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So richtig recht war Boško dieser Neuzugang nicht. Er musste vorsichtig sein. Mitarbeiter, die keine gültigen Papiere besaßen, verschafften ihm zwar eine ganz ordentliche Gewinnspanne, aber sie einzustellen, war riskant. Die Steuerfahndung saß ihm quasi ständig im Nacken. Vertrauen war eine Investition, die er sich genauso wenig leistete wie Mitleid. In erster Linie war er Geschäftsmann und kein Wohltätigkeitsheini. Emotionalitäten lagen ihm nicht. Boško genoss den Ruf, ein harter Hund zu sein, und unternahm alles, um diesem auch gerecht zu werden. Nun war er Maria allerdings noch etwas schuldig und in diesem Sinne war das zwischen ihm und ihr geschäftlich.

Boško knirschte mit den Zähnen, während er die junge Frau musterte, die Maria in seinem Büro abgesetzt hatte und der er nun einen Job in seiner Putzkolonne überlassen sollte. Allerdings währte sein Misstrauen nicht lange. Vielleicht lag es daran, dass die Neue eine so verblüffende Ähnlichkeit mit Tara besaß. Sie hätte ihre Tochter sein können. Die gleichen grünen Augen, die für eine so zierliche Frau sehr große Nase, derselbe Rotstich im blonden Haar. Die Erinnerung an Tara, die ihm vor einundzwanzig Jahren das Herz gebrochen hatte, und seine Vorstellung von ihrer Tochter, die er nie gesehen hatte, ließen seine Knie weich werden.

Boško musste sich setzen. Natürlich war sie nicht die Tochter seiner großen Liebe, die eigentlich seine hätte werden sollen. Taras halbverwaiste Tochter, das wusste er aus sicherer Quelle, studierte Architektur in Serbien, in Niš, um genau zu sein. Ganz sicher war sie nicht auf billige Putzjobs angewiesen. Davor bewahrte sie das Geld ihres Vaters, dieses neureichen Opportunisten Peta, den Tara ihm einst vorgezogen hatte und der seiner Tochter nach dem frühen Krebstod seiner Frau jeden nur erdenklichen Wunsch von den Augen ablas.

Eine Sekunde lang barg Boško das Gesicht in seinen Händen und atmete tief durch.

Die junge Frau wartete geduldig darauf, dass er sie wieder ansah. Natürlich war sie nicht Taras Tochter. Er war nur übermüdet und seine Sinne hatten ihm einen Streich gespielt. Wenn man aufmerksam hinschaute, dann fiel einem auch sofort auf, wie gering die Ähnlichkeit tatsächlich war.

Aber da war es schon zu spät. Er war bereits von ihrem Äußeren eingenommen. Außerdem besaß sie den typischen Zungenschlag seiner Heimat.

»Sag mal, von wo aus Serbien kommst du eigentlich? Du klingst so, als kämst du direkt aus der Gegend von Niš.« Die junge Frau schlug verlegen die Augen nieder und sofort bereute er seine Frage. Er wusste doch, dass diejenigen, die sich bei ihm ohne nennenswerte Referenzen bewarben, meistens ihre kleinen Geheimnisse mitbrachten.

»Sei es drum, Kleines«, sagte er ungewohnt väterlich. Und weil ihn die junge Frau so unendlich rührte, fügte er noch ein ihn selbst überraschendes »Aber wenn du mal in der Klemme bist, kannste gerne zu mir kommen« hinzu.

Eine der erfahrensten Kräfte in Boškos Team war die Albanerin Aferdita. Boško rief sie zu sich und wies sie an, Angelica unter ihre Fittiche zu nehmen. Mit ihrer robusten Art war Aferdita für jeden Neuling eine echte Bewährungsprobe. Wer sich von ihr nicht abschütteln ließ, das wusste Boško, war auch den übrigen Zumutungen des Jobs gewachsen. Der perfekte Weg, um Angelica möglichst nahtlos in sein Putz-Team zu integrieren.

