Читать книгу Die Klinik am See Staffel 2 – Arztroman - Britta Winckler - Страница 9

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»Verehrter Schwiegervater, ich möchte ja gern noch ein wenig mit dir plaudern, aber der Dienst ruft.« Dr. Alexander Mertens erhob sich vom Frühstückstisch, an dem er gemeinsam mit seiner Frau Astrid und deren Vater, Dr. Hendrik Lindau, Chefarzt der Klinik am See, das Frühstück eingenommen hatte. »Ich muß mich schleunigst um den Jungen kümmern, der gestern abend eingeliefert wurde.«

»Hast du schon eine Diagnose?« fragte Dr. Lindau interessiert.

»Sie steht noch nicht hundertprozentig fest, aber ich fürchte, daß der Kleine eine Hirnhautentzündung hat«, antwortete der Kinderarzt. »Ich will nachher gleich zusammen mit Frau Dr. Westphal eine diagnosebestimmende Untersuchung vornehmen.«

»Tu das, denn es ist ja wichtig, herauszufinden, ob die Ursache Viren oder Bakterien sind«, meinte Dr. Lindau. »Ich würde dir außerdem raten, daß…«

»Paps, nun ist es aber genug«, wurde Dr. Lindau von seiner Tochter Astrid unterbrochen. Um die Lippen der Kinderärztin huschte ein Lächeln. »Du scheinst vergessen zu haben, daß du bereits seit einer Stunde im Urlaub bist und mit der Klinik und den Pa­tienten nichts mehr im Sinn haben sollst. Jedenfalls gilt das für die kommenden zwei Wochen.«

»Ja, ja, ist schon gut, Mädchen«, gab Dr. Lindau schmunzelnd zurück. »Aber ich kann nicht über meinen Schatten springen«, fuhr er fort. »Ich bin eben Arzt und werde das immer sein und mich immer als solcher fühlen – auch außerhalb der Klinik.«

»Meinetwegen, Paps«, entgegnete Astrid. »Nur – jetzt solltest du aber für die kommenden Tage etwas mehr an dich, an deine Gesundheit und an deine Erholung denken. Genieße die Urlaubstage!«

Dr. Lindau seufzte verhalten. »Ich muß dir gestehen, Astrid, daß es mir gar nicht so leicht fällt, jetzt zum Gardasee zu fahren und dort zu faulenzen«, erwiderte er. »Am liebsten würde ich mit Alexander in die Klinik fahren.«

»Das fehlte gerade noch«, entrüstete sich Astrid. »Es hat mich genug Mühe gekostet, dich dazu zu bringen, einmal Urlaub zu machen, den du wirklich nötig hast.«

»Da muß ich Astrid voll und ganz beipflichten«, warf Alexander Mertens ein und lächelte.

Astrid und ihr Vater hörten ihn wenig später vom Doktorhaus abfahren.

»Tja, ich werde mich jetzt auch zur Abfahrt fertigmachen«, ergriff Dr. Lindau das Wort, als er mit seiner Tochter allein war. »Zuerst will ich mich aber von meinem Enkel verabschieden. Wo ist er eigentlich?« fragte er.

»Stefan schläft sicher noch«, erwiderte Astrid. »Komm, wir sehen mal nach!«

Dr. Lindau folgte seiner Tochter in das kleine Kinderzimmer, das direkt neben dem Schlafzimmer des jungen Paares war.

Astrid hatte recht – der kleine pausbäckige Junge schlief tatsächlich noch. »Ich werde ihn wecken, denn er muß ohnehin gleich sein Essen bekommen«, sagte sie und machte Anstalten, ihr Kind aus dem Bettchen zu holen.

»Nein, nein«, wehrte Dr. Lindau ab. »Laß ihn schlafen, bis er von allein aufwacht.« Still betrachtete er seinen Enkel und wandte sich dann ab. »Er wird einmal ein Prachtkerl werden«, sagte er wenig später zu seiner Tochter, als er im Flur mit ihr stand und sich nun auch von ihr verabschiedete. »Vielleicht wird er auch Arzt«, murmelte er.

»Vielleicht«, meinte Astrid. »Warten wir es ab.« Zärtlich umarmte sie ihren Vater. »Schreib einmal, Paps«, flüsterte sie.

*

Obwohl Dr. Lindau gerade erst vierundzwanzig Stunden von der Klinik am See fort war und am Gardasee seinen Urlaub begonnen hatte, machte sich in der Klinik unter den Ärzten und unter dem übrigen Personal eine merkwürdige Stimmung breit. Allen fehlte etwas – der Chefarzt nämlich. Obwohl der Dienstbetrieb reibungslos und ohne jegliche Komplikationen weiterging, vermißten viele doch den Chefarzt, der sonst überall gegenwärtig war, der eben irgendwie zum fe­sten Bestandteil dieser Klinik geworden war. Es war natürlich nicht etwa so, daß Dr. Lindau als unersetzbar angesehen wurde – am allerwenigsten nahm er selbst dieses Privileg für sich in Anspruch –, aber es fehlte eben seine An- und Aussprache zu und mit den Ärzten, mit den Schwestern, und nicht zuletzt auch die freundlichen, aufmunternden und tröstenden Worte, die er stets für die Patientinnen übrig hatte. Es war gewiß nicht so, daß sich die einliegenden Frauen mit den übrigen Ärzten nicht verstanden. Nein, das war es nicht. Im Grunde genommen standen sie alle in gutem Ansehen – ob das nun Dr. Hoff war oder Dr. Reichel, Dr. Bernau, Dr. Köhler und auch Frau Dr. Westphal, die während der Abwesenheit des Chefarztes das Kommando führte. Doch alle waren sich darin einig, daß Dr. Lindau eben die Seele der Klinik war, der mit Ruhe, Verständnis und sicherem Gefühl die Geschicke der Klinik und der darin liegenden Patienten leitete.

Einen gab es aber, der geradezu unter der Abwesenheit Dr. Lindaus litt – Marga Stäuber, die Sekretärin und rechte Hand des Chefarztes gewissermaßen. Sie tröstete sich aber damit, daß ihr Doktor ja in zwölf Tagen zurück sein würde. Das gab sie auch unumwunden der Ärztin zu verstehen, als diese am zweiten Tag nach Dr. Lindaus Abwesenheit sich um die Wartezimmerpatienten – es waren diesmal nur zwei – kümmerte.

»Sie mögen den Chefarzt wohl sehr, Frau Stäuber?« fragte die derzeitige Klinikleiterin und lächelte. Sie stand vor dem Schreibtisch der Sekretärin. Im Wartezimmer war niemand mehr, und sie wollte sich wieder hinauf zur Station begeben.

»Das kann man laut sagen«, gab Marga Stäuber im Brustton der Überzeugung zurück. Eine leichte Verlegenheitsröte überzog ihr rundliches Gesicht. »Ich kann Sie aber auch ganz gut leiden, Frau Doktor«, fügte sie mit verhaltener Stimme hinzu.

Die Ärztin schmunzelte. »Das beruhigt mich ja«, meinte sie. »Ich stimme Thnen aber gern zu – unser Chefarzt ist wirklich nicht leicht zu ersetzen.«

»Da haben Sie recht, Frau Doktor«, pflichtete Marga Stäuber der sympathischen Ärztin lebhaft bei. »Weder als Arzt noch als Mensch. Er ist einfach einmalig.«

»Da sind wir uns einig, Frau Stäuber.« Die Ärztin sah zur Uhr. »Ich muß jetzt rauf«, sagte sie. »Wenn etwas ist, wissen Sie ja, wo ich zu erreichen…« Sie unterbrach sich, weil sich in diesem Augenblick das Telefon auf dem Schreibtisch der Sekretärin meldete und Margar Stäuber abhob.

»Ja, bitte? Klinik am See…«

Die Sekretärin lauschte einige Sekunden und winkte dann der Ärztin, die gerade den Raum verlassen wollte. Sie deckte den Hörer mit der Hand zu und rief ihr verhalten zu: »Frau Hofstätter möchte gern morgen einen Termin haben, Frau Doktor.«

Anja Westphal drehte sich um. »Morgen nicht«, erklärte sie. »Wir haben doch bekanntgegeben, daß wäh­rend der Abwesenheit von Dr. Lindau nur zweimal in der Woche eine Konsultation stattfindet – es sei denn, es handelt sich um einen akuten Fall. Sagen Sie also, daß die Dame erst in drei Tagen kommen kann.« Fragend sah sie die Sekretärin an. »Oder ist es etwas Dringendes?« wollte sie wissen.

Die Sekretärin zuckte mit den Schultern. »Das hat sie nicht gesagt«, erklärte sie.

»Also dann – in drei Tagen«, gab die Ärztin zurück.

»Frau Doktor…« Wieder deckte Marga Stäuber den Hörer mit der Hand ab. »Es handelt sich um die Frau unseres neuen Bürgermeisters«, rief sie. »Ich meine, daß wir da schon eine Ausnahme machen sollten.«

In die Augen der Ärztin trat ein interessierter und gleichermaßen wachsamer Ausdruck. »Die Frau des Bürgermeisters also«, murmelte sie und überlegte kurz. Nun ja, dachte sie, mit dem Bürgermeister beziehungsweise mit dessen Frau sollte man sich im Interesse der Klinik eigentlich möglichst gut stellen. Immerhin war die Klinik am See, die zwar den Status eines Privatbetriebes besaß, auf die eine oder andere Weise vom Wohlwollen des Bürgermeisters ein wenig abhängig. »Also meinetwegen«, kam es dann über Anja Westphals Lippen, »sagen Sie Frau Hofstätter, daß Sie morgen um… um… elf Uhr kommen kann.« Sie nickte der Sekretärin freundlich zu und verschwand.

»Morgen um elf Uhr, Frau Hofstätter«, teilte Marga Stäuber der Bürgermeistersfrau mit. »Frau Dr. Westphal erwartet Sie. Schönen Tag noch«, wünschte sie und legte mit einem kurzen Gruß den Hörer auf.

*

Etwas besorgt blickte Bürgermeister Hofstätter seine attraktive Frau an. Wie immer, registrierte er mit einem gewissen Stolz, daß seine Angela mit ihrem faltenlosen glatten Gesicht keineswegs einer Frau ähnelte, die schon auf die Mitte der Vierzig zuging. Sie war zwar etwas mollig, aber gerade das mochte er so an ihr. Insgeheim freute er sich auch darüber, daß sie seit vier Monaten, als er zum neuen Bürgermeister von Auefelden gewählt worden war, ein richtig damenhaftes Benehmen an den Tag legte. Sicher – manchen gefiel das nicht so sehr, aber darum kümmerte er sich nicht.

Für ihn zählte eigentlich nur, daß Angela als erste Dame des Ortes, als sogenannte First-Lady von Auefelden respektiert wurde und sich mit Fug und Recht zur achtbaren und gehobeneren Gesellschaftsschicht des Ortes zählen durfte. Immerhin war sie die Frau des Bürgermeisters. Er selbst war ja auch die nunmehr höchste Respektsperson von Auefelden. Er wußte auch, daß er geachtet wurde, und zwar nicht nur seiner Stellung wegen, sondern wegen seiner bisherigen Verdienste im Interesse der Gemeinde. Durch seine Energie und sein dynamisches Wirken hatte er Auefelden in der kurzen bisherigen Amtszeit bereits einige Vorteile verschafft, die sich günstig in der Stadtkasse auswirkten. Eben hatte er wieder ein Projekt in die Wege geleitet, das der Gemeinde nicht unerhebliche Vorteile finanzieller Art bringen würde. Die Verhandlungen darüber mit dem Bauunternehmer Strasser aus München waren so gut wie abgeschlossen.

Bei all seinen Aktivitäten jedoch dachte er immer auch an seine Frau, die er liebte und für die er stets nur das beste im Sinn hatte. Deshalb war er jetzt auch etwas besorgt, nachdem Angela ihm mitgeteilt hatte, daß sie am nächsten Tag zu einer Untersuchung in die Klinik am See müßte. »Weshalb?« wurde er neugierig. »Was fehlt dir denn, und was für eine Untersuchung soll das werden?«

»Weil ich seit einiger Zeit Schmerzen habe«, gab Angela Hofstätter zurück. »Unterleibsschmerzen.«

»Inwiefern?« hakte der Bürgermeister nach. »Bekommst du etwa gar ein Baby?«

»Unsinn«, wehrte die dunkelblonde Frau ab. »Du weißt genau, daß ich keine Kinder bekommen kann.«

»Weshalb also die Schmerzen?«

»Das möchte ich ja morgen untersuchen lassen«, erwiderte Angela Hofstätter.

»Hm.« Das war alles, was Thomas Hofstätter dazu sagte. Er wollte zwar noch etwas hinzufügen, versagte es sich jedoch, weil in diesem Augenblick die Sekretärin einen Besucher meldete.

»Herr Strasser aus München ist hier…«

»O ja, den habe ich schon erwartet«, wurde der Bürgermeister lebhaft. »Bitten Sie Herrn Strasser in ein paar Sekunden herein«, sagte er und wandte sich an seine Frau. »Entschuldige bitte, aber jetzt mußt du gehen – am besten durch jene Tür.« Er deutete nach dem Nebenausgang seines Amtszimmers, in dem ihn Angela vor Minuten aufgesucht hatte. »Ich habe eine Besprechung wegen eines großen Projektes.«

»Schon verstanden, Thomas.« Angela Hofstätter lächelte ihrem Mann zu und entfernte sich, während fast zur selben Sekunde der von der Sekretärin angemeldete Besucher aus München durch eine andere Tür das Zimmer betrat.

Die Begrüßung zwischen dem Bürgermeister und dem bullig wirkenden Bauunternehmer mit dem Bürstenhaarschnitt war kurz, aber geradezu herzlich. Kein Wunder, wenn man wußte, daß sich beide einen guten Gewinn von dem schon vor Wochen besprochenen und nun vertragsreifen Projekt versprachen. Der Bürgermeister hatte sofort das gute Geschäft gewittert, auf das er von Andreas Strasser seinerzeit angesprochen worden war. Es ging um ein größeres, im Gemeindebesitz befindliches Gelände auf der Südseite des Sees – ein Stück lichter Kiefernwald gehörte auch dazu – auf dem der Bauunternehmer eine Art Sommer-Ferienzentrum errichten wollte, mit Campingplatz, einigen kleinen Sommerhäusern, einem Bootssteg mit Bootsverleih und einem noch auszubauenden Stück Badestrand.

Thomas Hofstätter war sofort begeistert eingestiegen, als er von An­dreas Strasser das Angebot gehört hatte.

Es war auch nicht schwierig gewesen, die Gemeinderatsmitglieder von dem Verkauf des bewußten Geländes zu überzeugen. Und das nicht nur wegen des großzügigen Angebots, sondern auch wegen der finanziellen und wirtschaftlichen Vorteile für Auefelden. Die entsprechenden Verträge waren ausgefertigt und brauchten nur noch unterschrieben und ratifiziert zu werden.

»Nun, Herr Bürgermeister, wie sieht es aus?« kam Andreas Strasser auch sofort zur Sache. Er hatte eine polternde Stimme, die Autorität si­gnalisierte.

»Bestens, Herr Strasser«, antwortete der Bürgermeister. »Die Verträge müssen nur noch vom Gemeinderat gegengezeichnet werden. In ein paar Tagen ist es soweit, und Sie können ebenfalls unterschreiben und die Finanzen in unsere Kasse fließen lassen.« Über seine Lippen kam ein zufriedenes Lachen.

»Vortrefflich«, entgegnete Andreas Strasser. »Dann kann ich ja schon die Vermessungen vornehmen lassen.«

»Dem steht nichts im Weg«, versicherte der Bürgermeister.

Der Bauunternehmer nickte. »Hm, da wäre allerdings noch etwas«, stieß er hervor und sah den Bürgermeister mit wachsamen Augen an. »Sie glauben nicht, daß die Klinik da unten am See, deren Areal ja direkt an das von mir erworbene Gelände anstößt, irgendwelche Schwierigkeiten macht?« fragte er.

»Aber ich bitte Sie, Herr Strasser«, erwiderte der Bürgermeister und tat entrüstet. »Das Gelände ist Eigentum der Gemeinde, und nur die hat das Verfügungsrecht darüber. Machen Sie sich also keine Sorgen. Die Sache läuft.«

»Das will ich hoffen«, meinte An­dreas Strasser. »Immerhin stecke ich eine erhebliche Summe in dieses Projekt.« Daß diese Summe zwar nicht ihm gehörte, sondern seiner Frau, die das Bauunternehmen von ihrem Vater geerbt hatte, behielt er natürlich für sich.

Die beiden Geschäftsfreunde besprachen noch einige wenige Details, ehe sie sich wieder trennten. »Ich werde also morgen oder übermorgen die Vermessungen vornehmen lassen«, meinte Andreas Strasser abschlie­ßend. »Ein paar Tage später komme ich dann auch her. Ach ja…«, setzte er hinzu, »… ich nehme doch an, daß ich in Auefelden ein Quartier bekomme.«

»Da kann ich Ihnen den GOLDENEN OCHSEN empfehlen«, riet der Bürgermeister. »Sie werden wahrscheinlich mit Ihrer Gattin kommen, nehme ich an.«

»Ja, ich komme mit einer Frau«, bestätigte der Bauunternehmer ein wenig undeutlich. Er dachte dabei nicht an seine eigene Frau, sondern an die schwarzhaarige Gisela, die ihm seit mehr als einem halben Jahr schon das Leben angenehmer gestaltete.

Dem Bürgermeister fiel es gar nicht auf, daß Andreas Strasser nicht von meiner Frau, sondern nur von einer gesprochen hatte.

Mit einem kräftigen Händedruck verabschiedete sich der Bauunternehmer, um wieder nach München zurückzufahren, während sich Bürgermeister Hofstätter zufrieden die Hände rieb.

*

Anja Westphal streifte ihre hauchdünnen Handschuhe ab und wandte sich zum Gehen. »Sie übernehmen ja die weitere Untersuchung und Betreuung, Herr Hoff«, rief sie dem Chirurgen zu. »Die Kindesmutter überlasse ich Ihnen«, gab sie dann noch dem Anästhesisten Dr. Reichel zu verstehen und verließ den OP.

Im Vorbereitungsraum, in dem sie sich ihres OP-Kittels entledigte, wurde sie von Schwester Karla angesprochen.

»Beinahe hätte ich es vergessen, Frau Doktor – die Sekretärin des Chefs hat angerufen…«

»Ja?« Fragend sah die Ärztin die Schwester an.

»Ich soll Ihnen nur ausrichten, daß die Frau des Bürgermeisters eingetroffen ist. Sie wüßten schon Bescheid.«

Anja Westphal erinnerte sich sofort. Ganz kurz überlegte sie. »Hm, dann gehen Sie doch gleich hinunter und führen Sie die Dame herauf!« bat sie die Schwester.

»Mach ich, Frau Doktor«, gab Schwester Karla zurück. »Wohin soll ich die Dame bringen? Zu Ihnen in Ihr Zimmer?«

»Nein, gleich in den Untersuchungsraum meiner Station«, entgegnete die Arztin. »Ich bin in ein paar Minuten dort.«

Schwester Karla machte sich auf den Weg, während die Ärztin ihrer Station zustrebte. Auf halbem Weg kam ihr Dr. Bernau entgegen. »Wollten Sie zu mir, Herr Kollege?« fragte sie und blieb stehen.

»Nein«, erwiderte Dr. Bernau. »Ich will auf die Terrasse. Frau Gruner hat anscheinend einen Schwächeanfall, wie mir die Schwester vorhin meldete.«

»Frau Gruner?« Die Ärztin mußte erst überlegen, um wen es sich dabei handelte. Eine Sekunde später fiel es ihr ein. »Ach ja, die Patientin von neunundzwanzig mit dem Myocardschaden.«

»Richtig, die ist es«, bestätigte Dr. Bernau.

»Weshalb ist sie auf der Terrasse?«

»Nun, da wir heute ein herrliches Wetter haben, gab es keine Einwände, sie ein wenig an die frische Luft zu lassen«, erklärte Dr. Bernau. »Entschuldigen Sie mich jetzt!« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, setzte er seinen Weg fort und die Ärztin den ihren.

Minuten später betrat er die Terrasse, die sich an der Südseite des ehemaligen Schlosses befand. Von hier aus konnte man fast den ganzen See überblicken, der nur durch einen gepflegten Rasenstreifen von den Mauern des früheren Schlosses, der jetzigen Klinik, getrennt war.

Einige nicht bettlägerige Patientinnen hatten es sich in Liegestühlen auf der Terrasse bequem gemacht und genossen den sonnigen Tag. Im Augenblick aber waren zwei jüngere Frauen um eine ältere bemüht, die sichtlich mit Atemschwierigkeiten kämpfte.

Dr. Bernau trat hinzu. »Aber Frau Gruner, was machen Sie denn für Sachen?« fragte er lächelnd, fühlte den Puls der Schweratmenden und winkte einer Schwester zu, die gerade im Terrassendurchgang auftauchte.

Die Schwester verstand sofort, verschwand und kam Sekunden später mit einem Rollstuhl wieder. Gemeinsam mit Dr. Bernau hob sie die Patientin in den Rollstuhl.

»Ab in den Behandlungsraum!« befahl Dr. Bernau. »Bereiten Sie gleich eine Kreislaufspritze vor!«

Die Schwester verschwand mit der im Rollstuhl sitzenden und nach Atem ringenden Patientin.

»Machen Sie ruhig weiter, meine Damen, und genießen Sie die Sonne!« rief Dr. Bernau den auf der Terrasse befindlichen anderen Patientinnen beruhigend zu. »Frau Gruner hat nur einen Schwächeanfall, der gleich wieder behoben wird.« Er drehte sich um, um der schon vorausgegangenen Schwester und der Patientin Gruner zu folgen, als er plötzlich stutzte. Sein Blick war auf etwas gefallen, was ungewohnt war. Gar nicht weit von der Terrasse entfernt, knappe zweihundert Meter Luftlinie etwa, am Südufer des Sees, dort wo das zur Klinik gehörende Gelände endete, bemerkte er etwas golden Glänzendes. Es war das Haar einer Frau, die mit irgendwelchen Geräten – wie ein Fotostativ sah es aus – beschäftigt war. Ein Junge lief gerade mit einigen weißrot bemalten Stangen unter dem Arm am Ufer entlang. Im Hintergrund sah er einen grünen Kombiwagen auf der Straße stehen, die an dem Kiefernwäldchen vorbeiführte.

»Was mag da vorgehen?« murmelte Dr. Bernau vor sich hin. Gleichzeitig gestand er sich aber auch ein, daß es ihn danach drängte, jene Frau näher zu sehen. Er war noch nie ein Gegner des weiblichen Geschlechts gewesen und schon gar nicht, wenn sich eine Vertreterin dieser Menschengattung in so interessanter, ja, vielleicht sogar ein wenig geheimnisvollen Weise seinen Blicken darbot. Ich werde mir nachher, wenn die Mittagspause beginnt, dieses Wesen etwas näher betrachten, ging es ihm durch den Sinn.

Nur wenige Sekunden hatten diese Überlegungen gedauert. Dr Bernau besann sich, daß er ja zu Frau Gruner mußte, um ihr eine Spritze zu verabreichen. Mit einem etwas verlegenen Lächeln drehte er sich abrupt um und verschwand mit langen Schritten im Innern der Klinik.

Leicht erstaunt blickten ihm einige der auf der Terrasse sitzenden Patientinnen nach.

*

Dr. Anja Westphal begrüßte die Frau des Bürgermeisters mit gewohnter Freundlichkeit, als diese von Schwester Karla in den Untersuchungsraum geführt wurde.

»Brauchen Sie mich noch, Frau Doktor?« fragte Schwester Karla und zog sich wieder zurück, als sie das kurze Kopfschütteln der Ärztin sah, die sich sofort wieder der Frau des Bürgermeisters zuwandte.

»Was fehlt mir denn?« fragte Angela Hofstätter nach der Untersuchung.

Langsam drehte sich die Ärztin um. Ernst blickte sie die Bürgermeistergattin an. »Nehmen Sie bitte Platz«, sagte sie und deutete auf einen Stuhl.

Angelas Hofstätter setzte sich. Erwartungsvoll, und dabei nun ein wenig ängstlich, sah sie zu der vor ihr stehenden Ärztin auf. Ein ungutes Gefühl bemächtigte sich ihrer plötzlich. »Es…. es… ist nichts Gutes, was… was Sie mir zu sagen… haben?« kam es zögernd über ihre Lippen.

