Читать книгу Die Klinik am See Staffel 2 – Arztroman - Britta Winckler - Страница 6
ОглавлениеSusanne Brühl starrte auf ihren Teller. Sie konnte den Brechreiz kaum noch unterdrücken. Ihre Augen füllten sich nun mit Tränen. Sie hatte sich so auf diesen Ausflug gefreut. In den letzten Wochen hatte Ralf sich kaum noch um sie gekümmert. Sie hatte allein im Zimmer gesessen und nicht gewußt, wie sie die Zeit totschlagen sollte. Ihr Kopf sank tiefer. Sie konnte Ralf ja verstehen. Er mußte viel unterwegs sein, die letzten Vorbereitungen für die Schallplattenaufnahme mußten getroffen werden. Daß er sie jetzt, wo ihr Zustand schon deutlich zu erkennen war, nicht gern mitnahm, war verständlich.
»Warum ißt du denn nicht? Schmeckt es dir nicht?« Wie häufig in den letzten Wochen klang Ralfs Stimme gereizt.
»Es ist ausgezeichnet.« Susanne hob den Kopf, sie versuchte zu lächeln.
»Warum ißt du dann nichts? Ich wollte dir eine Freude machen.« Ärgerlich zuckte Ralf Klein die Achseln. »Du hast dich beklagt, daß du kaum noch aus dem Haus kommst. Deswegen sind wir an den See gefahren. Ich hätte wirklich etwas anderes zu tun.«
Susanne sah in sein Gesicht. Jede Linie dieses Gesichtes konnte sie nachzeichnen, wenn sie die Augen schloß. Sie liebte ihn so sehr, seine Augen, die so zärtlich blicken konnten, sein unbeschwertes, fröhliches Lachen. Jetzt jedoch stand über seiner Nasenwurzel eine tiefe Falte. Seine Lippen waren zusammengepreßt, seine Mundwinkel nach unten gebogen. Rasch senkte Susanne wieder den Blick. Da waren auch wieder die Tränen, sie brannten hinter ihren Augenlidern.
»Gefällt es dir hier nicht?« hörte sie ihn fragen. Ohne auf eine Antwort von ihr zu warten, setzte er hinzu: »Dir kann man in letzter Zeit wirklich nichts mehr recht machen.«
Susanne schluckte und schluckte. »Es ist sehr schön hier. Ich freue mich so. Es ist lieb von dir, daß du mit mir an den See gefahren bist.« Sie stammelte es unter gesenkten Lidern. »Nur, ich kann nicht mehr essen. Bitte, sei nicht böse.« Sie legte die rechte Hand auf ihren Leib.
»Schade um das teure Essen. Billig ist es hier wirklich nicht.« Ralf sah sich um. Seine Laune hatte den Nullpunkt erreicht. Er mußte endlich Schluß machen. Es war an der Zeit, daß er Bayern den Rücken kehrte. Hamburg, dorthin wollte er schon lange, oder noch besser, gleich nach Kanada. Dort hatte er einen Schulkameraden, der es verstanden hatte, etwas aus sich zu machen. Bei dem konnte er sicher unterschlupfen.
Susannes Magen hatte sich soweit beruhigt, daß sie den Kopf heben konnte. Unsicher sah sie ihren Freund an. Sie bemerkte, daß er mit seinen Gedanken weit weg war. Zögernd legte sie ihre Hand über die seine. Ralf zuckte zusammen, da strich sie liebevoll über seinen Handrücken.
»Ralf, ich danke dir für diesen Ausflug. Es ist so schön. Alles grünt und blüht.«
Er wich ihren großen, etwas schräg stehenden grünen Augen, die ihn dankbar ansahen, aus. »Es ist Frühling«, brummte er. Dabei dachte er: Sie ist wirklich sehr schön. Schade, eigentlich hatte ich vorgehabt, diesen Sommer noch mit ihr zu verbringen. Wie dumm von ihr, sich ein Kind anhängen zu lassen!
»Ralf, ich werde dich nicht enttäuschen.« Ihre Hand kam zu ihm herüber. »Ich kann singen. Mit meinem Zustand hat es nichts zu tun. Du bist ja so oft nicht da, und da übe ich.«
Ralf lachte auf. Du ahnungsloser Engel! dachte er. Dann fing er ihren erstaunten Blick auf, und ehe sie fragen konnte, meinte er: »Schon gut! Du wirst es schon schaffen.« Er sah über sie hinweg. Es fiel ihm immer schwerer, sie zu belügen.
Susanne nagte an ihrer Unterlippe. Unsicher schob sie den Teller noch weiter von sich. Schließlich heftete sie den Blick auf sein Gesicht. Sie schluckte, dann stieß sie gepreßt hervor: »Es müßte aber bald sein. Ich meine, zu lange können wir mit der Schallplattenaufnahme nicht mehr warten.«
Ralf fuhr auf. »Ich kann nicht zaubern!«
Susannes Kopf sank auf die Brust. »Ich meine nur.« Erneut schluckte sie, nahm dann allen Mut zusammen und fuhr fort: »Schon vor Monaten hätte ich ins Aufnahmestudio gehen sollen.«
»Ja, ja! Ich habe dir doch gesagt, daß es in dieser Branche kein Kinderspiel ist. Da muß man warten können. Verstehst du, auf den richtigen Moment muß man warten.«
»Aber… allzulange kann ich nicht mehr warten.« Unwillkürlich sah Susanne an sich hinunter.
»Ich weiß«, knurrte Ralf. Bisher hatte er es nicht wahrhaben wollen, aber es war wirklich höchste Zeit, daß er verschwand.
»Ralf!« Sie drückte seine Hand. »Entschuldige, ich will dir nicht lästig fallen. Du warst doch einige Tage in München.« Sie hielt kurz inne, dann gab sie sich einen Ruck. »Wir haben noch nicht darüber gesprochen. Hast du denn nichts erreicht?«
Ralf brachte es nicht fertig, ihrem Blick auszuweichen. Ihre Augen schimmerten feucht, ihre Lippen zitterten leicht. Sie sah phantastisch aus und sie hatte Talent. Schade, er konnte ihr nicht helfen. Sekundenlang schämte er sich. Dies passierte ihm sonst nie. Er war es gewohnt, von den Frauen zu leben. Er mußte sich räuspern, und dann belog er sie ein letztes Mal.
»Ende dieser Woche findet die Aufnahme statt.«
Er sah es in ihren Augen aufleuchten. Das Lächeln griff auf ihr Gesicht über. Dann jedoch stutzte sie. »Sagtest du, Ende dieser Woche? Machen die am Wochenende auch Aufnahmen?«
»Ich meine natürlich am Freitag oder Samstag«, wich Ralf aus. »Den genauen Tag erfahre ich, wenn ich morgen noch einmal vorspreche.«
Das Lächeln erlosch in ihrem Gesicht. »Du willst noch einmal nach München?«
»Ich muß! Es gibt noch einiges zu besprechen. Die Plattenfirma will dich gleich groß herausbringen.«
Susanne hielt die Luft an, dann stieß sie hervor: »Bist du sicher, daß es diesmal klappen wird?«
»Ganz sicher«, bestätigte er, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Ralf, warum hast du das nicht gleich gesagt?« rief sie erfreut. Sie war nur noch glücklich. Ein Jahr war es her, daß er ihr zum ersten Mal davon erzählt hatte, daß er Beziehungen zur Schallplattenbranche hatte. Er hatte bekannte Namen genannt und behauptet, daß er diese Leute gemanagt hatte. Ihr hatte er ebenfalls Hoffnungen gemacht, und sie hatte geduldig gewartet.
»Nicht so laut«, mahnte Ralf. Er lächelte. Sie war wirklich leicht zufriedenzustellen. Er tätschelte ihre Hand. Irgendwie würde sie ihm fehlen. Dann merkte er, daß Susannes Blick auf einen Mann gerichtet war, der gerade das Restaurant betreten hatte. Er runzelte die Stirn. Woher kannte Susanne diesen Mann? Seine angegrauten Schläfen verrieten, daß er die Vierzig bereits überschritten hatte. Seine Bewegungen jedoch waren jugendlich, elastisch. Das Mädchen an seiner Seite konnte man hübsch nennen.
»Kennst du ihn nicht?« fragte Susanne leise.
Ralf zuckte die Achseln. War der Kerl ein Filmschauspieler? Irgendwie kam er ihm bekannt vor.
»Das ist Dr. Lindau! Hast du noch nie von ihm gehört? Ihm gehört die Klinik am See.« Sie seufzte. »Dort möchte ich unser Kind zur Welt bringen. Hast du noch nie über ihn in der Zeitung gelesen? Er ist ein phantastischer Arzt!«
Jetzt erinnerte Ralf sich. »Sprichst du von der Klinik, die früher ein Schloß war?«
»Richtig!« Susanne nickte. »Niemand hier wußte, daß die Besitzerin die bekannte Operndiva Sonja Parvelli war. Dr. Lindau hatte sie behandelt, und zum Dank hatte sie ihm das Schloß geschenkt.«
»Wie romantisch«, spottete Ralf.
»Dr. Lindau hat bereits sehr vielen Frauen geholfen. Die Klinik am See, wie sie genannt wird, ist eine Klinik für Frauenleiden.«
Ralf interessierte dies wenig. Sein Interesse galt der Frau an der Seite des Chefarztes. »Ist sie seine Geliebte?«
Susanne lachte. »Sie ist seine Tochter und ebenfalls Ärztin, Kinderärztin. Daher wurde der Klinik auch eine Kinderstation angegliedert. Ihr Mann ist übrigens auch Kinderarzt und Leiter dieser Abteilung.«
»Schade«, entfuhr es Ralf.
Irritiert sah Susanne ihren Freund an. Dieser grinste. »Daß schöne Frauen immer so schnell heiraten müssen!«
Susanne mochte es nicht, wenn er so sprach. So drehte sie den Kopf zur Seite.
»Komm, es war doch nur Spaß«, sagte Ralf. So wie es aussah, war dies der letzte Tag, den sie gemeinsam verbrachten, und den wollte er sich nicht verderben lassen.
Zögernd wandte sie sich ihm wieder zu. »Glaubst du, daß ich in der Klinik entbinden kann?«
Ralf unterdrückte einen Seufzer. Dieses Thema gefiel ihm noch weniger. So zuckte er nur die Achseln und unterzog die Tochter des Chefarztes erneut einer Betrachtung.
Susanne nagte an ihrer Unterlippe. »Ralf«, begann sie schließlich. »Ich will dich wirklich nicht drängen, aber es wäre sicher alles einfacher, wenn wir vorher heiraten würden. Ich meine… ich bin natürlich deiner Ansicht, daß ein Ring kein Liebesbeweis ist, aber Dr. Lindau könnte doch denken…«
Mit einem Blick brachte Ralf seine Freundin zum Schweigen. Spöttisch meinte er: »Ich dachte, dein Dr. Lindau hat schon so vielen Frauen geholfen?«
»Doch nicht so!« Susannes Wangen röteten sich. Sie senkte den Kopf. »Ich dachte auch nur, es wäre einfacher…«
»Schon gut! Wenn dir so viel daran liegt!« Ralf lächelte sie an. »Deswegen wollen wir wirklich nicht streiten. Bring die Schallplattenaufnahme hinter dich, dann suchen wir die nötigen Papiere zusammen.«
»Ja?« Ihre grünen Augen leuchteten auf. »Und die Aufnahme wird am Freitag oder Samstag sein?«
»Genau!« Ralf legte sich zurück. Armes Kind! dachte er. Sie war noch immer so leichtgläubig wie am ersten Tag.
»Ralf, wir werden sehr glücklich werden«, hauchte Susanne. »Ich werde es trotz des Kindes schaffen!« Sie sah Ralf an und begann mit offenen Augen zu träumen. Von einer Karriere hatte sie bereits geträumt, ehe sie ihm begegnet war. Sie war überglücklich gewesen, als sie merkte, daß auch er an ihr Talent glaubte. Sie würde ihm beweisen, daß er sich nicht geirrt hatte. Nicht umsonst hatte sie ihre Arbeit aufgegeben und nur noch geprobt, sogar Tanzunterricht hatte sie genommen.
»Wenn du hier fertig bist, können wir gehen«, sagte Ralf knapp.
Susanne fühlte Ernüchterung. »Du bist mir doch nicht böse, weil ich nicht aufgegessen habe? Es war wirklich sehr gut, nur…«
»Schon gut!« Ungeduldig hob Ralf die Hand und winkte dem Kellner. »Wenn du dich besser fühlst, können wir ja einen Spaziergang machen.«
»Mir geht es ausgezeichnet«, versicherte Susanne rasch.
*
Im Vorraum des Entbindungsraumes wartete bereits Schwester Bärbel auf den Chefarzt.
Sie war noch jung und obwohl sie bereits verlobt war, hatte sie eine Schwäche für den Chef. So hatte sie für ihn die sterile Kleidung bereitgelegt und stand mit dem Handtuch lächelnd hinter ihm, während er sich die Hände unter dem fließenden Wasser schrubbte.
»Ist Dr. Hoff hier?« fragte der Chefarzt.
»Er ist schon drin, auch Herr Burger ist im Kreißsaal. Er besteht darauf, bei seiner Frau zu bleiben.«
Dr. Lindaus Gesichtsausdruck wurde abweisend. Das hatte er befürchtet. Er reichte der Schwester das Handtuch zurück und ging auf die Verbindungstür zu. Beflissen eilte Schwester Bärbel vor ihm her, um sie ihm zu öffnen.
»Frau Burger leidet sehr«, flüsterte sie ihm noch rasch zu, ehe sie zur Seite trat. Der Chefarzt quittierte ihre Worte mit hochgezogenen Augenbrauen. Dann jedoch beachtete er Schwester Bärbel nicht weiter. Mit einem kurzen Gruß trat er in den Raum. Auf den ersten Blick erkannte er, daß seine Befürchtungen sich bestätigten. Frau Burgers Gesicht war hochrot, ihre Lippen waren aufgesprungen, und obwohl sie bemüht war, sich zu beherrschen, entschlüpfte ihr in unregelmäßigen Abständen ein Schmerzensschrei.
Herr Burger eilte auf ihn zu, erregt griff er nach seinem Arm und verkrallte seine Hand in dem weißen Stoff. »Herr Doktor, Sie müssen etwas tun! Das Kind, meine Frau…« Seine Stimme überschlug sich fast.
Dr. Hoff, der diensthabende Frauenarzt – er hatte auch eine chirurgische Fachausbildung – verließ das Bett, auf dem die Gebärende lag, und trat zum Chefarzt. »Ich habe Herrn Burger bereits mehrmals gebeten, den Kreißsaal zu verlassen«, sagte er mit umwölkter Stirn.
»Das ist unerhört!« Der Gutsbesitzer schnappte nach Luft. »Mir wurde zugesichert, bei der Geburt zugegen sein zu können. Was ist hier eigentlich los?«
»Sehen Sie das nicht?« fragte Dr. Lindau ruhig. »Wir müssen das Kind holen. Ich muß schneiden. Ich sagte Ihnen bereits gestern abend, daß ich dies befürchtet habe.«
»Das ist ausgeschlossen!« fuhr Herr Burger auf. »Meine Frau und ich haben uns für eine natürliche Geburt entschlossen.«
»Unter diesen Umständen ist das leider nicht möglich.« Während die Gebärende stöhnte, versuchte Dr. Lindau ruhig zu bleiben. »Bei einer Sectio müssen wir eine Anästhesie vornehmen.«
»Ich werden nicht zulassen, daß meine Frau betäubt wird.« Brüsk wandte Herr Burger sich dem Bett zu. »Nicht wahr, Lisa, wir haben uns monatelang auf dieses Ereignis vorbereitet. Nun wollen wir auch jede Phase miterleben.«
Seine Frau bäumte sich auf. Für Sekunden öffnete sie die Augen. Ihr flehender Blick traf den Chefarzt. »Helfen Sie mir, bitte!« stieß sie gepreßt hervor.
Dr. Lindau trat ebenfalls an das Bett heran. »Bitte, bleiben Sie ruhig! Wir bringen Sie gleich in die Anästhesie hinüber. Sie werden von dem Eingriff nichts spüren.«
Frau Burger nickte. Sie schloß wieder die Augen. Sie vertraute Dr. Lindau.
»Und das Kind?« Einen Moment lang sah es so aus, als würde der Gutsbesitzer den Chefarzt von der Liege drängen. »Eine Narkose schadet dem Kind. Wir haben uns genau informiert. Ich werde nicht dulden…«
Dr. Lindaus Geduld war zu Ende, er fiel dem Mann ins Wort: »Sehen Sie denn nicht, daß Ihre Frau Schmerzen hat? Wir müssen sofort handeln. Es könnte sonst für das Kind zu spät sein.«
»Bitte, Arthur!« Mühsam versuchte Lisa Burger sich aufzurichten. »Ich halte es nicht mehr lange aus.« Als ihr Mann noch immer zögerte, setzte sie hinzu: »Dr. Lindau weiß schon, was er tut.«
Der Chefarzt nickte Dr. Hoff zu. »Dr. Reichel wartet bereits«, sagte dieser, und auf sein Zeichen wurde die Liege mit Frau Burger aus dem Zimmer gerollt.
Arthur Burger wollte hinterher, doch Dr. Lindau vertrat ihm den Weg. »Glauben Sie mir, es gibt keine andere Möglichkeit. Wir gefährden sonst nicht nur das Leben des Kindes, sondern auch das der Mutter.«
Der Gutsbesitzer wurde unsicher. »Lisa hat sich bereit erklärt, alle Schmerzen auf sich zu nehmen.«
»Es ist eine Situation eingetreten, wo dies unmöglich ist. Sie müssen sich aber keine Sorgen machen. Wir tun nichts, womit wir dem Ungeborenen Schaden zufügen könnten. Ihre Frau bekommt keine Vollnarkose. Es wird nur eine Lumbalanästhesie vorgenommen. Ich muß Sie jetzt jedoch bitten, den Kreißsaal zu verlassen. Ich muß mich auf die Operation vorbereiten.« Dr. Lindau sah den Mann so fest an, daß dieser schließlich die Achseln zuckte und sich von der Schwester zur Tür bringen ließ. Raschen Schrittes ging der Chefarzt noch einmal in den angegliederten Waschraum. Mit der Hilfe von Schwester Bärbel zog er die Operationshaube über das Haar und legte die Maske vor, so daß man nur noch seine Augen sehen konnte. Dr. Hoff, der ihm gefolgt war, tat es ihm nach. Sie waren ein eingespieltes Team, und so bedurfte es zwischen ihnen kaum noch der Worte.
Inzwischen war an der Patientin eine Lokalanästhesie vorgenommen worden. Sie wurde wieder in den Operationssaal gerollt. Aufmunternd nickte der Chefarzt ihr zu, dann streckte er die Hand nach der Pinzette aus. Nach wenigen Minuten hatte er sich davon überzeugt, daß seine Befürchtungen stimmten. Die Nabelschnur war bereits nach vorn gefallen, das Leben des Ungeborenen hing an einem seidenen Faden. Sie mußten sich beeilen! Doch zum Entsetzen der Ärzte reagierte die Patientin mit einem Schmerzenslaut, als sie mit der Pinzette berührt wurde. Vorsichtiger zupfte Dr. Lindau mit der Pinzette an der Haut der Gebärenden, wieder zuckte diese zusammen. Es gab keinen Zweifel, mit der Lumbalanästhesie hatte es nicht geklappt. Unter dem Mundschutz preßten sich die Lippen des Chefarztes aufeinander. Seine Augen verengten sich. »Holen Sie Dr. Reichel«, sagte er, dann beugte er sich wieder über den Operationstisch.
Er mußte rasch eine Entscheidung treffen. Es blieb keine Zeit für lange Überlegungen. Drei Finger breit über der Schambeinfuge war die Patientin noch immer empfindlich. Er konnte so keine Sectio vornehmen. Aus den Augenwinkeln sah er, daß Dr. Reichel herangekommen war.
»Das verstehe ich nicht! Ich habe das örtlich betäubende Mittel durch Lumbalpunktion in den lumbalen Rückenmarksack eingespritzt.«
Kurz hob der Chefarzt den Blick. Es hatte keinen Sinn, weitere Fragen zu stellen. Er mußte handeln.
»Wir müssen eine Vollnarkose machen«, sagte Dr. Hoff.
Der Chefarzt schüttelte den Kopf. »Das ist viel zu gefährlich für das Ungeborene. Es muß eine andere Möglichkeit geben.«
Lisa Burger stöhnte. Die Wehen hatten wieder eingesetzt, aber durch die Querlage bestand nicht die geringste Chance, das Kind herauszupressen. Der Chefarzt zögerte nicht länger. »Novocain«, stieß er hervor. Er hob den Kopf und sah Dr. Reichel an. »Die Haut für den Einschnitt muß mit Novocain betäubt werden. Bitte, Kollege, beeilen Sie sich!«
»Aber…«
Dr. Lindau machte eine abwehrende Handbewegung. »Ich muß es versuchen.« Leiser, nur noch für die Ärzte hörbar, fügte er hinzu: »Es kann sonst zu spät sein.«
Während die örtliche Betäubung vorgenommen wurde, nahm Dr. Lindau der Schwester das Tuch aus der Hand und wischte Frau Burger selbst die Schweißtropfen von der Stirn.
»Gleich ist es soweit. Sie müssen sich entspannen. Bitte, versuchen Sie es! Ich hole jetzt Ihr Kind. Sie können mir helfen, indem Sie versuchen, sich nicht zu verkrampfen.«
Lisa Burger nickte. »Sie schaffen es, Herr Doktor«, flüsterte sie, dann schloß sie die Augen. Es tat gut, seine Hand zu spüren, die ihr das Haar aus der Stirn strich. Gleich würde er ihr helfen. Er würde ihr Baby holen, und es würde ein gesundes Kind sein. Sie vertraute ihm. Zu Hause hatten sie und ihr Mann bereits alles für das Kind vorbereitet. Sie würde eine gute Mutter sein. Sie malte sich das zukünftige Leben zu dritt in den schönsten Farben aus. Darüber vergaß sie ihre Schmerzen.
Inzwischen arbeitete Dr. Lindau zügig. Er brauchte nur die Hand auszustrecken, und schon wurde ihm das gewünschte Instrument hineingelegt. Bald stellte er fest, daß es nicht einfach war, an die Gebärmutter heranzukommen. Der Bauch war voller Verwachsungen, und die Gebärmutter saß fest an der Bauchdecke. Er ließ sich dadurch jedoch nicht irritieren. Sorgfältig setzte er Schnitt um Schnitt. Trotzdem konnte er nicht verhindern, daß Lisa Burger stark zu bluten anfing. Kurz hielt Dr. Lindau inne. Nun mußte er sich von der Schwester den Schweiß von der Stirn tupfen lassen, der sich am Rand der Arzthaube gebildet hatte.
Es war eine schwierige Sectio, und sie dauerte länger als erwartet. Dankbar nickte Dr. Lindau dem Kollegen Hoff zu.
Er war froh, daß dieser ihm assistierte. Und dann war es geschafft, das Kind konnte herausgeholt werden. Ein paar bange Sekunden, dann der erste Schrei. Frau Burger öffnete die Augen, sie lächelte.
*
Dr. Astrid Mertens ging durch die Kinderstation, die sie zusammen mit ihrem Mann leitete. Sie wurde von den Schwestern freundlich gegrüßt und dies nicht nur, weil sie die Tochter des Chefarztes war. Inzwischen wußte jeder, daß sie eine sehr gute Ärztin war und mit Kindern ausgezeichnet umgehen konnte. Sie war bei allen sehr beliebt. Astrid, jung verheiratet, suchte nach ihrem Mann, der Sonntagsdienst hatte. Da sie ihn nicht fand, steckte sie den Kopf in das Zimmer, in dem der kleine Florian lag.
»Tante Doktor«, rief dieser begeistert. »Ich habe gewußt, daß du kommst, auch wenn du es mir nicht versprochen hast.« Er versuchte, sich aufzusetzen.
»Flori, du mußt liegen bleiben«, mahnte die Kinderärztin sofort.
»Wenn du da bist, dann habe ich überhaupt keine Schmerzen«, versicherte der Kleine, aber da war Astrid schon bei ihm und drückte ihn mit sanfter Gewalt ins Kissen zurück. »Wenn du nicht liegen bleibst, dann gehe ich sofort wieder.«
»Und wenn ich liegen bleibe, dann bleibst du?« Die Kinderaugen wurden groß und bittend.
Astrid konnte nicht anders, sie nickte. Gleich darauf schränkte sie aber ein: »Flori, ich kann aber nicht lange bleiben.« Liebevoll strich sie ihm durch das Haar. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich heute keinen Dienst habe.«
»Du meinst, du mußt heute nicht im Krankenhaus sein?« Flori, er hatte erst vorigen Monat seinen fünften Geburtstag gefeiert, lächelte. »Um so toller, daß du da bist!«
Astrid fand es schön, daß er lächelte. Sie wußte aber auch, daß er dies nur in ihrer Gegenwart tat. Die ersten Tage, nachdem er hier eingeliefert worden war, war er völlig teilnahmslos gewesen. Sie zog einen Stuhl dicht an sein Bett heran und setzte sich. »Hast du brav zu Mittag gegessen?« fragte sie.
Florian verzog das Gesicht und antwortete nicht. Astrids Miene wurde besorgt. »Du hast wieder einmal nichts gegessen. Hat es dir denn nicht geschmeckt?«
»Ich hatte keinen Hunger.«
Astrid konnte nicht anders, sie seufzte. Da streckte Florian seine Hand aus und berührte sie. »Bist du nun böse, Tante Doktor?«
»Nicht böse, nur traurig.« Astrid beugte sich über den Kleinen. »Du mußt essen, Flori! Auch wenn dir der Bauch weh tut oder du keinen Hunger hast, dann mußt du dich zum Essen zwingen.«
Florian schob die Unterlippe nach vorn. »Warum?« fragte er.
»Weil man essen muß! Ich habe heute in einem Restaurant gegessen. Weißt du, was ich am liebsten esse?« Astrid begann einfach einige Speisen aufzuzählen. Dann fragte sie: »Was ißt du gern?«
»Eis! Papi hat…« Flori brach ab, er drehte sein Gesicht zur Seite. Astrid tat, als bemerkte sie es nicht.
»Eis gibt es nur zum Nachtisch«, meinte sie bewußt munter. »Eis oder Pudding! Ich mag Eis und ich mag Pudding, eine Entscheidung würde mir schwerfallen.«
»Ich würde das Eis nehmen.« Flori sagte es spontan. »Eis schmeckt wirklich sehr gut, besonders Erdbeereis. Es muß ganz rot sein.«
»Erdbeereis zum Nachtisch!« Astrid tat, als würde sie überlegen. »Soll ich die Schwester fragen, ob sie Erdbeereis hat?«
Florian wandte sich ihr wieder zu. »Gibt es hier auch Erdbeereis?«
»Wenn es welches gibt, dann nur zum Nachtisch.«
Florian betrachtete die Kinderärztin nachdenklich. Schließlich sagte er: »Tante Doktor, du meinst, ich muß zuerst etwas essen?«
»Ja! Zuerst ißt man zu Mittag, dann gibt es Nachtisch.«
»Und der Nachtisch ist dann Eis?« erkundigte Florian sich.
»Ja!« Astrid unterdrückte ein Lächeln.
