Читать книгу Die Buchwanderer - Britta Röder - Страница 6
Teil I: Verona 1
Оглавлениеuf dem Weg zu einer Verabredung, die er an diesem Tag jedoch nicht mehr einhalten sollte, saß Ron in der Straßenbahn und sah aus dem Fenster. Er war neu in der Stadt und kannte daher noch niemanden. Gerade deshalb war ihm das unverhoffte Angebot seines Cousins Magus, mit ihm zu Mittag zu essen, sehr gelegen gekommen.
Die letzte Begegnung mit Magus lag mehr als fünfzehn Jahre zurück und hatte auf dem Geburtstag irgendeiner gemeinsamen Großtante stattgefunden. Wohl hatten sein gutmütiger Charakter und ein unbestimmtes familiäres Pflichtgefühl Magus dazu veranlasst, den inzwischen erwachsen und völlig fremd gewordenen Ron einzuladen, um ihn zuerst durch die opulente Speisekarte seines Lieblingsitalieners und anschließend durch das überschaubare Zentrum seiner Heimatstadt zu führen. Ron erinnerte sich nicht besonders gut an Magus und befand, dass dies im Augenblick eindeutig zu dessen Gunsten sprach, da sich schlechte Eigenschaften in der Regel stärker ins Gedächtnis brannten als vermeintlich gute.
Etwas müde ließ Ron seinen Blick durch die große Fensterscheibe der Straßenbahn gleiten. An den Anblick der fremden Häuser würde er sich schnell gewöhnen. Städte glichen einander in vielerlei Belangen so sehr, dass man sich überall fremd oder heimisch fühlen konnte, unabhängig davon, ob man wirklich darin zu Hause war oder nicht. Der Umzug in diese Stadt war reibungslos verlaufen. Seine neue Wohnung war klein, aber zentral gelegen. Die Umgebung war reizlos, aber obwohl er sich vorgenommen hatte, sie nur als eine Übergangslösung zu betrachten und die Probezeit seines neuen Jobs abzuwarten, wusste er bereits, dass er hier länger hängen bleiben würde als „vorübergehend“ eigentlich bedeutete. Denn Gewohnheit und Bequemlichkeit konnten selbst die offensichtlichste Reizlosigkeit entwaffnen, wenn sie, wie in diesem Fall, mit „praktisch“ und „preiswert“ einherging.
Die Zeiger seiner Armbanduhr verrieten ihm, dass er bis zum Treffen mit Magus noch genügend Zeit haben würde, sich selbst ein wenig in der Stadt umzusehen. Überhaupt verfügte er über Zeit, wie schon lange nicht mehr. Seine Wohnungssuche war so schnell verlaufen, dass er mühelos noch einen dreiwöchigen Urlaub bis zum Beginn seines neuen Jobs hätte planen können. Doch dazu verspürte er nicht die geringste Lust. Umzug und Jobwechsel sollten vorerst einen Schlusspunkt unter eine Reihe ständiger privater Veränderungen setzten. Er wollte endlich wieder das Gefühl haben, an einem Ort anzukommen und sich fest einzurichten.
Ohne festen Halt glitt sein Blick ins Wageninnere. Gedankenverloren musterte er die mitreisenden Fahrgäste, die wie er an diesem vorgerückten Vormittag mitten in der Woche keine besondere Eile zu haben schienen. Schüler und Rentner, Hausfrauen auf Shoppingtour, Gesichter, Jacken, Taschen, Plastiktüten, Arme, Schuhe und Frisuren reihten sich bedeutungslos aneinander. Uferlos trieben alle diese Eindrücke an ihm vorüber ohne sich zu einem bestimmten Bild zu verdichten. Erstaunt stellte er fest, wie unsympathisch und gleichgültig ihm diese fremde Umgebung mit ihren Menschen erschien. Die feindselige Kühle, mit der die Anderen seine Anwesenheit quittierten, traf ihn plötzlich empfindlich. Erschöpft schloss er die Augen, um in der dunklen Abgeschiedenheit seiner einsamen Gedanken ein wenig Halt zu finden.
Ruckelnd beschrieb die Straßenbahn gerade eine unharmonische Kurve, als ein äußerst unsanfter Rempler ihn zurück in seine Realität stieß. Ein kantiger Rucksack hatte seine Schulter hart gestreift. Um Entschuldigung bittend drehte sich die junge Besitzerin des Rucksacks zu ihm um. Leuchtend grüne Augen trafen ihn schutzlos bis auf den tiefsten Grund seiner Seele. Smaragdaugen.