Um die Mundwinkel der Ärztin huschte ein schnelles, schwaches Lächeln. »So kann man das wieder nicht formulieren«, antwortete sie ruhig. »Ja, ich habe etwas entdeckt, aber ich will Ihnen auch sofort sagen, daß kein Grund zur Besorgnis oder gar Angst besteht.«

»Krebs?« entfuhr es Angela Hofstätter erschrocken.

»Aber nein«, gab die Ärztin beruhigend zurück. »Ich habe einige Ovarialzysten bei Ihnen festgestellt«, erklärte sie. »Das sind Tumore im Eierstockbereich.« Mit verständlichen Worten informierte sie die Patientin über Entstehung solcher Zysten und deren Auswirkungen auf den Organismus. »In der Regel sind solche Tumore gutartig, sollten aber entfernt werden, ehe sie es sich anders überlegen. Dann aber wäre eine Entfernung der Ovarien, der Eierstöcke samt Eileiter, unausbleiblich.«

Angela Hofstätter erblaßte. »Bei mir… ich meine…«, preßte sie hervor und wußte nicht weiter.

Anja Westphal verstand. »Ich habe keinen Hinweis auf Bösartigkeit gefunden«, beruhigte sie die Frau. »Genau aber werden wir es wissen, wenn wir außer einer Ultraschalluntersuchung auch eine Laparospie machen.«

»Was ist das?« stieß Angela Hofstätter fragend hervor.

»Das ist eine Untersuchung, bei der ein fibrooptisches Gerät eingeführt wird, um Gutmütigkeit oder Bösartigkeit der Zyste festzustellen, die dann gleich operativ entfernt wird. Unter Vollnarkose sebstverständlich.«

»Mein Gott…«, flüsterte Angela Hofstätter voller Angst.

Wieder lächelte die Ärztin. »Das hört sich schlimmer an, als es ist«, redete sie beruhigend auf die nun gar nicht mehr hochmütig wirkende Frau des Bürgermeisters ein.

Man konnte erkennen, wie es hinter der Stirn von Angela Hofstätter arbeitete. »Ich werde dann aber doch als Erster-Klasse-Patientin behandelt?« stieß sie plötzlich fragend hervor.

In den Augen der Ärztin blitzte es kurz auf. »Selbstverständlich«, erwiderte sie mit einem Anflug von leiser Ironie. »In unserer Klinik gibt es nur Erster-Klasse-Patientinnen. Das heißt, daß alle erstklassig behandelt, betreut und versorgt werden.« Diesen Seitenhieb hatte sie sich einfach nicht versagen können.

*

Überlegend blickte Dr. Bernau auf die Uhr im Stationszimmer. In wenigen Minuten begann die offizielle Mittagspause – sofern es eine solche für einen Klinikarzt überhaupt gab. Die hing natürlich von den Umständen ab. Krankheiten und damit zusammenhängende Anfälle oder ähnliches richteten sich eben nun mal nicht nach dem Uhrzeiger. Es wäre nicht das erste Mal und würde auch nicht das letzte Mal sein, daß man als Arzt gerade zu der Zeit gefordert wurde, wenn sich der Hunger einstellte.

Im Bereitschaftszimmer vertauschte Dr. Bernau seinen weißen Arztmantel mit einem hellen Blouson und verließ wenig später durch einen Seitenausgang die Klinik. Wie ein Spaziergänger, aber mit weit ausgreifenden Schritten, strebte er dem Teil des Seeufers zu, auf dem er von der Terrasse aus jenes weibliche Wesen mit dem goldglänzenden Haar bemerkt hatte.

Hoffentlich ist die Frau noch da, dachte er.

Sie war da, denn ihr leuchtendes Haar sah er sofort, als er um die Ecke des Seitenflügels der Klinik gebogen war. Sie war gerade über jenen Apparat gebeugt, den er für eine Art Stativ angesehen hatte. Mit der Hand gab sie einem Jungen, der mit einer Latte in der Hand dicht am Ufer stand, Zeichen. Dr. Bernau war sich in diesen Sekunden klar, daß es sich dabei um irgendwelche Vermessungen handelte.

Was aber sollte hier dicht neben der Klinik vermessen werden? Diese Frage interessierte ihn nun ebenso wie diese Frau, die, wie er beim Näherkommen feststellte, äußerst attraktiv war. Entschlossen schritt er weiter, bis ihn nur noch etwa zwanzig Meter von der blonden Frau trennten. Doch da wurde er plötzlich gestoppt – durch einen ziemlich energisch klingenden Zuruf.

»Hallo, Sie, junger Mann, lenken Sie Ihre Schritte mehr nach links, damit Sie meine Arbeit nicht stören!«

Dr. Bernau grinste, tat aber, wie ihm geheißen wurde. Er schwenkte zur Seite, machte einen kleinen Bogen und kam dann direkt auf das blonde Wesen zu. »Hallo…«, rief er, »… schöner Tag heute.«

»Er würde noch schöner sein, wenn Sie mich nicht bei der Arbeit störten, junger Mann«, entgegnete die blonde Frau. Sie richtete sich auf und sah Dr. Bernau mißbilligend an. »Sie sehen doch sicher, daß ich hier Vermessungen durchführe und…«

»Dachte es mir doch«, fiel Dr. Bernau der Frau, die er auf etwa dreißig Jahre schätzte, lächelnd ins Wort. »Zuerst hatte ich diesen Apparat…«, er deutete auf das Vermessungsgerät, »… für eine Art Stativ mit Fotoapparat gehalten.« Unaufdringlich musterte er die vor ihm stehende schlanke blonde Frau. Sein Interesse, das ohnehin schon geweckt gewesen war, wurde nun noch stärker. Es galt zunächst jedenfalls der Frau und erst in zweiter Linie der von ihr ausgeübten Tätigkeit.

»Was wollen Sie überhaupt hier und wer sind Sie?« Unwillig blitzte es in den Augen der jungen Frau auf. »Sie befinden sich hier auf Gemeindegrund.«

»Das weiß ich.« Dr. Bernau lachte leise. »Was ich hier will?« fuhr er fort. »Nun, ich mache einen Mittagsspaziergang.«

»Soll ich die anderen Stangen aus dem Auto holen, Frau Solbach?« Der Junge, der bei diesen Vermessungsarbeiten anscheinend Hilfsdienste verrichtete, war herangekommen.

»Nein, wir machen jetzt erst Mittagspause«, bekam er Antwort von der Vermessungstechnikerin. »Du kannst in einer Stunde wieder hier sein.«

»Ist gut, Frau Solbach.« Der Junge sprang davon, hinüber zur Straße, schwang sich dort auf ein Fahrrad und radelte in Richtung Auefelden davon.

Vera Solbach, wie die Vermessungstechnikerin mit vollem Namen hieß, wandte sich wieder Dr. Bernau zu. Ihr Blick fiel dabei auf die im Hintergrund zwischen Kieferngruppen aufragende Klinik. In ihren Augen blitzte es auf. »Ich nehme an, daß Sie dort aus der Klinik sind, junger Mann«, ergriff sie das Wort.

Dr. Bernau nickte. »Woher wissen Sie, daß es sich um eine Klinik handelt, Frau Solbach?« fragte er.

»Man hat es mir gesagt«, antwortete Vera Solbach. »Ich weiß auch, daß das früher einmal ein Schloß gewesen ist«, fügte sie hinzu. »Woher aber wissen Sie meinen Namen?« wollte sie wissen.

Dr. Bernau lachte leise. »Kunststück, wenn der Junge Sie vorhin so genannt hat…«

»Ach so, ja, natürlich…«

»Erlauben Sie bitte…« Dr. Bernau deutete eine schwache Verneigung an und stellte sich vor. »Ich bin Arzt in dieser Klinik.«

»Oh, dann bitte ich um Entschuldigung, wenn ich Sie vorhin vielleicht ein wenig unhöflich angefahren habe«, sagte die Vermessungstechnikerin. »Ich wußte ja nicht…«

»Schon in Ordnung, Frau Solbach«, fiel Dr. Bernau der blonden Frau lächelnd ins Wort. »Ist meine Anrede richtig, oder muß ich Fräulein sagen?« setzte er fragend hinzu und wartete gespannt auf die Antwort. Sein Blick glitt über die rechte Hand der jungen Frau. Einen Ehering konnte er jedoch nicht entdecken.

Vera Solbach war dieser Blick nicht entgangen. Ein flüchtiges und amüsiertes Lächeln huschte um ihre Mundwinkel. »Frau ist schon richtig, Herr Doktor«, erklärte sie. »Ich bin… das heißt, ich war verheiratet, bin aber seit einem Jahr geschieden.«

Wunderbar, ging es Dr. Bernau durch den Sinn, und es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte er es auch gesagt. Im letzten Augenblick aber verschluckte er diese Bemerkung.

Vera Solbach schien Gedankenleserin zu sein. Oder sie hatte es am Ausdruck der Augen dieses sympathischen Arztes erkannt, was der in diesen Sekunden dachte. Eigenartigerweise aber war ihr das keineswegs unangenehm. Eher das Gegenteil war der Fall. Es war das erste Mal seit ihrer Scheidung, daß sie bewußt wahrnahm, daß ein Mann Interesse für sie zeigte, und sie freute sich darüber auch irgendwie. Dieser sympathische Arzt hatte etwas an sich, das sie auf eine bestimmte Weise anzog. Natürlich war es nicht so, daß sie sich verliebt hätte. Aber sie fand es nett und angenehm, mit ihm zu plaudern. »Sie müssen sicher wieder in die Klinik zu­rück, Herr Doktor«, meinte sie, »und da möchte ich Sie nicht aufhalten.«

»Ich habe noch Zeit, Frau Solbach«, erwiderte Dr. Bernau. »Wenn Sie nichts dagegen haben und wenn Ihre Zeit das erlaubt, dann möchte ich mich gern noch ein Weilchen mit Ihnen unterhalten. Mich interessiert schließlich auch, warum Sie hier das Seeufer vermessen.«

»Das würde ich Ihnen gern erklären, wenn Sie mich ein Stück begleiten«, gab Vera Solbach lächelnd zurück.

»Das kommt darauf an, wohin«, entgegnete Dr. Bernau. »Ich muß ja wieder zum Dienst in die Klinik zurück.«

Vera Solbach deutete zu dem vorn an der Straße stehenden VW-Bus. »Zum Auto«, sagte sie, »denn dort werde ich mein Mittagsbrot verzehren. Wenn Sie wollen, dürfen Sie mir dabei ein wenig Gesellschaft leisten.«

Dr. Bernau lachte. »Ich wüßte nicht, was ich lieber täte«, antwortete er. Hoffentlich werde ich in der nächsten halben Stunde nicht in der Klinik gebraucht, dachte er dabei.

»Also dann…« Vera Solbach setzte sich schon in Bewegung, und Dr. Bernau blieb an ihrer Seite. Minuten später saßen beide auf der hinteren Ladefläche des VW-Transporters. Vera Solbach hatte ein Eßpaket vor sich und eine Thermoskanne mit Tee. Ungeniert aß sie und erzählte dabei von sich und von ihrer Arbeit. Dr. Bernau warf hin und wieder eine Frage dazwischen und bekam darauf auch Antworten.

Eine halbe Stunde war aber sehr bald vorbei, und Dr. Bernau mußte wieder in die Klinik zurück. »Schade«, sagte er in bedauerndem Ton, »ich hätte gern noch weiter mit Ihnen geplaudert, aber der Dienst ruft.«

Vera Solbach bedauerte das auch, sagte es aber nicht. Bruchteile von Sekunden überlegte sie. »Wir könnten ja zu einem späteren Zeitpunkt weitertratschen«, meinte sie lächelnd. »Wenn Sie wollen und Zeit haben«, fügte sie leise hinzu. Mehr als diese goldene Brücke zu bauen, konnte sie als Frau nicht tun.

Dr. Bernau beschritt diese Brücke. »Eben das wollte ich gerade auch vorschlagen«, gab er zurück. »Wie wäre es, wenn ich Sie heute abend zum Essen einladen würde?« fragte er direkt. »Ich bin ab siebzehn Uhr dienstfrei.« Auffordernd und gleichermaßen bittend sah er die blonde Frau an.

Die tat, als überlege sie. »Einladung dankend angenommen«, verkündete sie dann humorvoll.

»Fein, dann hole ich Sie um sechs ab«, entgegnete Dr. Bernau schmunzelnd. »Wo?«

»Ich wohne für die Dauer meiner Arbeit in Auefelden – im Gasthof ZUM GOLDENEN OCHSEN«, erwiderte Vera Solbach.

»Ich werde pünktlich sein«, versicherte Dr. Bernau und sprang vom Wagen. »Bis später also…« Mit langen Schritten ging er den Weg zurück, den er vor einer guten halben Stunde gekommen war – gefolgt von den Blicken der blonden Vermessungstechnikerin.

*

Pünktlich hatte Dr. Bernau die junge Frau abgeholt und war mit ihr in die WALDKLAUSE gefahren, die er von früheren Besuchen her schon kannte. Bei einem von der Wirtin, die früher einmal Patientin in der Klinik am See gewesen war, selbst zubereiteten Abendessen kehrte er den charmanten Plauderer hervor. Mit innerer Genugtuung stellte er fest, daß die hübsche Vermessungstechnikerin ihrerseits kein Hehl daraus machte, daß sie ihn mindestens sehr sympathisch fand. Jedenfalls verrieten das ihre Blicke und ihrer verschiedenen Äußerungen.

»Sie sind nicht verheiratet, Herr Doktor?« Diese Frage kam leise und irgendwie erwartungsvoll über Vera Solbachs Lippen.

»Nein«, erwiderte Dr. Bernau. »So weit habe ich es noch nicht gebracht.« Zwingend sah er die junge Frau an. »Aber bitte sagen Sie doch nicht immer Herr Doktor zu mir!« bat er. »Das klingt so steif und so fremd.«

Vera Solbach lächelte ein geheimnisvolles Lächeln. »Aber Sie sind doch nun mal Arzt«, gab sie zurück.

»In der Klinik – ja«, entgegnete Dr. Bernau. »Jetzt aber bin ich Privatmann, der es genießt, mit einer attraktiven jungen Dame den Abend zu verbringen.«

»Das ist natürlich richtig«, räumte die junge Frau ein. »Dennoch – wie sollte ich Sie denn sonst anreden?« fragte sie mit verhaltener Stimme. In ihren Augen war ein feines Glitzern.

Dr. Bernau entging das nicht, und es signalisierte ihm, daß seine Chancen bei dieser Frau keineswegs schlecht standen. Das wiederum machte ihm Mut. Er wurde direkt. »Ganz einfach«, beantwortete er die letzte Frage der Vermessungstechnikerin. »Nennen Sie mich Werner!« stieß er hervor. Gespannt wartete er auf die Reaktion.

Sinnend sah Vera Solbach den Arzt an. Sie gestand sich ein, daß er ihr ausnehmend gut gefiel. Er war charmant und verstand es, unterhaltsam zu plaudern und drückte sich dabei aber auch gewählt aus. Auf eine ganz bestimmte Weise freute sie sich sogar, ihn überhaupt kennengelernt zu haben.

»Ist das nicht etwas zu vertraut, wenn ich Sie beim Vornamen nenne?« fragte sie dann aber mit leiser Stimme. »Wir kennen uns doch erst seit heute mittag.«

Dr. Bernau lächelte fein. »Wissen Sie denn, wie lange das ist?« fragte er. »Ich will es Ihnen sagen – das sind immerhin…«, er warf einen kurzen Blick auf seine Uhr, »… Augenblick, gleich habe ich’s…« Hinter seiner Stirn arbeitete es sekundenlang. Dann blitzte es in seinen Augen auf. »Ja, es stimmt«, stieß er hervor. »Wir kennen uns bereits fast acht Stunden. Das sind – vierhundertfünfundsechzig Minuten oder siebenundzwanzigtausendneunhundert… also fast achtundzwanzigtausend Sekunden. Ist das nicht eine enorm lange Zeitspanne? Und mit jeder Sekunde und jeder Minute…«

»Hören Sie auf!« Die junge Frau lachte. »Das macht einen ja ganz verwirrt. »Also schön – Sie haben gewonnen, Werner! Bei einer so langen Bekanntschaft könnte man wirklich steifklingende Anreden weglassen.« Vergnügt funkelte es in ihren Augen. »Daß ich Vera heiße, wissen Sie inzwischen ja auch.«

Dr. Bernau nickte. »Ein hübscher Name, den man gar nicht vergessen kann«, gab er betont zurück. »Ich jedenfalls werde ihn in meinen persönlichen Wortschatz aufnehmen.« Ein jungenhaftes herzliches Lachen kam über seine Lippen.

Vera konnte nicht anders – sie mußte ebenfalls lachen. »Also dann, Werner…« Sie hob ihr Glas. »Zum Wohl…«

Dr. Bernau folgte ihrem Beispiel. »Zum Wohl, Vera – ich freue mich, Ihnen über den Weg gelaufen zu sein.«

»Ich freue mich auch«, gab Vera zurück, und das meinte sie auch wirklich so. Seit langer Zeit fühlte sie sich wieder einmal so richtig beschwingt.

»In ein paar Tagen werde ich mit meiner Arbeit fertig sein«, sagte sie, »und wieder nach München zurückkehren.« Es klang ein wenig bedauernd. »Eigentlich schade«, setzte sie flüsternd hinzu.

»Dann bleiben Sie doch noch einige Zeit hier«, hakte Dr. Bernau sofort nach.

»Hm, das ließe sich eventuell einrichten«, kam es verhalten zurück. Fragend sah die junge Frau den Arzt an.

Dessen Gedanken befaßten sich aber schon mit etwas anderem. »Was vermessen Sie denn da unten am See?« fragte er. »Sind Sie von der Gemeinde Auefelden beauftragt worden, der das Gelände gehört?«

»Nein, der Auftrag wurde von dem Münchener Baulöwen Strasser vergeben«, erklärte Vera bedenkenlos. »So viel mir bekannt ist, will er dort ein Feriencenter errichten – Campingplatz, Ferienhäuser, Bootsverleih und ähnliches mehr.«

»Ein Feriencenter?« Verblüfft sah Dr. Bernau die junge Frau an. »Soll das heißen, daß Auefelden das ganze Gelände da unten an einen Bauunternehmer aus München verkaufen will?«

»So sieht es aus«, bestätigte Vera. »Ich kann natürlich nicht sagen, ob ein solcher Verkauf schon rechtskräftig ist, aber auf jeden Fall hat Herr Strasser ein ziemlich großes Projekt vor.«

»Interessant«, murmelte Dr. Bernau. Seine vorher noch lächelnde Miene wurde ernst. »Das… das… können die doch nicht machen«, stieß er hervor.

»Ich verstehe nicht, Werner«, entgegnete Vera. Verwundert registrierte sie den Stimmungsumschwung bei dem Arzt. »Was gibt Ihnen dabei so zu denken? Ein Feriencenter ist doch etwas, das einer Menge Menschen Freude und Erholung bietet.«

»Das will ich nicht abstreiten«, gab Dr. Bernau zurück. »Doch ich sehe eine Gefahr für unsere Klinik.«

»Inwiefern?«

»Ein Feriencenter dieser Art bringt Unruhe, Lärm und was weiß ich noch mit sich«, erwiderte Dr. Bernau. »Und das in unmittelbarer Nähe einer Klinik, in der Patienten liegen, deren Gesundung nicht zuletzt von der Ruhe der Umgebung abhängt. Wir haben auch kranke Kinder bei uns. Sehen Sie das doch einmal von diesem Blickwinkel aus!«

Vera war nachdenklich geworden. »Ich gestehe, daß ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht habe«, räumte sie ein. »Jetzt allerdings…« Sie sprach nicht weiter. Die Argumente des Arztes hatten sie doch beeindruckt. Ob sie nun wollte oder nicht – sie mußte Dr. Bernau im Prinzip recht geben. Die unmittelbare Nähe eines solchen geplanten Feriencenters konnte sich wirklich in irgendeiner Form negativ auf die Gesundung von kranken Menschen auswirken. »Natürlich pflichte ich Ihnen bei, Werner«, begann sie wieder zu sprechen. »Aber was kann ich tun? Ich habe einen Auftrag, den ich gewissenhaft ausführen muß.«

»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Vera«, entgegnete Dr. Bernau. »Ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Sie tun Ihre Arbeit, wie ich die meine tue. Als Arzt und vor allem als Mitarbeiter der Klinik am See fühle ich mich natürlich mitverantwortlich für das Wohlbefinden der in der Klinik befindlichen Patienten – der kranken Frauen und Kinder. Dieses Wohlbefinden wird nun aber durch dieses Ferienprojekt bedroht, und ich wäre kein guter Arzt, wenn ich dabei tatenlos beiseitestehen wurde.«

»Ich habe Ihre Worte auch gar nicht als persönlichen Vorwurf empfunden«, erklärte Vera. »Was aber könnten Sie dagegen tun? Ich meine, daß das eine Sache des Ortsvorstandes von Auefelden, des Bürgermeisters und seiner Gemeinde- oder Stadträte wäre. Wenn Auefelden das Gelände nicht verkauft, wird auch niemand dort ein Feriencenter errichten können.«

»Ich freue mich, daß Sie mir nicht kontra geben«, sagte Dr. Bernau.

»Weshalb sollte ich das?« Fragend sah Vera den Arzt an.

»Nun, immerhin würden Sie einen geldbringenden Auftrag verlieren, wenn dieses geplante Projekt nicht zustande käme«, meinte Dr. Bernau.

»Irrtum.« Verena lächelte schwach. »Der Auftrag zur Vermessung wurde gegeben und muß so oder so honoriert werden«, belehrte sie den Arzt. »Einen finanziellen Verlust hätte ich jedenfalls nicht – wenn Sie das meinen.«

»Hm, das beruhigt mich natürlich«, gab Dr. Bernau zurück. Er machte eine unbestimmte Handbewegung und setzte lächelnd hinzu: »Aber ich schlage vor, daß wir dieses Thema jetzt nicht mehr weiter verfolgen, sondern den so schön begonnenen Abend genießen. Das Beisammensein mit Ihnen ist mir zu wertvoll, als daß ich es durch ernste Diskussionen negativ beeinflussen möchte.«

In Veras Augen leuchtete es kurz auf. »Das haben Sie sehr nett gesagt, Werner, und ich danke Ihnen«, sagte sie.

Dabei blieb es dann auch. Weder Dr. Bernau noch Vera Solbach sprachen in den folgenden zwei Stunden, die sie noch plaudernd zusammensaßen, von den Ferienprojekt des Münchener Bauunternehmers.

*

Dr. Bernau konnte es sich am folgenden Morgen, als er seinen Dienst antrat, nicht versagen, kurz auf die Terrasse zu treten, bevor er sich auf seine Station begab. Was er jedoch dort zu sehen erhoffte, konnte er nicht entdecken. Vera hatte mit ihrer Vermessungsarbeit noch nicht begonnen. Er konnte nur ein paar im Grasboden eingerammte rot-weiße Stangen bemerken. Ein wenig enttäuscht – gar zu gern hätte er ihr von hier aus zugewinkt – ging er wieder in die Halle zurück, um mit dem Aufzug nach oben zu fahren.

»Frische Morgenluft geschnappt, Herr Kollege?«

Dr. Bernau fuhr herum. Vor ihm stand Frau Dr. Westphal, die eben die Klinik betreten hatte und auch mit dem Aufzug nach oben wollte. »Gu­ten Morgen übrigens«, sagte sie lächelnd.

Dr. Bernau gab den Gruß zurück. »Ich wollte nur mal über den See blicken«, erklärte er sein kurzes Verweilen auf der Terrasse und ließ der Ärztin den Vortritt in den Aufzug.

»Wir sehen uns nachher bei der Visite«, sagte Anja Westphal, als sie ebenso wie Dr. Bernau den Aufzug verließ, um sich in ihr Dienstzimmer zu begeben.

In diesem Augenblick erinnerte sich Dr. Bernau wieder an die Vermessungsarbeiten und an das, was er am Vorabend von Vera erfahren hatte. »Könnte ich Sie vielleicht noch vor der Visite sprechen«, fragte er.

Fragend sah die Ärztin den Kollegen an. »Probleme?«

»Das könnte man sagen…«

»Dienstlicher oder privater Natur?« wurde Anja Westphal neugierig. Eigentlich konnte sie sich das letztere bei Dr. Bernau schwer vorstellen.