»Wirklich?« Das Eis fand Flori so verlockend, seine Zungenspitze fuhr über die Unterlippe. Astrid nickte. »Gut«, entschloß sich Florian, »ich glaube, jetzt habe ich ein wenig Hunger. Aber nur ein wenig.«
Astrid zögert nicht. Sie klingelte nach der Schwester und bat diese, Florian noch einmal das Essen zu bringen und anschließend ein Erdbeereis. Die Schwester war verblüfft, hatte sie sich doch kurz zuvor über eine Stunde bemüht gehabt, den Jungen zum Essen zu bewegen. Dann lächelte sie jedoch. Auch sie freute sich, denn sie erkannte, daß Florians Wangen ein wenig Farbe bekommen hatten.
»Ich bin gleich wieder da«, versicherte sie. Es dauerte dann aber doch länger, und Astrid, die an Florians Bett sitzen geblieben war, entging die Unruhe nicht, die plötzlich auf dem Gang herrschte. Schließlich merkte auch Florian, daß die Schwester lange ausblieb. Mit gerunzelter Stirn fragte er:
»Glaubst du, daß sie das Eis nicht findet?«
»Zuerst wird das Mittagessen gegessen«, erinnerte Astrid ihn.
»Ach so, das habe ich schon wieder vergessen.«
Ehe Astrid antworten konnte, erschien die Schwester mit einem Tablett. »Entschuldigung, es hat etwas länger gedauert.« Sie sah die Ärztin an, dann wandte sie sich an den kleinen Patienten. »Ich hoffe, es schmeckt dir trotzdem. Das Eis wird auch bereits zubereitet.«
»Du hast es nicht gleich mitgebracht?« Flori war enttäuscht.
»Bis du das Essen gegessen hättest, wäre es zerronnen.«
Das sah Flori ein. Astrid war ihm behilflich, sich aufzusetzen. »Du kannst das Eis holen gehen, ich fange schon zu essen an«, sagte Florian zu der Schwester und dann ließ er sich wirklich von Astrid füttern. Gehorsam sperrte er den Mund auf und schluckte. Astrid und die Schwester tauschten einen erleichterten Blick.
Es war nur noch ein wenig übrig, als Florian bittend sagte: »Tante Doktor, jetzt kann ich nicht mehr. Sonst kann ich das Eis nicht mehr essen.«
Astrid nickte lächelnd, sie drängte ihn nicht weiter. Gerade als Flori fragen wollte, wo die Schwester mit dem Eis blieb, da brachte diese auch schon ein Schüsselchen mit dem heiß ersehnten Eis, und es war wirklich Erdbeereis.
»Danke«, sagte Florian artig und nun sperrte er seinen Mund doppelt so schnell auf, Astrid kam mit dem Füttern kaum nach.
»War irgend etwas los?« fragte Astrid, als sie der Schwester das leere Schüsselchen reichte. Diese nickte. »Peter«, sagte sie.
Astrid erschrak, aber sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. »Jetzt wird ein Mittagsschläfchen gehalten, Flori«, meinte sie und strich dem Kleinen, der wieder im Kissen lag, liebevoll über das Haar.
»Du gehst wieder weg?« Unruhig flackerten Floris Augen auf.
»Du weißt doch, daß ich nicht die ganze Zeit bei dir sein kann.«
»Ich weiß, ich muß dich mit den vielen anderen kranken Kindern teilen.« Sekundenlang sah es so aus, als würde der Kleine zu weinen beginnen, dann drehte er jedoch nur den Kopf zur Seite. »Danke, daß du da warst. Du bist die liebste Tante Doktor, die es gibt.«
Astrid hatte einen Kloß im Hals. Sie konnte nur hoffen, daß Florian über den Tod seiner Eltern hinwegkam und bei den Verwandten ein neues Zuhause fand. Sie küßte ihn auf die Stirn und versprach: »Bevor ich die Klinik verlasse, sehe ich noch einmal nach dir.«
Auf dem Gang atmete Astrid tief durch, dann fragte sie die Schwester: »Was ist mit Peter?«
»Ihr Mann ist noch bei ihm. Plötzlich stieg das Fieber, und ehe man etwas dagegen unternehmen konnte, erbrach sich das Kind, dann verlor er das Bewußtsein.«
»Ein Rückfall also!« Astrid war bestürzt. »Heute morgen waren wir noch davon überzeugt, daß das Schlimmste überstanden ist. Wir hofften auch, daß es keine Dauerschäden geben wird. Wie konnte es nur zu diesem Rückfall kommen?«
Diese Frage konnte die Schwester nicht beantworten. »Ihr Mann hat alle halbe Stunde nach Peter gesehen. Er war fast fieberfrei, und man konnte mit ihm sprechen. Völlig unerwartet stieg dann das Fieber wieder. Seither bemüht sich Ihr Mann um das Kind.«
»Danke! Ich werde selbst nach Peter sehen.« Astrid begab sich in Richtung Intensivstation, auf der Peter seit seiner Einlieferung lag. Man hatte das Kind keinen Augenblick ohne Bewachung gelassen. Im Vorraum zur Intensivstation wusch sie sich die Hände und zog sich einen anderen weißen Mantel über. Vorsichtig betrat sie dann das Zimmer. Sie blieb an der Tür stehen und beobachtete ihren Mann, der sich um das Kind bemühte. Er hatte ihr Kommen überhaupt nicht bemerkt. Jetzt richtete er sich auf und sagte zu der diensthabenden Schwester: »Ich glaube, wir haben es geschafft, das Fieber fällt wieder. Ich nehme an, daß der Junge die nächsten Stunden schlafen wird. Ich werde aber gegen Abend noch einmal eine genaue Untersuchung vornehmen. Es darf keinen weiteren Fieberanfall mehr geben.« Er richtete sich ganz auf, drehte sich um und sah seine Frau. Er versuchte zu lächeln, aber es wollte ihm nicht so recht gelingen. Zu stark stand er noch unter dem Erlebnis der letzten halben Stunde.
Astrid sah die Erschöpfung auf dem Gesicht ihres Mannes. Sie streckte ihre Hand nach ihm aus. »Komm, ein Kaffee wird dir jetzt sicher guttun.«
Dr. Mertens nickte. »Vor allem, wenn ich ihn in deiner Gesellschaft trinken kann. Schön, daß du da bist. Wie ich hörte, warst du mit deinem Vater essen?«
»Ja, aber ich bin schon seit einiger Zeit zurück. Ich war bei Florian.« Seite an Seite verließ das Ehepaar die Intensivstation. Auf dem Flur streckte der Kinderarzt sich. Noch immer war seine Miene abweisend.
»War es so schlimm?« Astrid legte ihm die Hand auf den Arm. Ihr Mann nickte mit zusammengepreßten Lippen.
»Ich dachte, das Kind stirbt mir unter den Händen. Dabei war ich fast ständig auf der Intensivstation. Ich habe mich mit Peter unterhalten. Der Junge schien überhaupt keine Schmerzen mehr zu haben, und dann plötzlich stieg das Fieber. Den Grund kann ich dir nicht sagen. Vielleicht ließ die Wirkung der Medikamente nach.« Er zuckte die Achseln. In Gedanken ging er die letzte halbe Stunde noch einmal durch. Astrid, die aus eigener Erfahrung wußte, wie wichtig dieses Zurückerinnern war, ließ ihren Mann sprechen.
»Ich war dabei, als die Bewußtseinsstörung eintrat. Ich mußte um das Leben des Jungen kämpfen. Es dauerte lange, bis ich ihn ins Bewußtsein zurückholen konnte. Zuerst war er nicht ansprechbar, dann schlief er ein.«
Da ihr Mann nun schwieg, sagte Astrid: »Das ist gut! Wenn sein Schlaf ruhig bleibt, dann ist es ein gutes Zeichen. Wir werden uns Peter gegen Abend zusammen ansehen. Im Moment können wir nichts anderes tun, als ihn schlafen lassen.«
Alexander Mertens nickte. Er wußte, daß seine Frau recht hatte. Obwohl es zu diesem Rückfall gekommen war, bestand noch Hoffnung, daß es keine Dauerschäden gab. Dies würde man aber erst bei einer gründlichen Untersuchung feststellen können. So setzte er sich ins Ärztezimmer und ließ sich von Astrid einen Kaffee machen. Während er zusah, wie sie die Kaffeemaschine in Gang setzte, dachte er daran, wie die Zeit verging. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er das erste Mal den Fuß in diese Klinik gesetzt hatte.
*
Der Frühling war dem Sommer gewichen, die Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel. Auf dem See herrschte reges Leben, Segelboote und Surfer waren unterwegs. Susanne Brühl nahm das bunte Leben nicht wahr. Sie starrte vor sich hin, wußte nicht mehr weiter. Das Leben hatte für sie keinen Sinn mehr. Nach wochenlangem Warten hatte sie begriffen, daß Ralf Klein nichts anderes gewesen war als ein kleiner Betrüger. Kein Wort von dem, was er ihr erzählt hatte, war wahr gewesen. Er hatte die letzten Monate von ihren Ersparnissen gelebt.
Susanne legte die Hand über ihren Bauch. Deutlich spürte sie die Bewegungen des Ungeborenen. Sie dachte an den Tag, an dem sie das letzte Mal mit Ralf zusammengewesen war. Nach dem Essen im Seerestaurant waren sie hier entlangspaziert. Voller Hoffnung war sie gewesen. Zum ersten Mal hatte Ralf von einer Heirat gesprochen. Natürlich wußte sie jetzt, daß er es nur getan hatte, um sie zu beruhigen. Trotzdem, an diesem Tag war sie zum letzten Mal glücklich gewesen. Sie erinnerte sich daran, Ralf auf den Chefarzt der Klinik am See aufmerksam gemacht zu haben. Sie hatte viel über Dr. Lindau und seine Klinik gelesen gehabt und gehofft, dort ihr Kind zur Welt bringen zu können. Das war nun nicht mehr möglich. Sie würde nirgendwo ihr Kind zur Welt bringen können. Durch die Aufgabe ihres Berufes war sie nicht mehr krankenversichert, und Geld hatte sie auch nicht mehr. Heute morgen hatte sie ihr letztes Geld ausgegeben, sie hatte damit die Miete bezahlt. Daß diese zwei Monate nicht bezahlt worden war, hatte sie nicht einmal gewußt. Ralf hatte diese Wohnung für sie gemietet gehabt und er hatte sie auch bezahlt, bezahlt von ihrem Geld, wie sie jetzt wußte.
Susanne lehnte sich zurück und schloß die Augen. Heiß brannte die Sonne auf ihr Gesicht. Heute früh hatte sie die Wohnung verlassen mit dem Vorsatz, nicht wieder dorthin zurückzukehren. Was sollte sie auch dort? Sie hatte kein Geld mehr und sie hatte auch keine Aussicht, etwas zu verdienen. In vier Wochen sollte ihr Kind kommen, in diesem Zustand würde ihr niemand mehr Arbeit geben. Sie sah keinen Ausweg, sie hatte beschlossen, ihrem Leben ein Ende zu bereiten.
Langsam hob Susanne den Kopf. Ihr Blick fiel auf einen kleinen Jungen, ein sehr hübsches Kind. Von so einem Jungen hatte sie geträumt. Ihr Blick folgte dem Kleinen. Sie schätzte ihn auf höchstens zwei Jahre. Nun wunderte sie sich, daß sich seine Eltern nicht um ihn kümmerten. Sie hielt die Frau und den Mann, die in ihrer Nähe auf einer Bank saßen, die sie erst jetzt wahrnahm, für seine Eltern.
Susannes Augen begannen nun doch zu brennen. So ein süßer Junge, doch er schien traurig zu sein. Wenn es ihr Kind wäre, sie würde es in die Arme nehmen und herzen und küssen. Sie sah, daß das Kind langsam dem Ufer zuging. Wohin wollte es denn? Warum merkte niemand, daß der Kleine wegging? Susanne sah zu der Bank hin. Der Mann sprach auf die Frau ein, dann wurde er zärtlicher, und schließlich küßte er die Frau. Dieser Anblick versetzte Susanne einen Stich in die Herzgegend. Ralf, er hatte so zärtlich sein können! So viele wunderschöne Worte hatte er ihr gesagt. Sie schloß die Augen. Als sie sie wieder öffnete, konnte sie den Kleinen nicht mehr sehen. Sie wandte den Kopf und da sah sie ihn. Er war nur noch wenige Schritte vom Ufer entfernt. Was hatte das Kind nur? Susanne vergaß ihren Kummer. Sie sah nur noch das Kind, dessen Gesichtsausdruck starr war. Und dann bemerkte sie plötzlich, daß ein Zucken durch den kleinen Körper lief. Das Kind bäumte sich auf, nein, es wurde von Krämpfen geschüttelt. Es war ein schrecklicher Anblick. Dieses kleine, hilflose Wesen! Susanne sprang auf, sie eilte zu dem Kind, dessen Mund geöffnet war. Es kam jedoch kein Ton heraus. Sie beugte sich zu dem Kleinen hinunter, da durchfuhr sie ein stechender Schmerz. Neben dem Jungen ging sie in die Knie. Es wurde rot vor ihren Augen, und sie hatte das Gefühl, als würde ein Messer ihr Inneres durchschneiden. Sie war sich dessen nicht bewußt, aber sie schrie.
*
»Was ist da geschehen?« Erschrocken fuhr Andy Seger herum. »Die Frau! Mit der Frau ist doch etwas nicht in Ordnung!« Er ließ die Hand seiner Begleiterin los. Etwas unwillig drehte diese sich um. Sie sonnte sich gern in der Bewunderung dieses jungen Bauernburschen.
»Ich glaube, da ist etwas passiert!« Andy erhob sich.
Seine Begleiterin schob die Unterlippe nach vorn. »Das geht uns doch nichts an!« Sie wollte nach Andys Arm greifen, da fiel ihr jedoch ein, daß sie nicht allein hier war. Erneut drehte sie den Kopf. »Wo ist Patrick?«
»Wir haben Patrick ganz vergessen!« Andy war bestürzt. Er mochte den Zweijährigen, den Angela Wunter beaufsichtigte. »Dort, er ist neben der Frau!« Andy hatte Patrick entdeckt, und nun gab es für ihn kein Halten mehr. Er eilte zum Seeufer.
Susanne Brühl war einer Ohnmacht nahe. Vergebens hatte sie versucht, wieder auf die Beine zu kommen. Immer wieder durchfuhr eine Welle des Schmerzes ihren Körper. Das Gesicht des Kleinen, das dicht vor dem ihren war, verschwamm vor ihren Augen. »Mein Kind«, murmelte sie. Sie spürte das Blut, das ihr an den Beinen herunterrann.
Andy sah auf die Frau hinunter und begriff, daß diese kurz vor der Niederkunft stand.
»Angela, bitte kommen Sie! Wir müssen diese Frau auf dem schnellsten Weg in die Klinik bringen«, rief er. Er war sofort bereit zu handeln. Er beugte sich zu Susanne hinunter. »Sie müssen jetzt sehr tapfer sein«, sagte er. »Halten Sie sich an mir fest. Ich habe in der Nähe mein Auto stehen. Ich fahre Sie zur Klinik. Dort wird man Ihnen helfen.«
Susanne riß die Augen auf. Sie versuchte klar zu denken. Was war nur geschehen? Sie wurde am Arm gefaßt und vorsichtig hochgezogen. »Geht es?« hörte sie die freundliche Stimme fragen.
»Sie können sich ruhig an mir festhalten.«
Susannes Beine waren wie aus Watte, der Boden unter ihr schien zu schwanken. Der Kleine fiel ihr ein. Mühsam hob sie die Hand und zeigte auf ihn.
Angela Wunter war herangekommen, sie war ärgerlich. Der Flirt mit Andy war prickelnd gewesen. Bis über beide Ohren war er in sie verliebt, dieser Bauernjunge. Sie warf nur einen kurzen Blick auf Susanne, dann schlug sie vor: »Gleich in der Nähe ist eine Telefonzelle, rufen Sie einen Krankenwagen.«
Susanne sank wieder in sich zusammen. Die Schmerzen waren unerträglich. Es ging aber nicht um sie, da war dieses kleine Kind. Sie hob den Kopf. »Gehört Ihnen das Kind?« fragte sie gepreßt.
»Das geht Sie wohl nichts an«, meinte Angela. Mit einer arroganten Bewegung warf sie ihren Kopf in den Nacken.
Susanne stöhnte. »Sehen Sie denn nicht, der Kleine! Irgend etwas stimmt nicht mit ihm!«
Erst jetzt wandte Angela sich an Patrick. Sie fuhr das Kind an: »Warum bist du so weit weggelaufen? Ich habe dir doch gesagt, daß du in der Nähe bleiben mußt. Wenn du das noch einmal machst, denn nehme ich dich nicht mehr mit, wenn ich an den See gehe.«
»Das Kind«, sagte Susanne noch einmal. Es war ihr gelungen, sich aufzurichten. Erneut zeigte sie auf den Jungen. Dieser hatte auf Angelas Worte überhaupt nicht reagiert. Seine Gesichtszüge waren starr, steif stand er da. Nun sah auch Andy auf den Kleinen und so bemerkte er, wie der kleine Körper zu zucken begann. Er wand sich in Krämpfen.
»Patrick!« Andy packte den Kleinen an den Schultern. »Patrick, hörst du mich?« Er schüttelte ihn. Starr blieb Patricks Blick auf einen unsichtbaren Punkt gerichtet. »Angela, was ist los mit dem Kind?« fragte Andy sehr erschrocken.
Angela zuckte die Achseln, dann fuhr sie Patrick erneut an: »Was soll der Unsinn? Hör auf damit!« Als Patrick noch immer nicht reagierte, rief sie empört: »Ich werde deinem Papi sagen, daß du ein sehr böser Junge bist.«
»Nicht, Angela!« Andy nahm Patrick, der steif wie ein Brett war, auf den Arm. Im Gegensatz zu Angela begann er liebevoll auf ihn einzusprechen. Er mochte den Kleinen, der der Sohn des Hoteliers Frehner war. In letzter Zeit hatte er Angela, die im Haus des Hoteliers wohnte, oft auf ihren Spaziergängen mit Patrick begleitet. Angela betreute das Kind, da dessen Mutter kurz nach Patricks Geburt durch einen Autounfall ums Leben gekommen war.
»Er ist oft ungezogen und eigensinnig«, klagte Angela, der noch immer nicht klar war, wie ernst die Situation war. »Ich habe es nicht leicht mit ihm.«
»Das Kind ist krank«, stieß Susanne hervor. Das Sprechen fiel ihr schwer, vor ihren Augen tanzten Sterne. Sie stöhnte, versuchte sich auf den Beinen zu halten. »Das Kind gehört zu einem Arzt«, brachte sie unter großer Anstrengung hervor.
»Sie haben recht!« Andy preßte die Lippen aufeinander. Patrick gefiel ihm ganz und gar nicht. Das Kind wurde zwar nicht mehr von Krämpfen geschüttelt, aber es hing nun apathisch in seinen Armen und war hochrot im Gesicht. »Ich bringe das Kind ins Krankenhaus, und Sie nehme ich gleich mit.«
Angela drängte sich zwischen Andy und die Hochschwangere. »Das ist doch nicht nötig! Patrick hat sich wahrscheinlich erkältet. Ich fahre mit ihm nach Hause und stecke ihn ins Bett.« Sie nahm Patrick aus Andys Armen, dann warf sie einen verächtlichen Blick auf Susanne. »Für sie können Sie den Krankenwagen rufen. Ich begreife nicht, warum sie nicht schon längst in der Klinik ist!«
Susanne konnte nicht sprechen, die Schmerzen waren zu groß. Es verschwamm auch bereits wieder alles vor ihren Augen. Wahrscheinlich wäre sie zusammengesackt, hätte der junge Mann nicht nach ihrem Arm gegriffen.
»Kommen Sie! Sie müssen in die Klinik. Versuchen Sie zu gehen.«
Gehorsam setzte Susanne Fuß vor Fuß. Die Stimme der Frau schien von weither zu kommen. Sie schimpfte: »Was soll das? Wenn Patrick wirklich krank ist, dann sollten Sie sich um ihn kümmern. Sie könnten mich nach Hause bringen. Herr Frehner ist sicher nicht da. Ich könnte uns einen Kaffee machen.«
Andy war betroffen. »Angela, merken Sie denn nicht, der Kleine hat hohes Fieber. Es ist wirklich am besten, wenn wir auf dem schnellsten Weg in die Klinik fahren. Zum Glück ist es nicht weit.«
Das war das letzte, was Susanne hörte. Ihre Beine knickten ein, Andy hielt sie jedoch fest. Er hörte nicht mehr auf Angela, die mit gekonntem Augenaufschlag flötete: »Wollen Sie nicht mit mir Kaffee trinken?«
Angela verzog das Gesicht. Sie verstand noch immer nicht. Was ging Andy diese fremde Frau an? Wütend ging sie mit Patrick auf dem Arm hinter ihrem Bekannten her.
Andy wandte kurz den Kopf. »Bitte, helfen Sie mir! Sie müssen das Auto aufschließen. Ich glaube, die Frau ist nicht bei Bewußtsein.«
Da schlug Susanne die Augen auf. »Bitte, lassen Sie mich«, flüsterte sie. »Es hat doch keinen Sinn.«
»In der Klinik wird man Ihnen helfen. Sie brauchen keine Angst zu haben.« Andy ließ sie nicht los, beschwörend sah er Angela an.
»Ich kann nicht in die Klinik«, stammelte Susanne. »Lassen Sie mich hier!«
»Das kommt nicht in Frage. Sie brauchen Hilfe! In der Klinik wird man Ihnen helfen. Dort gibt es sehr gute Ärzte. Angela, bitte, beeilen Sie sich!«
»Ich begreife noch immer nicht, was das soll«, murrte Angela. »Gut, die Frau gehört in die Klinik, aber warum soll ich Patrick dorthin bringen?«
»Merken Sie denn nicht, daß der Kleine hohes Fieber hat?« Andy war viel zu verliebt in die schöne Angela, um ihren wahren Charakter zu erkennen.
»Schon«, gab Angela nun zu. Obwohl sie sich bereits seit einigen Monaten um Patrick kümmerte, verstand sie nicht viel von Kinderpflege oder Erziehung. Ingo Frehner hatte jemanden gesucht, der sich um Patrick kümmerte. Ingo war ein sehr gut aussehender Mann und dazu noch reich. So hatte Angela gehofft, über Patrick an dessen Vater heranzukommen.
Angela murmelte noch etwas Undeutliches, dann war sie Andy behilflich. Ein wenig bekam sie jetzt auch Angst, denn sie hatte Patricks Stirn berührt und festgestellt, daß sie sehr heiß war.
*
Andy Seger fuhr rasch. Er war sich darüber im klaren, daß es auf Minuten ankam. Angela Wunter saß auf dem Beifahrersitz. Sie hielt Patrick in den Armen. Jetzt wandte sie den Kopf nach der Gebärenden. Teilweise empört, teilweise erschrocken rief sie: »Sie blutet! Andy, der Rücksitz ist bereits voller Blut!«
Susanne öffnete die Augen. Vergebens versuchte sie sich aufzurichten, sie hatte keine Kraft mehr. »Lassen Sie mich, ich kann nicht in die Klinik.«
»Sie sollten dankbar sein, daß Herr Seger Sie in die Klinik bringt. Sie können Ihr Kind doch nicht im Park bekommen.« Angela schüttelte den Kopf. »Ich begreife wirklich nicht! Leute gibt es!« Dann legte sie Andy die Hand auf den Arm. »Andy, wir müssen etwas tun! Patrick ist so unruhig.«
»Es ist nicht mehr weit.« Andys Hände umspannten das Lenkrad fester, sein Fuß trat das Gaspedal weiter durch. Dann drückte er auf die Hupe, um so die Vorfahrt zu erzwingen. Er nahm die Hand auch nicht von der Hupe, als er vor der Klinik am See vorfuhr. Er fuhr bis zum Haupteingang. »Nehmen Sie Patrick, ich trage die Frau in die Klinik«, sagte er hastig, dann stellte er den Motor ab und sprang aus dem Auto.
»Patrick macht sich so schwer«, jammerte Angela. Sie beugte sich nach vorn, wollte Andy mit einem Blick für sich einnehmen, doch dieser hatte sich bereits dem Rücksitz zugewandt. »Legen Sie mir die Arme um den Hals«, forderte er Susanne auf.
»Bitte!« Susanne stöhnte. »Ich weiß nicht… ich… mein Kind…«
»Andy, Sie müssen sich beeilen, sonst bekommt sie noch hier ihr Kind.« Nun klang Angelas Stimme hysterisch. Sie hatte noch nie Blut sehen können. »Schnell, machen Sie schnell!« Mit weit aufgerissenen Augen sah sie zu, wie Andy die Frau aus dem Auto hob.
»Angela, kommen Sie! Bitte, schließen Sie nur die Autotüren.«
»Ja, ja… natürlich!« Angela raffte sich auf. Sie drückte Patrick an sich und stieg aus. Nachdem sie Andys Wunsch folgend die Türen zugestoßen hatte, eilte sie hinter ihm her, auf der Treppe überholte sie ihn. Sie eilte in die Halle und kreischte: »Hilfe, wir brauchen Hilfe!«
Dann ging alles sehr schnell. Während man Dr. Mertens verständigte, wurde Susanne auf eine fahrbare Krankentrage gelegt. Wenig später wurde der Chefarzt gesucht. Vergebens klingelte das Telefon auf seinem Schreibtisch.
»Vor wenigen Minuten war der Chef noch hier«, gab die Oberschwester Auskunft, als auch bei ihr telefonisch nachgefragt wurde.
Dr. Lindau stand auf dem Balkon der Klinik. Er wollte nur ein paar Minuten ausruhen. Die Sprechstunde hatte sich endlos hingezogen. Gleich mußte er sich im Ärztezimmer einfinden, der morgige Operationsplan mußte durchgesprochen werden. Er warf noch einen Blick auf die glänzende Seeoberfläche. Gerade als er sich abwandte, piepste die Rufanlage in seiner Tasche. Rasch verließ Dr. Lindau den Balkon und eilte zum nächsten Telefon.
»Ich muß in den Kreißsaal«, rief er der Oberschwester zu, als er ihrer ansichtig wurde. »Die Besprechung muß verschoben werden.«
»Herr Doktor!« Die Oberschwester hatte noch eine Frage, aber der Chefarzt schüttelte den Kopf. »Später, Schwester Erna! Es ist dringend! Eine Patientin scheint zu verbluten.« Er ließ sich auch nicht länger aufhalten. Da die Lifttür gerade vor ihm zuging, eilte er zur Treppe. Niemand sah ihm einen bereits harten Arbeitstag an, als er zwei Stufen auf einmal nehmend nach unten eilte.
»Ich bin froh, daß Sie da sind«, sagte Dr. Bernau, als der Chef den Waschraum betrat. »Die Frau muß schon sehr viel Blut verloren haben. Es scheint sich um eine Placenta preavia zu handeln.«
Dr. Lindau runzelte die Stirn. »Wurde die Frau bereits untersucht?«
»Das war noch nicht möglich. Ihr Kleid war jedoch völlig blutgetränkt. Inzwischen hat man sie ausgezogen und auf den Entbindungstisch gelegt. Ich habe aber veranlaßt, daß man die Blutgruppe der Patientin feststellt. Es wird sicher eine Transfusion nötig sein.«
»So!« Dr. Lindau hörte auf, sich die Hände zu schrubben. Er fragte nicht, woher die Patientin so plötzlich gekommen war. Rasch wechselte er die Kleidung, dann eilte er in den Kreißsaal. Dort bemühte sich bereits Dr. Anja Westphal – sie war die rechte Hand des Chefarztes – um Susanne. Dr. Lindau warf einen Blick in das aschgraue Gesicht Susannes. Er stellte einige knappe Fragen, dann erkundigte er sich nach dem Blutdruck.