„Tut mir leid.“ Ihre Stimme klang hell und klar.
„Nichts passiert“, antwortete er und sprach, ohne es zu wissen, die größte Lüge seines Lebens aus. Benommen sah er ihr nach, wie sie ihm wieder den Rücken zukehrte, um ihren Weg zu einem freien Platz im vorderen Teil des Wagens fortzusetzen. Noch ein weiteres Mal stieß sie mit einem anderen Fahrgast zusammen, verschenkte ihr mädchenhaftes Lächeln, strich sich eine rotblonde Locke aus dem fein geschnittenen Gesicht und nahm schließlich mit dem Rücken zu ihm Platz. Einzelne Strähnen ihres langen Haares hatten sich aus dem locker geflochtenen Zopf gestohlen und fielen auf ihren schmalen Rücken. Sie trug Jeans und eine dunkelgrüne Bluse und Ron konnte sich gut vorstellen, dass sie auf dem Weg zu einer privaten Vormittagsverabredung oder zu einer Vorlesung in der nahe gelegenen Universität war.
Mit einem Schlag war seine ganze Antriebslosigkeit verflogen. Seine gesamte Aufmerksamkeit richtete sich nun darauf, jedes weitere Detail der Fremden zu erhaschen. Ungeniert starrte er in ihre Richtung.
Mit anmutiger Nachlässigkeit hob sie das schmale Gelenk ihrer Hand und schüttelte in einer fließenden, kaum sichtbaren Bewegung den weiten Ärmel ihrer Bluse nach unten, um einen Blick auf ihre Armbanduhr zu werfen. Hatte sie wirklich einen Termin oder eine Verabredung? Geduldig hob sie ihr ebenmäßiges Profil in Richtung Fenster und sah konzentriert nach draußen. An der Art, wie sie ihre schlanken Beine in Richtung Gang stellte und ihren Rucksack fester gepackt hielt, erkannte er, dass sie nun bald aussteigen würde.
Eine leise Traurigkeit stellte sich bei ihm ein. Er wollte ihren Anblick jetzt noch nicht verlieren. Viel lieber hätte er ihre Stimme noch einmal gehört und die regelmäßigen Züge in ihrem wunderschönen Gesicht, das ihn an ein Botticelli-Gemälde erinnerte, noch eingehender studiert.
Als die Straßenbahn anhielt und die Fremde durch die Tür nach unten auf die Straße stieg, sprang er auf und eilte ebenfalls nach draußen. Sein Entschluss, ihr zu folgen, kam so überraschend über ihn, dass er sich davon selbst völlig überrumpelt fühlte. Ausnehmend ungewöhnlich fand er sein Verhalten. Was lag da näher, mischte sich herzklopfend seine übertölpelte Logik ein, die das Geschehen noch immer etwas unbeteiligt beobachtete, wie die unerwartete Wendung in einem phantastisch-absurden Roman, als wenigstens konsequent zu bleiben und das begonnene Vorhaben (welches Vorhaben eigentlich?) ebenso konsequent fortzusetzen?
Zielstrebig hatte die Fremde bereits die gegenüberliegende Straßenseite erreicht und war in einen schmaleren Fußgängerweg eingebogen. In dem Bewusstsein, dass seine Handlung nun sowieso nicht mehr rückgängig zu machen war, ergab Ron sich ohne zu Zögern in sein Schicksal und folgte ihr in angemessener Entfernung. Diskret um Abstand bemüht, betrat er kurz nach ihr durch eine gläserne Eingangstür die städtische Bibliothek. Aus ihrem prallen Rucksack zog sie lächelnd einen sperrigen Stapel Bücher und legte ihn mit dankendem Kopfnicken auf die Theke am Rückgabeschalter.