»Es betrifft die Interessen der Klinik«, erwiderte Dr. Bernau. Er sagte das in einem so ernsten Ton, daß die Ärztin stutzte.

»Was ist geschehen?« fragte sie.

»Das ist mit zwei Sätzen nicht zu erklären«, antwortete Dr. Bernau. »Doch es scheint mir von größter Wichtigkeit zu sein.«

»Also gut, kommen Sie mit in mein Zimmer«, entschied Anja Westphal und schritt weiter, Dr. Bernau an ihrer Seite.

»Nun?« Fragend sah sie den Kollegen an, als sie wenig später mit ihm allein in ihrem Dienstzimmer war. »Ich höre und muß gestehen, daß Sie mich mit Ihren Andeutungen neugierig gemacht haben.«

Dr. Bernau verzichtete auf langatmige Einleitungen. »Unsere Klinik ist in Gefahr, verehrte Frau Kollegin«, sagte er.

»Wie darf ich das verstehen?« wollte Anja Westphal wissen. »Von was für einer Gefahr sprechen Sie?«

Dr. Bernau trat an das Fenster, von dem aus man das südliche Seeufer überblicken konnte. »Würden Sie bitte mal dort hinübersehen«, bat er die Ärztin.

Erstaunt kam sie dieser Aufforderung nach »Und?« fragte sie.

»Sehen Sie dort die im Boden steckenden rot-weißen Stangen?«

»Hm… ja, jetzt erkenne ich sie«, erwiderte die Ärztin. »Was aber haben die mit dem zu tun, was Sie als Gefahr für die Klinik genannt haben?«

Dr. Bernau gab sich einen Ruck und begann zu berichten. Er wiederholte das, was ihm Vera am Vorabend erzählt hatte. »Es dürfte Ihnen wohl auch klar sein, daß ein solches Feriencenter sich äußerst negativ auf die Ruhe der Klinik und damit auch auf das Befinden unserer Patienten auswirken wird.«

Anja Westphal hatte Dr. Bernau mit keinem Wort unterbrochen. In ihren Augen war ein nachdenklicher Ausdruck. »Wenn das so ist, dann muß ich Ihnen beipflichten«, ergriff sie dann das Wort. »Die durch ein solches Feriencenter verursachte Unruhe und der Lärm würden sich tatsächlich unangenehm auf die Gesundung der meisten unserer Patienten auswirken.« Forschend sah sie Dr. Bernau an. »Woher haben Sie eigentlich dieses Wissen?«

Den Bruchteil einer Sekunde zögerte Dr. Bernau. »Ich weiß es von der Vermessungstechnikerin, mit der ich mich gestern ein wenig unterhalten habe«, antwortete er dann aber. Weshalb er mit dieser Dame überhaupt Kontakt bekommen hatte, behielt er für sich. Das war seine Privatsache, die niemanden etwas anging.

»Hm, wer kann denn so unvernünftig sein, in unmittelbarer Nähe einer Klinik ein derartiges Projekt zu planen?« Anja Westphal begriff das nicht.

»Ich weiß nur, daß ein Baulöwe aus München auf diese Idee gekommen sein soll«, meinte Dr. Bernau. »Klar bin ich mir jedoch auch darüber, daß das nicht ohne Einverständnis unseres verehrten Bürgermeisters geht, denn das Gelände da unten gehört der Gemeinde Auefelden.«

»Das ist ja interessant«, stieß die Ärztin hervor. Hinter ihrer Stirn überschlugen sich die Gedanken. Ein Feriencenter dicht neben einer Klinik – nein, das konnte nicht gutgehen. In ihrem Innern sträubte sich etwas gegen einen solchen Plan. Es bedurfte bei ihr keiner langen Überlegungen, um zu dem Entschluß zu kommen, dagegen etwas zu unternehmen. Das war sie der Klinik und den Patienten, den Frauen und Kindern schuldig. Dr. Lindau wäre der gleichen Meinung gewesen. Sie bedauerte, daß er nicht hier war.

»Ich meine, wir sollten etwas unternehmen, um dieses geplante Projekt zu stoppen, so lange noch Zeit dazu ist«, machte Dr. Bernau seinem Herzen Luft.

»Sie haben vollkommen recht, Herr Kollege«, stimmte die Ärztin im Brustton der Überzeugung zu. »Ich werde das nachher bei der Ärztebesprechung zur Sprache bringen«, fuhr sie fort. »Auf jeden Fall danke ich Ihnen, daß Sie mir das berichtet haben.«

»Man müßte ein paar ernste Worte mit dem Bürgermeister reden«, meinte Dr. Bernau.

»Das werde ich – worauf Sie sich verlassen können«, erklärte Anja Westphal energisch. Sie sah auf die Uhr. »Wir sprechen nachher weiter, denn jetzt will ich mich für die Visite vorbereiten. In einer halben Stunde beginne ich. Geben Sie das bitte an die Stationen weiter!«

»In Ordnung.« Dr. Bernau entfernte sich mit einem gemurmelten Gruß. Irgendwie fühlte er sich erleichtert, daß er sich der Stellvertreterin Dr. Lindaus mitgeteilt hatte. Sie war zur Zeit die amtierende Chefärztin, und an ihr lag es nun, die Initiative zu ergreifen. Leicht würde es nicht sein, gegen den Bürgermeister und seine Gemeinderäte anzugehen, denn wie Dr. Bernau vermutete, ging es denen in erster Linie um den Profit – natürlich im Interesse der Gemeinde.

*

Anja Westphals sonst stets freundliche Miene war ungewöhnlich ernst, als sie eine Stunde später die ihr zur Zeit unterstellten Arztkollegen zur Besprechung im Konferenzraum versammelt sah. Kurz vorher hatte sie noch einen Blick durchs Fenster zum Südufer des Sees geworfen und hatte Dr. Bernaus Angaben bestätigt gefunden. Tatsächlich war dort eine blondhaarige Frau damit beschäftigt, das Gelände bis fast an die Grenze des Klinikareals zu vermessen.

Die Besprechung über die verschiedenen notwendigen Behandlungen und Therapien hielt sie kurz und präzise. Die Einteilung des Dienstplanes für diesen Tag dauerte auch nicht sehr lange.

Alle wußten, was sie zu tun hatten. Da sich zur Zeit keine extrem kritischen Krankheitsfälle in der Klinik befanden, gab es keine sonderlichen Probleme.

»Gibt es noch Fragen?« Die Ärztin blickte sich um.

»Von mir nicht«, antwortete der Chirurg Dr. Hoff. Er blätterte kurz in den vor ihm liegenden Krankenblättern. »Ich nehme nachher bei Frau Holler die Lumbalpunktion vor«, erklärte er dann. »Das Resultat lasse ich Ihnen dann gleich zukommen.«

»Ja, darum wollte ich Sie gerade bitten«, entgegnete die Ärztin. »Danach können wir entscheiden, wie wir weiter vorgehen.« Ihr Blick ging zu Dr. Reichel hin. »Wie sieht es mit Frau Bermann aus, die gestern eingeliefert wurde?« fragte sie.

»Die Symptome weisen auf eine Lungenembolie hin«, erwiderte Dr. Reichel.

»Akute Gefahr?«

»Das möchte ich nicht gerade sagen«, erklärte Dr. Reichel. »Dennoch ist eine schnelle Behandlung erforderlich. Ich werde die Frau nachher röntgen lassen. Auf jeden Fall habe ich ihr ein blutgerinnungshemmendes Mittel gespritzt und Sauerstoffbehandlung eingeleitet.«

»Rechnen Sie mit einem operativen Eingriff?«

»Ich hoffe, daß der nicht nötig sein wird, denn ich werde versuchen, den Blutpropf medikamental aufzulösen.« Dr. Reichel schlug seine Mappe zu und lehnte sich zurück.

»Wie sieht es bei Ihnen auf der Kinderstation aus, Herr Mertens?« wandte sich Anja Westphal an den Kinderarzt und Schwiegersohn Dr. Lindaus.

Dr. Mertens gab einen kurzen Bericht. »Keine Probleme zur Zeit«, beendete er seine Rede. »Ein wenig Sorge habe ich allerdings mit einem kleinen Jungen – ein Diphteriefall. Ich denke aber, daß ich ihn hinkriege – trotz der vorliegenden Kreislaufschwäche.«

»Das hoffe ich auch«, meinte Anja Westphal. »Halten Sie mich bitte auf dem laufenden.«

»In Ordnung…«

Die Ärztin gab noch einige Weisungen weiter, klappte dann ebenfalls ihre Mappe zu und blickte die Versammelten der Reihe nach an. »Damit wäre alles besprochen, meine Herren«, sagte sie. »Doch ich bin noch nicht fertig«, fuhr sie fort. »Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen. Etwas, das uns Ärzte zum Handeln zwingt.« Mit knappen Worten berichtete sie den gespannt zuhörenden Kollegen das, was Sie von Dr. Bernau erfahren hatte und von dessen Richtigkeit sie sich vor einer halben Stunde mit einem Blick durchs Fenster hatte überzeugen können. »Ich finde es jedenfalls von den dafür Verantwortlichen gelinde gesagt unvernünftig, in direkter Nähe der Klinik ein Feriencenter zu errichten und damit die Ruhe von kranken Menschen zu stören. Was sagen Sie dazu, meine Herren?« fragte sie. »Ihre Meinung würde mich interessieren.« Auffordernd blickte sie in die Runde.

»Ich finde, daß das eine Frechheit ist«, stieß Dr. Hoff hervor. »Das mindeste wäre doch gewesen, wenn sich der oder die dafür Verantwortlichen erst einmal mit uns… hm… mit der Klinikleitung in Verbindung gesetzt hätten.«

»Das ist auch meine Meinung«, pflichtete Dr. Reichel dem Chirurgen bei. »Wer hat sich das denn überhaupt ausgedacht?«

»Unser Herr Bürgermeister«, meldete sich Dr. Bernau zu Wort. »Er ist es ja, der entscheidet, ob das gemeindeeigene Gelände da unten am See verkauft wird oder nicht. Ohne seine Einwilligung beziehungsweise die des Gemeinderates zum Landverkauf kann auch jener Bauunternehmer aus München kein Feriencenter errichten.«

Mit dieser Ansicht stand er nicht allein da. Alle waren sich einig, daß man versuchen sollte, dieses geplante Projekt zu unterbinden.

»Schade, daß mein Schwiegervater nicht hier ist«, meldete sich Dr. Alexander Mertens zu Wort.

»Aber ich bin da, und als Stellvertreter von Dr. Lindau fühle ich mich verpflichtet, die Interessen der Klinik wahrzunehmen.« Dr. Anja Westphal straffte sich. »Ich werde mit dem Bürgermeister ein paar ernste Worte reden, wenn Sie alle damit einverstanden sind«, erklärte sie energisch. Mit Genugtuung nahm sie zur Kenntnis, daß dazu keine Einwände erfolgten.

»Leicht wird das nicht sein, Frau Doktor«, bemerkte Dr. Bernau. »Der Bürgermeister wird sicher wirtschaftliche Vorteile für Auefelden als Begründung für den Verkauf des Geländes am südlichen Seeufer in die Waagschale werfen.«

»Nun, unsere Gegenargumente haben auch Hand und Fuß«, meinte die Frauenärztin. »Wir müssen sie nur mit dem nötigen Nachdruck vorbringen. Ich kann mir eigentlich schwer vorstellen, daß der Bürgermeister, der ja als fortschrittlicher Politiker bekannt sein soll, sich unseren Gründen verschließt.«

»Wenn Sie sich da nicht irren«, gab Dr. Hoff zu bedenken.

»Ich lasse es darauf ankommen«, erklärte Anja Westphal. »Versucht muß es jedenfalls werden. Morgen schon werde ich beim Bürgermeister vorsprechen.« Sie blickte auf die Uhr. »So, dann wäre also alles besprochen und klar.« Sie erhob sich. »Ich danke Ihnen, meine Herren«, rief sie den Anwesenden zu und verließ das Besprechungszimmer.

Nacheinander begaben sich wenig später auch die anderen zu ihren Stationen zurück, auf denen dann noch eine ganze Weile über die Neuigkeit diskutiert wurde. Es war erstaunlich, wie rasch es sich herumsprach, daß in unmittelbarer Nähe der Klinik ein großes Feriencenter entstehen sollte. Die Schwestern erfuhren es von den Ärzten und die wiederum gaben es an einige Patientinnen weiter, die dann auch nichts Eiligeres zu tun hatten, als die anderen Mitkranken zu informieren.

Dr. Anja Westphal war nicht wenig erstaunt, als sie am Nachmittag ihren gewohnten Kontrollgang durch die Krankenzimmer machte und von allen Seiten zu hören bekam, daß es eine Rücksichtslosigkeit sei, die wohltuende Ruhe der Klinik durch ein derartiges Projekt zu stören.

»Das muß man sich mal vorstellen – Kindergeschrei und lärmende, vielleicht sogar angetrunkene Urlauber… na, ich danke.«

»Spektakel von den Autos…«

»Na, und die Auspuffgase, die ja die Luft vergiften…«

»Wir sind schließlich krank und brauchen Ruhe und Erholung, um wieder gesund zu werden…«

So und in ähnlicher Tonart klang es der Ärztin in den Ohren, als sie durch die Zimmer ging. Was die Klinikleitung dagegen zu unternehmen gedachte, wurde sie nicht nur einmal gefragt. Manche verlangten sehr energisch Gegenmaßnahmen.

Anja Westphal konnte nur antworten, daß sie fest entschlossen war, so schnell wie möglich mit dem Bürgermeister von Auefelden darüber zu reden. Falls nötig, sei sie auch entschlossen, eine von der Klinikleitung, von den in der Klinik tätigen Ärzten, dem Pflegepersonal und den Patienten unterschriebene Resolution dem zuständigen Landrat zukommen zu lassen, erklärte sie allen, die es hören wollten. Auf jeden Fall aber freute sie sich, daß die meisten Frauen, die wegen irgendwelchen Leiden zur Zeit in der Klinik lagen, auf ihrer Seite standen und bereit waren, auf ihre Weise mitzuhelfen, weiterhin die Ruhe der Klinik am See zu sichern. Alles das bestärkte sie noch mehr in ihrem bereits gefaßten Entschluß, gleich am nächsten Tag ein ernstes Gespräch mit dem Bürgermeister von Auefelden zu führen. Sie glaubte jetzt sogar schon, daß dieses Gespräch zu ihrer Zufriedenheit, also im Interesse der Klinik und ihrer Patienten, zu einem positiven Ergebnis führen würde.

Doch schon vierundzwanzig Stunden später sollte sie eines anderen belehrt werden und erfahren, daß Bürgermeister Hofstätter ein harter Brocken war, der sich nicht so einfach von einem schon gefaßten Entschluß abbringen ließ.

*

»Haben wir noch jemanden?« fragte Dr. Anja Westphal die Assistentin Dr. Lindaus, als die letzte von vier Wartezimmerpatientinnen abgefertigt war und mit einem Rezept das Sprechzimmer verlassen hatte.

»Im Wartezimmer ist niemand mehr, Frau Doktor«, erwiderte Bettina Wendler und verstaute zwei mit Blut gefüllte Ampullen, um sie ins Labor zu schaffen.

»Tja, dann ordnen Sie die Blutproben und den Abstrich und bringen Sie mir dann die Laborergebnisse nach oben.« Anja Westphal stand auf. »Ich bin nachher bei der Visite und an­schließend in meinem Zimmer.«

»Ist gut, Frau Doktor.« Die Assistentin entfernte sich mit den Blutproben und dem Abstrich, während Anja Westphal hinaus ins Vorzimmer zu Frau Stäuber ging.

»Rufen Sie doch bitte beim Bürgermeister an und melden Sie mich zu einer wichtigen und dringenden Unterredung an!« bat sie die Sekretärin.

Marga Stäuber kam dieser Weisung sofort nach. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann hatte sie das Bürgermeisteramt in der Leitung. »Ich möchte gern einen dringenden Termin für Frau Dr. Westphal von der Klinik am See… Wie bitte? Ja, natürlich – beim Herrn Bürgermeister… Wie bitte?« Marga Stäuber lauschte sekundenlang. »Danke, ich versuche es später noch einmal«, sagte sie und legte auf.

»Was ist?« fragte die Ärztin.

»Der Bürgermeister ist im Augenblick nicht zu erreichen«, erklärte die Sekretärin. »Er ist vor zehn Minuten mit seiner Frau weggefahren – hierher in die Klinik.«

»Hierher?« stieß Anja Westphal erstaunt aus. In diesem Augenblick fiel ihr die Frau des Bürgermeisters ein, die sie ja untersucht und der sie zu einer Operation geraten hatte. »Richtig, Frau Hofstätter wollte ja in ein paar Tagen… hm, das trifft sich eigentlich ganz gut, wenn ihr Mann sie persönlich bei uns abliefert. So erspare ich mir den Weg nach Auefelden.« Ein schwaches Lächeln huschte um ihre Lippen. »Frau Stäuber«, wandte sie sich an die Sekretärin, »geben Sie bitte dem Pförtner Bescheid, daß Frau Hofstätter samt ihrem Mann sofort zu mir hinaufgebracht werden, wenn die beiden in der Klinik eintreffen!«

»Was ist mit der Visite, Frau Doktor?« fragte Marga Stäuber.

»Wird verschoben – ich sage dann Bescheid«, antwortete die Ärztin und verschwand. Sie hatte es jetzt eilig, denn der Bügermeister und seine Frau konnten jede Minute ankommen, wenn sie bereits vor zehn Minuten aus Auefelden weggefahren waren.

In ihrem Zimmer wappnete sich Anja Westphal auf das Gespräch mit dem Bürgermeister. Was sie ihm sagen und vorhalten wollte, wußte sie. Keineswegs jedoch war sie gewillt, klein beizugeben, falls der Bürgermeister seine Machtposition hervorkehren sollte. Sie gestand sich aber auch ein, daß sie doch ein wenig nervös war.

Fünf Minuten waren gerade vergangen, als es klopfte und eine Schwester den Bürgermeister und seine Frau hereinließ und sich sofort wieder entfernte. Freundlich begrüßte die Ärztin zuerst die Bürgermeistersgattin und dann deren Mann. »Ich nehme an, daß Sie Bescheid wissen über die Diagnose, die ich Ihrer Gattin gestellt habe«, sagte sie zu dem letzteren.

»Gewiß, Frau Doktor«, bestätigte Stefan Hofstätter, ein etwas zur Korpulenz neigender Mittfünfziger mit struppigem Haar. Auffallend an ihm waren die buschigen Augenbrauen, die ihm ein beinahe finsteres Aussehen verliehen. »Wir haben darüber gesprochen, und meine Frau hat sich entschlossen, diese… diese…«

»Zyste«, half Anja Westphal.

»… entfernen zu lassen«, beendete der Bürgermeister seinen Satz. »Deshalb sind wir hier, und ich bin mitgekommen, weil ich sicher sein will, daß eine gute Unterbringung in Ihrer Klinik gewährleistet ist.«

In den Augen der Ärztin blitzte es unwillig auf. »Ich sagte es bereits Ihrer Frau, daß unsere Patienten erstklassig untergebracht und auch erstklassig behandelt werden«, konterte sie.

»Also als Erster-Klasse-Patient«, warf Angela Hofstätter dazwischen. »Als Frau eines Bürgermeisters steht mir das wohl auch zu. Oder?«

»Sie werden zufrieden sein, Frau Hofstätter«, entgegnete die Ärztin. Sie hatte nicht die geringste Lust, lange Erklärungen zu diesem Punkt abzugeben.

»Wann wird meine Frau operiert?« wollte der Bürgermeister wissen. »Heute noch? Oder morgen?«

Die Ärztin winkte lächelnd ab. »Nein«, erwiderte sie. »Heute nicht und auch morgen noch nicht.«

»Weshalb nicht?« begehrte der Bürgermeister auf.

»Weil wir vorher noch einige Untersuchungen vornehmen müssen«, antwortete Anja Westphal. »Blutproben, eine Laparoskopie und ähnliches…«

»Und das dauert tagelang?« fuhr der Bürgermeister auf.

»Nun, es braucht eine gewisse Zeit«, antwortete die Ärztin ausweichend. »Das ist übrigens ein Punkt der von mir angesprochenen erstklassigen Behandlung. Es soll ja schließlich nichts schiefgehen.«

»Hm…« Der Bürgermeister sah seine Frau an. »Wenn du natürlich glaubst, daß die Behandlung hier in der Klinik nicht optimal ist, dann kannst du dich auch in München operieren lassen«, meinte er. »In München haben sie bestimmt eine Menge Spezialisten.«

Ärger kroch in der Ärztin hoch. »Es steht Ihnen, also Ihrer Gattin, frei, wo die Operation stattfinden soll«, hielt sie dem Bürgermeister vor. »Ich kann nur betonen, daß die Ärzte in unserer Klinik – einschließlich mir – voll ausgebildete Spezialisten sind. Frauenärzte also, und das Leiden Ihrer Frau ist nun einmal eine Frauenkrankheit.« Am liebsten hätte sie es jetzt fast gesehen, wenn Frau Hofstätter sich wirklich für eine Klinik in München entschieden hätte. Diese Frau, die sich aufgrund der Position ihres Mannes anscheinend für etwas Besseres hielt und deshalb auf Privilegien pochte, würde eine schwierige Patientin sein.

»Na schön, versuchen wir es halt«, entschied der Bürgermeister. »Einverstanden?« fragte er seine Frau.

Die nickte nur.

»Schön, dann werde ich Sie zu­nächst einmal unterbringen lassen, Frau Hofstätter«, ergriff die Ärztin die Initiative und drückte auf einen Klingelknopf, der eine Schwester herbeirief.

»Sie haben geläutet, Frau Doktor…«

»Schwester Karin, das ist Frau Hofstätter«, informierte sie die junge Schwester. »Sie wird etliche Tage bei uns bleiben. Bringen Sie sie bitte in einem Zimmer unter!«

»Ein Einbettzimmer, wenn ich bitten darf«, warf Angela Hofstätter ein. »Und mit Telefon und TV-Apparat.«

»Haben wir so ein Zimmer frei?« fragte Anja Westphal und wechselte einen raschen Blick mit der Schwester.

»Nummer einundzwanzig ist gerade frei«, antwortete die. »Telefon und Fernseher sind allerdings nicht drin.«

Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte die Ärztin, daß der Bürgermeister auffahren wollte. Sie kam ihm zuvor. »Das können wir aber ändern«, sagte sie lächelnd.

»Das will ich doch sehr hoffen«, brummte Stefan Holstätter.

Die Ärztin schluckte. Eine scharfe Entgegnung lag ihr auf der Zunge, aber sie beherrschte sich. Sie dachte daran, daß sie ja noch mit dem Bürgermeister wegen einer anderen Sache reden wollte. So gesehen war es natürlich taktisch richtiger, auf die ihrer Meinung nach etwas überspannten Forderungen oder Wünsche der Frau einzugehen, um den Bürgermeister nicht schon vor der geplanten Unterredung zu verärgern. »Ihre Frau wird jedenfalls keinen Grund zur Klage haben«, sagte sie mit Betonung.

»Na, das würde gerade noch fehlen«, murmelte Stefan Hofstätter.

»Ja, dann darf ich Sie bitten, mir zu folgen, Frau Hofstätter«, meldete sich Schwester Karin zu Wort und griff nach der Reisetasche der Bürgermeistersgattin.

Angela Hofstätter trat vor ihren Mann hin und wollte ihm zum Abschied einen Kuß geben.

»Laß das, wir sind nicht allein«, murmelte der Bürgermeister und wandte sich der Ärztin zu. »Das wär’s dann wohl, Frau Doktor«, sagte er mit rauh klingender Stimme, drehte sich um und wollte seiner Frau folgen, die schon mit der Schwester durch die geöffnete Tür ging.

»Herr Bürgermeister, darf ich Sie bitten, noch ein paar Minuten zu bleiben!« rief Anja Westphal den Mann zurück.

»Ja? Wozu?« Stefan Hofstätter blieb stehen. Fragend sah er die Ärztin an.

Die ging erst um den Schreibtisch herum und schloß die Tür.

»Ich möchte gern mit Ihnen etwas besprechen«, erwiderte sie dann, deutete einladend auf einen Stuhl und nahm wieder hinter ihrem Schreibtisch Platz.

