Читать книгу Die Buchwanderer - Britta Röder - Страница 9

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ächelnd hob Charlotte das Kuscheltier vom Boden, das ihrem schlafenden Kind aus der Hand geglitten war, knipste die Nachttischlampe aus und schloss leise von außen die Kinderzimmertür.

Wie gut, dass Florian so schnell eingeschlafen war. Das verschaffte ihr jetzt noch etwas freie Zeit nur für sich. In der Küche summte bereits der Wasserkocher. Mit wenigen Handgriffen bereitete sie sich einen Tee. Nun durfte sie sich endlich ihrer Lektüre widmen. Das war der Moment, auf den sie sich seit Stunden gefreut hatte.

Hinter Charlotte lag wieder einmal einer dieser ganz gewöhnlichen Tage. Aufstehen, Florian wecken, die Kaffeemaschine anschmeißen, Florian ein Brot schmieren und ihn antreiben, dass er mit Waschen, Zähneputzen und Anziehen fertig wurde, zwischendurch sich selbst fertig machen, den Kaffee im Stehen trinken, Jacke und Schuhe anziehen und los. Zum Bus rennen, an der Schule aussteigen und Florian bis zum Tor begleiten, winken, erneut zum Bus rennen, kaum zu spät auf der Arbeit ankommen, den ersten Kunden begrüßen, sich gleichzeitig die Jacke ausziehen und dabei das chronisch unzufriedene Gesicht des Chefs mit einem perfekt inszenierten Lächeln überspielen. In der Mittagspause schnell ein paar Einkäufe erledigen, dem Chef einen Kaffee kochen und ihm das Einverständnis abringen, trotz der Krankheit einer Kollegin auch heute keine Überstunden zu machen, da sie ihr Kind pünktlich von der Kita abzuholen habe. Doch eine gute Viertelstunde zu spät den Buchladen verlassen, da sie noch kurz vor Ende ihrer Schicht eine besonders komplizierte Bestellung hatte annehmen müssen, da sie einfach nicht Nein sagen konnte und ihr Chef das systematisch ausnutzte, worüber sie sich jedes Mal aufs Neue ärgerte, mehr über sich selbst als über ihn. Zum Bus rennen, schon wieder, um die verlorene Zeit einzuholen und auf die letzte Sekunde Florian abholen.

Als sie endlich völlig erschöpft von der ganzen Rennerei mit ihrem Sohn zu Hause angekommen war und feststellen musste, dass sie in der Hektik ihres Aufbruchs die Einkäufe vom Mittag liegengelassen hatte, war Charlotte schon viel zu müde, um sich darüber noch aufzuregen. Schnell schob sie eine Tiefkühlpizza in den Ofen und schon hatte dieser ansonsten ziemlich ereignislose Tag seinen versöhnlichen Abschluss gefunden.

So wie dieser Tag waren alle Tage. Ihr Alltag war routiniert. Wenig spektakulär. Auslaugend. Gewöhnlich.

Sie wusste, dass ihr Leben gewöhnlich war. Tausende teilten den gleichen Tagesablauf mit ihr. Ihr alltäglicher Stress war nichts Besonderes. Ihre Ängste und Sorgen waren nichts Besonderes. Ihr Job war nichts Besonderes. Ihre ganze Geschichte war nichts Besonderes. Sie steckte so tief drin in diesem Sumpf, den sie ihr Leben nannte, dass sie auch ihre Wünsche und Träume nicht mehr als besonders empfand. Längst schon hatte sie vergessen, dass diese früher einmal die Bedeutung fester Ziele und Pläne gehabt hatten.

Nein, davon wollte sie nichts mehr wissen. Denn eines hatte sie gelernt. Dass Träume sehr gefährlich werden konnten, vor allem wenn es die Falschen waren. Ob es ihr gefiel oder nicht, aber das hier war nun einmal ihr Leben. Und daran ließ sich auch nichts ändern. Punkt.

Behutsam balancierte sie ihre volle Tasse aus der Küche ins Wohnzimmer, stellte sie vor sich auf den niedrigen Couchtisch und nahm im Schneidersitz auf dem breiten Polster Platz. Seufzend ergriff sie ihr Buch um zu lesen.

Mochte ihr eigenes Leben auch noch so banal und unbedeutend sein, wenn sie lesend in die Tiefen fremder Geschichten eintauchte, dann gelang es ihr, dies zeitweise zu vergessen. Völlig risikolos, wie sie fand, erlebte sie fremde Welten, die ihre eigene Realität niemals berührten. Denn anders als in ihrer Realität war in ihnen von Anfang bis zum Ende der Rahmen stets klar abgesteckt. Jedem Protagonisten war seine feste Rolle zugeschrieben, die er niemals verließ. Niemals fanden diese Figuren einen Weg zu ihr nach draußen. In der Sekunde, in der sie nach ihrer Lektüre den Buchdeckel schloss, hatten sie bereits ihre Bedeutung für sie verloren.