»Wo bleibt die Traubenzuckerinfusion? Dr. Bernau, bitte, beeilen Sie sich!«
»Der Blutdruck! Ich kann ihn nicht mehr messen«, stellte die OP-Schwester fest. Ihre Stimme zitterte leicht. Auch allen anderen Anwesenden war klar, daß es wieder einmal um Leben und Tod ging.
Dr. Lindau überzeugte sich davon, daß die Geburt noch nicht begonnen hatte, sondern daß die Patientin einfach blutete. Der Mutterkuchen, der sonst oben an der Innenwand der Gebärmutter saß, blockierte hier den Ausgang, so konnte das Kind nicht ausgestoßen werden. Dr. Lindau konnte nicht sagen, ob bei dieser Patientin die Zeit der Niederkunft schon gekommen war, jedenfalls hatte sich der Gebärmuttermund zu weiten begonnen, und so hatte die Placenta zu bluten angefangen.
»Die Patientin ist bewußtlos geworden«, meldete die OP-Schwester.
Das wunderte Dr. Lindau nicht. Die Blutung hatte noch immer nicht nachgelassen. Es war ein Wettkampf mit der Zeit. »Wir müssen uns beeilen.« Er hob den Kopf und sah, daß die Augen seines Assistenzarztes erschrocken aufgerissen waren. »Ich bekomme die Nadel nicht hinein«, stammelte er, »ich kann die Vene nicht finden.«
Dr. Lindau sagte kein Wort. Er drehte sich nur um, wenige Sekunden später hielt er eine Spritze mit einer großen Plastiknadel in der Hand. »Bitte, prüfen Sie weiter den Blutdruck«, sagte er ruhig.
»Nichts!« murmelte die OP-Schwester.
Dann hatte Dr. Lindau die Vene gefunden. Es waren nur wenige Sekunden vergangen; und die Traubenzuckerinfusion lief. »Der Blutdruck bessert sich«, sagte Schwester Sylvia. Ihr bewundernder Blick suchte das Gesicht des Chefarztes. Sie war sicher, daß sein Eingreifen der Patientin das Leben gerettet hatte.
Wenig später kam eine Schwester mit einer Blutkonserve. Erst als diese Transfusion dann lief und die Patientin zu reagieren begann, atmeten alle Anwesenden auf. Der Tod war zurückgewichen, die Blutung ließ nach. Susannes Gesicht gewann an Farbe, ihre Lider begannen zu zucken.
»Geben Sie im OP Bescheid, wir müssen die Sectio gleich vornehmen«, sagte Dr. Lindau. Er mußte sich in den Waschraum begeben, um die Kleidung zu wechseln und die Hände zu waschen. Das Leben der Mutter hatte er gerettet, nun hoffte er, auch das Baby retten zu können.
Es hatte keiner weiteren Anordnung des Chefarztes bedurft. Dr. Westphal sorgte dafür, daß alles weitere für die Sectio vorbereitet wurde, erst dann säuberte sie sich. Das Team, zu dem inzwischen auch die Hebamme, Grethe Forberg, gestoßen war, hatte rasche Arbeit geleistet. Die Patientin, von der man noch nicht einmal den Namen kannte, lag auf dem Operationstisch, als der Chefarzt den OP betrat. Fünfzehn Minuten lang arbeitete Dr. Lindau mit Dr. Westphal Hand in Hand, dann war das Baby geholt und auch die Placenta entfernt. Das Kind wog nur vier Pfund, aber es lebte.
Susanne schlug die Augen auf. Langsam begann sie zu begreifen, was geschehen war. Sie öffnete den Mund und schloß ihn wieder. »Es ist ein Mädchen«, sagte Dr. Lindau. »Wir müssen es in den Brutkasten geben, aber es wird durchkommen. Sie brauchen sich keine Sorgen machen.«
Susanne blickte in zwei gütige, dunkle Augen. »Sie waren sehr tapfer. Ruhen Sie sich nun aus.«
»Ein Mädchen? Es lebt!« Für Sekunden huschte ein Lächeln über Susannes Gesicht. Sie hatte es geschafft. Dann fiel ihr ein, daß sie kein Recht hatte, hier zu sein. Mühsam begann sie: »Ich… mein Kind…«
»Ruhen Sie sich aus«, sagte der Chefarzt noch einmal. »Um Ihr Kind kümmern wir uns schon. Sie können unbesorgt die Augen zumachen und schlafen.«
Ja, sie wollte schlafen. Vor allem wollte sie nicht mehr denken. Sie war in ihrem Leben noch nie so müde gewesen. Trotzdem öffnete sie noch einmal die Augen und flüsterte: »Danke!«
»Das war in letzter Minute«, stellte Anja Westphal fest, als sie sich im Waschraum reinigte. »Wer ist diese Frau eigentlich? Woher kam sie so plötzlich?«
»Mir wurde nur gesagt, daß es sich um eine Notaufnahme handelt. Mal sehen, vielleicht wartet jemand.« Dr. Lindau lächelte Dr. Westphal zu. Er schätzte sie sehr, kannte er sie doch auch schon sehr lange. Sie hatten die gleiche Universität besucht.
»Soll ich mitkommen?« fragte Anja. Sie war mit ihren vierzig Jahren noch immer eine sehr attraktive Frau.
»Nicht nötig! Ruhe dich etwas aus. Mir wäre es lieb, wenn du bei der Operationsbesprechung für den morgigen Tag dabei wärst.«
Anja nickte. »Sagen wir in einer halben Stunde? Ich gebe dann auch den anderen Ärzten Bescheid.«
»Gut!« Als erster verließ Dr. Lindau den OP. Er sah in den Warteraum, aber da war kein Mensch. So ging er hinunter in die Halle zum Empfang.
Die Aufnahmeschwester konnte nicht sagen, wer die Patientin gebracht hatte, sie wußte nur, daß zur gleichen Zeit auch ein zweijähriger Junge eingeliefert worden war, der ebenfalls in Lebensgefahr schwebte. Der Pförtner – er war der frühere Kastellan des Schlosses — konnte Auskunft geben.
»Andy Seger hat die Frau gebracht«, sagte er. »Ich kenne den jungen Burschen. So wie er sagte, hat er die Frau im Park gefunden. Er ist aber noch hier in der Klinik. Sie kennen doch Herrn Frehner? Ihm gehört das große Hotel am See.« Der Kastellan holte Luft. Endlich konnte er die Neuigkeit loswerden. »Andy hat auch Herrn Frehners Jungen, den kleinen Patrick, in die Klinik gebracht. Es wäre für Herrn Frehner furchtbar, wenn er nun auch noch seinen Sohn verlieren würde.«
Dr. Lindau, der den Hotelier kannte, war bestürzt. »Nun, soweit ist es sicher noch nicht«, sagte er dann. Er wußte, daß der kleine Patrick bei seinem Schwiegersohn und seiner Tochter in den besten Händen war.
*
Angela Wunter hielt es nicht mehr auf der Bank, sie sprang auf. »Das ist unerhört! Warum wird einem nicht gesagt, was los ist? Patrick hat sich nur erkältet, das ist alles. Deswegen braucht man doch nicht so ein Aufsehen zu machen.« Sie sah auf Andy, erwartete, daß er ihr zustimmte.
Andy nagte an seiner Unterlippe. Eigentlich hätte er schon längst zu Hause sein sollen. Er war nur deshalb noch hier, weil er sich Sorgen um Patrick machte. Er mußte einfach wissen, was mit dem Kleinen los war. Nur kurz hatte die Tochter des Chefarztes bei ihnen vorbeigesehen, aber in ihrem Gesicht hatte er lesen können, daß es sehr ernst war. Innerlich betete er: Bitte, laß nicht zu, daß Patrick etwas passiert!
»Andy, was ist los mit Ihnen? So sagen Sie doch auch etwas!« Ärgerlich sah Angela auf den Bauernsohn. In diesem Moment erschien er ihr sehr ungehobelt.
Andy hob den Blick von seinen Händen, die er ineinander verschlungen hatte. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, gestand er. »Ich begreife das auch nicht.« Verzweifelt sah er auf die weißlackierte Tür. »Warum haben wir nicht bemerkt, daß Patrick krank ist? Wir haben nicht auf ihn geachtet, haben ihn herumspringen lassen.«
»Patrick fehlte doch nichts!« Wütend stemmte Angela die Hände in die Seiten. »Er war völlig gesund, war unfolgsam wie stets. Er blieb einfach nicht auf der Bank sitzen. Hätte ich ihn anbinden sollen?«
Andy sah sie verwundert an, aber Angela war noch nicht fertig. Sie war wütend. Dieser Nachmittag war ganz anders verlaufen, als sie ihn sich vorgestellt hatte. So brach die angestaute Aggression jetzt durch. »Es war lächerlich, Patrick gleich in die Klinik zu bringen. Hier machen sie so ein Theater…« Sie mußte Luft holen, da warf Andy verwirrt ein: »Aber Angela, das Kind hatte hohes Fieber.«
»Na und? Was verstehen Sie schon von Kindern? Kinder haben schnell mal Fieber. Wenn es nötig geworden wäre, hätte ich ihn schon ins Bett gesteckt und den Hausarzt gerufen.« Mit einer weit ausholenden Geste wies sie zur Tür. »Ich verstehe das wirklich nicht! Da läßt man uns hier einfach warten! Herr Frehner würde sich das nicht gefallen lassen. Ich werde mich beschweren.«
Andy wußte nicht, was er sagen sollte. Unsicher starrte er die Frau an die er bisher so bewundert hatte.
»Er war völlig gesund«, beharrte Angela aufs neue. »Bis zuletzt ist er herumgesprungen. Sie haben selbst gesehen, ich konnte ihn nicht halten.«
Andy schluckte, dann sagte er jedoch ehrlich: »Er hatte Krämpfe, kein Wort konnte er sagen. Angela, ich habe Angst um ihn. Er ist sicher sehr krank.«
Seinen Worten folgte ein langes Schweigen. Es war nun sehr still im Raum. Im Grunde hatte auch Angela bereits erkannt, daß Patrick schwer krank war. Sie wollte es nur noch nicht wahrhaben. Einige Sekunden stand sie mit zusammengepreßten Lippen da, dann begehrte sie erneut auf.
»Warum sagt uns keiner, was eigentlich los ist? Über eine Stunde sitzen wir nun schon hier. Was glauben diese Ärzte eigentlich? Ich werde jetzt darauf bestehen, daß man mich zu Patrick läßt. Schließlich bin ich für ihn verantwortlich.« Sie warf ihren Kopf in den Nacken und ging auf die Tür zu.
Andy erhob sich. Er hätte Angela gern zurückgehalten. Er ahnte, daß sie einen Fehler machte, wenn sie in diesem Ton auch mit den Ärzten sprach. Er wußte nur nicht, wie er dies verhindern sollte. Angela selbst besann sich jedoch. Sie streckte die Hand nicht nach der Türklinke aus, sondern wandte sich wieder nach ihm um.
»Ich finde es wirklich unerhört! Kaum ein Wort hat man mit uns gesprochen.« Sie befeuchtete sich mit der Zungenspitze die Lippen und fügte etwas ruhiger hinzu: »Was glauben Sie, was mit Patrick gemacht wird?«
Hilflos zuckte Andy die Achseln. Da war wieder die Angst. Der Körper des Kleinen war so steif gewesen.
Die Tür wurde geöffnet, und Angela mußte zur Seite treten. Dr. Astrid Mertens betrat den Raum. Da sie den jungen Bauernsohn persönlich kannte, wandte sie sich an ihn. »Andy«, begann sie, wurde jedoch sofort von Angela unterbrochen: »Ich möchte endlich informiert werden. Schließlich bin ich für das Kind verantwortlich.«
Astrid wandte sich nun der Frau zu. »Sind Sie das? Haben Sie denn nicht gemerkt, daß Patrick sich an einem Stacheldraht geritzt hat? Dies muß bereits vor einigen Tagen passiert sein.«
Unter Astrids kühlem Blick wurde Angela unsicher. »Kann schon sein! Patrick ist ein sehr lebhaftes Kind.«
»Er hat sich verletzt, und die Wunde hat sich entzündet.«
»Und? Patrick stößt sich dauernd irgendwo. Ich kann ihn kaum einen Augenblick aus den Augen lassen.«
»Was ist mit Patrick? Frau Doktor, bitte, sagen Sie es! Er hatte hohes Fieber, nicht wahr?« Ängstlich sah Andy die Kinderärztin an.
»Ja! Ich habe gerade versucht, Herrn Frehner zu verständigen. Patrick schwebt in Lebensgefahr.«
Andy war so erschrocken, daß er keinen Ton herausbrachte. Angela hingegen rief: »Das ist doch nicht wahr! Sie wollen mir doch nur Angst machen. Patrick war frisch und munter, als wir nach dem Mittagessen das Haus verließen.«
»Fräulein…« Es fiel Astrid schwer, ruhig zu bleiben. Sie hatte vor einer Stunde bereits einige Worte mit dieser Frau gewechselt.
»Wunter! Ich sagte Ihnen schon, daß ich die Erzieherin von Patrick bin. Ich ersetze ihm die Mutter. Sie müssen mich also zu ihm lassen.«
»Das ist ausgeschlossen! Haben Sie denn nicht begriffen? Patrick liegt auf der Intensivstation. Seit einer Stunde kämpfen wir um das Leben dieses Kindes.« Astrid atmete tief durch. Sie war erschöpft. »Wir können nur hoffen«, setzte sie leiser hinzu.
»Dann tun Sie doch etwas! Sie sind doch die Ärztin!« kreischte Angela nun hysterisch. »Patrick war völlig gesund. Was haben Sie mit ihm gemacht?«
Astrids Augen verengten sich, sie hatte genug. »Nun hören Sie mir einmal zu. Patrick hat Tetanus, das ist Wundstarrkrampf, und der endet in den meisten Fällen tödlich.«
Angela wich einen Schritt zurück. »Ich glaube es nicht. Das ist nicht möglich!«
»Leider ist es so!«
»Frau Doktor, werden Sie Patrick helfen können?« fragte Andy.
»Ich weiß es nicht! Oft sind uns Ärzten Grenzen gesetzt. Wie ich hörte, hast du veranlaßt, daß Patrick in die Klinik gebracht wurde. Wenn wir ihn durchbringen, dann hat er dir sein Leben zu verdanken.«
»Aber…« Angela schnappte nach Luft. »Ich konnte doch nicht wissen…«
»Hören Sie auf!« fuhr Astrid nun die etwa gleichaltrige Frau an. »Am besten wird es sein, Sie verlassen die Klinik.«
»So können Sie mit mir nicht sprechen. Ich möchte helfen!« Obwohl Angela nun die Knie zitterten, versuchte sie der Ärztin standzuhalten. »Sie können mich nicht verantwortlich machen. Andy war dabei. Patrick sprang wie immer munter herum.«
»Das stimmt«, sagte Andy, aber er senkte dabei den Kopf. Er dachte daran, daß er für kurze Zeit Patrick völlig vergessen gehabt hatte.
»Man hätte besser auf die Wunde achten müssen.«
»Wollen Sie damit sagen…«
»Ich will überhaupt nichts sagen«, schnitt Astrid Angela das Wort ab. »Wir haben festgestellt, daß es durch Wundverschmutzung zu dieser Infektion kam. Jedenfalls können Sie im Moment für das Kind nichts tun.«
»Was ist mit Herrn Frehner?« fragte Angela. Der Gedanke an Patricks Vater beunruhigte sie. Sie wußte, daß Patrick sein ein und alles war.
»Ich konnte Herrn Frehner nicht erreichen, aber man wird ihm ausrichten, daß sein Sohn bei uns in der Klinik ist. Er wird also herkommen.« Astrid wandte sich ab. Sie hatte keine Lust, sich mit dieser Frau länger auseinanderzusetzen.
»Ich bleibe hier!« Angela richtete sich etwas auf. Ihre Stimme gewann an Überzeugung. »Selbstverständlich warte ich hier auf Herrn Frehner. Jemand muß ihm doch sagen, was vorgefallen ist.«
Astrid antwortete nicht, sie verließ einfach nur das Wartezimmer.
*
Angela Wunter ging in der Halle der Klinik auf und ab. Niemand beachtete sie. Sie hätte gern noch einmal mit dieser Ärztin gesprochen, von der Andy ihr erzählt hatte, daß es sich um die Tochter des Chefarztes handelte. Doch die Kinderärztin hatte sich wieder auf die Intensivstation zurückgezogen und war so für sie nicht mehr zu sprechen. Angelas Nervosität stieg von Minute zu Minute. Was sollte sie Ingo sagen? Wahrscheinlich war er schon auf dem Weg hierher. Sie blieb bei der Glaswand stehen, betrachtete ihr Spiegelbild und zupfte sich eine Locke zurecht. Ihre Gedanken überschlugen sich.
Ingo hing sehr an seinem Sohn, deswegen hatte sie sich auch angeboten, sich um Patrick zu kümmern. Sie war mit Patricks Mutter befreundet gewesen. Wie sehr hatte sie ihre Freundin vor drei Jahren beneidet. Gern wäre sie an ihrer Stelle gewesen. Ingo sah nicht nur phantastisch aus, er war auch jemand. Damals hatte sie sich vergebens Hoffnungen gemacht. Ingo hatte sich in ihre Freundin verliebt und diese auch geheiratet. Doch Sylvias Glück hatte nicht lange gedauert. Nun, sie war bereit, an Sylvias Stelle zu treten.
Angela nickte ihrem Spiegelbild unmerklich zu. Ingo würde sie jetzt brauchen. Sie würde an seiner Seite sein und ihn trösten, was immer auch mit Patrick geschehen würde. Wo blieb er nur? Ob sie nicht selbst im Hotel anrufen sollte? Sie sah sich um. Wo befand sich hier das nächste Telefon? Auf keinen Fall wollte sie
Ingos Ankunft übersehen. So ging
sie mit hoch erhobenem Kopf zur Anmeldung. Dort saß eine Krankenschwester, vor der ein Telefon stand.
»Entschuldigen Sie, ich muß unbedingt telefonieren.« Die Schwester sah auf, und Angela setzte ein »Bitte!« hinzu.
»Wenn Sie durch die Glastür gehen, stoßen Sie auf einen öffentlichen Fernsprecher.« Die Schwester sagte es freundlich.
»Ich bezahle Ihnen das Gespräch selbstverständlich.«
»Darum geht es nicht! Von hier aus dürfen keine Privatgespräche geführt werden. Sie müssen wirklich nur durch die Glastür gehen.«
»Dann eben nicht! Ich habe nicht die Absicht, die Halle zu verlassen.« Der Ärger gewann in Angela die Oberhand. Sie starrte die Schwester an und bemerkte daher nicht, daß Ingo Frehner durch den Eingang geeilt kam. Ohne nach links oder nach rechts zu sehen, trat er an die Anmeldung.
»Frehner ist mein Name! Ich werde erwartet. Mein Sohn…«
»Ingo!« Angela fuhr herum. Sie ergriff den Arm des Mannes. »Ich habe auf dich gewartet. Es ist so schrecklich! Sie lassen mich nicht zu Patrick. Ich kann nichts tun.«
»Was ist mit Patrick? Eine Frau Dr. Mertens hat im Hotel angerufen. Ich bin gerade zurückgekommen und habe es erfahren.«
»Ich weiß es nicht genau. Er scheint krank zu sein.« Angela wich Ingos Blick aus.
»Wie ist Patrick überhaupt hierhergekommen?«
»Ich habe ihn hergebracht. Ich wußte mir keinen anderen Rat. Ich erzähle dir alles, es war schrecklich. Mir tut Patrick so leid.«
»Was in aller Welt ist vorgefallen?« Erregt trat Ingo Frehner einen Schritt zurück und schüttelte so Angelas Arm ab.
»Ich habe mit Patrick einen Spaziergang gemacht. Patrick geht gern an den See. Alles war in bester Ordnung. Wir hatten viel Spaß zusammen. Er hat nicht geklagt, hat keine Schmerzen gehabt, und dann plötzlich war er nicht mehr ansprechbar.«
»Wie meinst du das?«
»Komm! Wir gehen in die Kinderabteilung. Dich müssen sie zu Patrick lassen. Die Ärztin wird dir dann sagen, daß es das einzig Richtige war, Patrick sofort in die Klinik zu bringen.«
»Natürlich möchte ich Patrick sehen. Mir wurde ausgerichtet, daß er sehr, sehr krank ist. Heute morgen war er noch gesund.«
»Genau!« sagte Angela rasch. »Daher verstehe ich es auch nicht. Es ging alles so plötzlich.« Sie trat näher an ihn heran, berührte ihn an der Schulter. »Bitte, Ingo, reg dich nicht auf! Es ist sicher nicht so schlimm. Man ist hier wahrscheinlich nur vorsichtig.«
Ingo verstand immer weniger. Man hatte seinen zweijährigen Sohn in eine Klinik eingeliefert, und Angela, die sich seit einiger Zeit um ihn kümmerte, schien nicht zu wissen, warum.
»Man ließ mir ausrichten, daß es dringend sei.« Sein Blick glitt von Angela auf die Schwester in der Anmeldung. »Frehner«, stieß er noch einmal hervor. »Ich möchte zu meinem Sohn. Eine Frau Dr. Martens rief bei mir an. Sie sagte, es sei dringend.«
Ernst nickte die Schwester. »Ihr Sohn befindet sich auf der Intensivstation.«
»Intensivstation?« Ingo wurde blaß. »Heißt das, daß ich nicht zu meinem Sohn darf?«
Die Schwester griff nach dem Telefonhörer. »Ich werde dafür sorgen, daß Frau Dr. Mertens erfährt, daß Sie hier sind. Wenn Sie durch diese Glastür gehen, dann…«
Angela fiel der Schwester ins Wort: »Ich weiß, wo die Kinderabteilung ist. Ich bringe Herrn Frehner hin.« Sie griff nach Ingos Arm. »Mit dir wird die Ärztin sicher sprechen.«
»Hat sie es mit dir nicht getan?« Irritiert folgte der Hotelier Angela.
»Schon! Nur, ich verstehe sie nicht.« Angelas Hand umschloß Ingos Arm fester. »Frau Dr. Mertens ist jedoch eine gute Ärztin. Sie und ihr Mann kümmern sich selbst um Patrick. Du mußt keine Angst haben. Er wird nicht sterben.«
Was sagte Angela da? Ingo erstarrte. »Patrick darf nicht sterben«, flüsterte er.
»Er wird nicht sterben. Ich sagte es doch.« Angela versuchte zu lächeln. »Vor Jahren war das sicher noch anders, aber heute hat man doch Mittel. Mir kann Frau Dr. Mertens nicht weismachen, daß man heutzutage noch an einem Stacheldrahtritzer stirbt.«
»Angela, hatte Patrick einen Unfall?« Vor Ingos geistigem Auge stieg das Bild seiner schwerverletzten Frau auf. Sie hatte den Unfall nur wenige Stunden überlebt.
Angela biß sich auf die Lippen. »Nein! Ich war immer bei ihm, habe ihn keinen Augenblick aus den Augen gelassen. Ich hatte wirklich keine andere Wahl, ich mußte Patrick in die Klinik bringen. Hier ist er gut aufgehoben, hier wird alles für ihn getan.«
Ingos Hände fuhren an die Schläfen. »Ich will zu Patrick. Ich will meinen Sohn sehen.« Er beachtete Angela nicht weiter, begann eilends den Gang entlangzulaufen. »Bitte, wie komme ich zur Intensivstation?« rief er einer entgegenkommenden Schwester zu.
Angela, die empört stehengeblieben war, eilte ihm jetzt wieder nach. »Ingo, ich bringe dich doch hin! Ich kenne mich hier schon aus. Schließlich habe ich bereits eine Stunde vor der Intensivstation gewartet.«
Ingo starrte die Freundin seiner verstorbenen Frau an, als sähe er sie zum ersten Mal. »Du hast vor der Intensivstation gewartet? Warum liegt Patrick auf der Intensivstation? So sag es mir dich endlich! Bitte, sag mir die Wahrheit!« Seine Hände umspannten ihre Schultern. Er war sich dessen nicht bewußt, aber er schüttelte sie.
»Ingo, du tust mir weh«, stammelte Angela.
»Verzeihung!« Sofort ließ der Hotelier sie los.
Angela schob ihre Unterlippe nach vorn. »Ich wollte dir doch nichts verheimlichen. So wie die Kinderärztin sagte, hat Patrick Tetanus. Ich habe noch nie mit dieser Krankheit zu tun gehabt. Es kam alles so plötzlich, du mußt mir glauben, Ingo!«
Ingo sah sie an. Was sollte er ihr glauben? Er verstand sie nicht. Aber das war auch egal. »Mein Sohn hat Wundstarrkrampf?« Blitzartig versuchte er sich zu erinnern, was er über diese Infektionskrankheit gehört hatte. Es fiel ihm nichts ein, da wandte er sich abrupt um und eilte weiter. Als er der Kinderärztin dann gegenüberstand, brachte er im ersten Moment kein Wort heraus.
»Ich habe Sie gebeten herzukommen, weil Ihr Sohn noch immer im Koma liegt.«
Ingo Frehner schüttelte den Kopf. Das verstand er nicht und so fragte er: »Muß Patrick sterben?« Er richtete sich auf. »Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit!«
»Ihr Sohn schwebt noch immer in Lebensgefahr, dies habe ich Frau Wunter bereits gesagt. Ich kann noch nichts anderes sagen, wir können nur hoffen.«
»Wie können Sie Herrn Frehner nur so etwas sagen?« Empört drängte Angela sich zwischen Ingo und die Ärztin. »Sehen Sie denn nicht, wie sehr Herr Frehner sich aufregt? Er liebt seinen Sohn.«
»Angela, bitte!« Ingo schob die Frau, die seit einigen Wochen Mutterstelle an seinem Sohn vertrat, zur Seite. Sein Blick suchte den der Ärztin. »Darf ich meinen Sohn sehen?«
»Herr Frehner, er ist nicht ansprechbar.«
»Bitte, ich möchte nur einen Blick auf ihn werfen.«
»Es ist kein schöner Anblick. Ein Patient, der an Wundstarrkrampf im fortgeschrittenen Stadium leidet, ist kein schöner Anblick«, sagte Astrid ernst. »Die Dauerkrämpfe Ihres Sohnes werden unterbrochen von krampfartigen Zuckungen.«
»Was fällt Ihnen ein!« fuhr Angela die Ärztin erneut an. »Wie können Sie nur! Herr Frehner hat einen arbeitsreichen Tag hinter sich, er ist Unternehmer!«
Astrid kam nicht dazu, etwas zu sagen, denn Ingo beachtete Angelas Einwand überhaupt nicht. »Ich möchte meinen Sohn trotzdem sehen«, sagte er. Er wirkte nun sehr ruhig und beherrscht.