»Ist es wegen meiner Frau?« fragte der Bürgermeister. »Haben Sie ihr etwa etwas verschwiegen, was mit ihrem Leiden zusammenhängt?«

»Nein, es hat nichts mit Ihrer Gattin zu tun«, erwiderte die Ärztin. »Aber es ist etwas sehr Ernstes, was ich mit Ihnen besprechen möchte, besprechen muß.«

Der Bürgermeister versteifte sich ein wenig und begann etwas zu ahnen. »Ich höre«, sagte er nur.

Die Ärztin atmete einmal tief durch und begann dann zu sprechen. In knappen Worten erzählte sie, was sie gehört hatte. »Ist das richtig?« fragte sie. »Soll da unten, gleich neben der Klinik, ein Feriencenter errichtet werden?«

»Woher wissen Sie das?« In den Augen des Bürgermeisters war ein wachsamer Ausdruck.

»Das spielt keine Rolle«, antwortete Anja Westphal. »Also?«

»Weshalb interessiert Sie das denn so sehr?« wollte der Bürgermeister wissen. »Das ist doch keine Angelegenheit der Klinik, sondern Sache der Gemeinde, deren Bürgermeister ich bin«, fügte er mit Betonung hinzu.

»Dieses Projekt gefährdet die für die Kranken notwendige Ruhe«, gab Anja Westphal zurück. »Als Ärztin weiß ich, wie negativ sich Ruhestörung auf die Gesundung unserer Patienten auswirken kann.«

»Sie machen sich unnötige Gedanken«, wehrte der Bürgermeister ab. »Die noch zu erlassenden Verordnungen werden keine Ruhestörung aufkommen lassen.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr«, konterte die Ärztin. »Ich glaube nicht, daß man sich an irgendwelche Verordnungen halten wird. Wie zum Beispiel wollen Sie mit Verordnungen den Lärm der Automotoren verhindern oder die Verpestung der Luft durch die Abgase? Ich könnte Ihnen noch einige Fakten anführen, die als Gefahr für die Klinik angesehen werden können.«

»Was erwarten Sie jetzt von mir, Frau Doktor?«

»Ich möchte Sie bitten, dieses Projekt nicht erstellen zu lassen«, erwiderte die Ärztin ruhig. »Sie als Bürgermeister könnten ein Machtwort sprechen.«

»Das habe ich bereits getan – im Interesse von Auefelden«, stieß der Bürgermeister hervor. »Gerade als Bürgermeister habe ich in erster Linie die wirtschaftlichen Interessen von Auefelden im Auge. Ich hoffe, Sie verstehen das.«

»Nein, Herr Bürgermeister, ganz und gar nicht, wenn es auf Kosten von Kranken geht«, gab Anja Westphal zurück. Ihr Ton war um eine Nuance schärfer geworden.

»Das kann ich dann auch nicht ändern«, entgegnete Stefan Hofstätter kühl und abweisend. »Der Grund und Boden da unten am See ist Gemeindebesitz, und ich halte es für meine Pflicht als Bürgermeister, diesen Besitz zum Wohl von Auefelden nutzbringend arbeiten zu lassen.«

»Zu verkaufen, wollten Sie sicher sagen«, meinte die Ärztin.

»Wenn Sie so wollen – ja«, gab der Bürgermeister zu. »Dadurch wird die Gemeindekasse gefüllt.«

»Verstehe«, gab Anja Westphal zurück. »Aber es läge doch in Ihrer Macht, die Errichtung eines Feriencenters zu verhindern.«

»Weshalb sollte ich das?« Der Bürgermeister verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Durch dieses Feriencenter wird zudem eine zusätzliche Einnahmequell für Auefelden frei. Die Geschäftsleute im Ort werden davon profitieren und damit zwangsläufig auch unsere Steuerkasse.«

»Also nur Profit«, stieß die Ärztin hervor.

»Davon lebt doch schließlich die ganze Welt«, meinte der Bürgermeister. »Ich vergaß – die Genehmigung des Landrates liegt natürlich vor, und die Kaufverträge sind unterschriftsreif. Herr Strasser hat bereits mit den Vermessungsarbeiten beginnen lassen.«

»Das habe ich gesehen.« Die Ärztin spürte, daß sie bei dem Bügermeister auf Granit biß. Der hatte nur den Profit für Auefelden im Sinn und setzte sich rücksichtslos über jede Bedenken hinweg. »Sie sehen also keine Möglichkeit…«

»Nein«, fiel der Bürgermeister der Ärztin hart ins Wort und erhob sich. »Damit betrachte ich diese Unterredung als beendet.«

»Ich hoffe dennoch, daß darüber noch nicht das letzte Wort gesprochen ist.« Anja Westphal stand ebenfalls auf. Zornig blitzte es in ihren Augen auf. »Schade, daß Herr Dr. Lindau nicht hier ist«, stieß sie hervor.

»Er könnte an den Tatsachen auch nichts ändern«, entgegnete der Bürgermeister. »Die Kaufverträge werden in einigen Tagen von Herrn Strasser unterschrieben, und damit ist alles gelaufen.«

Anja Westphal sah keine Möglichkeit mehr, den Bürgermeister in ihrem Sinne umzustimmen. Frostig erwiderte sie den Gruß des Bürgermeisters, der eilig das Zimmer verließ.

Eine ganze Weile zerbrach sich die Ärztin noch den Kopf, ohne eine brauchbare Lösung für dieses Problem zu finden. Sie dachte an das Landratsamt, an eine Resolution an den Landrat. Die große Frage war nur, ob ein solches Vorgehen nutzen würde. Abgesehen davon konnte und wollte sie solche Schritte nicht ohne Wissen Dr. Lindaus unternehmen.

Dr. Lindau, sinnierte sie, ob der vielleicht eine Lösung wüßte? Der Gedanke an den im Urlaub befindlichen Klinikleiter aktivierte plötzlich ihre grauen Zellen. »Ob ich ihn in seinem Urlaubsort anrufe und ihm melde, was hier vorgeht?« fragte sie sich mit flüsternder Stimme. Sollte sie ihn in seiner Urlaubsruhe stören? Angenehm war das nicht gerade. Aber andererseits hatte er noch vor seiner Abreise verlangt, verständigt zu werden, wenn etwas aus dem Rahmen fallendes eintreten sollte.

»Wir haben aber jetzt eine außergewöhnliche Situation«, murmelte Anja Westphal. Es wäre also durchaus gerechtfertigt, den Chefarzt anzurufen, versuchte sie sich einzureden. Minuten später war sie dazu entschlossen. »Ja, ich werde ihm die Lage auf jeden Fall schildern«, murmelte sie. Olme noch länger zu überlegen, griff sie zum Telefon und rief im Chefarztbüro an. Sie bat die sich meldende Sekretärin, eine Verbindung mit Dr. Lindau herzustellen. »Sie wissen doch, wo er sich aufhält?« fragte sie.

»Natürlich«, kam die selbstbewußte Antwort von Marga Stäuber. »Ich habe alles notiert – auch die Telefonnummer des Hotels, in dem der Herr Doktor abgestiegen ist.«

»Dann versuchen Sie bitte, ihn zu erreichen, Frau Stäuber, und legen Sie das Gespräch gleich zu mir herauf, wenn Sie den Chef an der Leitung haben«, beschwor Anja Westphal die Sekretärin.

»Mach ich, Frau Doktor.«

»Danke.« Sanft legte die Ärztin den Hörer wieder auf die Gabel.

*

Genüßlich schlürfte Dr. Lindau auf der Terrasse des Hotels einen Cappuccino. Sein Blick ging über den Gardasee, über den sich ein azurblauer Himmel wölbte. Vereinzelte Segelboote bewegten sich langsam über die spiegelglatte Wasserfläche. Es war drückend warm, und Dr. Lindau griff öfter nach seinem Taschentuch, um sich die winzigen Schweißperlen von der Stirn abzutupfen.

Eben hatte er zwei Ansichtskarten geschrieben – eine an seine Tochter Astrid und deren Mann und eine an das Ärzteteam der Klinik am See. Die wollte er noch vor dem Mittagessen in einen Briefkasten werfen.

Sinnend starrte er vor sich hin und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Er konnte es nicht verhindern, daß er immer wieder an die Klinik dachte. Natürlich räumte er ein, daß ihm dieser Urlaub wirklich guttat – jedenfalls hatte er es in diesen wenigen Tagen, die er nun hier unten am Gardasee war, noch nicht bereut, dem Drängen seiner Tochter und des Schwiegersohnes nachgegeben zu haben. Andererseits aber war er viel zu stark mit seiner Klinik und deren Belangen verbunden, als daß er sich nicht doch ab und zu zurücksehnte. Überhaupt hatte er seit dem gestrigen Tag ein eigenartiges Gefühl im Zusammenhang mit der Klinik. Er konnte es nicht genau definieren, aber ihm war, als gäbe es da oben in Auefelden irgendwelche Probleme.

Unsinn, redete er sich in Gedanken zu, wenn es das wäre, so würde man mich bestimmt anrufen. Er hatte ja vor seiner Abreise ausdrücklich darum gebeten – Astrid und Alexander ebenso wie seine Stellvertreterin Frau Dr. Westphal.

Er hatte diese Überlegung gerade beendet, als einer der Kellner auf die Terrasse gelaufen kam. »Signore Dottore, es ist Telefon für Sie, aus Deutschland… von Klinik…«, rief er.

Dr. Lindau sprang auf. »Grazie«, dankte er und eilte ins Innere des Hotels. »Telefon für mich?« fragte er an der Rezeption.

»Si, Signore Dottore – Kabine due… zwei.«

Dr. Lindau begab sich in die bezeichnete Kabine und meldete sich. »Doktor Lindau…«

»Guten Tag, Herr Doktor, wie geht es Ihnen?« Es war Marga Stäuber, die das fragte.

»Danke, Frau Stäuber, ich bin zufrieden«, antwortete Dr. Lindau und war froh, daß die Verbindung gut war. »Aber Sie rufen doch sicher nicht an, nur um sich nach meinem Befinden zu erkundigen.«

»Nein, Herr Doktor, Frau Dr. Westphal möchte mit Ihnen sprechen. Ich verbinde Sie…«

In diesem Augenblick meldete sich bei Dr. Lindau wieder dieses merkwürdige Gefühl, das er in den vergangenen Stunden schon einige Male bemerkt hatte. Es war, als ob etwas auf ihn zukäme, dem er nicht auszuweichen vermochte. Aber was konnte das sein?

»Hier ist Dr. Westphal«, kam plötzlich die Stimme der Ärztin. »Hendrik, kannst du mich hören?«

»Ja, sehr gut sogar«, erwiderte Dr. Lindau. »Was gibt es? Du wolltest mich sprechen? Ist etwas passiert?« Ungeduldig klang seine Stimme.

»Passiert noch nicht, aber es kann bald geschehen«, klang es durch die Leitung. »Deshalb habe ich mich überwunden und dich angerufen, weil ich nicht weiter weiß. Ich hoffe, du verzeihst mir die Störung deiner Urlaubsruhe.«

»Rede nicht herum«, wurde Dr. Lindau energisch, »und sag schon, was los ist!«

»Ja, es geht um folgendes…« Dr. Anja Westphal berichtete, was sich in diesen Tagen getan hatte und noch weiter tat. Sie erzählt auch von ihren Bemühungen, den Bürgermeister umzustimmen. »Leider ohne Erfolg«, bekannte sie. »Ich weiß nun nicht, was weiter geschehen soll, um diese Attacke auf die Ruhe und den Frieden der Klinik zu unterbinden beziehungsweise erst gar nicht beginnen zu lassen.«

Dr. Lindau hatte die Kollegin mit keinem Wort unterbrochen. Seine Miene war finster geworden. Was er da eben gehört hatte, brachte ihn in Rage. »Anja, es war richtig, daß du mich jetzt angerufen hast«, sagte er. »Außerdem hast du vollkommen recht – die Interessen der Klinik und der Patienten müssen gewahrt bleiben. Was für eine Unvernunft des Bürgermeisters! Na, dem werde ich etwas erzählen. Ich komme sofort nach Hause«, stieß er hervor.

»Aber deine Ferien, Hendrik«, warf Anja Westphal ein, »die kannst du doch nicht so einfach…«

»Und ob ich das kann«, fiel Dr. Lindau der Kollegin ins Wort. »Jetzt geht die Klinik vor. Meine Klinik, die ich mir nicht von irgendwelchen Geschäftemachern vermiesen lassen werde. Jedenfalls fahre ich spätestens in einer Stunde von hier los und bin wahrscheinlich am späten Nachmittag in der Klinik. Erwarte mich bitte! Danke für deinen Anruf.« Er legte auf.

»Meine Rechnung, bitte, ich reise in einer knappen Stunde ab«, teilte er Sekunden später dem Mann an der Rezeption mit.

»Signore Dottore, Sie wollen schon wieder fort?« staunte der dienstbare Hotelgeist. »Gefällt es Ihnen denn nicht mehr bei uns?«

»Es gefällt mir gut«, erwiderte Dr. Lindau, »aber meine Klinik ist in Schwierigkeiten, verstehen Sie?!«

»Si, si«, beeilte sich der Rezep­tions­mann zu versichern. »Ich lasse die Rechnung fertig machen.«

»Danke. Ich packe inzwischen und werde noch etwas zu Mittag essen.« Dr. Lindau sah auf die Uhr. »In fünf­undvierzig Minuten fahre ich los.« Mit langen Schritten eilte er auf den Lift zu und fuhr nach oben, urn seinen Koffer zu packen.

*

Marga Stäuber deckte ihre Schreibmaschine zu, denn ihr Dienst war für den heutigen Tag beendet, und wollte gehen. In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Dr. Lindau stand vor ihr.

Ihre Augen wurden groß und rund, und sie schnappte nach Luft, als sie ihren verehrten Chef so plötzlich vor sich stehen sah. »Das ist doch nicht möglich«, brachte sie stammelnd hervor. »Sind Sie denn nicht…«

»Nein, bin ich nicht mehr«, fiel Dr. Lindau seiner Sekretärin lächelnd ins Wort. »Jetzt bin ich wieder hier, wie Sie sehen.«

Es dauerte einige Sekunden, bis sich Marga Stäuber von ihrer Überraschung erholt hatte. »Was hat das denn zu bedeuten?« fragte sie fassungslos.

»Das, Stäuberlein, erkläre ich Ihnen später, falls Sie es noch nicht wissen sollten«, erwiderte der Chefarzt.

»Es handelt sich sicher um dieses geplante Feriencenter neben der Klinik«, entgegnete die Sekretärin.

»Na, Sie wissen also doch schon Bescheid…«

»Na ja, das ist ja Tagesgespräch in der Klinik.« Fragend sah sie ihren Chef an. »Wollen Sie noch etwas diktieren oder haben Sie sonst einen Wunsch? Ich habe es nicht eilig.«

Dr. Lindau winkte ab. »Nein, machen Sie ruhig Feierabend, Frau Stäuber«, sagte er. »Das heißt, Sie könnten vorher noch Frau Dr. Westphal zu mir bitten, Sie erwartet mich.«

»Sofort.« Marga Stäuber rief die Ärztin an. »Sie kommt sofort herunter«, gab sie dem Chefarzt zu verstehen. »Ja, dann werde ich eben gehen«, fügte sie hinzu, obwohl sie liebend gern noch geblieben wäre, um vielleicht zu erfahren, was der Chef mit Frau Dr. Westphal noch wegen dieser Sache zu besprechen hatte. Doch da Dr. Lindau keine Anstalten machte, sie noch zurückzuhalten, sondern in seinem Zimmer verschwand, verließ sie schmollend ihr kleines Büro, um nach Hause zu gehen.

Auf dem Flur stieß sie fast mit der Ärztin zusammen. »Er wartet schon auf Sie, Frau Doktor«, sagte sie nur und schritt weiter.

Anja Westphal betrat Sekunden später Dr. Lindaus Zimmer.

»Halten wir uns nicht erst bei langen Höflichkeitsfloskeln auf«, ergriff Dr. Lindau sofort das Wort. »Es geht jetzt um wichtigere Dinge. Bitte erzähl mir alles noch einmal ausführlich! Am Telefon war das ja nicht vollkommen möglich. Auch deine Unterhaltung mit dem Bürgermeister würde mich interessieren.« Einladend deutete er auf einen Stuhl.

Anja Westphal kam dem Verlangen des Chefarztes nach und berichtete von Anfang an – wie sie zuerst von Dr. Bernau darauf hingewiesen worden war, von ihrer Absicht, zum Bürgermeister zu gehen, um mit ihm ernsthaft zu reden, und von seinem unvermuteten Erscheinen in der Klinik.

»Kam er etwa her, um über diese Angelegenheit zu reden?« wollte Dr. Lindau wissen.

»Aber nein«, erwiderte Anja Westphal. »Er hat seine Frau eingeliefert, und da habe ich eben die Gelegenheit gleich wahrgenommen und ihn zur Rede gestellt.«

»Interessant – seine Frau liegt hier in der Klinik?«

Die Ärztin nickte. »Sie wird wahrscheinlich morgen oder übermorgen operiert«, erklärte sie. »Ich muß das morgen noch mit Dr. Hoff absprechen. Ovarialzysten müssen ihr entfernt werden.« Fragend blickte sie Dr. Lindau an. »Was gedenkst du nun zu unternehmen?«

»Ich werde mir als erstes den verehrten Herrn Bürgermeister vornehmen«, antwortete der Klinikchef. Ein ganz leichter drohender Unterton schwang in seinen Worten mit. »Dann werden wir weitersehen.«

»Ich hoffe, daß du mehr Glück hast«, meinte die Ärztin. »Er ist ein harter Brocken«, setzte sie mahnend hinzu.

»Das kann ich auch sein, wenn es erforderlich ist«, versicherte Dr. Lindau der Kollegin. »Tja, das wär’s fürs erste«, fuhr er fort. »Ich würde dich aber bitten, für morgen neun Uhr die übrigen Kollegen zu einer kurzen Sonderbesprechung im Ärztezimmer zusammenzutrommeln; noch vor der Visite.«

»Das erledige ich«, gab die Ärztin zurück. »Hm, noch eine Frage: Bist du morgen wieder im Dienst?«

Dr. Lindau lächelte. »Vorläufig bleibst du noch auf dem Kommandostand, verehrte Kollegin«, antwortete er.

»Danke. Wir sehen uns dann also morgen um neun Uhr.« Anja Westphal erhob sich, verabschiedete sich mit einem freundlichen Gruß und ging.

Dr. Lindau machte sich noch einige Notizen und verließ dann wenig später sein Büro und auch die Klinik. Gespannt war er nun auf das Gesicht seiner Tochter und des Schwiegersohnes.

Die beiden waren aber auch tatsächlich sekundenlang sprachlos, als er keine zwanzig Minuten später vor ihnen stand. »Das darf doch nicht wahr sein, Paps«, fand Astrid zuerst ihre Sprache wieder. »Was, um Himmels willen, machst du denn hier? Wir wähnten dich immer noch da unten am Gardasee. Hat es dir nicht gefallen?«

»Doch, mein Mädchen«, erwiderte Dr. Lindau, »aber hier bahnt sich etwas an, das mir ganz und gar nicht gefällt. Dagegen muß und werde ich etwas unternehmen.«

»Du meinst diese Sache mit dem geplanten Feriencenter«, meldete sich Alexander Mertens zu Wort. »Das ist auch wirklich eine… eine… nun ja…«

»Schweinerei«, fiel Dr. Lindau seinem Schwiegersohn lächelnd ins Wort. »Sag’ es ruhig, denn es stimmt ja.«

»Ich habe davon gehört«, meinte Astrid. »Aber was willst du dagegen tun? Man kann der Gemeinde schwerlich verbieten, ihr gehörenden Grund und Boden zu verkaufen.«

»Verkaufen können sie meinetwegen, nur nicht zu dem Zweck, auf diesem Grund ein Feriencenter zu errichten. Dagegen will ich angehen und protestieren«, erregte sich Dr. Lindau. »Morgen werde ich mit dem Bürgermeister ein paar ernste Worte reden.«

»Tu das, Paps«, Astrid wurde energisch. »Jetzt aber ist für heute Schluß mit diesen Diskussionen. Wenn du nun schon hier bist, dann wollen wir uns wenigstens einen gemütlichen Abend machen.«

»Astrid hat recht«, pflichtete Alexander seiner hübschen Frau bei.

»Wir essen nachher auch gleich«, meinte Astrid. »Leider gibt es heute nur eine kalte Platte.«

»Die kommt mir gerade recht.« Dr. Lindau feixte verstohlen. »Bevor ich von da unten abfuhr, habe ich noch Spaghetti gegessen. Jeden Tag Spaghetti… brrr… das hält…«

»Schon gut, Paps.« Astrid lachte.

»Also dann gehe ich erst einmal zu mir rauf, und dann werde ich den Junior begrüßen.« Dr. Lindau nickte den beiden jungen Leuten zu und verschwand mit seinem Koffer in seiner in der oberen Etage des Doktorhauses befindlichen Wohnung.

*

Wie abgesprochen, hatte Dr. Bernau die junge Vermessungstechnikerin an diesem Abend vom GOLDENEN OCHSEN abgeholt und war mit ihr zum Tegernsee gefahren. In einem der Seerestaurants hatten sie gegessen und waren dann noch bei einem gu­ten Wein gleich sitzengeblieben.

Es ging schon langsam auf zehn Uhr abends zu, als Dr. Bernau noch eine Flasche bestellen wollte.

»Bitte, nicht mehr, Werner«, bat Vera. »Ich habe genug, und Sie sollten auch daran denken, daß Sie fahren müssen.«

Nach kurzem Zögern gab Dr. Bernau der jungen Frau recht. »Also gut«, meinte er lächelnd. »Sie erlauben mir dann aber, daß ich mir einen Kaffee zugute kommen lasse.«

Vera Solbach nickte nur.

»Möchten Sie auch einen?« fragte Dr. Bernau.

»Ja, denn der wird mir auch gut bekommen«, kam die Antwort.

Dr. Bernau bestellte das Gewünschte, wartete, bis es serviert wurde und ergriff dann wieder das Wort. »Haben Sie einmal darüber nachgedacht, Vera?« fragte er.

»Worüber?« Vera Solbach sah den Arzt erstaunt an.

»Über diese Sache mit dem Feriencenter…«

»Ja«, erwiderte die junge Frau.

»Und?« fragte Dr. Bernau gespannt.

»Was soll ich Ihnen dazu sagen, Werner?« Vera Solbachs Miene wurde nachdenklich. »Ich muß zugeben, daß Ihre Argumente gegen die Errichtung eines solchen Feriencenters stichhaltig sind«, fuhr sie fort. »Ich möchte auch nicht gern in einer Klinik liegen wollen, in deren unmittelbarer Nachbarschaft Menschenansammlungen sind, Kindergeschrei die Ruhe stört – von den Luftverunreinigungen durch Abgase und dem unvermeidlichen Lärm abfahrender oder ankommender Autos gar nicht zu sprechen. Aber trotz dieser Erkenntnis…«, sie zuckte mit den Schultern, »… könnte ich Ihnen nicht helfen.«

»Doch«, widersprach Dr. Bernau. »Sie könnten.«

»Wie denn?« verwunderte sich die Vermessungstechnikerin. »Soll ich etwa meine Arbeit niederlegen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das geht nicht. Herr Strasser würde nicht einen Pfennig bezahlen. Ich bekäme nur dann das vereinbarte Honorar, wenn der Auftraggeber von sich aus die Vermessungsarbeiten einstellen läßt.«

»Das verstehe ich«, räumte Dr. Bernau ein. Zwingend sah er die junge Frau an. »Sie könnten aber langsamer arbeiten und uns damit Zeit lassen, in der wir etwas unternehmen können, bevor die Bauerei da unten am See beginnt. Ich irre mich doch nicht, wenn ich annehme, daß erst alle Vermessungen abgeschlossen sein müssen…«

»Das ist richtig«, fiel Vera dem Arzt ins Wort. »Herr Strasser wird meines Wissens die Kaufverträge mit der Gemeinde erst dann unterschreiben, wenn das Abschlußergebnis der Vermessungen seinen Vorstellungen entspricht.«

»Na, das ist doch schon etwas«, meinte Dr. Bernau. »Wenn sich Ihre Vermessungsarbeit noch ein paar Tage hinzieht, dann könnte man noch diese und jene Möglichkeit ausschöpfen, um diesen Bebauungsplan des Bürgermeisters zum Scheitern zu bringen. Was sagen Sie dazu?«

»Wissen Sie, was Sie da von mir verlangen, Werner?« fragte Vera Solbach.