Seit drei Jahren lebte Aferdita in Deutschland und fast auf den Tag genauso lange arbeitete sie für Boško. Drei Jahre, in denen ihre schroffe Art wie eine Austernschale gewachsen war, um sich vor der Außenwelt zu schützen. Die regelmäßigen Vorurteile der Deutschen prallten inzwischen fast spurlos von ihr ab. Sie machte sich kaum noch etwas daraus, wenn man ihr mit schlecht versteckter Verachtung oder Hass begegnete.

Sie nahm den Auftrag ihres Chefs entgegen, ohne mit der Wimper zu zucken. Zwei ungeübte Hände an ihrer Seite, auf die sie auch noch achten sollte, waren eine Belastung, auf die sie gern verzichtet hätte. Aber sie war zu müde, um sich darüber aufzuregen.

Aferdita nickte nur und verließ wortlos Boškos Büro. Vor der Tür wartete bereits die Neue. Aferdita schenkte ihr kaum Beachtung. In den letzten Jahren hatte sie schon so viele Gesichter kommen und gehen sehen, dass sie ihre Reserven für Neugier und Anteilnahme restlos aufgebraucht hatte.

»Los, komm mit!«, befahl sie in ihrem hart klingenden Deutsch.

Sie stiegen in den grauen Firmen-Transporter, der draußen im Hof wartete, und ließen sich mit fünf anderen Boško-Leuten in die Innenstadt bringen. Vor einem Bürokomplex mit schicker Glasfront wurden sie abgesetzt. Hier war die Versicherung untergebracht, deren Räume Boškos Firma regelmäßig reinigte. Zehn Etagen, das waren hundertsechs Räume mit insgesamt zweihundertzwei Schreibtischen, zweihundertzwanzig Mülleimern, acht Teeküchen, neun Waschräumen und vierzig Toiletten. Viel Dreck für wenig Zeit. Aferdita und ihre Kollegen kämpften jeden Tag gegen die Uhr. Ein Kampf, den man auf Dauer nur überlebte, wenn man nicht versuchte, ihn zu gewinnen.

»Sei so schnell du kannst, aber nur so gründlich wie du musst«, sagte Aferdita. »Ansonsten schau einfach, was ich mache, und mach es nach.«

In der ersten Stunde folgte ihr Angelica auf Schritt und Tritt und beobachtete jeden ihrer Handgriffe. In der zweiten Stunde arbeitete sie bereits völlig autark. War etwas neu, kam sie kurz, fragte und arbeitete weiter. In der dritten Stunde war es Aferdita, die die Neue beobachtete. Angelica arbeitete so effizient, als hätte sie noch nie etwas anderes gemacht. Dabei wirkte sie völlig entspannt und zufrieden. Manchmal lächelte sie Aferdita zu, aber ansonsten war sie still.

Gegen Ende ihrer Schicht bemerkte die Albanerin, dass sie ihre Handschuhe verlegt hatte. Angelica reichte ihr ungefragt das eigene Paar.

»Danke, falemnderit«, rutschte es Aferdita heraus.

»Ju lutem«, antwortete Angelica auf Albanisch mit der gleichen Selbstverständlichkeit. Aferdita stutzte und sah die Neue das erste Mal richtig an. Einen Augenblick lang wunderte sie sich darüber, wie sehr die Fremde ihrer Freundin Elvana ähnelte, die vor über zwanzig Jahren bei einem Autounfall gestorben war. Seit Jahren hatte sie nicht mehr an Elvana gedacht und darüber fast vergessen, wie stark sie ihre Freundin noch immer vermisste.