»Dann kommen Sie mit! Sie können aber nur einen Augenblick am Bett Ihres Sohnes verweilen, Sie würden sonst den Ärzten im Weg stehen.«
»Natürlich!« Dankbar folgte Ingo der Ärztin. Angela gab sich damit jedoch nicht zufrieden. Erneut geiferte sie: »Und ich? Ich wollte sofort nach Patrick sehen. Ich komme natürlich mit!«
Astrid blieb stehen. Kühl sah sie Angela an. »Das ist nicht möglich. Für Unbefugte ist der Zutritt in die Intensivstation strengstens verboten. Nur bei den engsten Verwandten machen wir hin und wieder eine Ausnahme. Ich sagte Ihnen bereits, Fräulein Wunter, Sie können nach Hause gehen. Sie können für Patrick nichts mehr tun. Jedenfalls in den nächsten Tagen nicht«, verbesserte Astrid sich.
»Ich denke gar nicht daran, ohne Herrn Frehner die Klinik zu verlassen. Ich wohne bei Herrn Frehner und ich werde mich jetzt selbstverständlich um ihn kümmern.«
Wieder beachtete Ingo Angela überhaupt nicht. Es geschah nicht aus Unhöflichkeit, sie bedeutete ihm nichts. Seine Gedanken galten nur noch seinem Sohn. »Bitte, bringen Sie mich zu ihm«, bat er erneut.
*
Sechs Ärzte der Klinik am See saßen um den Tisch, unter ihnen der Chefarzt. Noch war der Blick des Chefarztes auf seine Aufzeichnungen gerichtet. Jetzt hob er den Kopf. »Noch irgendwelche Fragen?« Sein Blick ging in die Runde. Er begegnete Kopfschütteln. Über eine Stunde saßen sie nun schon zusammen, sie hatten nicht nur den morgigen Operationsplan durchgesprochen, sondern sich auch noch über einzelne Fälle eingehend unterhalten. Dr. Lindau legte großen Wert auf die Meinung seiner Mitarbeiter.
»Dann danke ich Ihnen. Ich weiß, einige von Ihnen haben bereits Feierabend.« Ein kleines, müdes Lächeln huschte um seine Mundwinkel, sein Blick blieb an Dr. Anja Westphal hängen.
»Auch du bist seit dem frühen Morgen in der Klinik«, sagte diese sofort. »So wie ich weiß, hattest du kaum eine Pause.«
»Es war einiges los, das stimmt!« Der Chefarzt faltete seine Aufzeichnungen zusammen.
»Genau«, warf Dr. Martin Hoff ein. »Da war zum Beispiel diese Frau. Inzwischen habe ich erfahren, daß Andy Seger sie in die Klinik gebracht hat. Es ist fast ein Wunder, daß sie uns nicht unter den Händen verblutet ist.«
Anja, die rechte Hand des Chefarztes, nickte bestätigend, dann gab sie Auskunft: »Ich habe vorhin kurz nach ihr gesehen, sie schläft. Auch ihrem Kind geht es gut.«
»Ich denke, man kann sagen, daß sie ihr Leben Andy Seger zu verdanken hat. Wenn sie nur fünf Minuten später eingeliefert worden wäre…«
Unwillig unterbrach der Chefarzt: »Wir wollen keine Thesen aufstellen. Das Baby wird nicht allzulange im Brutkasten bleiben müssen.«
»Weiß man noch immer nicht, wer die Frau ist? Ich habe sie jedenfalls noch nie in der Klinik gesehen.« Dr. Hoff rückte seinen Stuhl etwas zurück.
»Meine Patientin war sie nicht«, sagte der Chefarzt.
»Ich habe mich etwas umgehört«, meinte Dr. Westphal. Sie lächelte verlegen. »Ihr könnt es weibliche Neugierde nennen, aber mich würde schon interessieren, wer sie ist. Wir haben keine Handtasche bei ihr gefunden. Sie war allein, niemand scheint sie zu vermissen.«
»Woher wissen Sie das?« Dr. Hoff, der dem Chefarzt bei der Sectio assistiert hatte, hatte sich auch bereits Gedanken über die Frau gemacht.
»Ich habe bei der Polizei nachgefragt.«
»Wie?« Irritiert beugte sich Dr. Lindau nach vorn. »War das nötig?«
Die Frauenärztin nickte. »Es könnte doch sein, daß diese Frau bereits vermißt wird. Es gibt schließlich doch auch einen Vater.«
»Entschuldige«, sagte Dr. Lindau, »Daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht. Ich habe nur gehandelt, habe das Kind geholt.« Seine Stirn runzelte sich.
»Schon eigenartig«, gab er zu. »Die Patientin hat nach niemandem gefragt.«
»Als sie von Andy Seger gebracht wurde, hatte sie große Schmerzen. Zwischendurch wurde sie ohnmächtig«, warf nun Dr. Bernau ein, der die Einlieferung überwacht hatte.
Dr. Anja Westphal beugte sich etwas über den Tisch. »Und sie hat nichts gesagt? Ich meine, man sehnt sich doch nach dem Mann, dessen Kind man unter dem Herzen trägt.«
Dr. Hoff, der sich bereits erheben wollte, setzte sich wieder bequem hin und schlug die Beine übereinander. »Sie hatte Angst«, stellte er gelassen fest.
»Jedenfalls wollte sie nicht sprechen«, stimmte Dr. Westphal zu. »Im übrigen wollte sie auch nicht in die Klinik gebracht werden.«
»Ich kann euch sagen, was mit dieser Frau los ist«, sagte Dr. Bernau. »Sie hat keinen Vater für ihr Kind. Ein sehr hübsches Mädchen, und es wurde von ihrem Freund verlassen. Sie ist genau der Typ, der sich jetzt schämt.«
»Hört, hört!« spottete Dr. Hoff. »Da spricht unser Frauenkenner!«
Dr. Bernau wurde rot. Er war unverheiratet und der Weiblichkeit wirklich sehr zugetan. Er hatte auch nichts dagegen, wenn man ihn im Kollegenkreis den Playboy nannte, nur mußte dies nicht unbedingt in Anwesenheit des Chefs geschehen. »Mir ist aufgefallen, daß sie keinen Ehering trägt«, verteidigte er sich.
»Darauf achtet natürlich ein glücklich verheirateter Ehemann wie ich nicht.« Dr. Hoff lächelte.
Der Chefarzt hatte sich entspannt zurückgelehnt. Leicht amüsiert lauschte er der Flachserei, die nun einsetzte. Die Ärzte in seinem Team verstanden sich gut. Schließlich mischte er sich ein: »Ich werde mich um unsere namenlose Patientin kümmern und einmal nachsehen, ob sie wach ist.«
»Ich komme mit!« Anja Westphal sagte es entschieden.
»Wenn du meinst, daß sie zu dir mehr Vertrauen hat. Ich habe auch nicht die Absicht, den Beichtvater zu spielen. Ich möchte nur keine Schwierigkeiten bekommen. Wir haben der Frau geholfen, sie liegt in unserer Klinik. Wir müssen eine Karteikarte anlegen.«
Anja sah auf ihre Armbanduhr. »Ich habe noch etwas Zeit. Falls die Frau munter ist, kann ich mich mit ihr unterhalten.«
»Ich begleite dich auf die Station. Ich möchte mich davon überzeugen, daß es unserer unbekannten Patientin gutgeht.«
»Das habe ich mir schon gedacht.« Anja lächelte. Sie kannte Hendrik Lindau gut und bewunderte ihn.
»Nein, nein«, wehrte der Chefarzt ab. »Ich bin froh, wenn du dich mit der jungen Mutter unterhältst. Falls Dr. Bernau recht hat, und sie wurde von ihrem Freund verlassen, wird sie Zuspruch nötig haben.« Er öffnete für die Frauenärztin die Tür, dann fuhr er sich mit beiden Händen durch das Haar. »Ich habe auch noch eine unangenehme Aufgabe vor mir. Ich kenne Ingo Frehner gut, und nachdem sein zweijähriger Sohn bei uns liegt, werde ich mich darum kümmern müssen. Ich hoffe nur, daß meine Tochter genausoviel Erfolg mit der Behandlung hat, wie wir bei unserer Patientin.«
»Du hast also noch immer keinen Feierabend«, stellte Anja mit einem Lächeln fest. Bei sich dachte sie: Es ist gut, daß er nicht verheiratet ist.
»Mal sehen!« Jetzt rieb sich der Chefarzt die Hände. »Ich hatte eigentlich vor, mich mit einem guten Buch früh ins Bett zu legen. Zuerst aber will ich nach dem Neugeborenen und seiner Mutter sehen.«
Dem Baby ging es den Umständen entsprechend gut, davon konnte der Chefarzt sich leicht überzeugen. So hielt er sich dort nicht lange auf, sondern ging in Begleitung der Frauenärztin weiter. Ehe sie das Zimmer betraten, wandte er sich an die Oberschwester.
»Wie geht es der…« Kopfschüttelnd brach Dr. Lindau ab. Es war wirklich nötig, daß man den Namen der neuen Patientin erfuhr.
Die Oberschwester wußte jedoch sofort Bescheid. »Gut, so wie ich feststellen konnte.«
»War die Frau munter, ich meine, schläft sie nicht mehr?« fragte Anja.
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Aber sie muß doch sehr erschöpft sein«, wunderte sich die Ärztin. »Hat sie etwas zu essen und zu trinken bekommen?«
»Sie wollte nichts. Jedenfalls hat sie auf unsere Fragen stets den Kopf geschüttelt.« Die Oberschwester sah von der Ärztin zum Chefarzt. Nachdenklich meinte sie: »Sie hat überhaupt noch kein Wort gesprochen.«
Dr. Westphal tauschte mit dem Chefarzt einen Blick. »Ist es nicht besser, wir lassen die Frau für heute in Ruhe?« fragte sie. »Wenn sie jemanden zu sehen wünschen würde, hätte sie es gesagt. Die Polizei ist auch informiert«, überlegte sie weiter.
»Gut! Ich möchte nur rasch einen Blick ins Zimmer werfen.«
»Einverstanden! Wenn sie nicht schläft und sprechen möchte, dann bleibe ich, und du siehst nach deiner Tochter.«
»Astrid kommt ohne meine Hilfe zurecht«, brummte der Chefarzt.
»Natürlich!« Die Frauenärztin lächelte. »Du hast ja auch einen sehr guten Kinderarzt zum Schwiegersohn.«
Wenig später öffnete sie vorsichtig die Zimmertür, hinter der Susanne Brühl lag. Dr. Lindau hatte ihr den Vortritt gelassen. So sah sie, daß die Patientin blitzschnell den Kopf zur Seite drehte. Als sie näher trat, waren die Augen der Patientin geschlossen.
»Ich glaube, sie schläft«, sagte Dr. Westphal. Dr. Lindau war da nicht so sicher, aber er sagte nichts. Er stimmte zu, als die Frauenärztin laut sagte: »Ich werde der Oberschwester sagen, daß man der Patientin Tee und etwas zu essen ans Bett stellen soll. Falls sie aufwacht und Hunger hat, kann sie sich selbst bedienen. Und sonst kann sie jederzeit läuten. Die Klingel hängt ja dicht über dem Bett.« Sie sah noch einmal zu der jungen Mutter hin und hatte das Gefühl, daß diese über ihre Entscheidung froh war.
*
Angela Wunter ließ keinen Blick von Ingo. Sie spürte die Mauer, die er um sich herum aufgebaut hatte. Sie existierte für ihn nicht. Er schien überhaupt nichts wahrzunehmen. Seitdem er aus der Intensivstation gekommen war, hatte er sich nicht gerührt. Er lehnte an der Wand und starrte vor sich hin. Einige Male hatte sie bereits versucht, mit ihm zu sprechen, sie hatte jedoch keinen Erfolg gehabt. Ungeduldig begann sie mit dem Fuß zu wippen. Sie hatte nicht die Absicht, auch noch den ganzen Abend in der Klinik zu verbringen.
»Ingo, bitte!« Es kam keine Reaktion. Sie räusperte sich, unterdrückte einen Seufzer. Wieder vergingen Minuten. Angela erschienen sie endlos, dabei hatte Ingo sich nicht einmal gerührt. Da hielt sie es nicht mehr aus, sie sprang auf.
»Ingo, ich will dir helfen! Laß uns nach Hause gehen. Wir können hier für Patrick nichts zu. Die Ärztin hat es selbst gesagt.« Sie stand nun dicht vor ihm. Er sah sie an, aber sein Blick ging durch sie hindurch.
»Du kannst gehen.«
»Ich gehe doch nicht ohne dich!«
»Ich bleibe hier!« Ingo hob die Hand und zeigte auf die Tür zur Intensivstation. »Ich gehe erst, wenn ich weiß… Mein Sohn, noch lebt er.« Sein Arm sank herunter.
»Man kümmert sich hier um ihn. Die Tochter des Chefarztes und ihr Mann sind bei Patrick. Du kannst wirklich nach Hause gehen.« Sie legte die Hand gegen seine Brust. »Sobald sich Patricks Zustand ändert, wird man dir Bescheid geben. Hier zu warten hat doch keinen Sinn.«
Seine Augen weiteten sich, ihre Worte hatten ihn erreicht. »Ich soll nach Hause gehen, während Dr. Mertens und seine Frau um das Leben meines Sohnes kämpfen? Das kann doch nicht dein Ernst sein!«
»Aber du kannst hier nichts tun.« Angela wurde unsicher.
»Ich bleibe hier! Die ganze Nacht, den morgigen Tag, ich rühre mich nicht vom Fleck, bis Patrick… bis Patrick… Er darf nicht sterben!« Ingo ballte die Fäuste.
»Natürlich nicht! Du darfst nicht immer daran denken.«
»Was soll ich denn sonst tun? Begreifst du denn nicht? Mein Patrick, mein kleiner Patrick, er liegt da drin! Sein kleiner Körper wird von Krämpfen geschüttelt.«
»Du hättest nicht hineingehen sollen. Die Ärztin hat dich gewarnt.«
Ingo starrte sie an. »Es handelt sich um meinen Sohn, um Patrick!« Jedes Wort hatte er laut und deutlich ausgesprochen.
»Ich weiß! Ich mag deinen Sohn sehr. Ich habe mich ja in den letzten Wochen um ihn gekümmert.«
»Gekümmert?« wiederholte Ingo. In seinem Kopf machte es plötzlich klick.
»Ja, das habe ich!« Irgend etwas in seiner Stimme hatte sie gereizt. »Ich bin nur noch für deinen Sohn da gewesen. Morgens, mittags, abends und sogar in der Nacht. Ich habe kein Privatleben mehr gehabt.« Sie besann sich.
»Ich habe es gern getan. Er ist mir sehr ans Herz gewachsen. Daher leide ich genauso wie du.«
Ingo hatte das Gefühl, diese Frau zum ersten Mal zu sehen, dabei kannte er sie schon lange. Er hatte jedoch nie über sie nachgedacht. Sie war Sylvias Freundin gewesen. Er hatte ihr seinen Sohn anvertraut. Langsam begriff er, daß dies ein Fehler gewesen war.
»Ich würde Patrick so gern helfen«, plapperte Angela weiter. »Ich bin nur keine Ärztin. Was ich habe tun können, das habe ich getan. Ich brachte Patrick hierher.«
»Patrick hat Wundstarrkrampf«, sagte Ingo. Er ging an Angela vorbei und setzte sich auf die Bank. Er sah auf seine Hände und begann über die Erkrankung seines Sohnes nachzudenken. In seine Gedanken hinein klangen Männerschritte. Andy Seger kam eilenden Schrittes heran.
»Ich habe in der Klinik angerufen und erfahren, daß Sie noch immer hier sind. Patricks Zustand hat sich also noch immer nicht gebessert? Ich mache mir solche Vorwürfe.« Er sprach nur zu Angela, den Hotelier hatte er noch nicht gesehen.
»Andy, wir haben getan, was wir konnten. Es ging doch alles so schnell. Patrick war gesund und plötzlich…«
»Wir haben nicht auf ihn geachtet.«
Ingo sprang auf. »Wer sind Sie? Wovon sprechen Sie?«
Andy fuhr herum. »Entschuldigen Sie, Herr Frehner, ich habe Sie nicht gesehen.«
»Sind Sie nicht der Sohn vom Seger Anton?«
»Freilich, der bin ich! Es tut mir ja so schrecklich leid. Ich habe wirklich nichts gemerkt. Wenn diese Frau nicht gewesen wäre…«
Angela hatte den Einundzwanzigjährigen am Arm gepackt, sie wollte ihn am Weiterreden hindern, doch Andy begriff es nicht. Er wollte Angela nur helfen. »Auch mir ist an Patrick nichts aufgefallen. Vielleicht war er etwas stiller als sonst. Ich gebe zu, ich habe darauf nicht geachtet.«
»Moment!« Mit gerunzelter Stirn versuchte Ingo zu verstehen. »Sie kennen meinen Sohn? Sie kennen Angela?«
»Ja! Sehr gut!« Andy, der bis über beide Ohren in die schöne Angela verliebt war, errötete.
»Ich bin mit Patrick oft am See und da habe ich Herrn Seger kennengelernt«, sagte Angela rasch. Sie sah den jungen Mann beschwörend an, doch dieser bemerkte es nicht.
»Patrick ist ein so lieber Junge. In den letzten Tagen habe ich mir mittags immer freigenommen und dafür abends länger gearbeitet. So konnte ich mit Angela und Patrick zusammen sein.«
»Sie waren mit Patrick und Angela zusammen? Das wußte ich nicht!« Ingos Gedanken überschlugen sich. Erst kürzlich hatte Angela geklagt, daß sie sich sehr einsam fühle, da sie hier niemand kenne.
»Sie waren jeden Tag mit Angela und Patrick zusammen?«
»Fast jeden Tag«, sagte Andy eifrig. »Immer ging es nicht, ich muß ja Vater auf dem Hof helfen. Aber wir haben zusammen Ausflüge in die Umgebung gemacht, sind baden gegangen oder waren mit Patrick auf dem Spielplatz. Patrick kannte mich schon. Wir hatten viel Spaß zusammen, nur heute…« Ein Schatten legte sich auf das Gesicht des jungen Burschen. Er preßte die Lippen aufeinander.
»Was war heute?« Scharf fragte es Ingo.
Andy zuckte zusammen. »Ich weiß nicht! Ich wollte Angela einladen, am Samstag ist Tanz im Grünen Baum…«
»Andy, nun hören Sie doch auf!« Heftig zerrte Angela an Andys Arm. »Das interessiert Herrn Frehner doch nicht.« Sie wandte sich Ingo zu, wollte etwas sagen, doch sein kalter Blick ließ sie schweigen.
»Was du mit diesem jungen Mann hier machst, interessiert mich wirklich nicht. Was hast du aber mit Patrick gemacht? Ihn habe ich dir anvertraut! Du hast mir versprochen, auf ihn aufzupassen. Du weißt, daß er mein ein und alles ist.«
Andy fühlte sich verpflichtet, seiner angebeteten Dame zu helfen. Unbewußt stellte er sich in Positur. »Patrick hat gespielt. Wir haben ganz in der Nähe auf einer Bank gesessen. Man hat überhaupt nicht gemerkt, daß diese schreckliche Krankheit schon in ihm steckte. Plötzlich hat er zu zittern angefangen. Da wollte Angela nach Hause, wollte ihn ins Bett stecken. Sie dachte, daß er sich erkältet hat. Kleine Kinder erkälten sich doch leicht einmal.«
»So! Ich dachte, du hast dafür gesorgt, daß Patrick in die Klinik kam?« Ingo sah Angela an.
Angela verteidigte sich, ohne nachzudenken. »Ich wollte den Hausarzt rufen. Ich konnte doch nicht wissen, daß Patrick Tetanus hat.«
»Er hat sich an einem Stacheldraht geritzt, die Wunde hat sich entzündet. Du hast es nicht bemerkt.« Ingos Arme sanken herab. Er schüttelte den Kopf.
»Du willst also mir die Schuld geben?« Angelas Stimme gewann an Lautstärke. »Mir, die ich in den letzten Wochen nur für dein Kind gelebt habe? Was ich heute durchgemacht habe, danach fragst du gar nicht! Wie immer lief Patrick weg. Er kann ja keine fünf Minuten ruhig sitzen. Und dann war da auch noch diese Frau. Sie blutete, brach neben Patrick zusammen. Patrick jedoch war nicht ansprechbar. Es war schrecklich!«
Auf diese Art und Weise erfuhr Ingo Frehner zum ersten Mal von der jungen Frau. Andy war es, der ihm einen zusammenhängenden Bericht lieferte. Einige Zeit sagte Ingo nichts, dann wandte er sich an Angela: »Ich finde, es ist wirklich besser, wenn du nach Hause gehst.«
Angela sah ihn verständnislos an. »Ich vertrete doch Mutterstelle an Patrick. Ich bleibe hier, genauso wie du.«
»Nein! Bitte, Angela, ich möchte jetzt nicht darüber diskutieren.« Ingo fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Andy«, sagte er dann, »würden Sie so gut sein und Angela zu meinem Haus bringen? Sie wird hier nicht gebraucht.«
»Ja, natürlich, selbstverständlich, Herr Frehner! Mein Auto steht auf dem Parkplatz draußen. Ich mache das sehr gern.« Im guten Glauben, helfen zu können, begann er auf Angela einzusprechen: »Kommen Sie, Angela! Herr Frehner hat recht, Sie können hier nichts tun.«
Angela mußte sich beherrschen, am liebsten hätte sie Andy angeschrien. Schließlich sah sie jedoch ein, daß es keinen Sinn hatte zu bleiben. Also ging sie mit.
*
Ingo Frehner hatte sich wieder auf die Bank gesetzt. Angela hatte er
bereits aus seinem Gedächtnis gestrichen. Er dachte nur an Patrick. Er hatte nie viel Zeit für seinen Sohn gehabt. Wie sehr bereute er dies jetzt. Er hatte sich hinter seiner Arbeit versteckt, hatte dieses für wichtig gehalten. Um nicht laut aufzustöhnen, verbarg er sein Gesicht zwischen den Händen. So traf ihn Dr. Lindau an. Herr Frehner hatte sein Kommen nicht gehört. Er stand bereits einige Zeit vor dem verzweifelten Mann, ehe dieser den Kopf hob.
»Herr Doktor!« Ingo sprang auf. Er nahm die Hand des ihm gut bekannten Chefarztes und schüttelte sie. »Wie schön, daß Sie da sind! Sie werden meinem Sohn helfen.«
Ernst schüttelte Dr. Lindau den Kopf. »Ich wollte, ich könnte es! Ich selbst habe noch nie einen lebenden Tetanusfall gehabt. Noch besteht jedoch Hoffnung. Im Gegensatz zu Krebs ist der Starrkrampf nicht unbesiegbar. Sie können sicher sein, daß hier bereits alles getan wird. Die nächsten Stunden, nein, Tage wird man Ihr Kind keine Sekunde aus den Augen lassen.«
»So lange?«
Der Chefarzt nickte. »Der Zustand Ihres Kindes kann tagelang unverändert sein, das heißt für Sie aber, daß noch Hoffnung besteht.«
»Sie meinen, ich kann nichts tun als warten, warten und nochmals warten?« fragte Ingo verzweifelt. Seine Füße versagten ihm den Dienst, er ließ sich wieder auf die Bank fallen.
»Sie können hoffen!«
»Hoffen«, wiederholte Ingo bitter. »Sie haben recht! Als meine Frau den Unfall hatte, ging alles so schnell. Bereits eine Stunde später wußte ich, daß es keine Hoffnung mehr gab.«
Dr. Lindau sah auf den Mann, der sein Gesicht abgewandt hatte. Das Schicksal war hart mit ihm umgesprungen. Er räusperte sich. »Ich sehe jetzt nach Ihrem Jungen, dann unterhalten wir uns weiter.«
Ingo antwortete nicht, und so verschwand der Chefarzt in der Intensivstation. Dort wurde er bereits von seiner Tochter und seinem Schwiegersohn erwartet, denn er hatte sich telefonisch angemeldet gehabt.
»Ich hoffe, das Richtige getan zu haben«, sagte Dr. Mertens. »Es ist ein Wunder, daß das Kind noch lebt.«
Astrid trat an die Seite ihres Mannes. »Hör auf zu grübeln. Wenn du nicht Toxin gegeben hättest, wäre Patrick schon tot.«
»Nun ist die Frage, ob er das Toxin überlebt oder das Toxin ihn.«
Dr. Lindau bemerkte im Gesicht seines Schwiegersohnes zwei tiefe Falten, die er bisher noch nie wahrgenommen hatte. Er legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich kann gut verstehen, wie dir zumute ist. Es ist nicht einfach, erkennen zu müssen, daß uns Grenzen gesetzt sind. Ihr werdet weiter um das Leben dieses Kindes kämpfen, aber die Entscheidung über Leben und Tod trifft am Ende ein anderer.«
Erstaunt sah Astrid ihren Vater an. So hatte sie ihn noch nie sprechen gehört.
»Ich möchte nicht, daß ihr euch Vorwürfe macht.« Sehr ernst blickten die Augen des erfahrenen Arztes von der Tochter auf den Schwiegersohn. »Ich selbst habe vor Jahren einmal an mir gezweifelt. Ich konnte nicht helfen. Eine Patientin starb mir unter den Händen. Damals war ich nahe daran, meinen Beruf aufzugeben. Im übrigen konnte ich auch Astrids Mutter nicht helfen.«
Dr. Mertens Schultern strafften sich. »Dein Vater hat recht. Wir werden unseren Kampf fortsetzen, und noch können wir gewinnen. Es kann Tage dauern, bis eine Änderung in Patricks Zustand eintritt. Bei Wundstarrkrampf geht es um Leben und Tod, für uns ist jedoch wichtig, daß bei einer Genesung keine Hirnschäden oder dergleichen zurückbleiben.«
»Ich habe noch keinen mit Wundstarrkrampf infizierten Patienten gesehen«, gestand Astrid.
»Ich kenne Tetanus nur aus Lehrbüchern.«
»Ein Tetanusfall kommt auch heutzutage so gut wie nicht mehr vor«, entgegnete ihr Vater. »Wunden werden sofort desinfiziert. Man sucht einen Arzt auf. Oder aber man erkennt den Wundstarrkrampf erst, wenn der Verletzte tot ist.«
»So weit ist es zum Glück noch nicht!« Astrid strich sich das Haar zurück. »Alexander und ich werden uns an Patricks Bett abwechseln. Da ich heute keinen Dienst hatte, werde ich die Nachtschicht übernehmen.«
»Ich bleibe selbstverständlich auch in der Klinik.«
»Du mußt dich etwas ausruhen.« Besorgt sah Astrid ihren Mann an.
»Ich lege mich dann schon für ein oder zwei Stunden hin. Entschuldige mich, bitte, Papa! Ich sehe wieder nach Patrick.«
»Kann ich euch helfen?«
»Danke, Papa, aber wir haben bereits einen Sitzwachplan entwickelt. Auch andere Ärzte haben sich bereit erklärt, Sonderdienst zu machen. Wie du weißt, kann es Tage dauern.«
Dr. Lindau nickte, dann fiel Ihm der Hotelier ein. »Weiß das Herr Frehner auch?«
»Ist er etwa noch hier? Ich habe ihn gebeten, nach Hause zu gehen.« Astrid zuckte die Achseln. »Da werde ich noch einmal mit ihm reden müssen. Es hat keinen Sinn, wenn er die Nacht hier verbringt. Er kann nichts für Patrick tun.«
»Laß nur, Kind! Ich werde mit ihm sprechen.« Eigentlich hatte er Astrid von der jungen Mutter erzählen wollen, aber er merkte selbst, daß jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dazu war. Daher sagte er noch einmal mit Überzeugung: »Ich werde mich um Herrn Frehner kümmern.« Er nickte seiner Tochter aufmunternd zu, sein Schwiegersohn war bereits wieder an Patricks Bett geeilt.