»Ich verlange das nicht von Ihnen«, verteidigte sich Dr. Bernau. »Ich kann Sie höchstenfalls nur darum bitten.«

Sinnend sah die junge Frau den Arzt an. »Sie hängen wohl sehr an dieser Klinik, wie?« kam es leise über ihre Lippen.

»Das kann man wohl sagen«, bestätigte Dr. Bernau.

Sekundenlang war Schweigen zwischen den beiden. Sie sahen sich nur ruhig in die Augen. Vera Solbach war von der Einstellung des Arztes beeindruckt. Er mußte diese Klinik wirklich sehr gern haben, daß er sich so stark, so engagiert für ihre Interessen einsetzte und sich nicht scheute, ihr einen sogenannten passiven Widerstand gegen ihren Auftraggeber, dem Baulöwen Strasser, zuzumuten.

»Sie sind plötzlich so nachdenklich«, brach Dr. Bernau schließlich das Schweigen.

»Ich überlege nur, wie Ihnen beziehungsweise der Klinik geholfen werden könnte«, erwiderte Vera Solbach. »Vielleicht fällt mir bis morgen noch etwas ein.« Sie sah auf die Uhr. »Wollen wir?« fragte sie.

»Schon?« Dr. Bernau schien enttäuscht zu sein.

»Ja, denn für mich wird es Zeit zum Schlafen«, gab die junge Frau zurück. »Außerdem habe ich heute die Mitteilung bekommen, daß Herr Strasser, mein Auftraggeber also, morgen in Auefelden eintreffen wird. Vielleicht sogar schon heute abend. Jedenfalls wird er sicher einen Zwischenbericht von mir erwarten. Deshalb möchte ich morgen auch vollkommen ausgeruht sein.«

»Ich verstehe.« Dr. Bernau winkte dem Kellner und bezahlte die Rechnung. Wenig später fuhr er, Vera an seiner Seite, nach Auefelden zurück.

»Danke für den Abend, Werner«, sagte Vera Solbach, als der Wagen vor dem GOLDENEN OCHSEN stand. »Sie sind ein sehr netter Mann, und ich glaube auch, ein guter, verständnisvoller Arzt. Ihrer Behandlung würde ich mich bedenkenlos anvertrauen.«

»Das haben Sie schön gesagt, Vera.« Dr. Bernau hatte plötzlich den Wunsch, diese Frau in die Arme zu nehmen und sie zu küssen. »Ich möchte gern…«, setzte er zum Sprechen an, wurde aber von Vera sofort unterbrochen.

»Pssst, ich weiß, was Sie möchten, Werner«, sagte sie lächelnd und neigte sich mehr dem Arzt zu. »Ich mag Sie auch«, setzte sie flüsternd hinzu, und ehe sich’s Dr. Bernau versah, fühlte er Veras warme Lippen auf seinem Mund.

Dabei hatte er vorhin etwas ganz anderes sagen wollen.

Es wurde kein langer oder gar leidenschaftlicher Kuß.

Er war eher sanft, zärtlich. So spontan dieser Kuß gekommen war, so hastig aber machte Vera einen Rückzieher.

»Genug für heute«, flüsterte sie. Ihre Augen lächelten. »Du darfst nicht unbescheiden sein, Werner.« Im nächsten Augenblick drückte sie die Tür auf und stieg aus.

»Ich freue mich, daß es dich gibt, Vera«, sagte Dr. Bernau. Seine Stimme klang ein wenig heiser. Er wollte aussteigen, aber Veras Zuruf hinderte ihn daran.

»Bleib sitzen und fahr los!« sagte sie. »Ich möchte dir nachwinken.«

»Gute Nacht, Vera.« Dr. Bernau startete den Motor, und Vera drückte die Tür zu. Sie blieb neben dem Bürgersteig stehen und winkte dem davonfahrenden Wagen nach, bis dessen Schlußlichter aus ihrem Blickfeld verschwunden waren. Dann erst ging sie in den Hotel-Gasthof und ließ sich den Schlüssel zu ihrem Zimmer aushändigen.

»Da ist eine Nachricht für Sie, Frau Solbach.« Der junge Mann hinter dem Rezeptionstresen griff nach einem Zettel. »Herr Strasser möchte morgen nach dem Frühstück mit Frau Solbach sprechen«, las er laut vor.

»Herr Strasser ist schon hier?« fragte Vera.

»Ja, er ist heute abend mit seiner Frau gekommen.«

»Aha.« Vera nahm den Schlüssel. »Ich werde Herrn Strasser morgen sicher beim Frühstück sehen«, sagte sie und schritt zur Treppe.

»Gute Nacht, Frau Solbach«, fiel der junge Mann.

Vera drehte sich um und lächelte verlegen. »Entschuldigen Sie. – Gute Nacht«, wünschte sie und ging nach oben.

*

Als Vera Solbach am nächsten Morgen ins Frühstückszimmer kam, war ihr Auftraggeber bereits da. Sie erkannte ihn sofort, obwohl sie ihn nur ein einziges mal gesehen hatte. Er war aber nicht allein. An seinem Tisch saß eine schwarzhaarige Frau, die mindestens 10 Jahre jünger war als er. Sie war ein wenig mollig, sah aber sonst ganz gut aus. Unwillkürlich fragte sich Vera, ob das vielleicht die Ehefrau Strassers war. Ein unbestimmtes Gefühl aber sagte ihr, daß das nicht der Fall war. Nun, es geht mich nichts an, dachte sie und schritt auf den Tisch zu.

»Ah, da sind Sie ja, Frau Solbach«, wurde sie auch schon von dem Bauunternehmer jovial begrüßt. »Setzen Sie sich doch zu uns!« Einladend deutete er auf einen Stuhl an seiner linken Seite.

»Guten Morgen«, grüßte Vera, ohne auf die Einladung zu reagieren. Strassers Begleiterin schenkte sie nur ein kurzes Nicken. »Mein Frühstück ist an einem anderen Tisch serviert«, sagte sie. »Aber Sie wollten mich sprechen, Herr Strasser?«

»Ja, aber wollen Sie nicht zuerst frühstücken?«

»Das eilt nicht«, erwiderte die Vermessungstechnikerin. »Erörtern wir zuerst das Geschäftliche.«

»Wie Sie meinen«, brummte An­dreas Strasser, trank noch einen Schluck Kaffee und kam dann zur Sache. »Meine Frage ist kurz, Frau Solbach«, sprach er die vor dem Tisch stehengebliebene junge Frau direkt an. »Wie weit sind Sie mit den Vermessungsarbeiten?«

»Ich bin mitten drin, Herr Strasser.«

»Das sagt mir nicht viel«, entgegnete der Bauunternehmer. »Mich interessiert, wann ich die endgültigen Berichte bekommen kann. Für mich ist das deshalb wichtig, weil ich vorher nicht den Kaufvertrag für das Land da unten am See unterschreiben will. Man kauft schließlich nicht die Katze im Sack. Das verstehen Sie doch.«

»Gewiß, Herr Strasser«, antwortete Vera Solbach. »Tja, zu Ihrer Frage: einige Tage wird es schon noch dauern«, erklärte sie. »Es ist ein ziemlich großes Gelände, wenn man den Kiefernwald dazurechnet. Schließlich müssen die Vermessungsergebnisse ja auch noch entsprechend Ihren Wünschen ausgewertet und skizziert werden.«

Andreas Strasser winkte ungeduldig ab. »Wieviel Tage also noch?« fragte er barsch.

Vera Solbach überlegte kurz. »Ich denke, daß Sie in spätestens sechs Tagen alle Berechnungen und die dazugehörenden Unterlagen bekommen können«, sagte sie dann.

»Geht es nicht früher?« Andreas Strasser sah die Vermessungstechnikerin zwingend an. »Schaffen Sie es früher und ich erhöhe Ihr Honorar um ein paar Scheinchen.«

»Das ist nicht Sache des Geldes, Herr Strasser«, gab Vera Solbach zurück. »Solche Vermessungen beanspruchen eben ihre Zeit, wenn sie genau und präzise durchgeführt werden sollen. Das aber möchten Sie doch. Oder?«

»Das will ich meinen«, kam es polternd über die Lippen des Bauunternehmers. »Na, seh’n Sie mal zu, daß sie es schon ein oder zwei Tage früher schaffen. Ich bleibe jedenfalls so lange hier in Auefelden, hier in diesem Gasthof. Sie können mich jederzeit erreichen, falls es Probleme geben sollte.«

»In Ordnung, Herr Strasser.« Vera sah damit diese kurze Besprechung für beendet an. »Sie entschuldigen mich jetzt bitte«, sagte sie und drehte sich um, weil auch sie jetzt frühstücken wollte.

»So, das wäre erledigt«, wandte sich Andreas Strasser an seine Begleiterin. »Jetzt frühstücken wir gemütlich weiter, und dann, liebe Gisi, fahren wir eine Tour durch die Umgebung.«

»Bitte nenn mich nicht immer Gisi«, verlangte die schwarzhaarige Frau. »Du weißt, daß ich diese Art der Verniedlichung nicht leiden kann. Ich heiße Gisela, und so möchte ich auch genannt werden.«

»Aber was ist denn…«

»Ich bin noch nicht fertig, An­dreas«, fiel Gisela Karner dem Mann, der seit einem halben Jahr ihr Freund und Geliebter war, ins Wort. »Ich möchte gern wissen, weshalb du mich in der Anmeldung als deine Frau angegeben hast.«

Ärgerlich blitzte es in Strassers Augen auf. »Verstehst du denn nicht, daß das besser ist?« fragte er. »Nicht auszudenken, wenn meine Frau erfahren würde, daß ich mit einem Fräulein Gisela Karner hier abgestiegen bin. Das gäbe einen Skandal, der…« Er sprach nicht weiter, denn er wußte, was dann die Folge wäre. Er kannte seine Frau. Sie würde nicht zögern und sofort die Scheidung einreichen. Das aber wäre eine Katastrophe, denn er würde dann mit nichts dastehen. Die Baufirma und das Firmenvermögen samt den privaten Geldern – es gehörte alles seiner Frau. Er würde bei einer Scheidung nichts bekommen. Diesen Umstand hatte er allerdings Gisela verschwiegen, als sie seine Freundin geworden war.

»Nein, das verstehe ich nicht ganz«, gab Gisela Antwort. »Da du ohnehin die Absicht hast, dich von deiner Frau in Kürze zu trennen, weil ich deine Frau werden soll, da spielt das doch jetzt keine so große Rolle mehr, wenn du mit deiner Freundin und zukünftigen Frau in einem Hotel absteigst. Oder?«

Andreas Strassers Züge verhärteten sich. »Liebe Gisela, ich mag dich sehr, das weißt du«, erwiderte er mit gepreßter Stimme. »Ich möchte auch, daß wir immer zusammenbleiben… hm… zusammenkommen können, so oft das nur möglich ist. Doch eine Trennung von meiner Frau und Wiederheirat sind nicht so einfach.«

Über Gisela Karners Züge legte sich ein Schatten. »Vor zwei, drei Monaten hast du ganz anders gesprochen, Andreas«, beklagte sie sich. »Jedenfalls so, daß ich annehmen konnte, ich würde in Kürze deine Frau werden. Und ich werde es gern, denn ich bin deine Freundin geworden, weil ich dich sehr gern habe.«

»Daß ihr Frauen immer gleich vom Heiraten redet«, entgegnete Andreas Strasser. »Als ob von so einem Stück Papier die Seligkeit abhängen würde…«

»Nun, zumindest eine gewisse Sicherheit für uns«, unterbrach Gisela Karner ihren Freund. »Das mußt du auch verstehen.«

»Wir können doch auch ohne Trauschein glücklich miteinander sein«, versuchte der Bauunternehmer zu argumentieren.

»Als deine Freundin und Geliebte vielleicht, die immer im Schatten deiner Frau stehen wird?« Gisela Karner schüttelte den Kopf. »Nein, Andreas, so nicht. Außerdem…«, fest sah sie den Mann an, »… möchte ich nicht, daß… daß… unser Kind unehelich zur Welt kommt.« Es war nicht ihre Absicht gewesen, das jetzt beim Frühstück zur Sprache zu bringen und den nichtsahnenden Andreas damit zu überrumpeln. Sie wußte schon seit einiger Zeit, daß sie schwanger war, hatte es aber Andreas bisher nicht sagen wollen. Nun aber war es ihr herausgerutscht. Vielleicht deshalb, weil sie an seinen Äußerungen gemerkt hatte, daß er es mit einem gemeinsamen Leben als getraute Eheleute plötzlich nicht mehr ernst zu meinen schien. Die nächsten Worte und Sätze des Freundes und Geliebten bestätigten nur ihre Annahme.

»Was faselst du da von unserem Kind?« fragte Andreas Strasser mit heiserer Stimme. Sein Gesicht lief dunkelrot an, und seine Augen schossen Blitze. »Das… das… darf doch nicht wahr sein«, preßte er hervor.

»Es ist aber wahr, Andreas«, bestätigte die junge Frau.

Hinter der Stirn des Bauunternehmers überschlugen sich die Gedanken. Er sah die Katastrophe auf sich zukommen. Wie immer er es auch anstellen mochte – seine Frau würde es erfahren. Was dann folgte, wußte er. Er würde bettelarm dastehen, denn das verzieh ihm seine Frau nie. »Seit wann weißt du es?« fuhr er Gisela an.

»Wenn du wissen willst, im wievielten Monat ich schwanger bin – Anfang des dritten«, antwortete die Frau.

»Das… das… darf nicht sein«, kam es stockend über Andreas Strassers Lippen. »Du darfst das Kind nicht zur Welt bringen«, zischte er. »Du mußt es wegmachen lassen!«

Gisela Karner zuckte zusammen. »Das ist doch nicht dein Ernst«, brachte sie hervor.

»Doch, damit ist es mir sogar sehr ernst«, versicherte Andreas Strasser. »Das wäre nicht nur das Ende unserer beider Beziehung, sondern es würde auch zu einem Skandal führen, der mich bettelarm machen würde.«

»Weshalb das?« wunderte sich die Frau.

»Weil alles, was ich habe – Firma und Geld – meiner Frau gehört«, erwiderte Andreas Strasser. Es klang wie das bösartige Knurren eines gereizten Hundes. »Meine Frau würde sich unverzüglich scheiden lassen, und ich bekäme nichts.«

In Gisela Karners Innern zerbrach in diesen Sekunden etwas. Es tat weh, erfahren zu müssen, daß der Mann, dessen Geliebte sie aus wirklicher und ehrlicher Zuneigung geworden war, ihr die ganze Zeit etwas vorgemacht hatte. Es war nie seine Absicht gewesen, sich ihretwegen von seiner Frau scheiden zu lassen. Seine letzten Worte brachten das sehr deutlich zum Ausdruck. Es war nicht der Mann, der auf Geld, Einfluß und Macht verzichtete. Sie war eben nur ein angenehmer Zeitvertreib für ihn gewesen. Möglich, daß er anfangs auch so etwas wie Liebe, Zuneigung, zu ihr empfunden hatte – sie dachte an die vielen leidenschaftlichen Stunden mit ihm zusammen in dem kleinen Ap­partement, das er ihr am Stadtrand von München mit allem drum und dran geschenkt hatte – doch jetzt zeigte es sich, daß seine Gefühle für sie dieser neuen Belastung nicht gewachsen waren. Das war bitter. Andreas ging es in erster Linie um sein Wohlergehen und um die Beibehaltung seines Lebensstils, den er nur mit dem Geld seiner Frau aufrecht erhalten konnte.

»Wie stellst du dir nun vor, daß es weitergehen soll?« fragte sie flüsternd und war dem Weinen nahe.

Andreas Strasser schluckte. »Wir können weiter so zusammen bleiben wie bisher, Gisela«, erwiderte er. »Das Kind aber muß weg.«

»Eine Abtreibung also. Das meinst du doch. Oder?«

»Genau«, bestätigte der Mann. »Einen Abort.«

»Nein«, widersprach Gisela. »Das kommt nicht in Frage. Außerdem wird das kein Arzt ohne triftigen Grund machen.«

»Mit Geld kann man vieles erreichen!«

»Ich will aber nicht«, beharrte Gisela auf ihrem Standpunkt. »So kannst du dieses Problem nicht lösen.« Ihre Stimme nahm einen erregten Klang an, wurde lauter.

»Bitte sprich leiser, Gisela!« An­dreas Strasser sah sich im Frühstücksraum um, ob einer der Gäste von ihrer Unterhaltung etwas mitbekommen hatte. Das wäre ihm ungemein peinlich gewesen. Doch niemand – es waren nur fünf Gäste im Raum – schien etwas von ihrem Gespräch gehört zu haben. Lediglich diese junge Vermessungstechnikerin sah einmal von ihrem Tisch herüber, stand aber Sekunden später auf und ging aus dem Raum.

»Also, wie stellst du dich jetzt dazu?« ergriff Gisela Karner nach sekundenlangem Schweigen wieder das Wort.

Andreas Strasser wollte es nicht auf einen Eklat ankommen lassen. Er kannte Gisela. Sie war nicht nur in der Liebe leidenschaftlich. Er mußte jetzt diplomatisch vorgehen. Nach wie vor stand er auf dem Standpunkt, daß ein Kind seine Existenz gefährdete. Es durfte gar nicht erst das Licht der Welt erblicken. Klar war er sich in diesen Sekunden aber auch, daß es nicht leicht sein würde, Gisela zu einem Abort zu überreden. Doch er mußte das mit allen Mitteln erreichen, ob im Guten oder im Bösen. »Liebe Gisela, wir wollen uns jetzt nicht streiten«, sagte er und versuchte seiner Stimme einen versöhnlichen und einlenkenden Klang zu geben, was ihm aber nur teilweise gelang. »Nicht hier in der Öffentlichkeit wollen wir darüber reden. Ich mache dir einen Vorschlag: leg dich noch ein Weilchen hin, während ich nur rasch zum Bürgermeister fahre und mir anschließend die Vermessungsarbeiten da unten am See ansehe. Ich komme dann zurück, und wir werden gemeinsam eine Lösung finden. Einverstanden?« Seine Hand tastete nach Giselas Unterarm. »Sei jetzt nett und lieb!« bat er.

Gisela atmete hastig. Wie gern hätte sie geglaubt, daß Andreas zur Einsicht käme und das in ihrem Leib heranwachsende Kind akzeptierte. Doch es fiel ihr schwer. Das Vertrauen zu ihm und seinen Worten fehlte einfach. Es war ein Riß, der immer größer wurde, wie sie meinte. »Also gut, Andreas, wir werden nachher miteinander reden«, ging sie auf Andreas’ Vorschlag ein. »Ich warte oben im Zimmer auf dich. Ich sage dir aber jetzt schon, daß du dich dann entscheiden mußt. Klar und deutlich.«

»Das verspreche ich dir«, gab der Bauunternehmer zurück und stand auf. »Ich fahre jetzt zum Bürgermeister und dann…« Er sprach nicht weiter, sondern begleitete die ebenfalls aufgestandene Gisela aus dem Frühstückszimmer. Dort verabschiedete er sich mit einem flüchtigen Kuß auf Giselas Wange und verließ den GOLDENEN OCHSEN. Er wollte jetzt nur allein sein. Im Augenblick interessierte ihn weder der Bürgermeister noch die Arbeit der Vermessungstechnikerin. Viel wichtiger war für ihn jetzt, wie er das sich so unvermutet gebildete Problem lösen konnte.

Gelöst aber mußte es werden. So oder so.

*

Sie saßen alle schon im Besprechungszimmer, als Dr. Hendrik Lindau Punkt neun Uhr dort eintraf. Anja Westphal hatte sogar die beiden Assistenzärzte vom Nachtdienst zum Erscheinen veranlaßt. Sie mußten eben ihren verdienten Schlaf um eine bis zwei Stunden verschieben.

»Meine Dame, meine Herren«, ergriff Dr. Lindau auch gleich nach einer ganz kurzen Begrüßung ohne Umschweife das Wort. »Sie haben ja inzwischen schon mitbekommen, daß ich meinen Urlaub unterbrochen habe. Aus welchem Grunde, dürfte Ihnen auch bekannt sein. Kurz gesagt, es sind Maßnahmen zu treffen, die eine Attacke auf die Ruhe und den Frieden unserer Klinik verhindern sollen. Ich bin zwar der Leiter dieser Klinik, aber ich möchte diese Angelegenheit doch zuerst mit Ihnen allen besprechen, ehe ich etwas unternehme. Lassen wir uns zunächst von unserer Kollegin, Frau Dr. Westphal, die augenblickliche Situation berichten.« Auffordernd sah er Anja Westphal an, die neben ihm Platz genommen hatte.

Die Ärztin ließ sich nicht länger bitten und berichtete, was sie wußte. »Ich möchte an dieser Stelle dem Kollegen Bernau danken, daß er mich auf diese Vermessungsarbeiten neben der Klinik und deren Hintergründe aufmerksam gemacht hat. Tja, und dann hielt ich es eben für richtig, mit dem Bürgermeister von Auefelden ein paar ernste Worte zu reden und ihn auf die negativen Seiten eines solchen Feriencenters in unmittelbarer Nähe der Klinik hinzuweisen.« Mit knappen Worten erzählte sie von der Unterredung mit Bürgermeister Hofstätter. »Ich muß gestehen, daß ich nichts erreicht habe«, schloß sie ihren Vortrag.

»Sehr unvernünftig und unüberlegt vom Bürgermeister…«

»Zumindest hätte er erst einmal mit uns darüber reden können, bevor er das Land da unten an einen Geschäftemacher verkauft…«

»Ich finde es, gelinde gesagt, rücksichtslos…«

So und ähnlich waren die Bemerkungen der anwesenden Ärzte. Einig aber waren sich alle darin, daß ein Feriencenter neben der Klinik sich ungünstig auf die Gesundung der Patientinnen auswirken mußte. Es gab nun einmal, und zwar besonders bei Frauen, Leiden, deren Heilung zu einem großen Teil von unbedingter Ruhe abhängig war.

»Ich denke, daß ich zunächst einmal mit unserem verehrten Herrn Bürgermeister ein Wörtchen reden werde«, ergriff Dr. Lindau das Wort. Sein Vorschlag fand allgemeine Zustimmung.

»Was aber, wenn er sich auch weiterhin querstellt?« warf Dr. Reichel die Frage auf. »Was können wir dagegen tun?«

Über diese Frage wurde nun minutenlang debattiert. Keiner wußte jedoch einen vernünftigen und dabei erfolgversprechenden Vorschlag.

»Eine Möglichkeit wäre natürlich, daß wir dem Baulöwen aus München zuvorkommen und der Gemeinde Aue­felden das Gelände da unten am See abkaufen«, meinte Dr. Hoff. »Dem Bürgermeister ist es doch in erster Linie um das Geld zu tun – im Interesse der Gemeinde natürlich«, setzte er spröde lächelnd hinzu.

»Na, Herr Hoff, ob Sie sich da nicht ein wenig irren«, entgegnete die Ärztin. »Mein Eindruck während der Unterredung mit Herrn Hofstätter war, daß er nicht nur an dem Preis für das Land unten am See interessiert ist, sondern sich für die wirtschaftliche Verbesserung des Ortes stark macht. Immerhin – und das kann man nicht verhehlen – würden durch ein so nahe am Ort gelegenes Feriencenter die Umsätze der verschiedenen Geschäfte doch um einiges steigen. Damit dann natürlich auch die Steuereinnahmen der Gemeinde. Sie sehen, der Bürgermeister ist nicht dumm.«

»Ich muß unserer Kollegin beipflichten«, ergriff Dr. Lindau wieder das Wort. »Der Gedankengang des Bürgermeisters ist so gesehen durchaus positiv.«

»Mag sein«, meldete sich Dr. Lin­daus Schwiegersohn zu Wort. »Solche Überlegungen sind natürlich dann gut, wenn sie nicht auf Kosten der Klinik und ihrer Kranken gemacht werden.«

»Das ist auch wieder richtig«, meinte Dr. Lindau. »Ihr Hinweis, Herr Hoff«, wandte er sich dann an den Chirurgen, »daß wir das umstrittene Gelände kaufen sollten, bevor es dieser Herr Strasser tut, ist zu realitätsfern. Warum? Ganz einfach: weil wir eine solche Kaufsumme gar nicht aufbringen könnten, denn ich bin davon überzeugt, daß der Bauunternehmer Strasser dem Bürgermeister ein großzügiges Angebot gemacht hat. Der Mann ist ja auch nicht dumm und weiß genau, daß er mit so einem Feriencenter ganz schönen Gewinn erzielen wird.«

»Was also können wir unternehmen?« warf Dr. Reichel erneut die Frage auf.