Am darauffolgenden Tag war es Aferdita, die darum bat, in die gleiche Schicht mit Angelica eingeteilt zu werden. Nach drei Jahren gab es endlich jemanden, von dem sie sich verstanden fühlte. Nicht nur weil sie in Gegenwart der jungen Frau ihr sperriges Deutsch ablegen konnte, mit dem sie sich selbst so sehr im Weg stand, auch war Aferdita sich sicher, noch nie eine so angenehme Kollegin gehabt zu haben. Kein überflüssiges Geschwätz, keine lästigen Fragen, nur freundliche Aufmerksamkeit und …, Aferdita musste tatsächlich überlegen, um den passenden Begriff zu finden: Respekt. Angelica zeigte Interesse, ohne aufdringlich zu sein. Sie war offen, ohne zu urteilen. Sie behandelte Aferdita mit Respekt. Etwas, was die Albanerin schon lange nicht mehr erfahren hatte.

Während sie Seite an Seite die Arbeitsflächen einer Großküche schrubbten, das Küchenpersonal würde erst in Stunden eintreffen, um seinen Kantinendienst aufzunehmen, begann Aferdita auf einmal zu erzählen.

»Hast du Kinder?«, fragte sie.

Angelica verneinte.

»Ich habe zwei, eine Tochter und einen Sohn.« Sie zog ein verknittertes Foto aus ihrem Portemonnaie und reichte es ihr.

Angelica betrachtete die beiden kleinen Menschen: Ein etwa dreijähriger Junge auf einer Couch, der voller Stolz in die Kamera strahlte, und ein Baby auf seinem Schoß, um das er zärtlich seine Arme gelegt hatte.

»Seit drei Jahren habe ich sie nicht mehr gesehen«, fuhr Aferdita fort. Sie ließ sich einfach auf den Boden gleiten, lehnte sich gegen einen Schrank und streckte die Beine von sich. Angelica setzte sich neben sie und gab ihr das Bild zurück. Ab diesem Moment war Aferdita nicht mehr zu bremsen. Die Worte strömten aus ihrem Mund, als hätten sie sich seit Jahren dort angestaut.

»Als mein Mann gestorben ist, war Tia gerade ein halbes Jahr alt. Schon vorher war es schwer für uns. Aber ohne ihn …, wie sollte ich da unsere Familie ernähren? Ich komme übrigens aus Grila, aus der Nähe vom Shko­drasee. Es ist schön da, aber leider gibt es dort keine Arbeit. Also keine, mit der man genug verdient.

Ich wollte nicht weggehen. Aber dann hätten meine Kinder in Armut leben müssen. Also habe ich meine Kleinen bei meiner Mutter gelassen und bin nach Tirana gegangen. Habe alles an Arbeit gemacht, was ich bekommen konnte. Meistens habe ich geputzt, so wie hier. Aber dabei verdient man nicht genug, um allein eine Familie durchzubringen. Nicht in Albanien. Also sagte ich mir: Wenn ich schon weggehe, dann wenigstens richtig weg, dorthin, wo es wirklich besser ist. So kam ich hierher, nach Deutschland.

Meine Kleinen können bei meiner Mutter in Ruhe aufwachsen, während ich hier arbeite. Ich wüsste auch nicht, wie ich sie hier in Frankfurt unterbringen sollte. Ich wohne bei Bekannten, habe dort nur ein Zimmer. In Grila, da haben sie es besser. Alles, was ich verdiene, schicke ich zu ihnen. Für Albanien ist das genug, um gut zu leben. Dafür arbeite ich gern hart. Es macht mich stolz, dass ich für sie sorgen kann. Ich spare sogar für sie. Meine Kinder sollen es einmal besser haben als ich. Sie sollen eine gute Ausbildung bekommen, dann können sie auch in Albanien einen Job finden, der zum Leben reicht. Oder sie kommen nach Deutschland und studieren. Ganz offiziell. Nicht so wie ich. Niemand darf wissen, dass meine Papiere falsch sind. Wenn man mich abschiebt, wäre das mein Tod. Nein, schlimmer, es wäre auch für meine Kinder das Ende. Dann hätten sie keine Zukunft mehr. Ich bin doch die Einzige, die für sie sorgt.« Noch immer hielt Aferdita das Foto in der Hand. Mit ihren Fingerspitzen fuhr sie zärtlich über die kleinen Köpfe. »Sie fehlen mir mehr, als ich sagen kann. Meine Kinder sind mein Leben. Nur für sie mache ich das alles.«