Ron schob seine lästige Befürchtung, sie könne seine Verfolgung bemerkt haben, bang beiseite und schlenderte ihr hinterher in die Romanabteilung. Zwischen den büchervollen Regalen verlor er sie immer wieder aus den Augen, denn es boten sich nur schmale Durchblicke an, durch die er ihren Weg erspähen konnte. Einer nur ihr bekannten unsichtbaren Spur folgend, schritt sie die zahlreichen Gänge ab, blieb immer wieder unerwartet stehen, zog mit ernstem Interesse einzelne Bücher hervor, um sie einer kurzen aber gewissenhaften Prüfung zu unterziehen. Nur selten zögerte sie und kam rasch zu ihrem Urteil. Egal ob Taschenbuchformat oder fester Einband, buntes Cover oder schlichte Aufmachung, unbeeindruckt von solchen Äußerlichkeiten vollzog sie gleich an Ort und Stelle ihren Richtspruch, schob die für uninteressant befundenen Werke mit hochgezogenen Augenbrauen rasch zurück in die Vergessenheit des Regals oder ließ die auserwählten Exemplare mit einem leichten Lächeln auf den Lippen in ihren Korb gleiten.
Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, tat er es ihr nach, gab vor, die Titel und Autoren zu studieren, bevor er sie in die Hand nahm, und stellte sie jedes Mal wieder schnell zurück auf ihren angestammten Platz, um ihr mit seinen Blicken und Schritten weiter nachzulauern, sobald sie sich wieder in Bewegung setzte.
Konnte er es jetzt noch wagen sie unbefangen anzusprechen? Es wäre ein Leichtes, das Gespräch auf die Begegnung in der Straßenbahn zu lenken. Mit einer Bemerkung über das zufällige Wiedersehen in der Bibliothek wäre allerdings die erste Lüge gefallen und hätte seiner Geschichte vom Neu-in-die-Stadt-Gezogenen einen schalen Beigeschmack verliehen. So gut kannte er ihr Gesicht bereits, dass er sich vorstellen konnte, wie sie geringschätzig ihre Augenbrauen hochziehen und ihn mit der gleichen vernichtenden Kühle wie einen ihrer für langweilig befundenen Schmöker in die hinterste Ecke ihrer Aufmerksamkeit schieben würde.
Ein glockenhelles Lachen riss ihn aus seinen Grübeleien. Seine Fremde hatte offensichtlich eine Bekannte getroffen, der sie ausführlich flüsternd einiges mitzuteilen hatte. Wispernd und tuschelnd flogen die Sätze hin und her, ohne dass er ihren Sinn erfassen konnte. In der verzweifelten Hoffnung besser lauschen zu können, wenn er alle visuellen Eindrücke ausblendete, schloss er für einige Sekunden die Augen.
Als er die Augen wieder öffnete, war sie verschwunden. Ungläubig sah er sich wieder und wieder um. Keine Spur von ihr. Er lief in den Gang, in dem er sie vermutete. Nichts. Er eilte in Richtung Ausgang. Nichts. Er rannte zurück zu der Stelle, an der er sie eben noch sprechen gehört hatte. Nirgends war sie zu sehen. Aber auf dem Boden, mitten im Gang, lag direkt vor seinen Füßen ein Buch. Ganz sicher hatte sie es in der Hand gehabt. War es ihr heruntergefallen? Hatte sie es liegen lassen? Vielleicht sogar absichtlich? Er bückte sich, hob es auf und hetzte zurück zum Ausgang, um ihr das Buch zu bringen.
War das nicht ihre grüne Bluse, die eben durch die Tür nach draußen verschwand? Ron rannte hinterher und wurde freundlich aber sehr bestimmt zurückgerufen.
„Sie müssen mir erst Ihren Bibliotheksausweis zeigen, bevor Sie das Buch nach draußen mitnehmen können!“
Eine junge Büchereiangestellte mit burschikosem Kurzhaarschnitt deutete streng auf das Buch, das er noch immer fest in seiner Hand hielt. Kopfschüttelnd erkannte sie, dass ihr mit Ron ein besonders begriffsstutziger Besucher gegenüberstand.
„Haben Sie überhaupt einen Bibliotheksausweis zum Ausleihen?“
„Ausleihen?“ Ron warf einen letzten sehnsüchtigen Blick nach draußen. Von seiner Fremden fehlte inzwischen jede Spur. Nur widerwillig wandte er sich der jungen Frau hinter der Theke zu, die geduldig darauf wartete, dass dieser Traumtänzer wieder zu sich kam. Rons felsengroße Hoffnung, die Fremde jemals wiederzusehen, schrumpfte in Sekundenschnelle zu einem mikroskopisch kleinen Staubkorn zusammen. Sie war ihm entwischt.
