gut. Du wirst schon sehen. Wir finden eine Lösung.« Das ›Wir‹ machte Maria plötzlich stark.

»Angelica«, sagte sie einer plötzlichen Eingebung folgend. »Diesen Namen mochte ich schon immer. Wenn ich dich vorerst so nennen würde, wäre das okay für dich?«

»Angelica.« Die Fremde zögerte erst, dann wiederholte sie den Namen Silbe um Silbe. Der weiche Klang schmiegte sich um sie wie der zarte Stoff eines neuen Kleides. »Angelica«, wiederholte sie, strahlte und nickte.

»Na dann, ist ja alles gut.« Nun erhob Maria sich endgültig, schüttelte ihrem Gast noch einmal die Kissen auf und strich das Laken glatt.

»Gute Nacht, Angelica.«

Das Gewicht aller Dinge

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