»Wie geht es Patrick?« Ingo Frehner sprang auf, als Dr. Lindau aus der Intensivstation kam. Seine Augen hingen am Gesicht des Chefarztes.
»Ich habe ihn nicht gesehen«, sagte Dr. Lindau ehrlich. »Ich habe aber mit meiner Tochter und meinem Schwiegersohn gesprochen. Sie müssen Geduld haben. Die Krankheit ist erst vor wenigen Stunden ausgebrochen. Wir sind nicht einmal sicher, ob sie bereits den Höhepunkt erreicht hat. Es wird Tage dauern, bis wir etwas anderes sagen können. Inzwischen wird Ihr Sohn intravenös ernährt.«
»Was soll ich inzwischen tun?«
»Nach Hause gehen! Es hat keinen Sinn, wenn Sie hier sitzen bleiben.«
»Sie wollen mich wegschicken? Das können Sie nicht!« Ingo nahm wieder auf der Bank Platz. Sein Gesicht war starr.
»Niemand will Sie wegschicken. Ich appelliere nur an Ihre Vernunft.« Dr. Lindau setzte sich neben den Hotelier. »Sie können nichts ändern. Auch ich kann nichts tun. Ich habe mich davon überzeugt, daß für Ihren Sohn bereits alles getan wird.«
»Das glaube ich! Nur, was soll ich zu Hause?«
»Sie müssen sich beschäftigen, sonst stehen Sie diese Tage nicht durch. Es kann länger dauern, und Sie können nicht tagelang hier sitzen.« Da der Hotelier nichts sagte, verbesserte Dr. Lindau sich: »Natürlich können Sie es, nur hätte es keinen Sinn. Sie müssen versuchen, nicht ununterbrochen an Patrick zu denken.«
»Ich versuche nur zu begreifen.« Ingo sah den Chefarzt nicht an, er verschlang die Hände ineinander. »Tetanus! Mein Sohn hat eine Wunde gehabt und diese hat sich entzündet.« Abrupt wandte er den Kopf, jetzt suchte er den Blick des Chefarztes. »Können Sie mir erklären, wie dies möglich war?«
»So wie meine Tochter sagte, hat sich Ihr Sohn an einem Stacheldraht geritzt, das war deutlich zu erkennen. Herr Frehner, wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen, was ich über Wundstarrkrampf weiß. Aber muß das hier sein?«
»Gut, Sie wollen mich von hier weg haben.« Ingo erhob sich. »Aber wohin gehen wir? In mein Haus möchte ich nicht. Dort ist Angela, Fräulein Wunter. Sie hat sich in den letzten Wochen um Patrick gekümmert. Ich war froh darüber, Patrick sollte nicht unter dem Tod seiner Mutter leiden. Doch jetzt weiß ich, daß es ein Fehler war. Ich kenne Angela überhaupt nicht, trotzdem habe ich ihr meinen Sohn anvertraut.«
»Kommen Sie! Am besten wird es sein, wir gehen in Ihr Hotel. Dort bekomme ich auch etwas zu essen und zu trinken. Ich habe heute noch kaum Zeit dazu gehabt. Sie können in Ihrem Hotel übernachten, und wir können reden.«
Ingo verstand. »Sie wollen mir also Gesellschaft leisten, das ist nett von Ihnen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich die Stunden verbringen soll. Ich darf Sie also bitten, mein Gast zu sein?«
Dr. Lindau konnte nicht ablehnen. Er würde sich also nicht früh zu Bett begeben können, sondern mit dem Hotelier zu Abend essen. Dem Essen würde sicher ein langes Gespräch folgen, und er hoffte, daß er die richtigen Worte finden würde.
*
Langsam öffnete Susanne Brühl die Augen. Ihr Blick wanderte durch das Zimmer, und dann begriff sie. Sie lag in der Klinik am See und hatte ihr Kind zur Welt gebracht. Sie hob den Kopf und merkte, daß sie sich frisch fühlte. Erstaunt begriff sie, daß sie lange und fest geschlafen hatte.
Ihr Blick fiel auf das Nachttischchen. Richtig! Die Ärztin hatte ja veranlaßt, daß man ihr etwas zu essen hinstellte. Nun spürte sie auch, daß sie Hunger hatte. Sie konnte nicht anders, sie griff sich eines der Brötchen und biß hinein. In diesem Moment öffnete sich die Tür und Schwester Karla steckte den Kopf ins Zimmer.
»Guten Morgen!« Neugierig sah sie auf Susanne. »Sind Sie schon lange wach? Warum haben Sie nicht geklingelt?«
»Ich bin gerade erst aufgewacht.« Unsicher legte Susanne das angebissene Brötchen auf den Teller zurück.
»Sie haben Hunger? Das ist verständlich! Ich bringe Ihnen gleich das Frühstück.« Karla lächelte Susanne an. In der Klinik gab es heute nur ein Gesprächsthema, und das war die namenlose Patientin. »Fühlen Sie sich gut?« Sie hätte der Patientin gern weitere Fragen gestellt.
»Ja! Ich werde aufstehen.« Susanne warf die Bettdecke zurück. Sie hatte kein Recht, hier zu sein.
»Bleiben Sie doch liegen«, rief Schwester Karla erschrocken. »Dr. Westphal hat bereits nach Ihnen gesehen.«
»Dr. Westphal«, wiederholte Susanne und ihre Augen weiteten sich erschrocken.
»Frau Dr. Westphal ist die Stellvertreterin des Chefs«, erklärte Schwester Karla. Dann besann sie sich aber ihrer Pflichten. »Ich hole Ihr Frühstück.«
»Danke, ich glaube, ich habe doch keinen Hunger!« Susanne ließ sich ins Bett zurücksinken.
»Sie müssen essen, das wird Ihnen die Frau Doktor auch sagen.« Sie ließ die Türklinke noch einmal los. »Haben Sie sonst noch irgendeinen Wunsch?«
»Nein! Doch! Mein Kind! Wie geht es meinem Baby?«
»Gut!« Schwester Karla wußte Bescheid. Sie hatte selbst einen Blick auf das Baby geworfen, das sich noch im Brutkasten befand. »Nach der Visite können Sie vielleicht aufstehen und dann können Sie Ihr Baby sehen. Die Oberschwester hat vorhin gemeint, daß Ihr Baby nicht mehr allzulange im Brutkasten bleiben muß.«
»Das ist schön!« Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein Lächeln um Susannes Gesicht. »Es wird also leben!«
»Natürlich! Frau Dr. Westphal wird es Ihnen bestätigen.« Schwester Karla lächelte, doch dann bemerkte sie, daß der Blick der Patientin starr zur Decke gerichtet war. Freute die Frau sich denn nicht darüber, daß es ihrem Kind gutging? Sie betrachtete die Frau eingehend. Susanne, die den Blick spürte, drehte den Kopf zur Seite. Da verließ die Schwester rasch das Zimmer.
Obwohl Susanne hörte, daß die Tür geschlossen wurde, rührte sie sich nicht. Sie lebte und ihr Kind lebte. Darüber war sie froh. Doch wie sollte es nun weitergehen? Sie konnte für ihren Aufenthalt hier nicht aufkommen, konnte die Arztkosten nicht bezahlen. Wohin sollte sie mit dem Kind?
Wieder wurde die Tür geöffnet. Rasch schloß Susanne die Augen.
»Sie schläft noch«, hörte Susanne eine Männerstimme sagen.
»So, ich dachte, Schwester Karla hat gesagt, daß sie aufgewacht sei«, wunderte sich die Oberschwester, die an der Seite von Dr. Hoff das Krankenzimmer betreten hatte.
»Vielleicht ist sie wieder eingeschlafen. Da Frau Dr. Westphal sich um diese Patientin persönlich kümmern will, wollen wir nicht weiter stören«, sagte der Frauenarzt. Trotzdem trat er näher. Susanne versuchte gleichmäßig zu atmen.
»Kollege Bernau hat recht«, sagte er wenige Sekunden später und wandte den Kopf nach der Oberschwester. »Sie ist sehr hübsch. Wer sie wohl ist? Schon eigenartig, daß sie keine Papiere bei sich hatte. Aus der Umgebung scheint sie nicht zu sein, jedenfalls wird sie von niemandem vermißt.«
»Ich weiß«, bestätigte die Oberschwester. »Ich habe bereits mit der Polizei gesprochen. Man rief schon bei uns an. Die Nachforschungen blieben bisher erfolglos.«
»Nun, man wird uns schon noch sagen, wer sie ist«, meinte der Arzt. Er warf noch einen Blick auf Susanne. Irrte er sich oder zitterten ihre Lider leicht? Er beschloß, der Sache nicht auf den Grund zu gehen. Auf Wunsch von Dr. Westphal war die junge Mutter ihre Patientin. So wandte er sich ab, sagte jedoch noch: »Schwester Erna, sorgen Sie dafür, daß sie ein reichhaltiges Frühstück bekommt. Wenn sie aufwacht, wird sie Hunger haben. Sie muß essen, damit sie wieder zu Kräften kommt.« Er ging zur Tür. »Kommen Sie, Oberschwester!«
Erna Lackner nickte. Sie folgte Dr. Hoff aus dem Zimmer. Vor der Tür meinte sie: »Sie hat nicht geschlafen, das haben Sie doch gemerkt?«
»Natürlich! Lassen wir ihr Zeit.« Unwillkürlich sah Dr. Hoff auf seine Armbanduhr. Bis zur Visite blieb ihm noch fast eine Stunde. »Ich sehe nach den anderen Neuaufnahmen.«
Kaum hatte sich die Tür geschlossen, setzte Susanne sich ruckartig auf. Panik stand in ihren Augen. Sie mußte weg, bevor man sie und ihr Kind auf die Straße setzte. Warum hatte man gleich die Polizei eingeschaltet? Sie hatte doch nichts getan. Sie hatte niemanden täuschen wollen.
Susanne hatte noch keinen klaren Gedanken gefaßt, als ein Geräusch an der Zimmertür sie erneut erschreckte. Rasch legte sie sich wieder zurück und schloß die Augen. Sie wollte mit niemandem sprechen.
Schwester Karla stieß die Tür mit dem Fuß weiter auf. Sie rollte den Frühstückswagen ins Zimmer. Als sie merkte, daß die Patientin die Augen geschlossen hielt, zuckte sie die Achseln, vermied aber, Lärm zu machen. Vorsichtig stellte sie das Tablett auf den Tisch. Susanne rührte sich nicht. Erst als Schwester Karla den Wagen wieder aus dem Zimmer gerollt hatte, schlug sie die Augen auf. Was sie hier tat, hatte doch keinen Sinn! Sie konnte sich nicht ständig schlafend stellen. Bald würde jemand kommen und ihr Fragen stellen. Man würde nach ihrem Namen und ihrer Adresse fragen. Sie hatte nicht mehr in ihre kleine Wohnung zurück gewollt, dort erinnerte sie alles nur an Ralf. Die nächste Frage würde ihrer Krankenkasse gelten. Gestern wäre sie beinahe gestorben. Man hatte ihr das Leben gerettet und nicht nur ihr, sondern auch ihrem Kind. Dunkel erinnerte sie sich, daß viele Ärzte ihr Bett umstanden hatten. Man hatte sich auch um ihr Kind gekümmert. Sie hatte es Dr. Lindau zu verdanken, daß ihr Kind lebte, und er würde dafür sorgen, daß es ihm weiterhin gutging. Dieser Gedanke setzte sich in ihr fest und ließ sich nicht mehr verdrängen. Dr. Lindau würde für ihr Kind sorgen! Sie konnte es nicht.
Susanne stand auf. Zuerst schwankte der Boden noch etwas unter ihren Füßen, doch sie biß die Zähne zusammen. Sie mußte hier weg, bevor ihr jemand Fragen stellen konnte. Man würde sie sowieso hinauswerfen, aber für ein unschuldiges Kind würde man sorgen. Susanne suchte ihre Kleider. Mit zitternden Fingern zog sie sich an, den Blick ständig auf die Tür gerichtet. Sie erschrak, als sie den riesigen Blutfleck an ihrem Rock entdeckte. Zum Glück fand sie im Waschraum einen weißen Mantel.
Diesen zog sie über. Sie handelte, ohne nachzudenken, steckte ein Stück Seife ein, nahm vom Frühstückstablett ein Brötchen und zwei Kipfchen und dann wunderte sie sich, daß inzwischen niemand das Zimmer betreten hatte.
Mit unsicheren Schritten ging sie auf die Tür zu. Noch immer kam niemand. Sie öffnete die Tür und trat hinaus auf den Gang. Automatisch setzte sie Fuß vor Fuß. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, daß jemand aus einer Tür kam. Sie ging einfach weiter den Gang entlang. Da war ein Lift, sie trat ein, drückte auf einen Knopf, die Kabine setzte sich in Bewegung. Ohne sich dessen bewußt zu sein, hatte sie den untersten Knopf gedrückt. So fuhr sie in den Keller. Von dort stieg sie eine Treppe hinauf und gelangte durch einen Hinterausgang in den Park. Hier war zu dieser Morgenstunde noch nicht viel los. Niemand sprach sie an und so gelangte sie bis zum Ufer des Sees. Dort setzte sie sich auf eine Bank, und ihre Erstarrung begann sich zu lösen. Sie hatte es geschafft, sie hatte die Klinik verlassen. Nun mußte sie nur noch irgendwo untertauchen. Von diesem Augenblick an begann Susanne, gezielt zu handeln. Versteckt hinter einem Busch versuchte sie, den Blutfleck aus ihrem Kleid zu entfernen. Nach wenigen Minuten war sie so erschöpft, daß sie innehalten mußte.
Susanne war noch immer davon überzeugt, richtig gehandelt zu haben. Für sich konnte sie sorgen, sie konnte arbeiten. Während sie heißhungrig das Brötchen und die Kipfchen zu essen begann, festigte sich ihr Entschluß, Auefelden so schnell wie möglich den Rücken zu kehren.
*
»Bitte, Frau Doktor, bleiben Sie bei mir.« Die Frau, sie erwartete ihr erstes Kind, griff nach Dr. Anja Westphals Hand und versuchte sie festzuhalten. »Sie müssen jetzt bei mir bleiben, die Wehen haben bereits angefangen.«
Die Frauenärztin unterdrückte einen Seufzer. Sie war wirklich nahe daran, die Geduld zu verlieren. Sie holte tief Luft, dann gelang es ihr wieder zu lächeln.
»Ich sagte doch bereits, Sie haben noch viel Zeit. Vor heute mittag bekommen Sie Ihr Kind sicher nicht.«
»Aber die Wehen, ich habe sie deutlich gespürt.«
»Der Muttermund hat sich noch nicht geweitet. Sie müssen Geduld haben. Wenn es soweit ist, werden Sie in den Kreißsaal gefahren.«
»Sie wollen mich allein lassen? Frau Doktor, mir wurde versichert, daß Sie bei der Geburt zugegen sein werden.« Statt die Hand der Ärztin loszulassen, umklammerte die werdende Mutter diese nur noch fester.
»Ich werde dabei sein. Sie haben noch viel Zeit.« Mit sanfter Gewalt entzog Dr. Westphal Frau Kainer die Hand. Schon seit einer Woche lag diese exzentrische Frau in der Klinik. Sie war die Frau eines Rennfahrers und gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen.
»Das ist nicht wahr!« Ruckartig setzte sich die ehemalige Schönheitskönigin im Bett auf. »Ich habe es deutlich gespürt, mein Kind hat sich bewegt.«
»Das ist normal. Es hat sich um eine Art Vorwehe gehandelt. Wahrscheinlich ist das Kind etwas tiefer gerutscht.«
»Genau! Sie müssen veranlassen, daß man mich in den Kreißsaal bringt.«
»Nein! Dazu ist es noch zu früh! Wir haben uns in den letzten Tagen ausführlich darüber unterhalten. Erst wenn die Wehen in regelmäßigen Abständen auftreten, wird die Geburt eingeleitet. Ich bin nun schon seit zwanzig Minuten bei Ihnen, und Sie hatten keine Wehe mehr.«
»Woher wollen Sie das wissen?« Ärgerlich verzog Sigrun Kainer das Gesicht.
»Ich hätte es gemerkt, wenn es zu einer unwillkürlich schmerzhaften Zusammenziehung der Gebärmutter gekommen wäre. Sie können ruhig Ihr Frühstück genießen. Ich sehe später wieder nach Ihnen.«
»Aber Frau Doktor, wie soll ich wissen, wenn es soweit ist?«
»Das spüren Sie!« Die Frauenärztin verbiß sich ein Lächeln. »Falls Sie wegen des Frühstücks noch einen Wunsch haben, dann sagen Sie der Schwester Bescheid.« Und da Schwester Bärbel gerade eintrat, kehrte Dr. Westphal dem Bett den Rücken und eilte zur Tür.
»Frau Doktor, mein Mann! Warum ist mein Mann noch nicht hier?«
Dr. Westphal unterdrückte einen Seufzer und wandte sich nochmals um. »Ihr Mann ist auf dem Weg hierher. Sie müssen sich keine Sorgen machen, bis zur Geburt ist er längst hier.« Nach diesen Worten trat sie rasch hinaus auf den Gang und verhinderte so eine weitere Frage. Sollte Schwester Bärbel sehen, wie sie mit der werdenden Mutter zurechtkam. Daß Frau Kainer eine schwierige Patientin war, wußte bereits jeder in der Klinik.
Dr. Westphal verhielt auf dem Gang kurz den Schritt. Sie sah, daß Schwester Karla das Frühstücksgeschirr aus einigen Zimmern holte. »Hat die Frau… der Neuzugang von gestern nachmittag schon ihr Frühstück bekommen?«
»Ja, ich habe es ihr auf den Nachttisch gestellt«, meinte Schwester Karla.
»Haben Sie mit der Frau gesprochen?« fragte die Ärztin weiter.
»Ich habe es versucht. Sie war jedoch nicht sehr gesprächig, und als ich ihr dann das Frühstück brachte, schien sie wieder eingeschlafen zu sein.«
»Ging es ihr nicht gut?«
»Ich glaube nicht, daß sie irgendwelche Beschwerden hatte. Sie wollte bereits aufstehen.«
»Danke!« Dr. Anja Westphal ging weiter. Hätte Frau Kainer sie nicht aufgehalten, wäre sie schon längst bei der jungen Frau. Gleich nach ihrem Eintreffen in der Klinik hatte sie sich nach ihr erkundigt und erfahren, daß sie die Nacht durchgeschlafen hatte. Damit hatte sie auch gerechnet. Ihre Erschöpfung war sicher sehr groß gewesen, außerdem hatten auch die Medikamente ihre Wirkung getan. Während sie sich in Gedanken auf das Gespräch mit der jungen Frau vorbereitete, klopfte sie bereits an die Zimmertür. Sie wartete einige Sekunden, dann klopfte sie erneut. Da wieder keine Antwort kam, drückte sie die Klinke nieder und trat ein. Verwirrt sah sie auf das leere Bett.
»Frau…« Sie ging weiter ins Zimmer hinein. Ihr Blick fiel auf das sorgfältig über das Bett gelegte klinikeigene Nachthemd.
War die Frau aufgestanden? Dr. Westphal ging in den Waschraum, sie überzeugte sich davon, daß auch die Toilette frei war. Vielleicht hatte sie nach ihrem Baby sehen wollen. Sie trat wieder hinaus auf den Gang und stieß beinahe mit dem Chefarzt zusammen.
»Guten Morgen! Wie geht es…« Dr. Lindau hatte Anja ins Gesicht gesehen und unterbrach sich: »Ist etwas nicht in Ordnung? Wie ich hörte, hatte es während der Nacht keine Vorkommnisse gegeben.«
»Sie ist nicht da! Weißt du, wo sie ist? Hast du mit ihr schon gesprochen?«
Mit gerunzelter Stirn schüttelte der Chefarzt den Kopf. »Ich bin noch nicht lange hier. Bis weit nach Mitternacht war ich mit Herrn Frehner zusammen. Aber ich hätte dir sowieso den Vortritt gelassen. Wir hatten doch ausgemacht, daß du die junge Mutter unter deine Fittiche nimmst.«
»Als ich das erste Mal nach ihr fragte, schlief sie noch«, meinte Anja. »Ich wurde dann zu Frau Kainer gerufen. Schwester Karla hat mir gerade eben gesagt, daß sie ihr bereits das Frühstück gebracht hat.« Sie drehte sich um und ging in das Zimmer zurück. Das Frühstückstablett stand auf dem Nachttisch. Anja unterzog es einer Kontrolle, dann sagte sie dem Chefarzt, der ihr gefolgt war: »Es fehlt nur das Gebäck.«
Dr. Lindaus Augen verengten sich, auch ihm war das Nachthemd aufgefallen. Er griff zur Klingel und drückte sie. Es vergingen nur wenige Minuten, dann betrat die Oberschwester selbst das Zimmer. Als sie das leere Bett sah, war sie genauso verblüfft wie Dr. Westphal vor ihr. Ratlos sah sie von der Ärztin zu Dr. Lindau.
»Sie wissen also auch nicht, wo sie ist?« fragte dieser.
»Nein!« Nervös begann Erna Lackner an ihrem dunklen Haar zu nesteln. »Ich sah vorhin mit Dr. Hoff herein. Da schlief die junge Frau wieder.« Gleich darauf verbesserte sie sich unsicher: »Das ist nicht ganz korrekt, sie tat, als ob sie schliefe. Jedenfalls glaubte dies auch Dr. Hoff.«
»Sie haben also nicht mit ihr gesprochen?« Dr. Westphal fragte es.
Schwester Erna, sie konnte sehr energisch sein, streckte sich etwas. Ruhig hielt sie dem Blick der Ärztin stand. »Es interessiert mich natürlich auch, wer die Frau ist. Jeder von uns hat sich seit gestern so seine Gedanken gemacht. Trotzdem habe ich darauf verzichtet. Ich wollte keinen Fehler machen.«
»Schon gut, Schwester Erna«, sagte der Chefarzt. »Wenn sie aufgestanden ist, dann ist dies ja ein Zeichen dafür, daß es ihr gutgeht. Ich verstehe nur nicht, daß sie ihr beschmutztes Kleid angezogen hat.«
Die nächste, die erstaunt auf das leere Bett sah, war Schwester Karla. Sie war gekommen, um das Frühstücksgeschirr wieder einzusammeln. »Vielleicht ist sie zu ihrem Baby gegangen. Sie hat mich nach ihrem Kind gefragt.«
»Das können wir gleich feststellen«, sagte Dr. Lindau. Er selbst begab sich zur Abteilung der Neugeborenen. Eine halbe Stunde später rief er die Polizei an. Er meldete das Verschwinden der Unbekannten. »Wir kümmern uns natürlich um ihr Kind«, teilte er mit großer Selbstverständlichkeit der Polizei mit. »Es ist ein Mädchen und es wird keinen Schaden davontragen.«
*
Angela Wunter war dabei, ihre Koffer zu packen, als das Läuten an der Haustür sie aufschreckte. Ihr erster Impuls war, nicht zu reagieren, doch als das Klingeln sich wiederholte, siegte ihre Neugierde. Sie trat ans Fenster und sah hinunter. In diesem Moment hob Andy Seger den Kopf. Er strahlte über das ganze Gesicht, als er sie sah.
»Angela, ich versuche schon seit zwei Tagen, Sie zu erreichen. Ich bin so froh, daß ich Sie noch angetroffen habe. Herr Frehner sagte mir, daß Sie abreisen wollen.«
Angelas Miene wurde starr. »Hat Herr Frehner sonst noch etwas gesagt?«
»Wie? Nein, ich verstehe das nur nicht! Wollten Sie wirklich abreisen, ohne sich von mir zu verabschieden?«
Angela konnte es nicht lassen, sie kokettierte nun mal für ihr Leben gern und daher beugte sie sich auch jetzt weiter aus dem Fenster und flötete: »Ich habe die ganze Zeit an Sie gedacht, Andy. Es fällt mir schwer, von hier wegzugehen, aber was soll ich noch hier?«
»Patrick wird wieder gesund werden. Er lebt noch. Die Krise ist zwar noch nicht ganz überschritten, aber morgen wird es soweit sein. Auch Herr Frehner hat Hoffnung.«
»Ich weiß und ich hoffe auch, daß Patrick wieder ganz gesund wird. Es hat trotzdem keinen Sinn, wenn ich bleibe.« Angela wollte das Fenster schließen.
»Angela, bitte! Ich möchte mit Ihnen sprechen.«
Sie zuckte die Achseln, beugte sich noch einmal hinaus. »Andy, ich habe nicht viel Zeit. Ich will heute noch abreisen.«
»Aber ich will nicht, daß Sie wegfahren!« Andy wurde zum schmollenden Jungen. »Sie können doch nicht einfach abreisen! Wir haben uns so gut verstanden.«
»Ja, das haben wir!« Angela lächelte geschmeichelt. »Ich würde auch gern bleiben, aber das liegt nicht an mir.«
»Ich verstehe nicht! Herr Frehner sagte mir, daß Sie abreisen wollen.«
»Wollen…« Angelas Mundwinkel sanken nach unten.
»Wir müssen miteinander reden, Angela! Ich bin so froh, daß ich Sie noch erreicht habe.«
Selbst vom Fenster aus konnte Angela den verliebten Gesichtsausdruck wahrnehmen.
Er schmeichelte ihr und vor allem stärkte er ihr Selbstbewußtsein, das durch Ingo Frehners Kühle einen argen Dämpfer erlitten hatte. Sie entschied sich schnell. »Ich komme hinunter, Andy, und dann werde ich Ihnen alles erklären.«
Angela ließ sich Zeit. Sie unterzog ihr Gesicht einer eingehenden Prüfung. Die Aufregung der letzten Tage hatte Spuren hinterlassen. Sie konnte einige Fältchen entdecken. So holte sie ihr Make-up hervor und machte sich sorgfältig zurecht. Sie wollte wenigstens Andys uneingeschränkte Bewunderung noch einmal genießen. Als sie endlich aus der Haustür trat, starrte er sie an, als wäre sie das achte Weltwunder.
»Ich bin so froh… Angela… Ich hatte schon solche Angst, Sie nie wiedersehen zu können. Ich hätte es nicht ertragen. Angela, ich habe noch nie jemanden… ich mag Sie sehr«, stotterte er mit roten Ohren.
»Danke, Andy!« Angela lächelte verführerisch.
»Begreifen Sie jetzt? Sie dürfen nicht einfach gehen und mich hier allein zurücklassen.« Er streckte beide Hände nach ihr aus, wagte aber nicht, sie zu umarmen.
»Ich würde ja gern bleiben, aber es geht nicht.«
»Warum, Angela?« Seine Augen wurden groß und rund. »Es hat Ihnen hier doch gefallen. Die Gegend ist sehr schön. Wir können Ausflüge machen, ich kann Ihnen noch viel zeigen.«
»Ich würde auch gern bleiben, Andy.« Angela streckte ihre Hand aus und berührte seine Wange. »Sie sind sehr nett, Andy.«
Andy wurde rot und blaß. Sein Herz schlug wie rasend. Er wußte nicht, was er sagen sollte, aber er fing Angelas Hand ein und küßte sie leidenschaftlich.