Charlotte erinnerte sich an eine Zeit in ihrem Leben, in der das anders gewesen war. Ja, früher, da war sie so tief in ihre jeweilige Lektüre eingetaucht, dass sich die Grenzen zwischen ihrer Welt und der ihres Buches aufzulösen begannen. So eng fühlte sie sich mit den Figuren in ihren Büchern verbunden, dass sie sie wie leibhaftige Menschen zu kennen glaubte – und sich nicht gewundert hätte, ihnen auch im realen Leben zu begegnen.

Bücher, das war ihre große Leidenschaft. Zu den schönsten Kindheitserinnerungen zählte Charlotte die weiche Stimme ihrer vorlesenden Mutter, die sie in ihre ersten Bücherwelten geführt hatte. Welten, in denen das Gute immer die Oberhand behielt und die sie darum freundlich aufnahmen. Und auch wenn sie als Heranwachsende schnell lernte, dass in der Literatur, die das Leben zum Vorbild hat, nicht alles nach Wunsch verläuft, so konnte sie selbst dem ungenügendsten Ende noch etwas abgewinnen, solange nur das Buch mit ihr sprach. Bücher bewegten sie, auch noch lange nachdem sie sie zur Seite gelegt hatte. Charlotte trug die Gedanken aus ihnen heraus in ihre eigene Realität und erfuhr dadurch nicht selten echte Inspiration in ihrem Alltag.

Erlebenswert war ihr alles erschienen, was in ihren Büchern passierte. Darin war so viel vom wahren Leben die Rede, dass sie beim Lesen kaum hinterher gekommen war, um ihre Sehnsucht nach dem Leben zu stillen. Ihre Ansprüche ans Leben waren hoch gewesen. Kaum eine Leidenschaft war ihr zu abwegig erschienen, um sie nicht selbst erfahren zu wollen. Und keine Frage, von allen Leidenschaften, die sie für sich begehrt hatte, war die Liebe diejenige gewesen, die sie am sehnsuchtsvollsten erstrebte.

Was also war passiert, dass sie ihre tiefe Leidenschaft für Bücher verloren hatte? Wohin war ihr Lebenshunger verschwunden? Gab es denn für sie überhaupt noch die Sehnsucht nach Glück?

Nun, im Grunde reichte es ihr inzwischen völlig aus, zufrieden zu sein, auch wenn sie sich bei genauerem Nachdenken eingestehen musste, dass sie die Maßstäbe ihrer Zufriedenheit in den letzten Jahren sehr nach unten gesetzt hatte. Diese Zufriedenheit erschien Charlotte als ihr persönliches Höchstmaß an Glück und sie empfand sich als unbescheiden, wenn sie sich manchmal, in schwachen Stunden, nicht damit zufrieden geben konnte, morgens gesund aufzuwachen, ihr lachendes Kind zu sehen und eine Arbeit zu haben, durch die sie ihren Lebensunterhalt bestreiten konnte.

In ihren seltenen dunklen Stunden gestand sie sich ein, dass sie vor einigen Jahren noch eine andere Vorstellung von Glück gehabt hatte und mehr noch, dass sie sich damals bereits im Besitz dieses Glücks geglaubt hatte.

Glück, das hatte damals vor allem Liebe bedeutet und genau diese Liebe war zur größten Enttäuschung ihres Lebens geworden.

Sie war verliebt gewesen. Sie hatte geliebt. Sie hatte Vertrauen geschenkt. Und sie hatte sich endlos geborgen gefühlt in ihrer Überzeugung, auch geliebt zu werden. Der Schlag, den ihr die Realität versetzte, traf sie ohne jede Vorwarnung. Sie stürzte ungebremst in einen tiefen Abgrund aus Enttäuschung und Einsamkeit. Der Mann, den sie geliebt hatte, hatte sie nicht nur von Anfang bis Ende belogen und betrogen, sondern sie obendrein auch noch finanziell ruiniert. Wie in einem schlechten Film war er mit ihrer besten Freundin und ihren gesamten Ersparnissen auf und davon. Durch sein exzentrisches Auftreten war es ihm gelungen, in den kurzen Jahren ihres Zusammenseins Charlotte von ihren bisherigen Freunden und ihrer Familie zu isolieren. Systematisch hatte er um die vertrauensselige, verliebte junge Frau ein geschicktes Lügengerüst gezimmert, hatte ihr Einkünfte vorgegaukelt, wo keine waren, war Verpflichtungen eingegangen, von denen sie nichts ahnte.