Dr. Lindau übernahm die Antwort. »Wie schon gesagt – ich werde heute noch mit dem Bürgermeister reden«, erklärte er. »Gleich nach unserer Besprechung fahre ich zu ihm. Sollte ich keinen Erfolg haben, so werde ich mich an den Landrat wenden.«

»Ich wüßte noch eine Möglichkeit«, meldete sich Dr. Bernau.

Alle schauten ihn fragend an. »Die wäre?« wollte der Chefarzt wissen.

Dr. Bernau druckste zuerst etwas herum. »Die Frau des Bürgermeisters liegt doch seit gestern oder vorgestern in unserer Klinik«, stieß er hervor. »Wie mir bekannt ist, hält er viel von ihr und ergreift jede Möglichkeit, ihr das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten.«

Verwundert sah Dr. Lindau den Kollegen Bernau an. »Was hat denn die Frau des Bürgermeisters mit dieser Sache zu tun?« fragte er. »Was fehlt der Dame eigentlich?«

»Ovarialzysten«, übernahm Anja Westphal die Antwort. »Wir haben Frau Hofstätter für übermorgen zur Operation eingeplant.«

»Schön und gut«, meinte Dr. Lindau und blickte wieder zu Dr. Bernau hin. »Trotzdem verstehe ich Ihre Bemerkung nicht. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie uns aufklären würden.«

Wieder zögerte Dr. Bernau ein wenig, gab sich dann aber einen Ruck und sagte: »Ich gehe davon aus, daß es am Bürgermeister liegt, ob er den Grund und Boden da unten am See verkauft oder nicht. Er ist es also, der durch ein NEIN mit einem Schlag alle Probleme lösen könnte. Richtig?« fragte er und sah sich im Kreise um.

Zustimmendes Gemurmel erklang von allen Seiten.

»Nun haben wir von Frau Dr. Westphal gehört, daß er sich bockig stellt«, fuhr Dr. Bernau in seinen Erklärungen fort. »Vielleicht könnte man ihn zum Umschwenken bewegen, wenn man ihn ein wenig unter Druck setzte.«

»Wie dürfen wir das verstehen – unter Druck setzen?« fragte Dr. Lindau verdutzt. Er verstand immer noch nicht, worauf Dr. Bernau hinauswollte.

»Na, man könnte ihm zum Beispiel zu verstehen geben, daß für seine Frau in unserer Klinik kein Platz ist, daß sie, obwohl eine Dringlichkeit zur Operation vorliegt, deren Verschiebung mit gewissen Risiken verbunden ist, sich einen Platz in einer anderen Klinik suchen müßte. In München zum Beispiel«, fügte Dr. Bernau seinen Worten hinzu. »Es dürfte auch nicht schwierig sein, dem Bürgermeister klarzumachen, daß in einer anderen Klinik möglicherweise nicht so rasch ein Eingriff vorgenommen werden kann, wie er im Interesse der Gesundung der Patientin notwendig wäre.«

Sekundenlang war Schweigen im Raum, als Dr. Bernau geendet hatte. Ein etwas betretenes Schweigen war es. Dr. Lindau unterbrach es schließlich. »Verehrter Herr Bernau, wir alle wissen, daß Sie ebenso wie wir die Interessen unserer Klinik im Auge haben«, sagte er, und seine Stimme hatte einen energischen Klang. »Doch das, was Sie eben von sich gegeben haben, vergessen Sie bitte sehr schnell! So geht das nicht. Ich will Ihren Vorschlag nicht gehört haben. Wir sind Ärzte und haben Verpflichtungen gegenüber den Patienten, die sich uns anvertrauen, und Frau Hofstätter hat sich uns anvertraut. Da spielt es keine Rolle, ob ihr Mann, der Bürgermeister, gegen uns ist oder nicht. Ich hoffe, ich habe mich jetzt deutlich genug ausgedrückt, und Sie haben mich verstanden.«

Dr. Bernau wurde sichtlich verlegen.

Sein Gesicht überzog sich mit dunkler Röte bei dieser unmißverständlichen Rüge des Chefarztes. »Ich bitte um Entschuldigung«, stieß er hervor, »aber ich meinte ja nur, daß…«

»Ich weiß, was Sie meinen«, fiel Dr. Lindau dem jüngeren Kollegen ins Wort. »Aber wie ich schon sagte – vergessen Sie es!« Er wandte sich an die übrigen Anwesenden. »Sie bitte auch!«

»Ist schon geschehen«, versicherte Dr. Hoff und vertrat damit auch die Ansicht seiner Kollegen.

»So, Herrschaften…« Dr. Lindau erhob sich, »… Schluß mit der Debatte. Ich fahre jetzt anschließend zum Bürgermeister, und Sie nehmen am besten wieder Ihren Dienst auf.« Er nickte allen freundlich und ging.

*

Über eine Stunde war Andreas Strasser unterwegs gewesen. Hin und her hatte er überlegt, wie er diese neue Situation unbeschadet überstehen konnte. Nur einen Ausweg sah er: Gisela mußte sich das Kind wegmachen lassen, und zwar allerschnellstens. Es mußte ihm einfach gelingen, Gisela dazu zu überreden. Dazu war er nun fest entschlossen, als er den GOLDENEN OCHSEN betrat und Sekunden später im Hotelzimmer­ seiner Freundin und Geliebten gegen­überstand.

»Nun, Andreas?« Nur diese einzige Frage kam über die Lippen der schwarzhaarigen jungen Frau.

»Tja, Gisela, ich habe nachgedacht«, erwiderte der Bauunternehmer. Er gab sich Mühe, beherrscht zu bleiben. »Es gibt nur eine Lösung unseres augenblicklichen Problems – du mußt das Kind wegmachen lassen, ehe es zu spät ist.«

»Wenn ich mich aber weigere?« gab Gisela Karner fragend zurück. »Wenn ich das Kind haben möchte? Was dann?«

Andreas Strasser zuckte zusammen. In seinen Augen trat plötzlich ein harter glitzernder Ausdruck. »Dann würde das nicht zu deinem Vorteil sein«, stieß er hervor. »Aus Gründen, die du ja kennst, wäre es mir unmöglich, mich als Vater zu bekennen«, fuhr er fort. »Außerdem würde ich unsere Beziehung sofort beenden. Was das für finanzielle Nachteile für dich hätte, kannst du dir vielleicht vorstellen.«

»Soll das eine Drohung sein, An­dreas?« fragte die Frau, die in der vergangenen Stunde ohnehin den Entschluß gefaßt hatte, sich von Andreas zu trennen. Sie hatte es satt, noch länger nur die Freundin dieses Mannes zu sein und im Hintergrund stehend sich seinen Wünschen zu fügen. Sein Verhalten ihr gegenüber, seit er wußte, daß sie ein Kind von ihm erwartete, zeigte ihr nur zu klar, daß sie die Hoffnung begraben konnte, jemals seine Frau zu werden.

»Es bleibt dir überlassen, wie du das auffaßt, Gisela«, erwiderte An­dreas Strasser, der nun die Maske des Biedermanns fallen ließ. Ihm ging es jetzt nur noch darum, untadelig vor seiner Frau dazustehen, um nicht alles aufgeben zu müssen, was ihm bisher das Leben angenehm gemacht hatte. »Ich will dir nur vor Augen halten, was dich als Mutter eines unehelichen Kindes, dessen Vaterschaft ich in jedem Fall abstreiten würde, erwartet. Unsere Wege würden sich trennen, und niemand auf der Welt wird mir nachweisen können, daß ich mit dir im Bett gewesen bin. Auch wenn du das hundertmal behaupten würdest.«

»Du bist ein Schuft, Andreas«, fuhr Gisela Karner auf. Sie zitterte am ganzen Körper.

»Möglich, aber mir geht es jetzt um meine Existenz«, gab der Bauunternehmer ungerührt zurück. »Du aber wirst als ledige Mutter einen schweren Stand haben – ohne Geld, ohne Wohnung und… und…«

»Du willst mir die Wohnung wegnehmen?« Fassungslos sah Gisela ihren Freund an. »Die gehört doch mir.«

»Irrtum, sie ist mein Eigentum«, berichtigte Andreas Strasser seine Freundin. »Ich habe es schriftlich.«

»Du… du… hast mich also… angelogen«, schrie Gisela.

»So würde ich das nicht nennen«, kam die Erwiderung. »Ich habe dir nur etwas verschwiegen.«

»Du hast mir außerdem versprochen, daß ich eines Tages deine Frau werde«, hielt Gisela dem Mann erregt vor. »Ich hätte doch sonst nie mit dir geschlafen.«

Andreas Strasser gab darauf keine Antwort. »Du hast jetzt die Wahl«, erklärte er mit schneidendem Klang in der Stimme, »entweder du bist einverstanden, das Kind wegmachen zu lassen und behältst weiter das Appartement zusätzlich einer regelmäßigen angemessenen finanziellen Unterstützung von mir oder du wirst die Mutter eines unehelichen Kindes, das keinen Vater haben wird, und du stehst ohne Wohnung und ohne finanzielle Hilfe von meiner Seite arm wie eine Kirchenmaus da. Als Mutter eines kleines Kindes wirst du wohl kaum so leicht eine Möglichkeit zum Geldverdienen finden. Du wirst es jedenfalls nicht leicht haben.«

In Gisela Karners Innern bildete sich ein Wust von Empfindungen. Da vermischte sich ein unbändiger Zorn auf Andreas mit der Angst vor einer Zukunft, die nicht rosig aussah. Es meldete sich aber auch ein Gefühl, das sie in einer Art freudiger Erwartung zu dem in ihrem Leib langsam heranwachsenden Baby hinzog. Irgendwie freute sie sich sogar darauf, Mutter zu werden. Doch da war wieder die bittere Realität, sich mit einem Kind ohne feste Unterkunft und ohne jegliche Geldmittel durchs Leben schlagen zu müssen. Gisela wußte, daß das sehr schwer sein würde.

Hinter ihrer Stirn überschlugen sich die Gedanken und gerieten mehr und mehr ins Chaos.

Andreas Strasser schien Gedanken lesen zu können. Er erkannte jedenfalls die innere Not Giselas und nutzte sie aus. Mit fast beschwörenden Worten redete er auf sie ein. Erneut hielt er ihr die unbestreitbaren Vorteile eines Aborts vor Augen und schilderte ihr drastisch die Nachteile, wenn sie ihr Kind austragen würde. »Zum Donnerwetter noch mal«, begehrte er auf, »du bist noch jung, hast das Leben noch vor dir und wirst bestimmt einen Mann finden, der dich mag. Mit einem Kind als Anhängsel aber…«, er zuckte mit den Schultern, »… verbaust du dir die angenehmen Seiten des Lebens.«

In dieser Weise redete er lange auf Gisela ein, der beinahe die Tränen kamen und deren Widerstand allmählich schwächer wurde.

Gisela Karner, die gewiß nicht der Typ einer kämpferisch eingestellten Frau wär, die bisher meistens das bekommen hatte, was das Leben eben angenehm machte, sah diese angenehmen Seiten plötzlich in Gefahr. Sie, die ohnehin labil war und sich nur zu gern der Initiative anderer unterwarf, kam sich nun so verloren vor. War es da ein Wunder, daß es ihrem Freund nach weiterem Zureden letztlich doch gelang, ihr das Einverständnis zu einem Abort abzuringen?

»Glaub’ mir, Gisela«, beschwor Andreas Strasser noch einmal seine Freundin, »es ist das beste für dich, und ich gebe dir mein Wort darauf, daß ich dich dann finanziell nicht im Stich lassen werde. Das ist aber nur möglich, wenn du kein Baby bekommst, von dem meine Frau dann unweigerlich auf irgendeine Weise Kenntnis erhält. Dann stünde ich ebenfalls vor dem Nichts und könnte dir gar nicht helfen.«

Gisela schluchzte leise auf. »Habe ich denn eine andere Wahl?« fragte sie flüsternd.

»Nein.« Hart kam dieses Wort über die Lippen des Bauunternehmers.

Gisela druckste sekundenlang herum. »Wenn ich… ich… nun einverstanden… bin…«, stammelte sie,

»… wer soll… soll das… machen?«

In Andreas Strassers Augen blitzte es triumphierend auf. »Das überlasse nur mir«, erwiderte er. »Wir haben sogar Glück, daß wir am Ort eine Frauenklinik haben.«

»Aber glaubst du, daß es da einen Arzt gibt, der das macht?« fragte Gisela bange.

»Ärzte sind auch nur Menschen, die bei einem gewissen Geldbetrag mal ein Auge zudrücken. Laß mich nur machen. Ich weiß, wie man mit solchen Leuten umgehen muß. Wir werden gleich heute nachmittag in diese Klinik da unten am See fahren«, entschied er.

»Wenn du meinst«, flüsterte Gisela, die sich unsäglich elend fühlte.

»Ja, das meine ich«, bestätigte Andreas Strasser. »Jetzt aber«, seine Stimme wurde um Nuancen freundlicher, »mach dich hübsch, und wir fahren irgendwohin zum Essen.«

Gisela nickte nur und ging ins Badezimmer.

Andreas Strasser atmete erleichtert auf. Ihm war ein Stein vorn Herzen gefallen. Er hatte es geschafft, die Katastrophe noch rechtzeitig abzuwenden. Natürlich war er auch bereit, sein gegebenes Versprechen, Gisela danach zu helfen, sie ein wenig finanziell zu unterstützen, einzuhalten. Das war ihm diese Sache schon wert, und das konnte er leicht ohne Wissen seiner Frau tun. Er war sich auch ziemlich sicher, daß Gisela auch weiterhin seine Freundin und Geliebte bleiben würde. Dagegen hatte er nichts einzuwenden, denn mit ihr war es eigentlich immer schön gewesen. Gisela war eine angenehme und vor allem eine bequeme Geliebte – sofern sie eben nicht schwanger wurde. Darauf aber, das nahm er sich fest vor, wollte er in Zukunft sehr genau achten.

»Ich bin fertig.« Gisela kam aus dem Badezimmer zurück. Sie hatte sich etwas zurechtgemacht und sah wirklich hübsch aus. Nur der Ausdruck in ihren Augen paßte nicht ganz zu ihrer ganzen Erscheinung. Es war eine Mischung von Bangigkeit und Traurigkeit.

»Gut, dann wollen wir…«, sagte Andreas Strasser und verließ mit seiner Freundin das Hotelzimmer.

*

Die Miene des Chefarztes war finster und verschlossen, als er von seinem Besuch beim Bürgermeister von Auefelden in die Klinik zurückkam. Die Unterredung mit dem ersten Bürger der Gemeinde hätte er sich sparen können. Der Bürgermeister war hart geblieben und hatte sich durch die vorgetragenen Argumente in keiner Weise bei seiner Entscheidung beeinflussen lassen.

»Mir liegt das Wohl der Gemeinde und deren wirtschaftlicher Aufschwung mehr am Herzen als Ihre Klinik, Herr Dr. Lindau.« Das waren die abschließenden Worte des Bürgermeisters gewesen.

Dr. Lindau hatte sich wirklich sehr zusammennehmen müssen, um nicht Herrn Hofstätter einige Grobheiten an den Kopf zu werfen. »Bitten Sie Frau Dr. Westphal zu mir!« rief er seiner Sekretärin zu, als er durch das Vorzimmer ging und in seinem Büro verschwand.

Oje, dachte Marga Stäuber, da ist dicke Luft. Sie hatte es schon an der Miene des Chefarztes gemerkt und beeilte sich, Frau Dr. Westphal schleunigst herbeizuzitieren. »Es sieht nicht gut aus, Frau Doktor«, rief sie der Ärztin zu. »Ich habe den Chef noch nie so wütend gesehen.«

»Ich komme sofort«, gab Anja Westphal zurück.

Keine drei Minuten später war sie auch schon zur Stelle und meldete sich bei Dr. Lindau. An dessen Miene merkte sie sofort, daß Marga Stäuber nicht übertrieben hatte. »Kein Erfolg, vermute ich«, waren ihre ersten Worte, kaum daß sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Du hast recht, Anja«, stieß Dr. Lindau unwillig hervor. »Dieser Bürgermeister läßt einfach keine vernünftigen Argumente zu. Er ist ein grober Klotz…«

»… auf den normalerweise auch ein grober Keil gehörte«, fiel Anja Westphal dem Klinikleiter ins Wort. »Entschuldige, aber das ist meine private Meinung und nicht die der Ärztin.«

»Ich habe schon verstanden, Anja.« Ein sparsames Lächeln glitt um Dr. Lindaus Mundwinkel.

»Was hast du jetzt vor?« fragte die Ärztin.

»Ich bin mir noch nicht vollkommen klar darüber«, gestand Dr. Lindau »Wahrscheinlich wird es das beste sein, wenn ich mich tatsächlich an den Landrat wende, damit der ein Machtwort spricht. Ich hoffe, daß man dort einsichtiger ist.« Er sah auf die Uhr. »Ich will dich jetzt nicht länger aufhalten«, wechselte er das Thema. »Als die noch immer amtierende Chefärztin hast du sicher noch allerhand zu tun.«

»Es geht«, gab Anja Westphal lächelnd zurück. »Ich habe vorhin mit Dr. Hoff abgesprochen, daß wir Frau Hofstätter noch heute nachmittag operieren werden. Die Untersuchungen sind abgeschlossen, und je eher wir operieren, desto besser ist es für die Frau.«

»Ach ja – die Frau des Bürgermeisters«, murmelte Dr. Lindau und mußte plötzlich wieder an die von ihm gerügten Worte Dr. Bernaus denken. Er gestand sich ein, daß er jetzt nach der Unterredung mit dem Bürgermeister wahrscheinlich nicht so scharf reagiert hätte wie bei der morgendlichen Besprechung. »Tja, Anja, ich werde mich jetzt mal ein wenig mit der Formulierung einer Resolu­tion an den Landrat befassen«, erklärte er. »Die muß Hand und Fuß haben, wenn sie Erfolg bringen soll.«

Dr. Anja Westphal verabschiedete sich und begab sich wieder zurück auf ihre Station, während Dr. Lindau begann, sich verschiedene Punkte zu notieren, die ihm wichtig für ein ausführliches Schreiben an den Landrat erschienen.

Das war gar nicht einmal so einfach. Mehrere Male zerriß er das Papier und begann von neuem.

Das alles nahm Zeit in Anspruch, und ehe er sich’s versah, war der Mittag da. Er hätte es wahrscheinlich gar nicht einmal gemerkt, wenn nicht plötzlich seine Tochter Astrid bei ihm aufgetaucht wäre und ihn aufmerksam gemacht hätte, daß es Zeit zum Essen sei.

»Paps, mach jetzt mal Pause und laß dir Zeit mit dem Brief an den Landrat«, sagte sie.

Erstaunt blickte Dr. Lindau seine Tochter an. »Woher weißt du überhaupt, daß ich an den Landrat schreiben will?« wollte er wissen.

Die Kinderärztin lächelte. »Frau Dr. Westphal hat es mir geflüstert«, erwiderte sie. »Bist du damit fertig?« fragte sie.

»Noch nicht ganz, aber ich mache nach dem Essen weiter«, gab Dr. Lindau zurück. »Dann kann es Frau Stäuber schreiben und morgen gleich abschicken.«

»Versprichst du dir einen Erfolg?« wurde Astrid neugierig.

Ihr Vater zuckte mit den Schultern. »Ich hoffe es, denn sonst wüßte ich nicht, wie wir diese Angelegenheit in unserem Sinne noch regeln könnten.« Mit einer heftigen Bewegung winkte er ab. »Aber lassen wir das jetzt, mein Mädchen«, sagte er, »und gehen wir essen, denn ich habe jetzt wirklich ein wenig Hunger.« Fragend sah er seine Tochter an. »Oder fährst du jetzt gleich nach Hause zu unserem Ju­nior?«

»Nein, jetzt möchte ich mit dir zusammen in die Kantine zum Essen gehen«, antwortete Astrid. »Nachher fahre ich nach Hause. Unser Kleiner wird ja bis zwei Uhr von Frau Weitz betreut.«

»Also dann…« Dr. Lindau öffnete die Tür und ließ seiner Tochter galant den Vortritt. »Ich bin in der Kantine«, rief er der Sekretärin im Vorbeigehen zu und verschwand mit Astrid.

Seine Stimmung hat sich anscheinend etwas gebessert, dachte Marga Stäuber und nickte zufrieden.

*

Die Mittagszeit war gerade vor­über, und die ersten Besucher betraten die Klinik am See. Sie kamen teils zu Fuß aus Auefelden und der näheren Umgebung, teils mit dem Wagen aus weiterer Entfernung und teils mit dem aus Richtung Kreuth kommenden Bus, der bis zum Tegernsee fuhr.

Mit diesen ersten Besuchern betraten auch Andreas Strasser und seine Freundin Gisela Karner die Klinik: selbstbewußt der erstere, ein wenig ängstlich und verschüchtert die letztere. »Wir möchten zu einem leitenden Arzt«, wandte sich der Bauunternehmer an den Pförtner.

»Zum Chefarzt?«

»Meinetwegen«, brummte Andreas Strasser. »Es ist dringend«, setzte er betont hinzu.

»Ich kann Ihnen nicht sagen, ob Herr Dr. Lindau in seinem Büro ist«, erklärte der Pförtner. »Fragen Sie am besten bei seiner Sekretärin nach!« Mit einigen Worten beschrieb er den Weg zum Zimmer des Chefarztes.

Fragend sah Marga Stäuber Minuten später die beiden Eintretenden an. »Bitte, Sie wünschen?«

Andreas Strasser wiederholte sein Verlangen. »Es ist sehr dringend«, setzte er hinzu.

»Ich werde sehen, ob der Chefarzt da ist.« Marga Stäuber wußte es natürlich, denn Dr. Lindau war vor zwanzig Minuten wieder in seinem Zimmer verschwunden. Doch sie wollte wissen, ob er überhaupt bereit war, jetzt einen Besuch zu empfangen. »Ist es privat oder kommen Sie als Patienten?« fragte sie.

»Das möchte ich dem Doktor selbst sagen«, erwiderte Andreas Strasser ungeduldig.

Die Sekretärin warf dem Mann einen unwilligen Blick zu. »Wen darf ich melden?« fragte sie.

»Strasser ist mein Name«, erwiderte der Besucher. Es klang wie das Bellen eines bissigen Hundes.

Marga Stäuber bat die beiden Besucher zu warten und verschwand im Chefarztzimmer.

»Was gibt es, Frau Stäuber?« fragte Dr. Lindau, der schon wieder dabei war, den Brief an den Landrat aufzusetzen.

»Es möchte Sie jemand sprechen…«

»Patient?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte die Sekretärin. »Der Mann ist so barsch und will Ihnen selbst den Grund sagen, und die Frau macht so einen verschüchterten Eindruck. Sieht mir fast so…«

»Haben die beiden auch einen Namen?« fiel Dr. Lindau der Sekretärin etwas ungeduldig ins Wort.

»Ja – Strasser hat er gesagt…«

»Aha, Herr und Frau Strasser also«, brummte der Chefarzt. Plötzlich fuhr er auf. »Strasser? Haben Sie gesagt Strasser?«

»Ja, genau«, bestätigte Marga Stäuber und wunderte sich, weshalb ihr Chef mit einemmal so interessiert, ja, fast erregt war.

Sieh an, ging es Dr. Lindau durch den Sinn, soll das etwa ein Wink des Schicksals sein? Handelte es sich bei diesem Besucher etwa um den Mann, dessen Pläne hinsichtlich eines Feriencenters ihn sogar aus dem Urlaub geholt hatten. Er konnte es nur sein, denn dieser Name war schließlich nicht so häufig. War dieser Besuch vielleicht gar die erste Auswirkung des Gesprächs mit dem Bürgermeister? Auf jeden Fall war Dr. Lindau jetzt sehr interessiert.

»Was ist nun, Herr Doktor, sind Sie zu sprechen oder nicht?« unterbrach Marga Stäuber die blitzartigen Überlegungen Dr. Lindaus.

»Ja, natürlich, bitten Sie die Herrschaften herein!« erwiderte Dr. Lindau.

Marga Stäuber tat, wie ihr geheißen, und Sekunden später standen Andreas Strasser und seine Freundin vor dem Schreibtisch des Chefarztes.