Angela lächelte. »Schon gut! Wollten Sie mich nicht etwas fragen?«
»Fragen? Natürlich, Angela! Warum reisen Sie ab? Ich möchte Sie bitten zu bleiben. Ohne Sie will ich auch nicht länger hier leben.«
»Andy, Andy!« Angela ließ ein glockenhelles Lachen hören. »Sie sind süß!«
Andy trat einen Schritt zurück. »Sie nehmen mich nicht ernst! Ich liebe Sie! Ich werde es Ihnen beweisen. Ich will alles für Sie tun. Wenn es irgendwelche Probleme gibt, auf mich können Sie sich hundertprozentig verlassen.«
Angelas Augen verengten sich. Sie würde sich an Ingo rächen. Jetzt war sowieso schon alles egal, er wollte von ihr nichts wissen.
»Andy!« Sie seufzte gekonnt. »Ich wollte in Auefelden bleiben. Ich war gern hier. Vor allem wollte ich Patrick die Mutter ersetzen. Doch jetzt ist das nicht mehr möglich. Herr Frehner will es nicht. Andy, ich wäre nie abgereist, ohne auf Patricks Genesung zu warten. Herr Frehner hat mir dies nahegelegt.«
»Du willst gar nicht abreisen?« Andy legte ihr nun doch die Hand auf die Schulter, dann zog er sie an sich. »Ich bin so froh darüber.«
»Moment, Andy! Auch wenn ich nicht will, ich kann nicht hierbleiben. Herr Frehner macht mich für Patricks Erkrankung verantwortlich.«
»Aber das ist doch ungerecht«, empörte Andy sich.
»Ich habe Patrick sehr lieb. Ich hätte alles getan, um ihm helfen zu können.« Unter halbgesenkten Lidern sah sie ihn an. »Du glaubst mir doch, Andy?«
»Natürlich glaube ich dir! Wie kann Herr Frehner nur etwas anderes behaupten? Ich werde sofort zu ihm gehen und ihm sagen, daß dies nicht stimmt.« Andy streckte sich.
»Nein, nein, Andy, das hat keinen Sinn!« Beschwörend hob sie die Hände. »Ich war dabei, als Patrick unter dem Stacheldraht durchkroch. Ich hatte es ihm verboten, doch er wollte nicht auf mich hören.« Sie seufzte. »Patrick war wirklich nicht leicht zu beaufsichtigen.«
»Ich weiß! Auch das kann ich Herrn Frehner sagen. Ich war doch oft dabei. Er wollte nie bei uns auf der Bank sitzen. Angela, du hast… Sie haben…«
»Andy, Sie können ruhig du zu mir sagen.«
»Und Sie… und du? Angela, ich bin so glücklich!« Jetzt gab es für Andy kein Halten mehr, fest nahm er Angela in die Arme und küßte sie herzhaft auf den Mund.
»Aber Andy!« Angela entzog sich ihm. Schließlich standen sie noch immer vor der Haustür.
Sofort färbten sich Andys Wangen. Viel Erfahrung mit Frauen hatte er noch nicht. »Ich wollte doch nur… ich dachte, wenn wir jetzt per Du sind? Wir sind doch jetzt Freunde?«
»Natürlich sind wir Freunde. Du hast mir auch geholfen, du hast so oft mit Patrick gespielt.«
»Ich möchte dir weiter helfen. Du mußt nur sagen, was ich für dich tun soll.«
»Du kannst mir helfen, meine Sachen herunterzutragen. Vorerst werde ich zu meiner Mutter fahren. Sie wohnt in einem Vorort von München.«
»Du darfst nicht wegfahren! Ich werde nicht zulassen, daß du wegfährst.«
»Andy, was soll ich machen, da Herr Frehner mir nicht glaubt? Er selbst hat seinen Sohn vernachlässigt, und nun gibt er mir die Schuld. Ich kann einfach nicht länger in seinem Haus leben. Ich will es auch nicht. Ich lasse mich doch von ihm nicht beleidigen.« Angela senkte den Kopf.
»Natürlich nicht! Was bildet er sich überhaupt ein? Am liebsten würde ich sofort noch einmal zu ihm ins Hotel gehen.«
Sie mußte ihn bremsen. In seinem Eifer wäre er noch imstande, eine Dummheit zu machen. Sie konnte Ingo nichts nachsagen, er hatte ihr sogar das Gehalt für ein halbes Jahr ausbezahlt. Das war viel Geld, aber sie hatte mehr gewollt. Sie hatte gehofft, hier einmal Herrin sein zu können.
»Wenn Herr Frehner schon ungerecht ist, dann dürfen wir es nicht auch noch sein.« Sie schob ihre Hand unter Andys Arm. »Herr Frehner ist sehr verzweifelt. Er hat Angst, auch noch seinen Sohn zu verlieren. Dabei übersieht er völlig, daß auch mir Patrick sehr viel bedeutet. Es fällt mir schwer zu gehen. Wenn Patrick wieder gesund ist, dann kannst du Herrn Frehner ja einmal sagen, wie sehr ich seinen Sohn ins Herz geschlossen gehabt hatte. Vielleicht erkennt er dann, daß er mir Unrecht getan hat.«
»Und bis dahin? Ich laß dich nicht weg! Ich werde mit Herrn Frehner sprechen.«
»Das ist sehr lieb von dir, ich habe aber auch meinen Stolz. Ich bleibe doch nicht hier, wenn man mich nicht mehr haben will.«
»Aber ich will dich doch haben!« Nach diesem Geständnis wurde Andy wieder rot. »Ich weiß, daß du stets nur Patricks Bestes wolltest. Ich werde schon dafür sorgen, daß Herr Frehner dies erfährt.« Seine Zähne bohrten sich in die Unterlippe, und dann plötzlich begann er zu strahlen. »Bis dahin wohnst du einfach bei uns. Wir haben unseren Hof ausgebaut. Hin und wieder hatten wir schon Feriengäste.«
Angelas Mundwinkel sanken herab. Die Vorstellung, auf einem Bauernhof zu wohnen, war nicht sehr reizvoll. Hier gab es hinter dem Haus nicht nur einen Swimmingpool, sondern im Keller des Hauses auch eine Sauna, die sie jederzeit hatte benutzen können.
Andy legte ihr den Arm um die Schultern. »Du bist natürlich mein Gast und du kannst bleiben, solange du willst.«
»Und deine Eltern?« Angela wandte den Kopf und versuchte, in seinem Gesicht zu lesen.
»Meine Eltern geht das nichts an. Du bist meine Freundin.« Er verschwieg, daß er vorhatte, das Zimmer und das Essen für Angela zu bezahlen. Er hatte bereits sein eigenes Geld. Von niemandem ließ er sich vorschreiben, was er damit tat.
Angela überlegte nur kurz, dann entschied sie sich, Andys Einladung anzunehmen. Sie hatte sich Ingo noch nicht ganz aus dem Kopf geschlagen. Er brauchte jemanden für Patrick, und vielleicht sah er doch noch ein, daß sie die Richtige war.
Andy war überglücklich, als er Angelas Gepäck zum Auto trug. Sicherheitshalber verstaute er einen Koffer und eine Tasche in seinem eigenen Wagen. Stolz, als habe er einen großen Sieg errungen, setzte er sich dann ans Steuer und wartete auf Angela, die versprochen hatte, hinter ihm herzufahren. Während der Fahrt ließ er kaum einen Blick vom Rückspiegel, und es war eigentlich ein Wunder, daß er ohne Unfall den elterlichen Hof erreichte.
*
Susanne Brühl fuhr nach München zurück. Sie hatte es gerade geschafft, den Bahnhof zu erreichen, und nun lehnte sie mit geschlossenen Augen in den Polstern.
»Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen sehr blaß aus.«
Susanne öffnete die Augen und sah in das neugierige Gesicht einer älteren Frau, die ihr gegenübersaß. Sie versuchte zu lächeln. »Ich bin nur sehr müde. Ich habe in der Nacht kaum geschlafen.«
»Das sieht man Ihnen an.« Mißbilligend verzog die Frau das Gesicht. »Wahrscheinlich die ganze Nacht in einer Disco verbracht! Ich begreife nicht, was ihr jungen Leute an dieser Musik findet! Ich frage das auch immer wieder meine Enkelin, dabei gibt es so schöne Möglichkeiten, einen Abend zu verbringen. Man kann ins Theater gehen oder ein gutes Buch lesen.« Die Frau redete und redete. Susanne schloß wieder die Augen. Sie spürte ein leichtes Ziehen im Unterleib. Sie legte die Hände darüber. Auch wenn die Schmerzen ärger werden würden, sie waren zu ertragen. Ihre Füße durften ihr nur nicht den Dienst verweigern. Der Boden schwankte so leicht unter ihren Füßen. Sie hatte sich immer wieder irgendwo festhalten müssen. Aber sie hatte es geschafft, den Park der Klinik zu verlassen.
Offensichtlich hatte die Frau ihr eine Frage gestellt, denn nun schwieg sie erwartungsvoll.
»Entschuldigen Sie, ich möchte schlafen.«
Die Frau schnappte hörbar nach Luft vor Empörung. Susanne schämte sich, ihre Wangen brannten. Sie verbarg ihr Gesicht in der Ecke neben dem Fenster und beschloß, die Augen nicht mehr aufzumachen, was immer die Frau auch sagen würde. Doch die Frau schwieg. Im München verließ sie das Abteil, ohne Susanne noch eines Blickes zu würdigen.
Susanne kämpfte gegen die Übelkeit an. Es kostete sie große Mühe, den Waggon zu verlassen. Sie hielt den Kopf hocherhoben, als sie zwischen den anderen Reisenden den Bahnhof verließ. Auf der Treppe stolperte sie. Sie wäre gefallen, hätte ein Mann sie nicht festgehalten. Im ersten Moment verschwamm alles vor ihren Augen, dann hatte sie sich wieder soweit gefaßt, daß sie sich bedanken konnte. Sie entzog dem Mann ihren Arm und ging weiter, bemüht, nicht zu schwanken.
»Fräulein Brühl!« Entsetzt schlug die Hausmeisterin die Hände zusammen, als sie Susanne im Treppenhaus sah. Mit beiden Händen hielt Susanne sich am Geländer fest. Sie schaffte die Stufen bis zu ihrer kleinen Wohnung, in der sie das letzte Jahr gelebt hatte, einfach nicht mehr.
»Können Sie mir bitte helfen«, flüsterte Susanne. »Ich glaube, ich muß mich hinlegen.«
»In Ihrem Zustand sollten Sie vorsichtiger sein«, sagte die Hausmeisterin. Im Treppenhaus war es dunkel, und Susanne begriff, daß die Frau nicht erkannte, daß sie inzwischen entbunden hatte. Sie war jedoch zu müde, um darüber nachzudenken. Dankbar stützte sie sich auf den Arm der Hausmeisterin und ließ sich so in die Wohnung bringen, die sie eigentlich nicht wieder hatte betreten wollen
Zwei Tage lag Susanne im Bett. Sie stand nur auf, um sich etwas zu essen zu machen. Am dritten Tag waren ihre Kräfte völlig zurückgekehrt. Sie war sich darüber im klaren, daß sie sich Arbeit suchen mußte. Der Traum, eine bekannte Sängerin zu werden, war ausgeträumt. Bevor sie Ralf kennengelernt hatte, hatte sie als Verkäuferin in einem Schallplattengeschäft gearbeitet. Sie kaufte einige Zeitungen, studierte Stellenangebote. Verkäuferinnen wurden nirgends gesucht, aber Kellnerinnen. Sie betrachtete sich im Spiegel, ihr Gesicht hatte wieder Farbe bekommen. Schließlich wagte sie es und sprach in zwei Restaurants vor. In einem dritten, einer Pizzeria, wurde sie eingestellt. Gleich am nächsten Vormittag sollte sie anfangen. Und dann saß sie in ihrer kleinen Wohnung vor dem Telefon und ihre Gedanken waren in der Klinik am See. Sie bereute ihr Handeln nicht. Sie war noch immer sicher, keine andere Wahl gehabt zu haben. Doch da war in ihr eine bisher nicht gekannte Sehnsucht. Wie ging es dem Kind? Wenn sie es schon nicht sehen konnte, dann mußte sie wenigstens wissen, ob es durchkommen würde. Vielleicht hatte man sie belogen. Manuela hatte sie ihr Kind nennen wollen, wenn es ein Mädchen würde. Ein Junge sollte Martin heißen.
Susanne starrte auf das Telefon. Ihr Kind war in den Brutkasten gekommen, soweit konnte sie sich erinnern. Es war zu früh auf die Welt gekommen. Sie versuchte sich ihr Kind vorzustellen. Hatte es dunkle Haare oder blonde? Schließlich schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Sie hatte doch gehört, daß die meisten Kinder ohne Haare zur Welt kamen oder diese ihnen gleich nach der Geburt ausgingen.
Ihr Kind! »Manuela«, flüsterte sie. Nie würde sie es in ihren Armen halten können. Wie sollte sie für das Kind sorgen? Sie hatte kein Geld, um dem Kind eine Ausstattung zu kaufen. Ein Kind brauchte so viel. Sie sah sich im Zimmer um, nicht einmal ein Bettchen hätte sie für es gehabt. Außerdem war es besser, wenn dieses Kind nie erfuhr, wer seine Eltern waren. Der Vater — ein kleiner Betrüger! Sie war inzwischen davon überzeugt, daß er nicht nur ihr das Geld aus der Tasche gezogen hatte. Und die Mutter? Die hatte noch viel zu lernen! Dr. Lindau würde sicher bessere Eltern für ihr Kind finden. Sie erinnerte sich an seine gütigen Augen. Bei ihm war ihre Tochter gut aufgehoben.
Es ging bereits auf den Abend zu, als Susanne nicht mehr anders konnte. Sie nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer von der Klinik am See. »Den Chefarzt, bitte«, sagte sie mit tonloser Stimmer, als am anderen Ende der Leitung der Hörer abgenommen worden war. »Ich möchte mit Dr. Lindau persönlich sprechen.«
Der ehemalige Kastellan des Schlosses und jetzige Pförtner, der diesen Anruf entgegennahm, stutzte. »Ich weiß nicht, ob der Chef noch im Haus ist. Ich werde es jedoch versuchen. Wen kann ich melden?«
»Bitte, das spielt doch keine Rolle!« Susannes Stimme zitterte. »Für mich ist es wichtig!«
»Warten Sie einen Augenblick, ich werde es versuchen«, sagte der Pförtner. Die fremde Stimme, die da durch den Draht zu ihm gedrungen war, hatte ihn eigenartig berührt. Er wählte die Station und war wenig später mit der Oberschwester verbunden.
»Ich habe hier eine Frau in der Leitung, die den Chefarzt sprechen will. Es scheint dringend zu sein.«
»Es ist schon spät, der Chef ist gerade dabei zu gehen. Vielleicht kann ich der Frau helfen.« Den Hörer am Ohr drehte die Oberschwester sich um.
»Das glaube ich nicht. Es hörte sich so an, als wollte sie nur den Chef sprechen.«
Erna Lackner wollte schon ablehnen. Der Chef hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und sich bereits verabschiedet. Wozu sollte man ihn jetzt noch belästigen? Doch da sah sie ihn, wie er in Begleitung von Dr. Westphal aus einem Zimmer kam und auf den Lift zuging. Sie zögerte kurz, dann rief sie nach ihm.
Dr. Lindau kam sofort. Er fragte nicht, nahm der Oberschwester den Hörer aus der Hand und war Sekunden später mit Susanne verbunden. »Herr Dr. Lindau«, hörte er eine unsichere Stimme fragen.
»Ja! Was kann ich für Sie tun?«
Susanne zitterte nun so stark, daß ihr der Hörer beinahe aus der Hand gefallen wäre. Der Mut verließ sie, sie wollte schon den Hörer auf die Gabel zurücklegen, da sah sie aber seine gütigen Augen vor sich. Sie wußte, daß er der Mann war, der ihr und ihrem Kind das Leben gerettet hatte.
»Herr Doktor, mein Kind!« Susanne rannen nun die Tränen über die Wangen. »Ich muß wissen, wie es meinem Kind geht. Lebt es?«
Zuerst verstand Dr. Lindau nicht, dann klang Schluchzen an sein Ohr. Schlagartig begriff er. Erregt wandte er den Kopf nach der Oberschwester, auch Dr. Westphal war inzwischen herangekommen. So ruhig, wie es Ihm möglich war, sprach er dann in den Hörer: »Hören Sie mir zu! Sie wollten mich etwas fragen.«
Susanne schluckte. »Ja! Ich werde Ihnen nicht sagen, wer ich bin. Sie haben mir sehr geholfen, mir und meinem Kind.« Ihre Stimme brach.
Dr. Lindau wartete, schließlich fragte er: »Wie geht es Ihnen?«
»Mir geht es gut. Es geht aber nicht um mich. Meinem Baby, wie geht es ihm?«
»Gut!«
»Wirklich? Lügen Sie mich auch nicht an?«
»Kommen Sie her! Überzeugen Sie sich selbst davon!« Dr. Lindau sprach langsam. Es war ihm bewußt, daß die junge Mutter am anderen Ende der Leitung auflegen konnte, dann war der Kontakt zu ihr wieder unterbrochen.
»Das geht nicht! Herr Doktor, Sie müssen mir glauben! Ich kann für das Kind nicht sorgen. Ich will, daß mein Kind wohlbehütet aufwächst. Bitte, sorgen Sie dafür.«
Dr. Lindau hörte den stoßweise gehenden Atem der jungen Frau. Was sollte er tun? Er durfte sie auf keinen Fall erschrecken. »Sie müssen sich keine Sorgen machen. Im Moment ist für das Kind hier bestens gesorgt.«
»Das ist schön!« Wieder drang ein trockenes Schluchzen durch die Leitung und dann die Frage: »Es ist ein Mädchen, nicht wahr?«
»Ja, es ist ein Mädchen, ein entzückendes Mädchen…«
»Dann wird man es liebhaben«, flüsterte Susanne. Der Chefarzt konnte es nicht sehen, aber jetzt lächelte sie unter Tränen.
»Hallo! Hören Sie mich noch?« rief nun Dr. Lindau, aber er hörte nur noch ein Knacken in der Leitung. Die Unbekannte hatte aufgelegt.
*
»Sie hat aufgelegt!« Dr. Lindau sah auf den Hörer, den er noch immer in der Hand hielt. »Wie hätte ich es verhindern sollen?« Mit gerunzelter Stirn legte er den Hörer auf die Gabel. Er machte sich Vorwürfe.
Die Oberschwester und die Frauenärztin sahen ihn an. Da zuckte der Chefarzt die Achseln. »Leider, ich weiß nicht mehr als vorher.«
»Sie hat also keinen Namen genannt.« Dr. Westphal versenkte ihre Hände in den Manteltaschen. Kurz sah sie auf ihre Schuhspitzen, dann sah sie dem Chefarzt wieder ins Gesicht. »Wenn ich richtig verstanden habe, dann hat sie sich nach ihrem Kind erkundigt.«
Der Chefarzt nickte.
Die Miene der Ärztin erhellte sich. »Das ist doch ein gutes Zeichen! Sie denkt an ihr Kind.«
»Sie ist verzweifelt. Ich würde ihr gern helfen.«
Nun mischte sich die Oberschwester ein: »Chef, Sie sind zu gut! Diese Frau verschwindet einfach, denkt nicht an ihr Kind…«
»Sie denkt an ihr Kind«, sagte Dr. Lindau mit Nachdruck.
»Vielleicht gerade in diesem Augenblick, aber sonst…« Unwillig blähten sich ihre Nasenflügel. »Schleicht sich aus der Klinik! Wie es dem Neugeborenen geht, scheint sie nicht zu kümmern.«
»Aber Schwester Erna!« Dr. Lindau legte ihr die Hand auf die Schulter. »Was ist los mit Ihnen? Meistens sind Sie die Fürsprecherin für Schwestern und Patienten.«
»Dieses Mädchen hat uns schon genug Schwierigkeiten gemacht. Noch immer gibt es hier kein anderes Gesprächsthema als die unbekannte junge Mutter und ihr namenloses Kind. Was machen wir mit dem Mädchen, wenn es aus dem Brutkasten kommt?«
Dr. Lindau fühlte den Blick der Ärztin, auch sie wartete auf seine Antwort.
»Das Kind hat sich rasch erholt. Morgen können wir es aus dem Brutkasten nehmen. Es ist wirklich ein hübsches Mädchen.«
»Was wird aus ihm?«
Nun lächelte der Chefarzt. »Sie machen sich also auch Ihre Gedanken. Wir werden uns weiter um das Baby kümmern. Die junge Mutter hat mich darum gebeten.«
»Du kannst das Kind doch nicht für immer in der Klinik behalten«, warf Anja Westphal ein.
»Das wird nicht nötig sein. Die Mutter des Mädchens wird sich wieder melden.«
»Wie können Sie nur so sicher sein?« Die Oberschwester schüttelte den Kopf. »Sie ist eine ledige Mutter, weiß nicht, wohin mit dem Kind.«
»Das dürfte stimmen. Sie ist aber auch eine verzweifelte Mutter. Und fragen Sie mich nicht, woher ich das weiß.«
»Diesmal wollte ich dich das fragen«, meinte die Ärztin.
Der Chefarzt legte die Fingerspitzen seiner Hände gegeneinander. »Ihr werdet mir wohl auch etwas Menschenkenntnis zutrauen. Aber auch Sie, Schwester Erna, hätten erkannt, wie verzweifelt diese junge Frau ist. Sie konnte kaum sprechen.« Und dann gab er die wenigen Worte wieder, die Susanne gesagt hatte.
»Das hilft uns auch nicht weiter«, stellte die Oberschwester lakonisch fest, aber ihre Miene war bereits milder.
Wieder klingelte das Telefon, und ehe die Oberschwester danach greifen konnte, hatte der Chefarzt den Hörer abgenommen. »Das freut mich«, sagte er, »ich komme sofort.«
»Hat sie es sich doch noch anders überlegt?« fragte die Frauenärztin und nahm die Hände aus den Manteltaschen.
Für den Bruchteil einer Sekunde war Dr. Lindau irritiert. »Alles dreht sich doch nicht um diese unbekannte junge Mutter«, meinte er dann. »Meine Tochter hat angerufen. Der kleine Patrick ist über den Berg. Ein überglücklicher Vater wünscht mich zu sprechen.«
»Wenigstens eine gute Nachricht.« Dr. Westphal strich sich eine Haarsträhne zurück. »Ich hätte nicht gedacht, daß sie es schaffen. Deine Tochter und dein Schwiegersohn haben einen enormen Einsatz gebracht…«
»Schon gut, Anja«, wehrte der Chefarzt ab, aber in seinem Innern war er sehr stolz auf seine Tochter. Hatte es doch einmal so ausgesehen, als würde sie nicht in seine Fußstapfen treten. »Ich glaube, wir alle lieben unseren Beruf sehr und geben unser Bestes.« Sein Blick schloß nun auch die Oberschwester mit ein. Erna Lackner war wohl verheiratet, sie hatte aber keine Kinder und hatte noch nie gezögert, länger, als es ihre Arbeitszeit vorschrieb, in der Klinik zu bleiben.
Er räusperte sich. »Die nächste halbe Stunde bin ich sicher noch auf der Kinderstation.«
»Keine Sorge«, unterbrach Anja Westphal ihn. Sie hatte Nachtdienst und sie wußte genau, was der Chefarzt hatte sagen wollen. »Es wird eine ruhige Nacht werden.« Sie lächelte ihn an, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ging davon.
Dr. Lindau verabschiedete sich von der Oberschwester und ging sodann durch den gläsernen Durchgang hinüber in die Kinderstation. Dort traf er Ingo Frehner im Gespräch mit seiner Tochter an. Das Gesicht des Hoteliers war entspannt, er lächelte. Das Lächeln freute den Chefarzt sehr, denn die letzten Tage hatte er den Mann nie lächeln gesehen.
»Patrick hat es geschafft, Herr Doktor! Er wird wieder ganz gesund werden. Von jetzt an geht es schnell, hat Ihre Tochter gesagt.« Mit ausgebreiteten Armen kam der Hotelier auf ihn zu. »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll!« Seine Stimme zitterte.
»Mir müssen Sie nicht danken. Ich habe nichts getan.« Lächelnd hielt Dr. Lindau still, während Ingo ihn umarmte.
»Ich weiß!« Ingo fuhr sich über die Augen, er schämte sich seiner Tränen nicht. »Mit Geld kann ich das nicht gutmachen. Ihre Tochter und Ihr Schwiegersohn haben Übermenschliches geleistet.«
»Nun hören Sie doch schon auf! Wir haben nur unseren Beruf ausgeübt.« Astrid war herangekommen. In ihrem Gesicht konnte der Chefarzt noch Spuren der durchwachten Nächte entdecken, aber ihre Augen strahlten glücklich.
»Patrick lebt, weil er in Ihre Klinik gebracht worden ist.« Ingo sagte es voller Überzeugung. »Ich habe inzwischen mit einigen anderen Ärzten gesprochen — Wundstarrkrampf ist in den meisten Fällen tödlich.«
Astrids Gesicht wurde ernst. »Wir haben Ihnen dies nicht verschwiegen, Herr Frehner.«
»Aber Sie haben das Unmögliche möglich gemacht! Ich möchte mich irgendwie erkenntlich zeigen. Ich möchte Sie, Ihren Mann, die ganze Mannschaft der Kinderstation einladen. Wir feiern ein riesiges Fest.«
»Gern!« Astrid lächelte wieder, dagegen hatte sie nichts einzuwenden. »In drei Wochen wird Patrick mitfeiern können.«
Astrid fing den fragenden Blick ihres Vaters auf. Sie nickte. »Jetzt geht es sicher sehr schnell aufwärts. Patricks kleiner Körper hat zwar die letzten Reserven aufgebraucht – wie du weißt, wurde er vollständig intravenös ernährt — aber die Muskelkrämpfe sind vorbei, das Fieber ist gesunken. Er schläft sich nun gesund und dann wird er essen wie ein Wolf.«
»In drei Wochen also wird gefeiert. Ich lasse mir etwas Besonderes einfallen«, versprach Ingo. Plötzlich wurde sein Gesicht ernst. »Ich möchte auf alle Fälle die junge Frau einladen, die ebenfalls vom jungen Seger in die Klinik gebracht wurde. Sie hat Patricks Zustand zuerst bemerkt.« Er sah den Chefarzt an. »Ich habe inzwischen noch einmal mit Andy gesprochen. Diese Frau — durch sie wurde Andy aufmerksam. Sonst hätte man Patricks Zustand noch später bemerkt.« Er preßte die Lippen aufeinander. Ihm war jetzt klar, daß Andy Seger bis über beide Ohren in Angela verliebt war, und trotzdem hatte er gehandelt.
Minutenlang herrschte zwischen den drei Menschen Schweigen. Astrid sowie ihr Vater waren sich darüber im klaren, daß der kleine Patrick nicht richtig betreut worden war.
»Wie ich von Andy erfuhr, war die junge Frau hochschwanger. Bei dieser Frau möchte ich mich erkenntlich zeigen. Bei ihr möchte ich mich bedanken.«
»Das ist im Moment nicht möglich«, sagte Dr. Lindau.