Der finanzielle Schaden war enorm, aber dennoch überschaubar. Doch der emotionale Schaden war grenzenlos. Auf einmal fand sich Charlotte mit einem schlechten Leumund belastet. Sie sah keinen Ausweg, als die gemeinsam mit ihm geteilte Umgebung zu verlassen und in einer anderen Stadt völlig neu zu beginnen.

Fast wäre sie ihrer Resignation erlegen. Doch das Leben bot ihr eine ganz besondere Chance. Man hatte sie betrogen, belogen, verletzt und verlassen. Aber sie war schwanger. Sie würde einem Kind das Leben schenken. Dies war mehr als ein Trost in einer schwierigen Situation. Dies war ein echter Grund, der beste Grund überhaupt, um durchzuhalten. Sie wollte durchhalten und diese vorübergehende Krise durchstehen.

Aus dem vorübergehenden Krisenmanagement war in den vergangenen acht Jahren eine feste Einrichtung geworden. Ein zuverlässiges Gebilde, das sie nur sich selbst zu verdanken hatte. Sie war stolz darauf und dieser Stolz war die Quelle ihrer Kraft. Auf andere Quellen wollte sie sich nicht mehr verlassen.

Den aufgeschlagenen Roman im Schoß hielt Charlotte einen müden Moment lang ihre Augen geschlossen. Über all diesen Ereignissen der letzten Jahre hatten die Bücher auf einmal aufgehört, mit ihr zu sprechen. Oder hatte sie nur die Bereitschaft abgelegt, ihnen zuzuhören? Im Ergebnis war es ihr egal, denn sie hielt ihre neue Art, mit Büchern umzugehen, für ein sicheres Indiz dafür, erwachsen geworden zu sein.

Seltsam, dass es ihr gerade heute so schwer fiel, sich auf ihre Lektüre zu konzentrieren. Woher kamen auf einmal die vielen mühsam verdrängten Erinnerungen und störten ihre schwer erarbeitete Ruhe? Forschend betrachtete Charlotte das Buchcover, das auf ihren übergeschlagenen Beinen ruhte. Dieser Roman, dem sie bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte, konnte doch kaum daran schuld sein. Vielleicht lag es daran, dass es ein Liebesroman war? Und welche Inspiration konnte sie sich schon aus einem Liebesroman holen?

Nicht, dass sie nicht bereit gewesen wäre, sich zu verlieben. Sie verliebte sich gerne und oft und, wenig überraschend, immer in die Falschen. Denn die Objekte ihrer Begierde waren niemals die Männer, mit denen sie ernsthaft das Risiko einer gemeinsamen Zukunft eingegangen wäre. Sonst hätte sie sich auch gar nicht in sie verlieben können. Einen Mann, der ihr wirklich „gefährlich“ hätte werden können, ließ sie erst gar nicht an sich heran. Sie sah ihn nicht einmal. Er wurde aus ihrem Bewusstsein ausgefiltert, ehe er in den Bereich ihrer objektiven Wahrnehmung geriet.

Sich zu verlieben war ein kurzweiliger, folgenloser Zeitvertreib, ein Spiel, bei dem es darum ging, niemanden wirklich an sich heranzulassen. Ihre Beziehungen hatten daher immer nur so lange Bestand, wie niemand von ihr erwartete, dass sie ihr mühsam erobertes Leben den Regeln einer neuen Beziehung unterordnete. Panisch weigerte sie sich‚ „sich selbst aufzugeben“, wie sie es nannte. Vertrauen nahm sie nur soweit an, wie sie selbst bereit war es zu schenken. Jeder, der ihr näher kam, erkannte bald, dass dieses Maß sehr schnell erfüllt war. Und jeder, der ein ernsteres Interesse an ihr hatte, konnte damit auf Dauer nicht zufrieden sein.

Ganz eindeutig war ihr das Talent zur Liebe verloren gegangen, befand sie selbstkritisch. Vielleicht gelang es ihr deshalb nicht, sich in den Richtigen zu verlieben. Und vielleicht gelang es ihr deshalb auch nicht, diesen simplen Liebesroman zu genießen.

Verstimmt legte sie das Buch neben sich und nippte an ihrem Tee. Wie war sie überhaupt an dieses Buch gekommen? Ach ja, Magus hatte es ihr zugesteckt. Unbewusst strich sie über den glatten Buchrücken. Seit sie ihm einmal von ihrer einstigen Leseleidenschaft erzählt hatte, tauchte er regelmäßig mit kleinen Buchgeschenken auf. Dabei hatte sie ihm nicht verschwiegen, dass sie schon seit Jahren nicht mehr mit der früheren Hingabe gelesen hatte. Von ihrer Bücherliebe war ihr als Folge ihrer Ausbildung zur Buchhändlerin nur der Job im Buchladen geblieben. Doch hartnäckig ignorierte er ihre Einwände und versuchte sie mit immer neuen Titeln zum Lesen zu verführen. Ja, Charlotte musste zugeben, dass er bei der Auswahl seiner Bücher ein feines Gespür bewies. Das erste Mal seit langem ertappte sie sich wieder dabei, tiefer in ihre Lektüre hineinzuspüren, als sie es sich inzwischen angewöhnt hatte. Irgendetwas rief dieser Magus mit seinen Büchern in ihr wach.