Obwohl Angelica keinen einzigen Ton von sich gegeben hatte, fühlte sich Aferdita bestätigt. Wie sehr hatten sie in den letzten Jahren ihre Schuldgefühle geplagt? Was konnte schlimmer sein, als die eigenen Kinder zurückzulassen? Angelicas Zuhören empfand sie als Absolution. Sie hatte stets nur aus den besten Motiven heraus gehandelt. Sie war eine gute Mutter. Schwerfällig rappelte sie sich wieder auf. »Meine Kinder haben alles, was sie brauchen. Nur darauf kommt es an. Und jetzt wieder an die Arbeit.«

Den anderen in Boškos Team entging nicht, dass es der neuen Kollegin gelungen war, Aferditas gefürchtete raue Schale zu durchbrechen. Das war sonderbar, aber längst nicht so sonderbar wie die Neue selbst. Keiner von ihnen war es gewohnt, die Dinge groß zu hinterfragen. Angelica hingegen zeigte an allem Interesse. Ihre Neugier irritierte und amüsierte die Kollegen gleichermaßen.

Der Arbeitstag begann früh. Oft traten sie gemeinsam noch im Dunkeln den Kampf gegen die Müdigkeit und den Dreck fremder Leute an. Sie putzten in Büros und Hotels, ab und an auch in Kneipen und Bars. Immer drückte die Uhr. Schnelle Sprüche, kleine Lästereien, derbe Witze, das musste reichen, um sich den Alltag von der Seele zu halten.

Doch Angelicas unkomplizierte Offenheit entwaffnete schnell alle Vorbehalte. Es dauerte nicht lange und jeder, der eine Weile an ihrer Seite gearbeitet hatte, verspürte das Bedürfnis, sich ihr mitzuteilen. Aferdita war längst nicht die Einzige mit einer Geschichte. Alle in Boškos Truppe trugen sie ihre Vergangenheit, fest verschnürt, mit sich herum. Egal woher sie stammten – aus Russland, Rumänien oder Albanien – keiner von ihnen war aus reiner Neugier oder purer Abenteuerlust gekommen. Sie alle hatte die Not hierhergebracht. Und alle hatten sie etwas zurückgelassen. Alle vermissten sie jemanden. Wie eine tiefe Müdigkeit lag das Heimweh auf ihren Gesichtern. Angelicas tröstende Art, ihnen zuzuhören, war für sie wie ein Nach-Hause-Kommen.

Doch in Aferditas Herz staute sich die Eifersucht. Die Leichtigkeit, mit der Angelica das Zutrauen der anderen gewann, verletzte sie. Wie lange hatte sie darauf gewartet, sich einem anderen Menschen anzuvertrauen? Wie kostbar, wie einzigartig und wie exklusiv war ihr dieses Geschenk erschienen? Nun beobachtete sie hilflos, wie ihr die sogenannte Seelenverwandte entglitt.

Mit jeder neuen Bekanntschaft, die Angelica einging, fühlte sich Aferdita umso betrogener. So verfolgte sie Angelicas Tun und hoffte auf einen Fehler, auf einen Makel, auf irgendetwas, womit sie ihren Wunsch nach Genugtuung stillen könnte.

Besonders irritierte sie, dass Angelica nicht nur allen Geschichten, sondern diesen auch in allen Sprachen aufmerksam folgte.

Als eines Morgens Hawi, ein Mann aus Äthiopien, zu ihrer Truppe stieß, Angelica ihm wie gewohnt aufmerksam zuhörte und schließlich sogar einige einfühlsame Worte an ihn richtete, wurde es Aferdita zu viel.

»Sprichst du jetzt auch noch Afrikanisch?« Sie baute sich empört vor der jüngeren Kollegin auf.

»Das war Amharisch«, erwiderte Angelica sanft.

In Aferditas Wut mischte sich Misstrauen. Wie konnte es sein, dass die junge Kollegin mühelos von einem Idiom ins andere wechselte, als wäre das das Natürlichste auf der Welt? Da war doch etwas faul. Verunsichert ging sie auf Distanz.