Der Hotelier verstand dies falsch. »Es muß natürlich nicht in diesem Augenblick sein. Wie ich hörte, hat man auch um ihr Leben kämpfen müssen.«
»Das ist richtig!« Dr. Lindau überlegte. »Diese junge Mutter könnte wirklich Hilfe brauchen. Sie scheint große Probleme zu haben. Leider weiß ich nicht, wo diese liegen. Haben Sie noch etwas Zeit? Dann lade ich Sie diesmal zum Essen ein.«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage«, wehrte Ingo sich. »Sie und Ihre Tochter, Sie sind selbstverständlich meine Gäste.«
»Nicht so voreilig! Ich habe da nämlich eine Idee. Vielleicht könnten Sie wirklich helfen. Ich werde Ihnen von dieser jungen Mutter erzählen. Sie hat mir heute telefonisch ihr Kind anvertraut.«
»Sie hat angerufen?« fragte Astrid erstaunt. »Kennst du jetzt ihren Namen?«
»Leider nein, aber laßt uns in die Kantine gehen. Ich habe Feierabend, und bei einem Glas Bier erzählt es sich leichter.« Jetzt hatte Dr. Lindau wieder die verzweifelte Stimme im Ohr. Er konnte nur hoffen, daß die Frau sich noch einmal melden würde und daß man ihr dann helfen konnte.
*
Angela Wunter langweilte sich. Sie hatte sich ihren Aufenthalt auf diesem Hof wirklich anders vorgestellt. Andy bekam sie tagsüber kaum zu Gesicht. Sein Vater machte ihr das Leben auch nicht gerade leicht. Deutlich gab er ihr zu verstehen, daß sie auf seinem Hof nicht willkommen war. Wo Andy nur blieb? Ärgerlich verließ sie ihr Zimmer, um sich auf die Suche nach dem Bauernsohn zu machen.
Sie trat gerade aus der Haustür, als er mit seinem Auto vorgefahren kam. »Du bist weg gewesen und ich sitze hier und warte auf dich. Wir wollten doch nach Bad Tölz fahren.«
»Entschuldige!« Andy war unsicher. Er sah an ihr vorbei. »Jetzt bin ich hier. Wir können gleich fahren.«
»Wo bist du gewesen?« fuhr Angela ihn an. »Über eine Stunde warte ich schon.«
»Tut mir leid! Ich habe mich beeilt.«
Angela gab sich mit dieser Entschuldigung nicht zufrieden. »Ich dachte, du mußt arbeiten?«
»Das hätte ich auch sollen.« Andy hielt den Kopf noch immer gesenkt. »Papa wird sauer sein.«
»Warum hast du es dann nicht getan?« fragte Angela schnippisch.
Andy machte eine abwehrende Bewegung, er sah in diesem Moment nicht besonders glücklich aus. »Papa hat sowieso ständig etwas an mir auszusetzen.«
»Er mag mich nicht! Gib es nur zu!« Schmollend schob Angela ihre Unterlippe nach vorn. »Er ist nicht gerade nett zu mir. Ich habe bereits überlegt abzureisen.« Unter halbgesenkten Lidern sah sie ihn jetzt verführerisch an. Sie wartete und sie wurde enttäuscht. Andy bat sie nicht zu bleiben. Sein Kopf sank noch tiefer. Wie ein kleiner Junge begann er mit der Schuhspitze im Sand zu scharren.
»Ich weiß! Ich habe mich deswegen heftig mit meinem Vater gestritten. Papa meint, daß es besser ist, wenn du abreist.«
»Und du? Du hast mich eingeladen! Hast du vergessen, daß ich abreisen wollte?«
»Nein! Ich habe Papa auch gesagt, daß ich dich überredet habe, in Auefelden zu bleiben.« Andy war nun sehr verlegen und hochrot im Gesicht.
»Ist das alles? Du bist ein Feigling, Andy! Aber ich habe begriffen, daß ich hier unerwünscht bin. Ich werde abreisen.« Sie drehte sich um.
»Nein, nein… So war es nicht gemeint.« Andy machte drei große Schritte, dann packte er sie am Arm. »Ich weiß nur wirklich nicht…« Er zögerte kurz, dann platzte er heraus: »Papa hat mit Herrn Frehner gesprochen.«
»Aha! Mir scheint offensichtlich niemand mehr zu glauben!« Heftig entzog Angela ihm den Arm.
»Du mußt Herrn Frehner auch verstehen, er war völlig verzweifelt. Zuerst hat er seine Frau verloren, und dann sah es so aus, als würde er auch Patrick verlieren.« Andy wurde eifriger. »Jetzt wird aber alles wieder gut. Herr Frehner weiß doch, wie lebhaft sein Sohn ist. Er kann dir nicht weiterhin die Schuld geben. Jetzt kann man sicher auch wieder vernünftig mit ihm sprechen.«
»Wie meinst du das?«
»Patrick wird wieder ganz gesund. Ich komme gerade aus der Klinik. Ich durfte Patrick besuchen, nur für ein paar Minuten, aber er hat mich erkannt und angelächelt.«
»Du bist in der Klinik gewesen? Und ich warte hier auf dich!« Angela dachte stets nur an sich, und so gewann der Ärger wieder die Oberhand.
Verwirrt sah Andy sie an. Ja, hatte sie denn nicht begriffen? Patrick würde nicht sterben! »Ich mußte einfach in die Klinik. Ich mußte wissen, wie es Patrick geht. Hast du dir denn keine Sorgen gemacht?«
»Natürlich! Ich wäre auch bei Patrick geblieben. Du weißt doch, daß Herr Frehner mir nahegelegt hat zu gehen.«
»Ich mußte jedenfalls hin!« beteuerte Andy erneut. »Ich werde dafür morgen länger arbeiten. Weißt du… wir sind natürlich nicht schuld, und trotzdem… Natürlich hätten wir nichts verhindern können, aber ich war froh, daß der Kleine weggelaufen war. Ich wollte mit dir allein sein.« Er sah sie bei diesen Worten nicht an.
»Andy, dagegen muß ich mich verwahren!« Angela streckte sich. »Ich habe meine Aufsichtspflicht nicht vernachlässigt. Ich habe Patrick nicht aus den Augen gelassen.« Er hob den Blick und sah sie an, da schränkte sie ein: »Wenn, dann wirklich nur für ein paar Minuten. Aber das hätte nichts geändert. Patrick war bereits infiziert.«
»Ich weiß!« Andys Arme sanken hinab, dann fuhr er sich mit beiden Händen durch das Haar und lächelte unsicher. »Wir brauchen uns auch keine Gedanken mehr zu machen. Patrick wird wieder völlig gesund. Du magst Patrick doch?«
»Natürlich! Ich wollte ihm die Mutter ersetzen.«
»Dann ist doch alles in Ordnung! Wir werden mit Herrn Frehner reden. Du wirst sicher in Zukunft noch besser auf Patrick aufpassen als bisher.«
»Ich habe immer gut auf Patrick aufgepaßt.« Angela wurde immer zorniger. »Ich möchte wirklich wissen, was Ingo, Herr Frehner, über mich erzählt.«
»Ich weiß nicht genau… Papa hat nur gemeint… Aber das ist doch egal! Bald wird Patrick wieder munter herumspringen, hat die Frau Doktor gesagt, und dann braucht Herr Frehner jemanden, der auf ihn aufpaßt.«
»Ich laufe Herrn Frehner nicht nach«, sagte Angela, obwohl sie dies nur zu gern getan hätte.
»Du kannst Patrick doch besuchen. Herr Frehner wird dann sehen, daß du Patrick magst.«
Angela wandte den Kopf etwas ab. Andy sollte nicht sehen, daß dieser Vorschlag ihr gefiel. Sie würde Patrick ein Geschenk mitbringen. Alle sollten sehen, wie sehr sie Patrick liebte. Sie war ja nicht abgereist, da sie sich um ihn gesorgt hatte.
»Patrick hat mir so gefehlt«, sagte sie daher heuchlerisch, als sie sich Andy wieder zuwandte. »Am liebsten würde ich gleich zu ihm in die Klinik gehen.«
»Dazu ist es jetzt schon zu spät.«
Prompt erschien Angelas Schmollmund. »Warum hast du mir nicht gesagt, daß du in die Klinik willst? Ich hätte dich begleitet.«
»Ich wollte doch nur wissen, wie es Patrick geht. Ich hielt die Ungewißheit einfach nicht mehr aus. Und du, du hast nie nach ihm gefragt.«
Angela schluckte die heftige Erwiderung, die ihr auf der Zunge lag, hinunter. War das etwa ein versteckter Vorwurf? Sie sah ihn an, er jedoch lächelte unsicher. Angelas Mundwinkel bogen sich nach unten. Er war wirklich noch ein dummer Junge. Ingo war ein Mann! Sie unterdrückte einen Seufzer, nahm sich aber vor, noch einmal ihre Angel nach Ingo auszuwerfen. Ein Versuch würde sich lohnen.
*
Mit einem großen weißen Teddybär unter dem Arm betrat Angela Wunter die Klinik am See. Dem Portier nickte sie nur gnädig zu. Sie dachte nicht daran, sich von ihm aufhalten zu lassen, den Weg zur Kinderstation kannte sie schließlich. Ratlos stand sie dann jedoch auf dem Gang. In welchem Zimmer lag Patrick? Sie hatte vergessen, Andy danach zu fragen.
»Kann ich Ihnen helfen?« Eine Schwester fragte es freundlich.
»Ich will jemanden besuchen, sehen Sie das nicht?« fuhr Angela sie an.
Die Schwester war noch jung, aber sie ließ sich von Angela nicht einschüchtern. Sie hielt ihrem Blick stand und erklärte: »Die Besuchszeit ist schon beendet.«
»Wollen Sie damit etwa sagen, daß ich nicht mehr zu dem Kind kann?« Angela sah die Schwester empört an. Sie hatte bewußt die späte Nachmittagsstunde gewählt, weil sie hoffte, so Ingo zu begegnen. »Ich habe jetzt erst erfahren, daß es Patrick bessergeht.«
»Sie wollen zu Patrick Frehner? Es wäre besser, wenn Sie morgen wiederkommen würden. Patrick hat heute bereits sehr viel Besuch gehabt. Er wird müde sein.«
»Sie wollen mich nicht zu dem Kind lassen? Was fällt Ihnen ein! Ich bin die Mutter, das heißt, eigentlich bin ich die Tante, ich versuche jedoch, Patrick die Mutter zu ersetzen.« Angela hatte die Stimme erhoben, und so war man auf sie aufmerksam geworden. Dr. Astrid Mertens kam heran.
»Schon gut, Schwester!« Sie lächelte der jungen Schwester zu, dann wandte sie sich an Angela, und jetzt war ihre Miene kühl. »Sie wünschen?«
»Das fragen Sie noch?« Angelas Gesichtsausdruck wurde noch eine Spur arroganter. »Ich möchte Patrick sehen. Ich möchte mich davon überzeugen, daß es ihm gutgeht.«
»Es geht ihm gut. Er kommt wieder zu Kräften, jeden Tag etwas mehr.« Astrid überlegte kurz. Sie wußte, daß Herr Frehner nicht gut auf diese Frau zu sprechen war. Auch sie empfand Abneigung. Ihr Gefühl sagte ihr, daß diese Frau eiskalt war. »Patrick braucht noch sehr viel Ruhe«, fuhr sie entschlossen fort. »Ich muß Sie daher bitten, ein andermal wiederzukommen.«
»Ich denke nicht daran! Ich will endlich das Kind sehen. Monatelang habe ich mich für das Kind aufgeopfert…« Angela brach ab. Sie erkannte selbst, daß dies nicht der richtige Ton war. »Ich habe mir große Sorgen gemacht. Ich muß Ihnen danken, Frau Doktor! Sie haben so viel für Patrick getan. Nirgends wäre er so gut aufgehoben gewesen.«
Angela streckte Astrid ihre rechte Hand hin. Am liebsten hätte Astrid diese übersehen. Sie nahm sie dann doch, ließ sie aber sofort wieder los.
»Ich bin ja so glücklich«, sagte Angela nun und dabei lächelte sie strahlend. »Patrick wird wieder ganz gesund werden. Bitte, Frau Doktor, ich möchte nur einen kurzen Blick auf ihn werfen.« Sie hielt Astrid nun den Bären entgegen. »Ich möchte ihm den Teddy geben. Er hat sich schon so lange einen Teddybär gewünscht.«
Astrid wußte nicht, was sie sagen sollte.
»Ich bleibe wirklich nur einen Augenblick. Morgen komme ich dann mit Herrn Frehner zusammen wieder.« Angela lächelte noch immer, und Astrid zuckte die Achseln. Offensichtlich hatte Herr Frehner ihr selbst von der Genesung seines Sohnes erzählt.
»Verraten Sie mir nun, auf welchem Zimmer Patrick liegt?« Das Lächeln fiel Angela immer schwerer. Sie preßte den Teddy an sich.
»Ich komme mit!«
»Das ist wirklich nicht nötig«, flötete Angela, aber Astrid hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Sie ging ein Stück den Gang entlang, dann öffnete sie vorsichtig eine Tür. Dort wandte sie sich nach Angela um, legte den Finger an die Lippen.
»Er schläft! Es war für ihn ein anstrengender Tag. Es ist wirklich besser, wenn Sie morgen wiederkommen.«
Angela achtete nicht auf die Ärztin. Ehe Astrid sich versah, hatte sie sich an ihr vorbeigedrängt. Sie nahm keine Rücksicht auf das schlafende Kind, eilte zum Bett. »Hallo, Patrick!«
Patrick fuhr zusammen. Er riß die Augen auf, sah Angela und fing zu weinen an.
»Aber Patrick! Ich bin es, deine liebe Tante Angela!«
Astrid versuchte, ihre Empörung hinunterzuschlucken. Sie packte Angelas Arm. »Warum haben Sie Patrick geweckt? Ich muß Sie bitten zu gehen!«
Angela entzog der Ärztin ihren Arm. »Ich denke nicht daran! Patrick, Liebling, sieh, was dir deine Tante mitgebracht hat!« Sie hielt ihm den Bären hin.
Patrick drehte den Kopf zur Seite. Er schluchzte heftig. Offensichtlich hatte er Angst.
Astrid beugte sich über das Kind, nahm es zärtlich in seine Arme. »Du mußt nicht weinen. Es ist alles gut!«
Patrick schmiegte sich an die Ärztin. Angela und den Teddybären beachtete er überhaupt nicht. Das versetzte Angela in Rage.
»Hören Sie! Was mischen Sie sich ein? Ich komme mit Patrick schon allein zurecht.«
»Das Kind hat geschlafen, es ist müde.« Astrid sagte es ruhig. Sie wollte Patrick nicht noch mehr erschrecken. Dabei strich sie ihm liebevoll über das Haar.
»Patrick, sieh nur, was ich dir mitgebracht habe! Er gehört dir.«
»Will nicht! Weg! Tante weg!«
»Aber Liebling! Was hast du denn? Ich bin deine liebe Tante Angela. Ich habe dir etwas mitgebracht.« Angela legte den Bären auf die Bettdecke. Sie wollte Patrick Astrid aus den Armen nehmen, aber da fing dieser zu brüllen an.
»Gehen Sie endlich!« Astrid wünschte sich ihren Vater herbei. »Merken Sie nicht, daß das Kind Angst hat?«
»Sie hetzen Patrick gegen mich auf! Das lasse ich mir nicht gefallen!«
Astrid wurde einer Entgegnung enthoben, denn ihr Mann trat ins Zimmer. Er erfaßte die Situation auf den ersten Blick. »Fräulein Wunter, ich muß Sie ersuchen zu gehen.«
»Wollen Sie mir etwa einen Besuch bei meinem Pflegekind verbieten?« Angela lachte schrill auf.
»Genau das! Ich bin Patricks Arzt, und wie ich sehe, regt Ihr Besuch das Kind auf. Bitte, kommen Sie!« Dr. Mertens öffnete die Tür weiter.
»Das ist doch lächerlich! Wie Sie wissen, habe ich mich monatelang um Patrick gekümmert. Ich werde mich beschweren.«
Alexander Mertens ging ruhig auf Angela zu. »Bei wem? Meine Frau und ich leiten die Kinderstation. In Ihrem eigenen Interesse ersuche ich Sie noch einmal, keine weitere Szene zu machen. Ich lasse Sie sonst wirklich hinauswerfen.«
Angela las in den Augen des Arztes, daß es ihm ernst war. Da siegte ihre Vernunft. »Wie ich hörte, haben Sie sehr viel für Patrick getan. Ich werde daher darauf verzichten, Herrn Frehner von Ihrem ungehörigen Benehmen in Kenntnis zu setzen. Ich wollte dem Kind nur eine Freude machen. Leider verhinderte dies Ihre Frau. Bitte, würden Sie Patrick nun den Teddybär geben?« Mit einer heftigen Bewegung gab Angela dem Arzt ihr Geschenk, dann verließ sie das Zimmer, ohne Patrick oder Astrid noch eines Blickes zu würdigen.
»Das darf doch nicht wahr sein«, murmelte Astrid, dann bemühte sie sich jedoch weiter um Patrick. Er hörte auch gleich auf zu weinen, trotzdem blieb sie bei ihm. Sie sorgte selbst dafür, daß er genügend zu Abend aß, und freute sich, als sie seinen guten Appetit bemerkte.
*
Angela hielt sich noch immer in der Nähe der Klinik auf. Sie mußte irgend etwas unternehmen, wußte jedoch nicht, was. Klein beigeben und abreisen kam überhaupt nicht in Frage. Wieder einmal übersah sie dabei die Tatsachen. Sie bildete sich ein, ihrem Ziel bereits sehr nahe gewesen zu sein. Wäre Patricks Erkrankung nicht gekommen, hätte Ingo sicher erkannt, daß er sie brauchte. Schließlich und endlich war auch er nur ein Mann. Sie war nahe daran gewesen, ihn von ihren Reizen zu überzeugen.
In der Nähe des Klinikeinganges setzte sie sich auf eine Bank. Angela Frehner – das hörte sich gut an. Dafür mußte man auch einige Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen können. Der Flirt mit Andy war ja ganz nett gewesen, aber auf die Dauer nicht befriedigend. Sie gestand sich ein, daß Andy es war, der sich zurückgezogen hatte. Jedenfalls zog es sie nicht auf den Hof zurück. Sie beobachtete das Treiben vor der Klinik in der Hoffnung, daß Ingo auftauchen würde. Mit der Zeit begann sie sich zu langweilen. Viele Menschen gingen vorbei, alle schienen es eilig zu haben, keiner beachtete sie. Da fiel Angela eine Frau auf. Sie ging langsam, blieb immer wieder stehen. Sie schien Zeit zu haben. Angela sprang auf. Sie hatte das Gefühl gehabt, Ingos Auto zu sehen. Enttäuscht stellte sie jedoch fest, daß sie sich geirrt hatte. Ihr Blick fiel wieder auf die Frau. Sie stand da und starrte zur Klinik hin. Obwohl die Sonne bereits am Untergehen war, trug sie eine große Sonnenbrille. Angela wandte sich ab, sie ging bis zum Seeufer, kehrte dann wieder um. Von Ingo noch immer keine Spur. Sollte sie bei ihm anrufen? Sie mußte sich entscheiden. Sie ging auf die Telefonzelle zu, die sich direkt neben dem Klinikeingang befand, und da sah sie die Frau wieder. Bis auf wenige Schritte hatte sie sich dem Eingang genähert, verharrte jetzt jedoch wieder. In Angela wuchs die Überzeugung, daß mit der Frau etwas nicht in Ordnung war. Bisher hatte sie von ihr nur den Rücken gesehen. Sie beschloß, dicht an ihr vorbeizugehen und einen Blick in ihr Gesicht zu werfen.
Angela befand sich nur noch wenige Meter hinter der Frau, als dieser die Handtasche entglitt. Sie machte einige rasche Schritte, bückte sich und hob die Tasche auf. So war sie der Frau zuvorgekommen.
»Hier!«
»Oh, danke! Wie dumm von mir!« Die Frau nahm die Handtasche entgegen.
»Warten Sie auf jemanden?« fragte Angela neugierig.
»Warten… nein. Ich wollte nur… ich muß in die Klinik.« Plötzlich schien es die Frau eilig zu haben.
»Was haben Sie?« rief Angela ärgerlich hinter ihr her.
Die Frau blieb stehen, wandte den Kopf. »Entschuldigen Sie! Es war sehr freundlich von Ihnen. Ich muß mich jetzt jedoch beeilen.« Auf dem blassen Gesicht erschien ein gequältes Lächeln. Dann drehte die Frau sich wieder um. Beinahe wäre sie gestolpert.
Unwillkürlich sah Angela ihr nach. Der Haltung nach hatte sie die Frau für älter gehalten, der Blick in ihr Gesicht hatte ihr jedoch gezeigt, daß sie noch jung war. Im Eingang wandte sie sich noch einmal um, und da fiel bei Angela der Groschen. Das war doch die Frau, die Andy und sie in die Klinik gebracht hatten, die Frau, die dann einfach verschwunden war! Zweimal war die Polizei ihretwegen auf dem Hof von Andys Vater gewesen. Nun war es Angela, die unbeweglich dastand und auf den Eingang starrte, in dem die Frau inzwischen verschwunden war.
*
Nun stand Susanne in der Halle der Klinik. Sie wollte nicht auffallen, sie wollte nur ihr Kind sehen. Sie mußte sich davon überzeugen, daß es ihrer Manuela gutging. Nur einen Blick wollte sie auf das Kind werfen, dann wollte sie für immer aus seinem Leben verschwinden. Sie würde nach München zurückkehren und nie wieder nach Auefelden kommen.
Die Portiersloge war nicht besetzt und die Tür zur Aufnahme geschlossen. Vom Bahnhof aus hatte Susanne angerufen und erfahren, daß keine Besuchszeit mehr war und Dr. Lindau zur Zeit nicht in der Klinik war.
Susanne sah sich um. Nun bereute sie es, nicht den Hintereingang gewählt zu haben. Durch diesen hatte sie vor kurzem die Klinik ungesehen verlassen. Dort war ein Lift, da die Treppe. Susanne entschied sich für die Treppe. Sie hatte diese noch nicht erreicht, als Angela ihr nachkam.
»Warten Sie, ich komme mit!«
»Danke, ich finde mich schon allein zurecht.«
»Kennen Sie mich nicht?« Angela vertrat Susanne den Weg. »Sie müßten sich eigentlich bei mir bedanken. Ich habe dafür gesorgt, daß Sie in die Klinik gebracht wurden.«
»Der kleine Junge… er gehörte zu Ihnen?« Susanne sah unsicher auf die Frau. Sie konnte sich an ihr Gesicht nicht erinnern, aber die Stimme, sie hatte sie jetzt wieder deutlich im Ohr. Jetzt erinnerte sie sich genau, da war auch ein junger Bursche gewesen. Er hatte ihr geholfen, während dieses Mädchen nur hämische Bemerkungen gemacht hatte.
»Was hat dem kleinen Jungen denn gefehlt?« fragte sie. »Ein süßes Kind, doch plötzlich wurde sein ganzer Körper von einem heftigen Krampf geschüttelt. Ich wollte helfen…«
»Das hätten Sie lieber bleiben lassen sollen! Wir hatten dann alle Hände voll zu tun. Sie kippten einfach um. Unverantwortlich war das von Ihnen! In Ihrem Zustand mischten Sie sich noch in die Angelegenheiten fremder Leute.« Endlich hatte Angela jemanden, an dem sie ihren Ärger auslassen konnte. Diesem Mädchen gegenüber fühlte sie sich überlegen.
»Das Kind brauchte doch Hilfe.« Susanne fuhr sich unsicher ins Haar, dabei bemerkte sie, daß sie die Sonnenbrille noch trug. Sie nahm sie ab. Wenn dieses Mädchen sie erkannt hatte, dann würde auch die Ärztin sie erkennen. »Ich muß jetzt gehen«, murmelte sie.
»Mit Ihnen stimmt doch etwas nicht«, höhnte Angela. »Wissen Sie, daß die Polizei Sie sucht?«
»Die Polizei? Aber ich habe doch nichts getan. Ich habe inzwischen Arbeit gefunden. Für die Krankenhauskosten werde ich aufkommen, nur für das Kind…« Noch kannte niemand ihren Namen. Sie würde Dr. Lindau noch einmal anrufen, sie würde alles auf Heller und Pfennig zurückzahlen und sie würde ihn bitten, für ihr Kind Eltern zu suchen. Sicher kannte er Ehepaare, die keine Kinder bekommen konnten, sich aber welche wünschten. Sie vertraute Dr. Lindau. Er wurde sicher die richtige Wahl treffen.
Sie sah sich um. Inzwischen war die Halle nicht mehr leer, doch noch beachtete niemand die beiden Frauen am Fuß der Treppe.
»Ich muß jetzt gehen.«
»Wollen Sie mir nicht sagen, warum die Polizei Sie sucht? Sie wollten nicht in die Klinik.« Angela glaubte zu begreifen. »Sie waren damals bereits polizeilich registriert. Ich habe ja gleich gewußt, daß mit Ihnen etwas nicht stimmt. Andy wollte es natürlich nicht einsehen. Er mußte ja helfen! Was haben Sie denn verbrochen? Sind Sie eine Betrügerin?«
»Ich… nein!«
»Mir brauchen Sie nichts vorzumachen. Sie wollten nicht, daß wir Sie in die Klinik bringen.«
»Das stimmt! Ich wollte auch nicht mehr in die Wohnung zurück.«
»Warum werden Sie von der Polizei gesucht?« fragte Angela erneut. »Haben Sie eine Bank ausgeraubt?« Spöttisch lächelte sie. »Wen haben Sie bestohlen?«
»Ich bin doch keine Diebin!« Sekundenlang starrte Susanne in das puppenhafte Gesicht vor ihr, dann wollte sie fliehen. Sie wollte an dieser Frau vorbei. Aber darauf hatte Angela nur gewartet. Sie griff zu und bekam Susannes Arm zu fassen.
»Sie bleiben hier!« zischte sie boshaft.
»Ich habe nichts getan! Bitte!« Susanne geriet in Panik. Sie versuchte freizukommen. Daher bemerkte sie nicht, daß Dr. Lindau die Klinik betreten hatte. Angela jedoch bemerkte es. Sie griff noch fester zu und rief triumphierend: »Polizei! Rufen Sie die Polizei!«
»Aber…« Mehr brachte Susanne nicht mehr heraus. Sie ergab sich in ihr Schicksal, sah dem Chefarzt, der mit raschen Schritten auf sie zukam, mit weit aufgerissenen Augen entgegen.
»Sie wird von der Polizei gesucht«, kreischte Angela. »Ich habe sie sofort erkannt. Schließlich habe ich sie in die Klinik gefahren.«
»Lassen Sie die junge Frau los!« Dr. Lindau lächelte, er war froh, sie zu sehen. »Sie sind also gekommen, das ist schön!«
Angela war so verblüfft, daß sie Susannes Arm losließ. »Herr Doktor! Sie scheinen nicht zu wissen, wer diese Person ist. Sie hat sich heimlich aus Ihrer Klinik geschlichen.«
»Ich weiß!« Dr. Lindau lächelte Susanne freundlich zu.
Susanne sah in die gütigen Augen und schämte sich. »Ich wollte nicht zurückkommen. Ich wollte nur nach meinem Kind sehen. Nur ein einziges Mal wollte ich es sehen.«
»Wo ist der Vater des Kindes?«
»Es gibt keinen Vater«, sagte Susanne tonlos, und ihre Wangen brannten.