Ob er ihr durch seine Geschenke etwa Avancen machen wollte? Aber nein, nicht doch. Nicht Magus. Magus war ein charmanter und zuvorkommender Mann. Der charmanteste und zuvorkommendste Mann, den sie je getroffen hatte. Wie liebevoll er sich erst neulich um Florian gekümmert hatte, als sie selbst so spät nach Hause gekommen war. Für ihren Sohn war er inzwischen ein echter Freund und, Charlotte lächelte, es gefiel ihr sich einzugestehen, dass er das inzwischen auch für sie geworden war.

Durch Zufall hatte sie erfahren, dass Magus in der Filmbranche arbeitete. Sicher war er sehr reich. Bestimmt führte er ein aufregendes Leben. Der Abstand zwischen ihnen beiden war so überwältigend groß, dass sie ihn beruhigt mit größtem Wohlgefallen betrachten konnte, ohne durch ihn in Gefahr zu geraten. Als genau der geeignetste Mann in ihrer Umgebung, in den sie sich hätte verlieben können, war er genau der Mann, in den sie sich nie verlieben würde.

Sie mochte Magus. Magus mochte sie. Dass er ihr Geschenke machte, kleine Geschenke, und sie diese annahm, war in Ordnung. Im Grunde bereitete sie ihm damit eine Freude, denn obwohl er so erfolgreich war, schien er sonst kaum Freunde zu haben.

Auch in diesem Punkt waren sie sich beide sehr ähnlich, erkannte Charlotte. Denn obwohl sie nie darüber sprachen, war offenkundig, dass sie beide ein recht einsames Leben führten.

Unschlüssig nahm sie Magus’ Buch wieder zur Hand und betrachtete es wie einen Spiegel. Wie es wohl wäre, mit jemanden wie Magus zusammen zu sein? Sie kicherte. Vor ihrem inneren Auge entspann sich ein wunderschöner Kinofilm. In materieller Hinsicht wäre ihr Leben auf einen Schlag unbeschwerter. Sie sah sich verheiratet mit Teilzeitjob und mindestens einer Fernreise im Jahr. Hemmungslos fügte sie ihrem Drehbuch ein großzügiges Eigenheim hinzu, eine teure Hi-Fi-Anlage, immer funktionstüchtige Küchengeräte und ein rasantes Zweitauto in der Garage. Ihre Ausstattungswut kannte keine Grenzen. Sie fügte ihrem Traumgespinst noch ein eigenes Ankleidezimmer hinzu, in dem natürlich nicht nur die edelsten Designerklamotten hingen, sondern auch ein riesiger Schrank voller Schuhe stand. Charlotte schämte sich. Ein Mann wie Magus würde ihr selbstverständlich all diese Dinge zu Füßen legen, aber dazu müsste er sie lieben. Und sie müsste ihn lieben.

Neue Szenen taten sich vor ihrem inneren Auge auf. Szenen, in denen sie an der Seite eines vertrauten Partners einschlief, um am nächsten Morgen genauso vertraut zu erwachen, Momentaufnahmen von einem sonnigen Sonntagmorgenfrühstück am Familientisch, von guten Gesprächen, küssend beigelegten kleinen Streitereien, wiederkehrenden Ritualen, kleinen Gesten, der ehrlich gestellten Frage, wie es ihr gehe.

Ach was! Charlotte erhob sich von der Couch und warf Magus’ Buch verärgert auf den Couchtisch, wo es unsanft aufschlug. Ihre Welt, das war das Hier und Jetzt, das andere waren nur Phantasien. Was hatten all diese fiktiven Figuren aus den fremden Geschichten mit ihrem Leben gemeinsam?

Ja, es ging ihr so viel besser als jeder dieser Romanfiguren. Anders als diese blassen papiernen Gestalten, für die von Anfang bis Ende kein Ausweg vorgesehen war, konnte sie ihr Leben selbst bestimmen.

Welch ein Glück! Ihr Leben war kein Buch, kein Roman. Hier hielt sie selbst die Feder in der Hand.

Seufzend griff sie nach Magus’ Buch und platzierte es liebevoll im Regal. Für heute war sie eindeutig zu müde, um sich noch auf eine einzige geschriebene Zeile zu konzentrieren. Zu müde, um Herrin ihrer Gefühle zu sein. Morgen würde sie es erneut versuchen.

Die Buchwanderer

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