»Sie wollten mit mir sprechen, Herr Strasser?« Dr. Lindau deutete einladend auf zwei Stühle. »Wer ist von Ihnen nun Patient? Sie oder Ihre Gattin?«

Andreas Strasser reagierte nicht auf diese Frage. Er hielt es auch nicht für nötig, seine Freundin vorzustellen. »Wir möchten Ihre Hilfe in Anspruch nehmen«, sagte er. »Die Höhe des Honorars spielt keine Rolle.«

Unwillkürlich versteifte sich Dr. Lindau. Er begann etwas zu ahnen. Mit solchen und ähnlichen einleitenden Worten war er schon öfter konfrontiert worden. »Eine Frage vorweg«, ergriff er das Wort. »Sind Sie jener Herr Strasser, der Bauunternehmer aus München, der hier ein Feriencenter errichten will?«

Andreas Strasser warf sich in die Brust. »Der bin ich«, bestätigte er. »Es wird ein großes Projekt, an dem viele ihre Freude und ihren Nutzen haben werden«, setzte er hinzu.

»Das glaube ich nicht, Herr Strasser«, widersprach Dr. Lindau. »Ich jedenfalls und damit auch alle hier in der Klinik tätigen Kollegen, das Pflegepersonal und auch die Kranken sind von solchen Plänen keineswegs begeistert. Wir sind dagegen.«

Andreas Strasser bekam runde Augen. Es war das erste Mal, daß jemand eines seiner Projekte nicht nur nicht guthieß, sondern sogar strikt ablehnte. Das war ein Novum für ihn. »Darf ich erfahren, weshalb Sie dagegen sind, Herr Doktor?« fragte er mit gepreßt klingender Stimme.

»Aber gern, Herr Strasser«, erwiderte Dr. Lindau und brachte auch sofort alle seine Begründungen und Argumente vor.

Andreas Strasser hörte sich die schon fast beschwörenden Worte des Chefarztes gelassen an. »Verehrter Herr Dr. Lindau«, ergriff er schließlich das Wort, als der Chefarzt schwieg, »Ihre Argumente mögen sicherlich von Ihrem Standpunkt aus gesehen stichhaltig sein. Für mich sind sie es allerdings nicht. Sie wollen, wie Sie erklären, Ruhe und Frieden für Ihre Schützlinge haben. Was glauben Sie, was ich will?« fragte er und gab auch gleich selbst die Antwort darauf: »Ich will mit meinem Projekt vielen Menschen die Möglichkeit schaffen, sich vom alltäglichen Streß zu erholen. Ist das etwa etwas Schlechtes in Ihren Augen?«

»Nein«, erwiderte Dr. Lindau. »Muß es aber in unmittelbarer Nähe der Klinik sein?«

Andreas Strasser zuckte mit den Schultern. »Das Gelände da unten am See ist nun einmal ideal für mein Vorhaben«, entgegnete er.

»Sie bleiben also bei Ihrem Plan?« fragte Dr. Lindau. Seine Stimme klang gepreßt. Er erkannte, daß er bei diesem Mann nichts erreichen würde.

»Sie haben es erfaßt, Herr Doktor«, bestätigte Andreas Strasser. »Der Kaufvertrag wird unterschrieben, wenn die Vermessungen beendet und ausgewertet sind.«

Dr. Lindau mußte sich wirklich zusammennehmen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. »Ich frage mich jetzt nur, weshalb Sie überhaupt zu mir gekommen sind, wenn Sie ohnehin entschlossen…«

»Stimmt, zum Donnerwetter«, fiel der Bauunternehmer dem Chefarzt auffahrend ins Wort. Durch diese Debatte mit dem Chefarzt der Klinik hatte er fast vergessen, daß er mit Gisela hergekommen war, um ein Problem zu lösen. »Ich wollte ja etwas ganz anderes mit Ihnen besprechen.«

»Das wäre?« Gespannt wartete Dr. Lindau auf die Antwort, die er eigentlich schon ahnte. Er brauchte nur die junge Frau anzusehen und ein wenig zu kombinieren. »Ich vermute, daß es sich um Ihre Begleiterin handelt. Habe ich recht?« Vergeblich wartete er, daß der Bauunternehmer ihm die junge Frau mit ihrem Namen vorstellte. Daß es nicht die Ehefrau seines Besuchers war, konnte er sich leicht vorstellen.

»Sie haben recht, Herr Doktor, es geht um meine Bekannte«, kam An­dreas Strasser nun zur Sache. »Sie ist in Schwierigkeiten, und Sie als Arzt könnten Sie davon befreien.«

»Schwanger, vermute ich«, wurde Dr. Lindau direkt. Prüfend sah er Gisela Karner an und fragte sie einfach: »Im wievielten Monat?«

»Anfang des dritten«, antwortete die junge Frau mit leiser Stimme. Es waren die ersten Worte, die über ihre Lippen kamen, seit sie in dieses Zimmer gekommen war.

»Sie darf das Kind nicht zur Welt bringen«, warf Andreas Strasser dazwischen.

»Und weshalb nicht?« wollte Dr. Lindau wissen.

»Die Gründe sind für Sie nebensächlich, Herr Doktor«, erwiderte der Bauunternehmer.

»Das ist ein Irrtum, Herr Strasser. Gerade die sind sogar äußerst wichtig, wenn eine Indikation vorgenommen werden soll.« Scharf sah er den Bauunternehmer an. »Ich vermute, daß der Grund Ihre eigene Frau ist«, sagte er.

Andreas Strasser zuckte zusammen. »Woher wissen Sie das?« stieß er fragend hervor.

»Sie haben es mir durch diese Frage jetzt eben bestätigt«, erklärte Dr. Lindau und wandte sich an Gisela Karner. »Eine Frage, Fräulein oder Frau… hm… ich weiß Ihren Namen nicht…«

»Gisela Karner…« Kaum hörbar kam es über die Lippen der jungen Frau.

»Also, Frau Karner – fühlen Sie sich krank?« wollte der Chefarzt wissen. »Oder können Sie mir einen anderen Grund nennen, der vom medizinischen Gesichtspunkt einen Abort rechtfertigen würde?«

»Was soll das?« Unwillig sah An­dreas Strasser den Klinikchef an. »Wir möchten nur, daß Sie Frau Karner das Kind wegmachen und das natürlich gegen ein gutes Honorar. Ich bin nicht kleinlich.«

Über Dr. Lindaus Nasenwurzel bildete sich eine Unmutsfalte. »Herr Strasser, das ist keine Frage des Geldes, sondern eine Frage der Ethik und der ärztlichen Verantwortung«, hielt er dem Mann in etwas schärferer Tonart vor. »Ich bin Arzt und als solcher verpflichtet, Leben zu erhalten und nicht zu vernichten.«

»Leben?« fuhr Andreas Strasser auf. »Das, was da in Giselas Bauch heranwächst, kann man doch noch nicht Leben nennen.«

»Das ist Ihr zweiter Irrtum«, wies Dr. Lindau den Mann zurecht.

»Also gut«, räumte Andreas Strasser ein und senkte seine Stimme. Er wollte den Arzt nicht verärgern, denn er brauchte ihn. »Ich bitte Sie jedenfalls, uns jetzt zu helfen. Gisela will das Kind ja auch nicht. Es wäre nur eine ungeheure Belastung für sie, und sie würde verzweifeln. Es ist doch so, Gisela?« wandte er sich fragend an seine Freundin.

Die gab einen Laut von sich, der ebenso Zustimmung wie auch Ablehnung bedeuten konnte. Hinter ihrer Stirn überschlugen sich die Gedanken. Am liebsten wäre sie jetzt davongelaufen. Widerwillen gegen den Mann neben ihr erfaßte sie. Das war plötzlich ein völlig anderer als der, den sie in manchen Nächten erlebt, den sie einmal sehr gern gehabt hatte. In diesen Sekunden wurde ihr klar, daß es zwischen ihm und ihr keine Gemeinsamkeiten mehr geben konnte und auch nicht durfte – ob sie nun Mutter würde oder nicht.

»Herr Strasser«, ergriff Dr. Lindau wieder das Wort, »Sie sind mit Ihrem Anliegen bei mir an der falschen Adresse. Ich bin nicht bereit, ohne zwingende medizinischen Gründe eine Indikation bei einer junger Frau zu stellen. Solche Gründe aber können weder Sie noch Frau Karner mir nennen.«

Andreas Strasser lief dunkelrot im Gesicht an. Ärger, schon fast verhaltene Wut kroch in ihm hoch. »Ich zahle Ihnen das doppelte, wenn Sie…«

»Sparen Sie sich Ihre weiteren Worte, wenn Sie mich nicht beleidigen wollen«, fiel Dr. Lindau dem Bauunternehmer energisch ins Wort.

»Heißt das, daß Sie nicht dazu bereit sind?« stieß Andreas Strasser heiser hervor.

Dr. Lindau nickte. »Genau«, bestätigte er.

»Sie wollen also nicht«, stellte Andreas Strasser fest.

»Nein.« Knallhart kam die kurze Antwort des Arztes.

Andreas Strasser zuckte zusammen. Sekundenlang wußte er nicht, was er sagen sollte. Hinter seiner Stirn überschlugen sich die Gedanken. Schreck erfaßte ihn, wenn er daran dachte, daß seine Frau von seiner außerehelichen Vaterschaft erfuhr. Nach einer Scheidung würde er ein Nichts, ein Niemand sein. Seine Frau war hartherzig und würde ihn seine Untreue bitter büßen lassen.

Dr. Lindau sah auf die Uhr und erhob sich. »Herr Strasser, Sie kennen jetzt meine Einstellung«, sagte er. »Ich sehe unser Gespräch als beendet an. Bitte entschuldigen Sie mich jetzt, aber ich habe noch andere Verpflichtungen meinen Patienten gegenüber.«

Andreas Strasser sprang auf. »Augenblick noch, Herr Doktor«, stieß er erregt hervor. »Vielleicht könnten wir uns doch noch einigen.« Ein Gedanke war ihm gekommen, der ihn nicht mehr los ließ. Er mußte dieses vertrackte Kind-Problem lösen. Ganz egal wie. Sein ganzes weiteres Leben hing davon ab.

»Ich wüßte wirklich nicht, wie das geschehen sollte«, gab Dr. Lindau abweisend und kühl zurück.

»Herr Doktor, ich denke dabei an den Beginn unseres Gesprächs«, ließ Andreas Strasser seinen Gedanken freien Lauf. »Ich meine jetzt Ihr Interesse an dem von mir geplanten Feriencenter. Besser gesagt – Sie wollen es nicht in unmittelbarer Nähe Ihrer Klinik haben.«

»Das ist richtig«, bestätigte Dr. Lindau. »Aber was hat das mit Ihrem Verlangen nach einer Indikation zu tun?« Forschend sah er den Bauunternehmer an.

Der holte einmal tief Atem, bevor er zu sprechen begann. »Ich habe mir eben überlegt, daß ich mit mir in dieser Hinsicht reden lassen würde, wenn Sie mi… hm… uns helfen, unser Problem zu lösen.« Erwartungsvoll sah er den Chefarzt an.

Der war sekundenlang sprachlos. Wenn er jetzt richtig verstanden hatte, so wäre Andreas Strasser bereit, auf das Ferien-Projekt zu verzichten, wenn er, Hendrik Lindau, der jungen Frau ein in ihrem Leib heranwachsendes Baby abtrieb. Das war eine völlig neue Situation. Mit einem Schlag wären alle Sorgen um die Bedrohung der Klinikruhe weg. Es war ein verlockendes Angebot. »Herr Strasser, wollen Sie damit sagen, daß Sie auf Ihr Vorhaben hinsichtlich des Feriencenters verzichten würden?« fragte er betroffen.

»Ja«, bestätigte der Bauunternehmer, »so meinte ich es – wenn auch Sie mir entgegenkommen.«

In Dr. Lindaus Zügen arbeitete es. Sein Gesicht wurde mit einemmal kantig. In seine Augen trat ein harter Glanz. Es bedurfte nicht einmal einer Überlegung für ihn, ein solches Ansinnen, das einer Erpressung gleichkam, von sich zu weisen. So verlockend Andreas Strassers Einlenken auch war, so wenig aber war Dr. Lindau bereit, seinen Prinzipen untreu zu werden. Für keinen Preis. »Herr Strasser, ich halte es für besser, wenn Sie jetzt gehen.« Nur diese paar Worte sagte er. Sie waren aber unmißverständlich und scharf.

Andreas Strasser lief dunkelrot vor Zorn an. »Ich hätte Sie für klüger gehalten, Doktor«, fauchte er den Chefarzt an. »Mit Ihrer Sorge um die Ruhe der Klinik und Ihrer Patienten scheint es also nicht sehr weit her zu sein, wenn Sie ein solches Angebot in den Wind schlagen und…«

»Das ist genug, Herr Strasser«, fiel Dr. Lindau dem Aufgebrachten ins Wort. »Gehen Sie jetzt, ehe ich Sie aus der Klinik entfernen lasse.«

»Sie… Sie… wollen mich… mich hinauswerfen und mir…«, keuchte Andreas Strasser, wurde aber in diesem Augenblick unterbrochen.

Es war Gisela Karner, der das alles zuviel wurde. »Hör auf, Andreas!« schrie sie den Mann an. »Es ist beschämend, daß du unser Kind jetzt schon als eine Art Handelsware betrachtest und es zum Tausch anbietest. Schäm dich! Ich habe dich nun erkannt.

Und damit du es weißt – mein Kind werde ich zur Welt bringen, ob dir das paßt oder nicht. Es ist mir auch egal, wenn deine Frau davon erfährt. Steh’ du jetzt gerade dafür!« Ruckartig drehte sie sich um und verließ beinahe fluchtartig das Büro des Klinikleiters.

Andreas Strasser schnappte nach Luft. Es dauerte einige Sekunden, ehe er den ganzen Umfang von Giselas Ausbruch erfaßte. Dann aber kam Bewegung in ihn. Ohne den Chefarzt noch eines Blickes zu würdigen, stürzte er seiner Freundin nach.

Dr. Lindau schüttelte fassungslos den Kopf, aber er hatte plötzlich Respekt vor dieser jungen schwarzhaarigen Frau.

*

Interessiert beobachtete Dr. Bernau, wie Vera Solbach ihrer Vermessungstätigkeit nachging. Er war gleich nach dem Mittagessen zu ihr herunter zum See gekommen, um mit ihr ein wenig zu plaudern und seinen freien Nachmittag in ihrer Gesellschaft zu verbringen. Auf den Abend mit ihr, auf den er sich schon gefreut hatte, mußte er verzichten, weil er kurzfristig den Spätdienst in der Klinik übernehmen mußte.

»Schade«, meinte Vera, während sie sich mit ihrem Vermessungsgerät beschäftigte und dem Jungen, der mit den Markierungsstangen kreuz und quer lief, zwischendurch Weisungen zurief.

»Es tut mir ja auch leid«, bekannte Dr. Bernau.

Die junge Vermessungstechnikerin lachte leise, als sie die betrübte Miene des Arztes sah. »Nun sei nicht gleich traurig, Werner«, rief sie ihm zu. »Es kommen ja noch mehr Abende. Ich habe hier ja noch einige Tage zu tun.«

»Mag sein«, erwiderte Dr. Bernau, »aber jede Stunde, die ich nicht mit dir verbringen kann, ist verlorene Zeit.«

»Nun übertreibe nicht!« gab Vera lächelnd zurück. »So schlimm kann es doch nicht sein.«

»Das sagst du so«, entgegnete der Arzt. »Für mich ist es schlimm genug und…« Er unterbrach sich plötzlich und blickte scharf zu dem Teil der Klinik hinüber, an dem die Terrasse war. Dort war eine schwarzhaarige Frau plötzlich aufgetaucht, die es anscheinend sehr eilig hatte. Sie lief über die Terrasse, überquerte den davorliegenden Rasen und eilte weiter zum Seeufer – direkt zu dem Anlegesteg, an dem drei Ruderboote festgezurrt waren.

»Wer ist denn das?« rief Dr. Bernau erstaunt aus. »Die hat es aber eilig.«

Vera Solbach wurde aufmerksam. Sie wandte sich um und blickte in die von Dr. Bernau gezeigte Richtung. Sie sah nun ebenfalls die Frau, die gerade dabei war, eines der Ruderboote aus der Halterung zu lösen. »Das… das… ist doch die Begleiterin von Herrn Strasser«, bemerkte sie. Sie hatte sie sofort wiedererkannt. »Will die etwa eine Ruderpartie machen?« Im nächsten Augenblick wurden ihre Augen rund, denn das, was jetzt in ihren Blickwinkel geriet, kam ihr doch ein wenig seltsam vor. Ihr Auftraggeber, der Bauunternehmer Strasser, war eben auf der Terrasse aufgetaucht und setzte mit langen Sprüngen der Frau nach. Er erreichte sie im selben Moment, als sie das Boot bestieg. Mit einem Satz sprang er auch in das Boot, das sich nun vom Anlegesteg löste und dabei heftig ins Schaukeln geriet.

»Sieht so aus, als ob die beiden nicht gerade einer Meinung sind«, meinte Dr. Bernau, der diesen Spurt des Bauunternehmers zum Boot ebenfalls mitbekommen hatte. Interessiert beobachtete er den Mann und die Frau im Boot, das sich durch unregelmäßige Ruderbewegungen der Schwarzhaarigen mehr und mehr vom Ufer entfernte.

Auch Vera Solbach starrte nun auf den See hinaus. Es war nicht zu übersehen, daß dort in dem Boot eine ziemlich heftige Debatte vor sich ging. Die wilden Hand- und Armbewegungen Andreas Strassers deuteten auf jeden Fall eine ernste Auseinandersetzung an, auch wenn hier am Süd­ufer kein Wort zu verstehen war.

Vera hatte ebenso recht wie Dr. Bernau – Andreas Strasser und Gisela Karner stritten sich, wobei der erstere mehr das Wort führte. Er war aufs äußerste aufgebracht.

»Du bist wohl vollkommen verrückt geworden«, fauchte er seine Freundin böse an. »Was soll das heißen? Du rennst einfach weg und änderst deine Meinung. So geht das nicht.«

»Doch, mein Lieber, es geht so«, erwiderte die junge Frau, die entschlossen war, sich nie wieder von Andreas beeinflussen zu lassen. »Ich werde mein Kind zur Welt bringen, und ich sage dir, daß ich mich sogar darauf freue.«

»An mich denkst du dabei wohl nicht, und an die Folgen, die sich daraus ergeben«, schrie Andreas Strasser wütend. »Ich habe dir doch erklärt, was meine Frau…«

»Hör auf, mir dauernd von deiner Frau etwas vorzujammern!« fiel Gisela ihrem Freund heftig ins Wort. »Damit mußt du fertig werden.«

»Hast du denn keinen Verstand in deinem Kopf?« Andreas Strasser erhob sich von der schmalen Sitzbank und baute sich vor Gisela auf. »Denke doch einmal daran, daß ich dir kaum werde helfen können, wenn meine Frau sich scheiden läßt. Kapierst du das denn nicht?«

»Ich werde auch ohne deine Hilfe mein Kind aufziehen können«, konterte Gisela. »Tausende von Frauen müssen das auch und schaffen es. Weshalb sollte mir das nicht gelingen?«

»Jetzt ist aber Schluß, Gisela!« Andreas Strasser kochte vor Wut. »Du warst einverstanden, daß das Kind weggemacht wird. Also halte dich jetzt gefälligst daran!«

»Ich habe es mir eben anders überlegt«, erwiderte die junge Frau, »und bin fest entschlossen, das Kind zur Welt zu bringen und es auch aufzuziehen. Ohne dich, denn unsere Wege werden sich trennen. Klar aber dürfte dir auch sein, daß du zum Unterhalt des Kindes deinen Beitrag leisten mußt.«

Andreas Strasser quollen beinahe die Augen aus den Höhlen. Das war eine ganz andere Gisela als die, die er bisher gekannt hatte. Aus dem früheren liebebedürftigen schnurrenden Kätzchen war eine fauchende Wildkatze geworden. Diese Frau gefährdete mit ihrer wilden Entschlossenheit seine Existenz. Unbeherrscht griff er nach Giselas Arm. Mit einem Ruck zog er die Frau hoch. »So kannst du mit mir nicht umspringen«, zischte er. Wütend funkelte er Gisela an.

»Laß mich sofort los!« schrie sie. »Du tust mir weh.«

»Zuerst wirst du mir sagen, daß du das Kind nicht austrägst!« schnaubte Andreas Strasser.

»Nein, ich werde es nicht wegmachen lassen«, gab Gisela kreischend zurück. »Finde dich damit ab!«

Ein ächzender Laut kam aus Strassers Mund. In seinem Kopf schien etwas zu explodieren.

Gisela versuchte sich aus dem zupackenden Griff des Mannes zu lösen. Sie zerrte mit aller Kraft. Das Boot schaukelte bedenklich dabei.

Das waren die Sekunden, in denen Andreas Strasser die Kontrolle über sich verlor. Mit einem verhaltenen Wutschrei stieß er Gisela von sich.

Alles weitere ging blitzschnell. Gisela verlor das Gleichgewicht. Sie stolperte über die schmale Sitzbank. Vergeblich griff sie nach irgendeinem Halt. Im nächsten Augenblick fiel sie mit voller Wucht zur Seite – genau auf den nun hochragenden Rudergriff, der sich schmerzhaft in ihren Unterleib zu bohren schien. Ein lauter Schmerzensruf entrang sich ihren Lippen, und ehe der erschreckte Andreas Strasser reagieren konnte, sackte sie halb bewußtlos über den Bootsrand ab und versank im See.

Andreas Strasser war starr vor Schreck. Das hatte er nicht gewollt. Angst kroch in ihm hoch. Du mußt sie retten, mußt sie aus dem Wasser holen, ehe sie ertrinkt, hämmerte es in seinem Kopf. »Ich… ich… kann doch nicht schwimmen«, ächzte er. Entsetzt blickte er sich um. Hinter ihm lag die Klinik, keine zweihundert Meter entfernt. Links von ihm erkannte er am Südufer, auch nur etwa einhundertfünfzig Meter weit, zwei Gestalten, eine Frau und einen Mann.

»Hiiiilfeee…«, brüllte er, so laut er konnte.

Es bedurfte dieses Hilferufs gar nicht, denn Dr. Bernau und Vera Solbach hatten mitbekommen, was dort in dem Boot geschehen war. »Er hat sie ins Wasser geworfen«, rief Vera entsetzt aus.

»Zumindest hat er sie gestoßen, und dabei ist sie in den See gefallen«, stellte Dr. Bernau fest. »Vielleicht hat sie sich dabei auch verletzt.« Er hatte gesehen, daß die Frau zuerst auf eine der Ruderstangen gestürzt war. »Verdammt, weshalb holt er sie nicht heraus?« knurrte er.

»Wahrscheinlich kann er nicht schwimmen«, meinte Vera.

Dr. Bernau erwiderte nichts. Es bedurfte bei ihm keiner weiteren Überlegungen. Drüben bei der Klinik lagen zwar noch zwei Boote, aber bis er dorthin gelangte und dann hinausruderte, verging zu viel Zeit. Hastig riß er sich das Jackett herunter, und Sekunden später war er schon im Wasser und schwamm mit kräftigen Bewegungen zur Unglücksstelle hin. Er schaffte es gerade noch, die nun vollkommen ohne Bewußtsein im Wasser treibende junge Frau vor dem Untergehen und damit vor dem Ertrinken zu retten.

»Fassen Sie an!« rief er dem im Boot stehenden Bauunternehmer zu. Er hievte die Frau über den Bootsrand. Andreas Strasser zog sie vollkommen hinein ins Boot.

»Das… das… wollte ich nicht«, murmelte er. »Es… es… war ein Unfall.«

»Seien Sie still, Herr Strasser!« fuhr Dr. Bernau, der sich nun auch in das Boot geschwungen hatte, den Bauunternehmer scharf an. »Rudern Sie! So schnell Sie können. Rüber zur Klinik.«

Andreas Strasser begann auch sofort wild zu rudern, während Dr. Bernau sich um die bewußtlose Frau kümmerte und mit kräftigen Druckbewegungen versuchte, der jungen Frau das geschluckte Wasser aus dem Körper zu pumpen.

Minuten darauf waren sie am Anlegesteg. Dr. Bernau kümmerte sich nicht weiter um den völlig fassungslosen Andreas Strasser. Durchnäßt, wie er war, hob er die Frau aus dem Boot und trug sie in seinen Armen zur Klinik hinüber. Keuchend vor Anstrengung überquerte er die Terrasse, verfolgt von den neugierigen und teilweise entsetzten Blicken einiger Patientinnen, und verschwand im Innern der Klinik.