Genau das hatte der Chefarzt sich bereits gedacht. Diese junge Mutter hatte nicht mehr aus noch ein gewußt. Er suchte nach Worten, da drängte Angela: »Warum veranlassen Sie nicht, daß man die Polizei ruft? Jetzt kann man diese Betrügerin festnehmen, dann wird man erfahren, wer sie ist.«
»Ich heiße Brühl, Susanne Brühl! Heute habe ich meinen Ausweis dabei. Damals… Ich wollte nicht mehr zurück. Ich wußte nicht, wie es weitergehen sollte. Ich hatte kaum noch Geld, und in meinem Zustand hätte mir niemand Arbeit gegeben. Jetzt arbeite ich.«
»Kommen Sie, gehen wir in mein Büro.« Dr. Lindau legte Susanne die Hand auf die Schulter. Zu dem Portier, der fragend herankam, sagte er: »Es ist schon in Ordnung.«
»Nichts ist in Ordnung!« Angela schnappte nach Luft, empört zeigte sie auf Susanne. »Ich erkenne sie wieder. Sie hat uns alle getäuscht.«
»Das ist doch Unsinn!« sagte der Chefarzt scharf.
»Aber die Polizei sucht sie«, trumpfte Angela noch einmal auf. »Fragen Sie Herrn Seger. Zweimal war die Polizei auf dem Hof und hat uns nach dieser Frau gefragt. Herr Doktor, Sie dürfen sich nicht von ihr täuschen lassen. Sie lügt. Am Ende behauptet sie noch, daß sie als erste auf Patricks Erkrankung aufmerksam geworden ist.«
»War es nicht so?« fragte Dr. Lindau. Nachdenklich sah er auf Fräulein Wunter. Er hatte schon einiges über sie gehört. Er fragte sich, wie ein so hübsches Mädchen so niederträchtig sein konnte.
»Wo denken Sie hin? Ich habe Patrick keinen Augenblick lang aus den Augen gelassen. Aber lassen wir das!« Angela warf ihren Kopf in den Nacken. »Wollen Sie nicht endlich die Polizei rufen?«
»Ich wüßte nicht, warum! Natürlich werde ich der Polizei Bescheid geben. Man muß jetzt ja nicht mehr nach unserer unbekannten jungen Mutter suchen.«
Angela verstand die Welt nicht mehr. Erneut zeigte sie auf Susanne und rief: »Sie ist eine Diebin!«
»Wie können Sie so etwas behaupten?« fragte der Chefarzt scharf.
Sekundenlang stutzte Angela, dann behauptete sie frech: »Sie hat mich beklaut. Deswegen habe ich sie doch festgehalten.«
»Wie?« Dr. Lindau glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Sein Blick ging zwischen den beiden jungen Frauen hin und her.
»Sie hat mich bestohlen«, behauptete Angela noch einmal. »Ich hatte Geld bei mir, ich hatte doch für Patrick den Teddy gekauft.«
Die Anklage stand im Raum. Susanne brachte keinen Ton hervor. Damit bekam Angela noch mehr die Oberhand.
»Sehen Sie doch nach«, forderte sie. »Sie muß die hundert Mark in der Handtasche haben.« Unter halbgesenkten Lidern warf sie Susanne einen triumphierenden Blick zu. Als sie ihre Tasche aufgehoben hatte, hatte sie einen Hundertmarkschein gesehen. Er hatte lose in der Handtasche gesteckt.
»Das ist mein Geld«, sagte Susanne. »Ich habe als Kellnerin gearbeitet.«
»Und ich behaupte, es ist mein Geld. Sie haben es mir gestohlen und in Ihre Handtasche gesteckt. Los, machen Sie die Tasche auf!«
»Ich…« Susanne sah auf ihre Handtasche. Unwillkürlich preßte sie diese an sich. Die Beschuldigung trieb ihr das Blut in die Wangen. Sie wußte nicht, wie sie sich wehren sollte.
»Nun, Herr Doktor, überzeugen Sie sich doch! Sehen Sie nach!«
Dr. Lindau wußte nicht, was er tun sollte. Er sah in Angelas spöttisch funkelnde Augen, und für ihn gab es keinen Zweifel, daß diese Frau log. Da öffnete Susanne die Handtasche. Deutlich war der Hundertmarkschein zu sehen. Leise sagte sie: »Es ist mein Geld! Ich begreife nicht, wie diese Frau behaupten kann, ich hätte sie bestohlen.« Sie zitterte, auf keinen Fall wollte sie weinen.
»Ich bestehe darauf, daß die Polizei gerufen wird«, sagte Angela.
»Kommen Sie mit in mein Büro. Ich werde dort versuchen, diese Angelegenheit zu regeln«, sagte der Chefarzt. Der Blick, mit dem er Angela bedachte, hätte sie eigentlich zur Vernunft bringen müssen. Doch sie glaubte, sich endlich rächen zu können. Sie war davon überzeugt, in diesem hübschen Mädchen eine geeignete Person gefunden zu haben. So folgte sie dem Chefarzt mit hocherhobenem Kopf.
*
Im Büro des Chefarztes herrschte Schweigen. Dr. Lindau saß hinter seinem Schreibtisch, während die beiden Frauen auf der Couch Platz genommen hatten. Er hatte veranlaßt, daß ihnen Kaffee serviert wurde, aber keine von beiden hatte bisher die Tasse an den Mund geführt.
Dr. Lindau studierte die Gesichter der beiden Frauen. Susanne Brühl war verzweifelt. Ihr Gesicht war blaß, ihre Lider zuckten. Die Hände hielt sie im Schoß verkrampft. Angela Wunters Gesichtsausdruck konnte man als hochnäsig bezeichnen. Noch spielte sie die Überlegene, aber ihn konnte sie nicht täuschen. Er merkte, daß sie sehr nervös war. Jetzt spürte sie seinen Blick. Sie sprang auf.
»Ich finde das unerhört! Worauf warten wir hier? Diese Person wurde von mir doch überführt. Hatte sie den Hundertmarkschein in der Handtasche oder nicht?« Erneut zog Angela eine Schau ab, damit versuchte sie, die Angst zu unterdrücken. Gleich würde Andy hier sein. Dr. Lindau hatte bei ihm angerufen und ihn um sein Kommen gebeten. Würde er ihre Angaben bestätigen?
»Lange müssen wir sicher nicht mehr warten, Herr Frehner sowie der junge Seger haben versprochen, sogleich zu kommen.«
»Herr Frehner? Was Herr Frehner dabei soll, verstehe ich überhaupt nicht.« Angela streckte sich.
»Das wird sich herausstellen.« Ein feines Lächeln huschte um den Mund des Chefarztes. Als er jedoch das Erschrecken von Susanne merkte, erklärte er: »Ich habe mit Herrn Frehner über unsere unbekannte junge Mutter gesprochen. Wir waren bisher der Ansicht, daß es ihr zu verdanken ist, daß Patrick noch rechtzeitig in die Klinik kam.«
Angela wurde blaß, dann rot. »Herr Seger und ich haben Patrick in die Klinik gebracht.«
»Herr Seger hat zugegeben, daß Patrick unbeaufsichtigt gewesen ist.«
»Lächerlich! Das ist doch lächerlich!« Angela verlor ihre Fassung. »Hier geht es um einen Diebstahl!«
»Auch darüber werden wir gleich noch sprechen. Bitte, setzen Sie sich wieder.«
»Ich denke nicht daran! Hier läuft doch etwas verkehrt! Diese Person wird von der Polizei gesucht, nicht ich, Herr Doktor!« Angela atmete erregt. »Ich habe sie nur erkannt. Es war meine Pflicht, sie festzuhalten.«
Dr. Lindau zog die Augenbrauen in die Höhe. »Sie haben Fräulein Brühl des Diebstahls beschuldigt«, erinnerte er kühl.
Darauf wußte Angela nichts zu sagen. Ihr Blick glitt zur Tür. War es nicht besser zu verschwinden? Aber dazu kam es nicht mehr. Es klopfte, und Andy trat ein. Unsicher blieb er an der Tür stehen.
Dr. Lindau erhob sich. Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor, ging auf den jungen Bauernsohn zu und gab ihm die Hand. »Ich bin froh, daß du gekommen bist. Du bist mit Fräulein Wunter befreundet, nicht wahr?«
Andy zögerte kurz. Er hielt den Blick gesenkt und vermied es, Angela anzusehen. »Ja«, sagte er dann. »Fräulein Wunter wohnt zur Zeit bei uns.«
»Andy, du mußt mir helfen.« Angela eilte auf ihn zu. »Ich werde hier beschuldigt…«
»Fräulein Wunter, wir wollen nicht schon wieder die Tatsachen verdrehen. Sie haben Fräulein Brühl beschuldigt.« Dr. Lindau schüttelte den Kopf. Die Unverfrorenheit dieser jungen Frau überraschte ihn stets aufs neue. Er trat zwischen sie und den jungen Seger. »Andy, das ist Fräulein Brühl!« Er zeigte auf Susanne. »Du erkennst sie sicher wieder.«
»Natürlich! Geht es Ihnen gut?« Andy wollte zur Couch gehen, um das Mädchen zu begrüßen, doch Angela hängte sich an ihn. Sie schlang ihm ihre Arme um den Nacken.
»Andy! Sie ist eine ledige Mutter, hat für ihr Kind nicht einmal einen Vater. Sie hat uns wirklich schon genug Schwierigkeiten gemacht.«
»Und?« wunderte Andy sich. Er fühlte sich unter Angelas Umarmung nicht wohl, wußte jedoch nicht, was er tun sollte.
»Hast du es vergessen?« Angela schmiegte sich enger an ihn. »Die Polizei war ihretwegen zweimal auf dem Hof. Sie lügt, sie stiehlt.« Ihre rechte Hand streichelte seinen Haaransatz. Sie versuchte, ihn wieder in sich verliebt zu machen. »Du weißt, daß ich ins Krankenhaus wollte. Ich wollte Patrick besuchen, ihm ein Geschenk mitbringen.« Sie sah ihm ins Gesicht, wartete auf seine Bestätigung.
Andy nickte. Da fuhr sie erleichtert fort: »Ich habe einen großen, weißen Teddybären für Patrick gekauft. Und dann, dann hat sie mich bestohlen!« Angela löste sich von ihrem Freund, anklagend zeigte sie auf Susanne. »Sie bestreitet es natürlich. Aber sie hat die hundert Mark. Ich habe sie in ihrer Handtasche gesehen.«
Andy verstand nicht. Er trat zur Seite, um zwischen sich und Angela etwas Abstand zu bringen, dann sah er fragend den Chefarzt an.
»Fräulein Wunter bezichtigt Fräulein Brühl des Diebstahls«, sagte dieser. »Ich habe dich um dein Kommen gebeten, weil…«
»Lassen Sie das doch mich erklären«, fiel Angela dem Chefarzt ins Wort. Hastig sprach sie weiter: »Es geht um hundert Mark. Du weißt doch, daß ich zweihundert Mark eingesteckt habe? Hundert Mark habe ich gewechselt, den anderen Hundertmarkschein hat sie.« Wieder zeigte sie auf Susanne, um dann beschwörend Andy anzusehen.
Andy wußte nicht, wie ihm geschah. Angelas Anblick brachte wie stets sein Blut in Wallung, doch er spürte, daß irgend etwas nicht stimmte. Er drehte den Kopf zur Seite, versuchte, alles in die richtige Reihenfolge zu bekommen.
»Andy, was hast du? Du glaubst mir doch?«
Irgendwie verfehlte die schmollende Stimme diesmal ihre Wirkung. Andy fiel der Vater ein, er hatte ihn vor Angela gewarnt. Er war sich dessen nicht bewußt, aber er seufzte laut und deutlich.
Angela, die Andy nicht aus den Augen gelassen hatte, biß sich in die Unterlippe. Warum half er ihr denn nicht? Er wandte sich jetzt unsicher an Dr. Lindau. »Herr Doktor, warum haben Sie mich gebeten zu kommen?«
Angela hielt den Atem an. Ja, begriff er denn nicht? Vergebens versuchte sie, ihm mit den Augen ein Zeichen zu geben, er sah nicht zu ihr her.
»Es geht um die besagten hundert Mark«, sagte Dr. Lindau. »Fräulein Wunter sagte, daß du bezeugen kannst, daß sie zweihundert Mark dabei hatte.«
»Ich… Angela wollte ein Geschenk für Patrick kaufen.«
»Genau! Und ich hatte zweihundert Mark dabei.«
»Kannst du das bestätigen?« fragte Dr. Lindau. Er hoffte, daß Andy das nicht konnte. Für ihn stand fest, daß Susanne Brühl keine Diebin war. Wie sollte er jedoch gegen Fräulein Wunters Behauptung ankommen?
»Ich…« Andy sah jetzt doch zu Angela hin, dann senkte er die Lider. Seine Ehrlichkeit siegte. »Ich weiß nicht, wieviel Geld Angela, Fräulein Wunter, bei sich hatte.« Er machte ein paar Schritte auf Angela zu. »Warum sagst du, daß ich es weiß? Wir haben überhaupt nicht über Geld gesprochen.«
»Du glaubst mir also auch nicht? Und dabei willst du mein Freund sein! Auf so eine Freundschaft kann ich verzichten. Ich reise ab. Von Auefelden habe ich endgültig genug!« Ihr Ausbruch kam unerwartet. Andy starrte sie genauso verwirrt an wie Susanne.
In diese Situation platzte Ingo Frehner. Er hatte kurz zuvor von Angelas Besuch bei seinem Sohn erfahren. Er war ärgerlich und nahm daher kein Blatt vor den Mund. Ohne die anderen Anwesenden zu beachten, fuhr er sie an: »Was tust du hier? Ich habe angeordnet, daß man dich nicht mehr zu Patrick läßt.«
Selbst Angela, die sich gern etwas vormachte, begriff, daß es für sie hier nichts mehr zu holen gab. Sie hätte gern das letzte Wort behalten, aber es fiel ihr nichts mehr ein. So drehte sie sich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Büro. Laut schlug die Tür hinter ihr zu.
*
»Das war’s!« Dr. Lindau rieb sich die Hände. »Ich hoffe, Andy, daß du darüber hinwegkommst. Diesem Mädchen wärst du nicht gewachsen gewesen.«
Andy nagte an seiner Unterlippe. Beinahe wäre er Angela nachgelaufen. »Papa meinte auch, daß sie eine… eine…« Er verzichtete auf den Ausdruck, grinste nur verlegen.
»Kopf hoch, Andy!« Ingo Frehner klopfte dem jungen Burschen auf die Schulter. »Inzwischen ist mir klar, daß sie es auf mich abgesehen hatte. Sie wollte meine Frau werden. Andy, ich glaube, wir beide sind mit einem blauen Auge davongekommen. Du bist übrigens auch zu dem Fest eingeladen, das ich gebe. Da machen wir ein Faß auf! Ich finde, ich habe eine Menge Gründe zu feiern. Der wichtigste jedoch ist, daß Patrick wieder ganz gesund wird.«
»Ich hätte da noch einen Gast für Sie, Herr Frehner«, meinte Dr. Lindau. »Darf ich Ihnen Susanne Brühl vorstellen?« Er lächelte Susanne an. »Fräulein Brühl, machen Sie nicht so ein Gesicht. Jetzt ist alles in Ordnung. Ich habe keinen Augenblick lang daran geglaubt, daß Sie eine Diebin sind.«
Susanne, die sich erhoben hatte, ließ sich wieder auf die Couch fallen. Sie konnte nicht anders, jetzt, da alles vorbei war, kamen die Tränen. Sie verbarg das Gesicht zwischen den Händen und ihre Schultern zuckten in verhaltenem Weinen.
»Hat Angela da auch ihre Hände im Spiel gehabt?« fragte Ingo. Er sah auf die weinende junge Frau.
Mit wenigen Worten erzählte Dr. Lindau das Vorgefallene. Ingos Miene verfinsterte sich. Man sah ihm an, daß er Angela, hätte er sie in die Hände bekommen, am liebsten erwürgt hätte. Er trat zu Susanne.
»Hören Sie auf zu weinen, bitte! Ich kann Sie verstehen. Angela kann einem das Leben schon schwermachen. Das alles ist meine Schuld. Ich habe sie nach Auefelden geholt, habe ihr sogar meinen Sohn anvertraut.« Seine Lippen preßten sich aufeinander, dann stieß er hervor: »Ich war ein Narr!«
»Ich schlage vor, wir setzen uns alle, und dann, Fräulein Brühl, erzählen Sie uns von Ihren Sorgen. Von Fräulein Wunter werden Sie nicht mehr belästigt werden.«
»Sie sind so nett, Herr Doktor!« Susanne fuhr sich über die Augen. »Sie waren auch am Telefon so freundlich. Ich habe das gar nicht verdient. Ich war so dumm!« Wieder kamen ihr die Tränen und rollten ihr über die Wangen. »Ich wollte nicht, daß mein Kind… Es sollte es gut haben. Wohin hätte ich mit ihm sollen?« Von heftigem Schluchzen immer wieder unterbrochen, mußte sie öfter innehalten.
»Bitte, Fräulein Brühl, Sie müssen versuchen, zusammenhängend zu erzählen«, meinte Dr. Lindau.
»Ich kann nicht! Ich schäme mich. Ich war so dumm!«
»Da kann ich nicht widersprechen«, meinte Dr. Lindau. »Das dümmste, was Sie getan haben, war, von hier wegzulaufen.«
»Was hätte ich sonst tun sollen? Ich dachte, daß das Kind hier gut aufgehoben ist. Ich kann mein Kind nicht behalten.« Erneut brach es aus Susanne heraus. Diesmal ließ Dr. Lindau sie reden, und mit der Zeit wurde sie ruhiger, ihr Bericht zusammenhängender.
»Ich habe mein Kind noch immer nicht gesehen. Bitte, Herr Doktor!« Bisher hatte Susanne keinen der beiden Männer angesehen, jetzt suchte ihr Blick den des Chefarztes. »Ich will mein kleines Mädchen nur ein einziges Mal sehen, dann gehe ich wieder.«
»Natürlich dürfen Sie Ihr Kind sehen, aber Sie werden sich auch um das Kind kümmern müssen.« Dr. Lindau hob den Kopf. Er sah zu Ingo Frehner hin. Dieser verstand und nickte.
»Fräulein Brühl«, wandte er sich freundlich an die junge Mutter. »Sie haben in den letzten Wochen einiges mitgemacht. Ihr Freund war ein Betrüger. Sie müssen ihn vergessen, das Leben ist für Sie noch nicht zu Ende.«
Zum ersten Mal sah Susanne den Hotelier richtig an. Erneut schoß ihr das Blut ins Gesicht. Auch dieser Mann meinte es gut mit ihr. Das hatte sie nicht verdient. So begann sie erneut zu sprechen. Sie wollte, daß der Mann wirklich alles von ihr wußte.
»Es war nicht schwer, mir etwas vorzumachen. Ich träumte von einer Karriere als Sängerin. Ich sah mich bereits auf der Bühne stehen, umgeben von jubelnden Fans. Natürlich war ich auch in Ralf verliebt. Er konnte so wunderbare Komplimente machen.« Sie schwieg kurz. »Ich hätte selbstverständlich schon vor Monaten bemerken müssen, daß mit Ralf etwas nicht stimmt. Heute ist mir klar, daß ich es gar nicht merken wollte. In mir wuchs ein neues Leben. Ich wollte das Kind und so machte ich mir weiter etwas vor. Ralf hatte nie daran gedacht, mich zu heiraten. Als er mein restliches Geld gehabt hat, da war er weg. Einen Monat saß ich noch in der Wohnung herum und wollte es nicht glauben. Ich hatte kaum noch Geld. Damals wollte ich nicht mehr weiterleben.«
Dr. Lindau hatte so etwas bereits vermutet, doch Ingo Frehner war entsetzt. »Wie konnten Sie so etwas nur denken! Das dürfen Sie nie wieder tun. Es geht immer irgendwie weiter, glauben Sie mir!«
Susanne fuhr sich erneut über die Augen, dann nickte sie. »Ich saß auf der Bank in der Nähe des Sees. Alles schien aus zu sein. Doch dann half mir dieser junge Mann,« Wieder mußte Susanne sich über die Augen wischen, die Tränen wollten schon wieder rinnen. »Er brachte mich hierher, und der Doktor sorgte dafür, daß mein Kind lebt.«
Andy saß mit rotem Kopf da. Seitdem Angela das Zimmer verlassen hatte, hatte er nicht mehr viel gesagt. Er hatte das Gefühl, nicht mehr erst einundzwanzig Jahre alt zu sein, sondern viele Jahre älter. Wie wenig hatte er doch vom Leben gewußt!
»Sie sind so anders als Angela. Sie denken nicht nur an sich. Ich wünsche Ihnen, daß Sie noch sehr glücklich werden.« Ungeschickt erhob er sich. »Es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Ich habe über so vieles nachzudenken.«
»Schon gut, Andy! Es war wirklich etwas viel.« Der Chefarzt verabschiedete ihn mit einem Händedruck.
»Was er gesagt hat, stimmt nicht«, sagte Susanne, nachdem er gegangen war. »Ich habe nur an meine Karriere gedacht. Ich wollte berühmt werden.«
»Sie dürfen sich nicht länger Vorwürfe machen.« Ingo Frehner beugte sich ihr entgegen. Er wollte nicht, daß sie weinte. In diesem Augenblick nahm er sich vor, alles zu tun, damit sie wieder lachen lernte. »Es wird alles gut! Ich werde dafür sorgen.«
Susanne sah den Mann an, von dem sie nur wußte, daß er der Vater des kleinen Jungen war. »Das ist sehr nett, aber ich…«
Ingo ließ sie nicht ausreden. »Es geht Patrick gut und es geht Ihrem Kind gut. Das ist doch das wichtigste.« Er griff nach ihrer Hand. »Dafür müssen wir dem Schicksal dankbar sein.« Nun drückte er ihre Hand. »Sie wollen sich doch um Ihr Kind kümmern?«
Susanne senkte den Kopf. Natürlich wollte sie, aber sie konnte es nicht. Sie mußte arbeiten. Da mischte sich Dr. Lindau ein: »Sie sind in die Klinik gekommen, weil Sie Sehnsucht nach Ihrem Kind hatten«, meinte er.
Da nickte sie. »Ich wollte es nur einmal sehen. Ich muß heute noch nach München zurück. Morgen muß ich wieder arbeiten. Ich weiß nicht, wie lange, aber zur Zeit kann ich in einer Pizzeria die Gäste bedienen.«
»Dort werden Sie nicht mehr arbeiten«, sagte Ingo spontan. Er fing ihren erstaunten Blick auf. »Ich meine, Ihr Kind wird Sie brauchen. Und außerdem, arbeiten können Sie auch bei mir. Ich habe ein Hotel. Da gibt es immer etwas zu tun.«
»Das kann ich doch nicht annehmen. Das geht doch nicht!« Susanne sah von ihm zu Dr. Lindau.«
»Herr Frehner hat recht, arbeiten können Sie in seinem Hotel auch. Damit wäre dieser Punkt geklärt. Da wäre noch Ihr Kind. Es ist höchste Zeit, daß es einen Namen bekommt. Haben Sie darüber schon nachgedacht?«
»Es sollte Manuela heißen.«
»Gut, dann werden wir es in Zukunft Manuela nennen. Das Kind muß doch einen Namen bekommen. Es muß behördlich gemeldet werden.
Das kann jedoch bis morgen warten. Ich bringe Sie jetzt zu Ihrer Tochter.«
»Darf ich mitkommen?« fragte Ingo. »Ich möchte die kleine Manuela auch gern sehen.«
Der Chefarzt hatte nichts dagegen, und so kam es, daß Ingo sich ein kleines Mädchen ansah, und etwas später ging Susanne mit ihm auf die Kinderstation, um einen Blick auf seinen schlafenden Sohn zu werfen.
*
Susanne Brühl beugte sich über die Wiege. Da lag ihr kleines Mädchen und schlief friedlich. Die Hände hatte es zu Fäustchen geballt. Sie konnte nicht anders, vorsichtig berührte sie den dunklen Flaum, der sich auf dem Köpfchen bildete. Sie hatte das Gefühl, nie ein schöneres Kind gesehen zu haben. Ihre Augen wurden feucht. Es waren Tränen des Glücks. Sie hatte für sich und ihr Kind ein Zuhause gefunden.
»Manuela«, flüsterte sie leise, dann hob sie den Kopf. Durch das geschlossene Fenster drang nur gedämpft die Musik ins Zimmer. Ihr Lächeln vertiefte sich. Ingo hatte es sich nicht nehmen lassen, sein Versprechen wahrzunehmen. Heute fand am Ufer des Sees ein großes Fest statt. Wenn es dunkel war, sollte es mit einem Feuerwerk enden.
Leise verließ Susanne das Zimmer. Sie wußte, daß sie bereits ungeduldig erwartet wurde. Und so war es auch. Patrick saß mit einer Hotelangestellten auf der Bank vor dem Haus. »Tante… Tante«, rief er, als er sie sah. Dann rutschte er blitzschnell von der Bank und lief auf sie zu. Susanne konnte gerade noch rechtzeitig ihre Arme ausbreiten, um ihn aufzufangen.
Patrick schmiegte sich an sie, und Susanne wurde es warm ums Herz. Sie hatte den Kleinen sofort liebgewonnen, und es war sehr schön für sie zu sehen, daß dieser ihre Zuneigung erwiderte.
»Komm!« Patrick zappelte nun in ihren Armen. »Sehen will…« Er legte das Köpfchen schief, sah sie dabei so treuherzig an, daß Susanne ihm rasch noch ein Küßchen gab.
»Gehen Sie nur«, meinte die Hotelangestellte. »Ich bleibe hier. Ich sehe schon nach der kleinen Manuela.«
»Danke!« Susanne wußte, daß Ingo Frehner dies angeordnet hatte. Er wollte, daß sie am Fest teilnahm.
Susanne wußte nicht, wie schön sie aussah, als sie mit Patrick an der Hand über die Wiese lief. Sie war aufgeblüht, sie mußte keine Angst mehr vor der Zukunft haben. Da Angela Wunter nicht mehr hier war, hatte Patrick ein neues Kindermädchen gebraucht. Nur zu gern hatte Susanne eingewilligt, als Herr Frehner ihr diese Stelle angeboten hatte, bedeutete dies doch, daß sie auch für ihr Kind sorgen konnte.
Susanne sah den Chefarzt, der ihr freundlich zulächelte. Es waren auch viele Leute hier, die sie noch nicht kannte. Trotzdem hatte sie nicht das Gefühl, hier eine Fremde zu sein.
»Papi«, krähte Patrick plötzlich. Er ließ Susannes Hand los, sprang seinem Vater entgegen. Ehe sein Vater nach ihm greifen konnte, kehrte er jedoch um und eilte zu Susanne zurück.
»Papi«, rief er erneut. Er hatte wieder Susannes Hand ergriffen, die andere streckte er nun nach seinem Vater aus. Er strahlte über das ganze Gesicht, als er nun zwischen Susanne und seinem Vater stand.
»Papi!« Glücklich sah er zu seinem Vater hoch, dann wandte er den Kopf, sah Susanne an. »Su…« Er hatte Schwierigkeiten mit dem Aussprechen ihres Namens. Er probierte es noch einmal und dann sagte er: »Mami?« Zuerst kam es zögernd, doch dann sagte er es noch einmal, diesmal laut und deutlich.
Susannes Herz schlug plötzlich wie rasend. Sie wagte nicht hochzusehen.
»Susanne«, hörte sie Patricks Vater sagen. »Ich bin sicher, Sie… du wirst Patrick eine gute Mutter sein.«
Da schlug sie die Augen zu ihm auf. Ihre Blicke versanken ineinander, und in Patricks glückliches, unbeschwertes Lachen hinein bat Ingo: »Bitte, bleib bei mir und Patrick!«
Susanne konnte nur nicken. Der Kloß in ihrem Hals war zu groß. Ihre Augen jedoch strahlten und waren Ingo Antwort genug.