„Okay, dann leihe ich mir wenigstens das Buch aus“, dachte er und ergab sich resigniert der notwendigen bürokratischen Prozedur, füllte ein Formular aus, zeigte seinen Personalausweis vor und leistete mehrere Unterschriften auf verschiedenen Dokumenten.
Allmählich verschwand alle Strenge aus dem sommersprossigen Gesicht der Bibliothekarin. Verschmitzt lächelnd überreichte sie ihm seinen nagelneuen Bibliotheksausweis.
„Willkommen als Leser in unserer Stadtbücherei, Herr Ron Hiker.“
Mit einer feierlichen Geste legte sie ihm das Buch in die Hände. Erst jetzt las Ron den Titel, den ihm der Zufall in die Hände gespielt hatte. Eine hoffnungsvolle Millisekunde lang schlugen sein Herz und sein Verstand im Gleichtakt. Nein, an einen Zufall konnte er jetzt nicht mehr glauben. Er hielt Shakespeares Romeo und Julia in seinen Händen.
„Auf Wiedersehen“, zwinkerte ihm die Büchereiangestellte verschwörerisch zu. „Und viel Spaß bei Ihrer Lektüre.“
Nun hatte er mit der schönen Unbekannten wenigstens eine Gemeinsamkeit. Die Ausleihfrist der mitgenommenen Bücher würde auch sie an den Ausgangspunkt des Geschehens zurückführen. Dies war unbestreitbar seine Chance auf ein Wiedersehen.
Darauf, dass sie ihm mit dem Titel Romeo und Julia eine besondere romantische Botschaft zuspielen wollte, wagte er kaum zu hoffen und tat es deshalb umso mehr. Wenn seine „Julia“ ihn bemerkt und ein wenig interessant gefunden hatte, dann konnte dieser literarische Wink doch das unverfängliche Einverständnis zu einer weiteren Begegnung bedeuten.
Oder hatte sie in diesem schmalen Buch etwa eine konkrete Botschaft versteckt, vielleicht einen Zettel mit ihrer Telefonnummer hinterlassen? Sein Herz unternahm den nächsten hoffnungsvollen Luftsprung. Hektisch begann er das schmale Bändchen durchzublättern, zerrte an den einzelnen Seiten, packte es an seinem Rücken und schüttelte es rücksichtslos hin und her. Aber der so grob misshandelte Delinquent schwieg beleidigt und gab weder einen Zettel noch irgendein anderes Geheimnis preis. Vielleicht verbarg sich in dem Bühnenstück selbst eine geheime Botschaft? Bedeutete ihr dieses Werk persönlich besonders viel und sie hoffte, er würde diese sehr private Bedeutung erkennen?
Zerstreut fiel sein Blick auf seine Armbanduhr. Über all dem hatte er völlig die Zeit und den auf ihn wartenden Magus vergessen. Selbst wenn sein Cousin ein Musterbeispiel an Geduld und Verständnis wäre, inzwischen hatte er sicher das Restaurant schon wieder verlassen. Ron gelobte, sich ausgiebig bei Magus zu entschuldigen und ihn in Form einer großzügigen Gegeneinladung für sein erfolgloses Warten zu entschädigen. Er nahm die nächste Straßenbahn und fuhr zurück in seine Wohnung.
Hatte er Romeo und Julia jemals selbst gelesen? Das Drama gehörte zu den Klassikern, die man allgemein hin kannte, ohne sie wirklich lesen zu müssen. Das Wissen um die tragische Liebesgeschichte war Allgemeingut und hatte bereits zahlreiche Kinofilme gefüllt. Plötzlich begann er daran zu zweifeln, dass diese Geschichte für ihn eine wünschenswerte Botschaft enthalten konnte. Romeo und Julia endeten tragisch. Es gab kein Happy End.
Hatte sie ihm mit diesem Buch einen Korb zugespielt? Doch dann lag ihr zumindest so viel an ihm, dass er ihr den Aufwand einer Botschaft wert war. Es half nichts. Um eine Antwort auf diese quälenden Fragen zu erhalten, musste er sich in die Lektüre begeben und herausfinden, was Shakespeare wirklich geschrieben hatte. Zögernd schlug er das Buch auf, das er an diesem Tag schon so oft hinund hergedreht hatte, und begann zu lesen.