Obwohl sich Angelica nach Aferditas Wutausbruch sichtbar zurückhielt, begann sich die Stimmung in der Putzkolonne nach diesem Vorfall zu verändern. Angelicas Sprachbegabung, die bis zu diesem Zeitpunkt keinen gestört hatte, wurde auf einmal skeptisch beobachtet. Die anderen begannen zu tuscheln:

War es nicht seltsam, wie sie sich die Geheimnisse eines jeden von ihnen erschlich, ohne selbst auch nur das allerkleinste Detail von sich preiszugeben? Woher kam sie eigentlich? War es nicht ungewöhnlich, dass ein solches Sprachtalent putzen ging? Und war sie nicht sowieso in allem etwas wunderlich? Nahm ihr wirklich jemand diese Naivität ab? Das konnte doch nur eine Masche sein, hinter der sich ein raffinierter Hintersinn verbarg.

Als sich Angelica beim Säubern einer Küchenmaschine in den Finger schnitt, kam es zum Eklat. Angelica schrie auf und zog die Hand aus der Maschine. Die Wunde blutete stark. Sofort eilte Aferdita mit einem Erste-Hilfe-Kasten herbei. Auch der Äthiopier Hawi kam angerannt, stand aber hilflos neben den beiden Frauen.

»Geht schon, ich brauche nichts«, sagte Angelica und wandte sich verstohlen ab.

»Jetzt zier dich doch nicht.« Aferdita packte Angelicas Handgelenk. »Vielleicht muss es genäht werden. Zeig!« Fassungslos starrte sie auf die Wunde. Beziehungsweise auf das, was sie für eine Wunde gehalten hatte. Denn da war nichts. Absolut gar nichts.

»Wieso blutest du nicht mehr?«, schrie sie.

»Ist nicht so schlimm.« Angelica zog ihre Hand aus Aferditas Umklammerung und wollte sich erneut abwenden.

»Aber da war Blut«, schrie Aferdita.

»Vielleicht nur Missverständnis«, mischte Hawi sich vorsichtig ein.

»Du Hexe«, schrie Aferdita und stürzte sich auf Angelica. Hawi riss sie zurück. »Vielleicht nur Missverständnis«, wiederholte er und hielt Aferdita weiter fest. Und zu Angelica: »Du besser gehst.«

»Nein, nix Missverständnis. Ich weiß doch, was ich gesehen habe!« Aferdita tobte auch noch, als Angelica längst gegangen war. Der Vorfall sprach sich herum. Von diesem Tag an hielten alle im Team penibel Abstand zu Angelica.

Boško war nicht wirklich überrascht, als Angelica einige Tage später bei ihm im Büro erschien. Die abstrusesten Geschichten und Gerüchte um ihre Person waren ihm zu Ohren gekommen. Obwohl er nichts davon glaubte, begriff er immerhin, dass keiner von seinen Leuten noch länger mit ihr zusammenarbeiten wollte.

Er hob erschöpft die Augen von seinem Papierkram. Unfassbar zart und zerbrechlich stand sie vor seinem Schreibtisch. Wieder berührte ihn ihr Anblick. Wie ein Wesen, das nicht von dieser Welt ist, dachte er.

»Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden.«

»Du willst wirklich aufhören?«, fragte er, obwohl ihm sofort klar war, dass sie ihre Entscheidung längst getroffen hatte. »Brauchst du mehr Geld?«

»Wieso Geld?«, fragte sie verständnislos und schüttelte den Kopf.

»Gibt es Probleme? Hast du Schwierigkeiten?«

Er wusste, wie überflüssig diese Frage war. Aber er meinte es gut, und nur das wollte er zum Ausdruck bringen.

»Nein, ich muss nur weiter.«

Er schüttelte den Kopf, stand von seinem Stuhl auf und ging um den Schreibtisch herum.

»Du weißt, dass ich es nicht als leere Phrase gemeint habe, als ich dir meine Hilfe angeboten habe?«

Er setzte sich auf die Tischkante, ihr direkt gegenüber. Wieso nur hatte er in ihrer Gegenwart immer das Gefühl, er müsse sie beschützen?

Er seufzte. Der Abschied war unausweichlich. Dabei traf er selten Menschen, denen er sich auf Anhieb so nahe fühlte. Alleine durch ihre Anwesenheit gelang es ihr immer wieder, ihn zu berühren. Wie ein Licht, dachte er. Ein schüchternes Licht, das sich zurückzog, sobald man seiner habhaft werden wollte.

»Weißt du denn schon, wohin du willst?«

Kopfschütteln und Schweigen.

Unwillkürlich griff er nach ihren Händen und brachte sie sanft dazu, Platz zu nehmen. Längst hatte er aufgegeben, das Rätsel um ihre Person zu verstehen. Einerseits war sie mit der Arbeit völlig unterfordert. Sie war geschickt, klug und extrem schnell. Ihre Sprachkenntnisse waren außergewöhnlich. Andererseits verblüffte sie ihn immer wieder durch ihre kindliche Naivität. Als wäre sie isoliert von der Welt aufgewachsen und erst jetzt in die Freiheit entlassen worden. Ein wenig begriff er, warum sein Team ihre Anwesenheit befremdlich fand. Auch ihm war es unmöglich, sich einen Reim auf sie zu machen.

»Mein Onkel Pino hat einen Schrottplatz. Abseits aufm Land. Und auf dem angrenzenden Grundstück steht ein Wohnwagen. Hab da auch mal gewohnt. Ist ein guter Platz, wenn man … na ja sagen wir mal … wenn man sein Leben ein wenig sortieren möchte. Was meinste? Könnte das was für dich sein?«

Sie zögerte, doch dann kam ein vorsichtiges Nicken von ihr.

»Eigentlich ist der Mann nicht wirklich mein Onkel. Aber ich vertraue ihm. Er ist für mich sowas wie Familie. Er wird keine Fragen stellen und einfach für dich da sein. Also, wenn du willst …?«

»Ja, gern«, beeilte sie sich zu antworten.

»Tja, dann.« Boško klatschte zufrieden in die Hände. »Ich ruf Pino gleich mal an. Ich bin sicher, er wird sich über deine Gesellschaft freuen.«

Erst viel später am Abend, in einer stillen Stunde, in der Boško endlich zur Ruhe kam, kam er dem Grund seiner Zufriedenheit auf die Spur.

Es ging nicht um das Geschenk, das er Angelica gemacht hatte. Wenn er ehrlich war, hatte ihn ihre höfliche Dankbarkeit fast etwas enttäuscht. Ja, er hätte sich in diesem Moment wirklich mehr Überschwänglichkeit gewünscht. Doch eigentlich hatte sie völlig recht. Im Grunde hatte er nicht einmal etwas verschenkt. Er hatte etwas gegeben, was man auch ihm einmal gegeben hatte. Er musste zugeben, dass seine gute Tat nichts anderes war als eine Rate, die er abbezahlte. Eine Schuld, die er beglich, um mit dem Schicksal endlich quitt zu sein.

Nicht er hatte Angelica, sie hatte ihm ein Geschenk gemacht. Oder besser: Er hatte sich selbst beschenkt, denn er fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr. Seine Idee hatte ihn von der ersten Sekunde an in Hochstimmung versetzt. Das war etwas völlig anderes, als ein Geschäft zu machen. Etwas anderes als ein quid pro quo, das sich auf Heller und Pfennig beziffern ließ. Es hatte ihm Spaß gemacht.

Jemandem etwas Gutes zu tun, tat gut.

Obwohl ihm diese Erkenntnis nicht neu war, verblüffte sie ihn dennoch. Denn er hatte sie völlig vergessen. Und in dem Erkennen, dem Wesenszweck des Guten so nahe gekommen zu sein, genoss er diese Offenbarung gleich noch mehr.

Das Gewicht aller Dinge

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