»Ein Notfall«, rief er einer ihm über den Weg laufenden Schwester zu. »Rufen Sie den diensthabenden Arzt! Ich bringe die Patientin in die Notaufnahme.«

»Ja, Herr Doktor…«

Dr. Bernau hörte es schon nicht mehr.

*

Dr. Lindau war auf dem Weg zum OP-Trakt, als ihm von dort seine Stellvertreterin Anja Westphal entgegenkam. »Kommst du aus dem OP, Anja?« fragte er.

»Ja«, antwortete die Ärztin. »Wir haben eben die Frau des Bürgermeisters von ihren Zysten befreit. Dr. Hoff und Dr. Reichel kümmern sich jetzt um sie.«

»Alles klar?« wollte der Chefarzt wissen.

Die Ärztin nickte. »In zwei bis drei Tagen kann sie in häusliche Pflege entlassen werden.« Forschend sah sie den Klinikchef an. »Ärger?« fragte sie leise.

»Wie kommst du darauf?« gab Dr. Lindau leicht verwundert zurück.

»Weil deine Miene nicht gerade fröhlich ist…«

»Nun ja…« Dr. Lindau zögerte kurz. Doch dann berichtete er mit knappen Worten von dem Gespräch mit dem Bauunternehmer Strasser. »Ich war nahe daran, ihn hinauswerfen zu lassen«, schloß er.

»Eine Indikation gegen den Verzicht auf das geplante Feriencenter«, murmelte die Ärztin. »Allerhand«, fuhr sie fort. »Der Mann muß mächtig in der Klemme sitzen, wenn er dir so ein Angebot macht.«

»Ich habe selbstverständlich abgelehnt«, ergriff Dr. Lindau wieder das Wort. »Erpressen lasse ich mich schon gar nicht, auch wenn dadurch das Problem gelöst werden könnte.«

Dr. Anja Westphal konnte sich gut vorstellen, wie schwer es dem Chef wahrscheinlich geworden war, bei seiner Ablehnung zu bleiben. Sie wollte noch etwas sagen, verschluckte es aber, weil in diesem Augenblick der Ruf nach dem diensthabenden Arzt oder nach dem Chefarzt durch den Lautsprecher kam. »… ein Notfall, in der Aufnahme. Bitte, der diensthabende Arzt oder der…«

Das weitere hörten Dr. Lindau und seine Kollegin schon nicht mehr. Ohne noch ein Wort miteinander zu wechseln, liefen sie zum Aufzug und fuhren hinunter ins Erdgeschoß.

Als sie die Notaufnahme betraten, war Dr. Bernau gemeinsam mit Dr. Köhler dabei, eine schwarzhaarige junge Frau, die auf dem Untersuchungstisch lag und von zwei Schwestern entkleidet wurde, zu untersuchen.

»Unfall?« fragte Dr. Lindau und trat näher. Verdutzt schaute er auf die mit geschlossenen Augen daliegende Patientin. »Aber das ist doch…« Er sprach nicht weiter, verlangte aber Aufklärung. Verwundert registrierte er dabei die nasse Kleidung Dr. Bernaus. »Was ist denn mit Ihnen los?« fragte er. »Waren Sie baden?«

»Ich habe die Frau aus dem See geholt«, erwiderte Dr. Bernau und berichtete mit knappen Worten. Er verschwieg natürlich nicht, was er beobachtet hatte. »Unfall?« stieß er hervor. »Ich würde es anders nennen.«

»Ich verstehe«, sagte Dr. Lindau. »Ein Motiv hätte Herr Strasser schon. Diese Frau ist nämlich schwanger, und Herr Strasser hat mir noch vor einer knappen halben Stunde wegen einer Indikation zugesetzt.«

»Ich befürchte innere Verletzungen«, meldete sich die Ärztin, die sich der von Dr. Köhler begonnenen Untersuchung angeschlossen hatte. »Deutliche Drucksymptome am rechten Unterbauch.«

Dr. Lindau schrak zusammen. »Die Frau ist im dritten Monat schwanger«, erklärte er. »Es könnten Blutungen vorhanden sein.«

Anja Westphal zuckte unmerklich zusammen und reagierte sofort auf die Worte des Chefarztes. »Sofort hinauf in den OP!« befahl sie. »Ultraschalluntersuchung und eventuell eine Spiegelung. Rasch! Ich fahre schon nach oben.«

»Ich komme mit«, rief Dr. Lindau und schloß sich der schon vorausgehenden Ärztin an. An der Tür drehte er sich noch einmal kurz um. »Sie, Herr Bernau, ziehen sich aber schleunigst trockene Kleidung an! In einer halben Stunde möchte ich Sie bei mir im Büro sehen.«

»In Ordnung«, erwiderte Dr. Bernau. Doch das hörte der Chefarzt schon nicht mehr. Dr. Bernau zuckte mit den Schultern und machte, daß er weg kam, denn er fühlte sich nicht gerade sehr wohl in seinen nassen Sachen. In der Halle stieß er fast mit Andreas Strasser zusammen.

»Was ist mit Gisela, Herr Doktor?« fragte der aufgeregt. »Lebt sie noch?«

Dr. Bernau bedachte den Bauunternehmer mit einem schon fast verächtlichen Blick. »Die Frau lebt, aber was für Folgen sich aus dem Sturz und dem Wasserbad ergeben haben, werden wir erst nach der genauen Untersuchung wissen«, erklärte er. »Sie entschuldigen mich jetzt. Warten Sie bitte im Wartezimmer, wenn Sie Genaueres vom Chefarzt wissen wollen!« Mit weit ausgreifenden Schritten entfernte er sich und ließ den nervösen Bauunternehmer aus München mit seinen schweren Gedanken allein zurück.

*

Dr. Anja Westphal schaltete das Ultraschallgerät aus und drehte sich zu Dr. Lindau um. »Tut mir leid«, sagte sie. »Der Sturz hat bei der Patientin nicht nur Uterus-Blutungen hervorgerufen, sondern auch den Embryo getötet.«

»Das habe ich befürchtet«, stieß Dr. Lindau hervor. »Also dann wollen wir mal«, setzte er hinzu.

»Ausschabung?« fragte die Ärztin.

Dr. Lindau nickte. »Und zwar rasch, ehe die Blutungen sich ausdehnen. Denn dann wird es unter Umständen kritisch.«

»Ich übernehme das«, erklärte die Ärztin und gab sofort einige Anweisungen an die beiden OP-Schwestern. »Ich werde absaugen«, erklärte sie.

»Soll ich Dr. Reichel holen?« fragte die Schwester. Sie meinte den Narkosearzt.

»Nicht nötig«, übernahm Dr. Lindau die Antwort. »Die Patientin ist am Beginn des dritten Schwangerschaftsmonats. Wir brauchen keine Vollnarkose. Dämmerschlaf genügt.«

»Das wollte ich eben auch sagen«, stimmte Anja Westphal dem Chefarzt zu.

»Du schaffst das allein?« Fragend sah Dr. Lindau die Kollegin an.

Die nickte nur.

»Gut, dann gehe ich in mein Büro, denn ich habe Herrn Bernau, den Retter dieser Frau, zu mir gebeten«, erklärte Dr. Lindau. »Sein Bericht interessiert mich jetzt besonders stark, weil der Schuldtragende nach seinen Beobachtungen ausgerechnet der Mann ist, der unsere Ruhe mit seinem Ferienprojekt stören will.«

Verwundert sah Anja Westphal den Chefarzt an, stellte jedoch keine Fragen.

Dr. Lindau hätte solche jetzt auch gar nicht beantworten können, weil er sie nicht wußte. Nur eine plötzliche intuitive Eingebung war es, ganz vage nur, die ihm das Gefühl vermittelte, aufgrund dieses Unfalls noch einmal mit diesem Bauunternehmer aus München einige ernste Worte zu reden. Dr. Lindau hätte allerdings auf Befragen nicht erklären können, was er sich davon versprach.

Er murmelte etwas, was wie ein Gruß klang, und verließ den OP. Auf dem Weg zu seinem Büro überlegte er sich, wie und was er mit diesem Strasser reden sollte. Als er wenig später sein Zimmer betrat, in dem Dr. Bernau bereits seit wenigen Minuten wartete, hatte er einen Entschluß gefaßt. Eine Art Plan war es, der zwar etwas unseriös war, aber von dem er hoffte, daß er damit einiges erreichen konnte, soweit es die Interessen der Klinik betraf.

*

Voller Interesse hörte sich Dr. Lindau den nun etwas ausführlicheren Bericht Dr. Bernaus an. Zwischendurch machte er sich einige kurze Notizen.

»Sie haben also gesehen, daß Herr Strasser handgreiflich geworden ist?« vergewisserte er sich noch einmal, als Dr. Bernau seinen Bericht beendet hatte.

»Nun, jedenfalls war der Mann sehr rabiat der Frau gegenüber«, erwiderte Dr. Bernau. »Das habe ich sehr deutlich gesehen.« Er behielt für sich, daß auch Vera Solbach das gleiche beobachtet hatte. »Herr Strasser schien sehr wütend zu sein, soweit ich das beobachten konnte«, fuhr er fort. »Er hat sie angeschrien und von der Sitzbank im Boot hochgerissen. Was er ihr vorgeworfen hat, konnte ich allerdings nicht verstehen.«

»Hm, Sie sagen, daß er sie ins Wasser gestoßen hat.« Fragend sah Dr. Lindau den jüngeren Kollegen an.

»Ins Wasser?« Dr. Bernau zögerte ein wenig. »Tja, das ist nicht leicht zu sagen«, erklärte er dann. »Zumindest gab es ein Handgemenge, das mit dem Sturz der Frau endete. Sie fiel bäuchlings auf den Knauf der hochragenden Ruderstange und kippte dann über den Bootsrand ins Wasser. Das habe ich genau gesehen.«

»Hatten Sie den Eindruck, daß Herr Strasser die Frau mit voller Absicht…«

»Augenblick, Herr Chefarzt«, fiel Dr. Bernau seinem Chef erregt ins Wort. »Sie wollen doch nicht etwa andeuten, daß Herr Strasser vorhatte, die Frau umzubringen, sie zu ertränken?« Fassungslos sah er Dr. Lindau an. »Das… das… wäre dann ja… Tötungsabsicht… also schon fast ein Mordversuch«, stieß er erregt hervor.

»Das wollte ich damit nicht behaupten«, gab Dr. Lindau zurück. »Obwohl – ein Motiv hätte er gehabt«, fügte er mit verhaltener Stimme hinzu.

Dr. Bernau riß die Augen auf. »Ein Motiv zum Töten?« fragte er gepreßt. »Wie ist das zu verstehen?«

Dr. Lindau zögerte ein paar Sekunden, gab sich dann aber einen Ruck und erklärte Dr. Bernau, was er unter diesem angedeuteten Motiv verstand. »Herr Strasser war vor einer knappen Stunde mit der jungen Frau bei mir und wollte eine Indikation, die ich als vom medizinischen Standpunkt aus unbegründet natürlich abgelehnt habe«, berichtete er dem aufhorchenden Dr. Bernau. »Frau Karner – so heißt die Frau, wie ich inzwischen weiß – ist im dritten Monat schwanger.«

»Ich beginne zu verstehen«, meinte Dr. Bernau. »Herr Strasser sah deshalb sicher Schwierigkeiten auf sich zukommen.«

»So sehe ich es auch«, stimmte Dr. Lindau dem Kollegen zu. »Nun hat er ja erreicht, was er wollte – ohne mein Zutun.«

»Sie meinen, daß durch den Sturz…« Dr. Bernau sprach nicht weiter. Fassungslos sah er den Klinikchef an.

»Sie haben es erfaßt, Herr Bernau«, entgegnete der Chefarzt. »Frau Karner hat einen – nun, sagen wir mal – natürlichen Abort. Hervorgerufen durch den Sturz, durch den innere Verletzungen wie Uterusblutungen entstanden sind und die Tötung des Embryos verursachten. Frau Dr. Westphal nimmt eben eine Ausschabung vor, um Komplikationen zu verhindern.«

»Allerhand«, murmelte Dr. Bernau. »Weiß Herr Strasser schon Bescheid?« fragte er.

»Noch nicht«, antwortete Dr. Lindau.

»Na, da wird der Herr ja zufrieden sein, daß sich sein Problem auf diese Weise gelöst hat. Ein zufälliger Unglücksfall, und schon sind solcherart Schwierigkeiten aus der Welt geschafft«, fügte er sarkastisch hinzu.

»Ich bin mir nicht sicher, ob Herr Strasser erleichtert aufatmen wird, wenn ich ihm sage, was geschehen ist«, erklärte Dr. Lindau. Er sagte das in einem Ton, der Dr. Bernau aufhorchen ließ. »Ich vermute, daß dieser Herr sehr bald hier auftauchen wird, um zu erfahren, wie es seiner Freundin geht«, fügte Dr. Lindau seinen ersten Worten hinzu.

»Er ist bereits hier«, gab Dr. Bernau zurück. »Ich habe ihn in den Warteraum geschickt.«

Entschlossen blitzte es in Dr. Lin­daus Augen auf. »Na, dann werden wir das Eisen schmieden, so lange es noch heiß ist«, stieß er fast heftig hervor.

Irritiert über diese Ausdrucksweise sah Dr. Bernau den Chefarzt an. Er verstand nicht, was der mit seinem Zitat meinte.

Ein kurzes schwaches Lächeln huschte um Dr. Lindaus Lippen, als er Dr. Bernaus Miene sah, die wie ein Fragezeichen wirkte. »Fragen Sie mich jetzt nichts, denn ich könnte Ihnen im Augenblick keine konkrete Antwort geben«, sagte er. »Ich will nur etwas versuchen. Ob ich Erfolg damit habe, weiß ich noch nicht. Ich habe aber die Interessen meiner Klinik im Auge.«

Nun war Dr. Bernau völlig verwirrt. Die geheimnisvollen Worte des Klinikchefs weckten natürlich seine Neugier.

Weshalb zum Beispiel würde Herr Strasser nicht erleichtert sein? Aber was hatten die Interessen der Klinik mit diesem Unglücksfall zu tun, bei dem eine junge Frau einen Abort erlitten hatte? Was hatte Dr. Lindau nun vor? Solche und ähnliche Fragen rumorten hinter Dr. Bernaus Stirn. Entsprechende Fragen versagte er sich aber. Er kannte Dr. Lindau gut genug, um zu wissen, daß er von ihm jetzt keine zufriedenstellenden Antworten bekommen würde.

»Darf ich Sie bitten, Herr Bernau, diesen Herrn Strasser jetzt zu mir zu schicken?« unterbrach Dr. Lindau die Gedanken Dr. Bernaus.

»Sofort.« Dr. Bemau erhob sich. »Brauchen Sie mich dann noch?« fragte er und dachte an Vera Solbach, zu der er wollte. Er hatte noch etwas Zeit bis zum Beginn seines Spätdienstes. Sein Jackett mußte er sich ja auch noch holen. Sicherlich hatte Vera es in Verwahrung genommen.

»Nein, Herr Bernau«, erwiderte Dr. Lindau.

Dr. Bernau murmelte einen Gruß und ging, um Andreas Strasser zum Chefarzt zu schicken.

*

Wie ein gefangener Tiger im Käfig, so stapfte Andreas Strasser im Wartezimmer hin und her. Nervös blickte er dauernd auf seine Uhr. Die Minuten, die verstrichen, kamen ihm wie Ewigkeiten vor. Was war mit Gisela los? Schwebte sie etwa in Lebensgefahr durch den Sturz? Solche und ähnliche Fragen bedrängten ihn.

Weshalb nur hatte er im Boot die Beherrschung verloren und hatte sich zu Handgreiflichkeiten hinreißen lassen? Und warum war Gisela nur so bockig gewesen? Er verstand nicht, daß sie ihre Meinung so schnell geändert hatte. Noch vor einer Stunde war sie doch mit der von ihm vorgeschlagenen Lösung einverstanden gewesen. Was war nur so plötzlich in sie gefahren? Fragen über Fragen, auf die er keine Antwort wußte.

Am meisten Sorge und Kopfzerbrechen bereitete Andreas Strasser die Frage nach den Konsequenzen, die sich nun durch den Unfall – so jedenfalls bezeichnete er das Geschehen im Boot – ergeben würden, ergeben mußten. Wie würde es weitergehen? Mit Schrecken dachte er an seine Frau, die in wenigen Tagen von ihrer Berlin-Reise zurückkam. Er war ziemlich sicher, daß er kaum Chancen hatte, seine Vaterschaft vor ihr geheimzuhalten. Was dann die Folge davon war, wußte er jetzt schon mit geradezu schmerzhafter Klarheit. »Nein, zum Teufel«, stieß er hervor, »das darf einfach nicht sein.«

Er war in diesen Augenblick fast soweit, zu bedauern, daß Gisela am Leben geblieben war. Alle Probleme wären gelöst gewesen, wenn sie ertrunken wäre. Er hätte dann nicht mehr an eine Reaktion seiner Frau denken müssen. Eine Reaktion, die ihn zum armen Mann machen würde.

»Herr Strasser…«

Der Bauunternehmer fuhr herum und starrte den Arzt an, der Gisela aus dem Wasser gezogen hatte. »Ja? Was ist?« stieß er fragend hervor. »Etwas Schlimmes mit Gisela?«

»Darüber will der Chefarzt mit Ihnen reden«, gab Dr. Bernau kühl zurück. »Er erwartet Sie in seinem Büro. Bitte!«

Andreas Strasser stürmte aus dem Warteraum und weiter in die Richtung, in der er das Zimmer von Dr. Lindau wußte.

Dr. Bernau zuckte mit den Schultern und wandte sich der Terrasse zu, um zum Südufer zu gehen. Er wollte nicht nur sein Jackett holen, sondern – und das vor allem – mit Vera reden. Gerade als er die Stufen der Terrasse hinunterschritt, kam ihm die Vermessungstechnikerin entgegen. Sein Jackett trug sie über dem Arm.

»Ich wollte dir nur deine Jacke bringen«, sagte sie, als sie vor Dr. Bernau stand.

Der verzog ein wenig das Gesicht. »Nur deshalb bist du jetzt gekommen?« fragte er leise.

Vera verstand. Sie lächelte. »Ein wenig wollte ich auch mit dir plaudern, Werner«, gestand sie. »Da du ja heute abend keine Zeit hast, wie du mir sagtest, nutze ich eben deine noch bis zum Dienstbeginn verbleibende freie Zeit.«

Dr. Bernau strahlte die junge Frau an. Er nahm ihr das Jackett ab und sagte: »Ein kluger Gedanke, Vera. Aber was ist mit deiner Arbeit?« setzte er fragend hinzu.

»Die habe ich für heute beendet, Werner«, gab Vera zurück.

»Wie schön.« Dr. Bernau faßte die junge Frau leicht am Arm. »Komm, wir setzen uns in die Klinikkantine«, sagte er, und mit sanftem Druck seiner Hand dirigierte er Vera über die Terrasse in das Innere der Klinik und dann weiter in Richtung Kantine.

*

Ein ungutes Gefühl überkam An­dreas Strasser, als er dem Chefarzt der Klinik am See gegenübersaß und dessen ernste Miene sah. In seinen Augen war ein unruhiges Flackern. »Was ist mit Frau Karner, Herr Doktor?« konnte er schließlich die Frage nicht mehr zurückhalten.

Dr. Lindau blickte von seinen Notizen hoch. Sein Blick, mit dem er den vor ihm sitzenden Bauunternehmer betrachtete, war kühl. Vor zwei Minuten hatte die Kollegin Westphal vom OP angerufen und ihm gemeldet, daß Gisela Karner außer Gefahr, die Schwangerschaft unterbrochen und die Uterusblutung gestoppt sei. Lediglich eine Schwellung der inneren Unterbauchdecke, hervorgerufen durch den Aufprall auf der Ruderstange, war noch vorhanden, würde aber durch entsprechende Behandlung sehr bald abklingen. »Sie können zufrieden sein, Herr Strasser«, ging Dr. Lindau auf die Frage des Bauunternehmers ein. »Sie haben Ihr Ziel erreicht.«

»Mein Ziel? Wie darf ich das verstehen?« fragte Andreas Strasser irritiert.

»Nun, ich erinnere mich, daß Sie noch vor etwa einer Stunde eine Abtreibung verlangten«, gab Dr. Lindau kühl zurück. »Die ist nun geschehen. Frau Karner wird nicht Mutter werden.«

»Ist das wahr?« Andreas Strasser atmete erleichtert auf. In seinen Augen zeigte sich ein triumphierender Glanz.

»Es ist so«, bestätigte der Chefarzt.

»Sie haben also doch…«

»Stop, Herr Strasser«, fiel Dr. Lindau dem Mann scharf ins Wort. »Weder ich noch einer meiner Ärzte haben dazu beigetragen, daß Frau Karner nicht mehr schwanger ist. Sie haben das getan.«

»Ich? Wie kommen Sie auf so etwas?« Ungläubig starrte Andreas Strasser den Chefarzt an. »Das ist doch wohl ein Scherz.«

»Damit scherzt man nicht«, erklärte Dr. Lindau. »Die Schuld an diesem… hm… Schwangerschaftsabbruch tragen Sie. Ich will dahingestellt sein lassen, ob Ihr tätlicher Angriff auf Frau Karner beabsichtigt oder unbeabsichtigt war. Auf jeden Fall hatte er die Tötung des noch ungeborenen Lebens zur Folge.«

»Aber das ist doch Irrsinn, was Sie da sagen, Herr Doktor«, brauste An­dreas Strasser auf. Heiß und kalt überlief es ihn. »Das ganze war ein unglücklicher Zufall«, fuhr er fort. »Von einem tätlichen Angriff, wie Sie es formulieren, kann doch wohl kaum die Rede sein.«

»Mein Kollege Dr. Bernau ist da anderer Meinung«, widersprach Dr. Lindau, »und nach dem, was er mir berichtet hat, kann ich ihm nur beipflichten.«

»Wer zum Teufel ist Dr. Bernau und wie kommt er dazu, so etwas zu behaupten?« regte sich Andreas Strasser auf.

»Das ist der Mann, der Frau Karner aus dem Wasser geholt hat«, erklärte Dr. Lindau. »Er hat alles vom Ufer her beobachtet, und ich bin sicher, daß er seine Beobachtungen auch unter Eid aussagen würde.«

Andreas Strasser zuckte zusammen. Seine Gesicht wurde zuerst dunkelrot, wechselte dann aber sofort in eine fahle Blässe über. »Weshalb sollte ich Gisela… ähm… Frau Karner tätlich angreifen?« stieß er ächzend hervor.

»Nun, ein Motiv hätten Sie ja gehabt«, begann Dr. Lindau, seine Trümpfe auszuspielen. »Sie wollten eine Abtreibung bei Frau Karner, weil sonst sicherlich enorme Schwierigkeiten auf Sie zugekommen wären. Frau Karner dagegen wollte das Kind austragen. Haben Sie unser Gespräch vor einer guten Stunde hier in diesem Raum etwa schon vergessen?«

»Nein, natürlich nicht«, räumte Andreas Strasser mit heiserer Stimme ein. »Ich gebe ja auch zu, daß ich mit Gisela gestritten habe und daß ich etwas unbeherrscht war. Aber das war dann ein Unfall, den ich nicht gewollt habe. Das müssen Sie mir schon glauben, Herr Doktor.«

»Was ich Ihnen glaube oder nicht glaube, Herr Strasser, das spielt keine große Rolle«, entgegnete Dr. Lindau mit Betonung. »Ich halte mich als Arzt nur an erkennbare Tatsachen. In diesem Fall…«, fuhr er fort, »… hat die Untersuchung ergeben, daß der Abort, der ja von Ihnen gewünscht worden war, durch Gewalteinwirkung hervorgerufen wurde. Wie und wodurch eine solche Gewalteinwirkung entstanden ist…« Er zuckte mit den Schultern. »Das müssen andere feststellen und beurteilen.« Gespannt wartete er auf die Reaktion des Bauunternehmers auf seine Erklärungen, von denen er natürlich wußte, daß sie doch ein wenig aufgebauscht waren. Doch das belastete ihn in diesen Augenblicken kaum, verfolgte er damit doch eine bestimmte Absicht. Der Zweck heiligte eben die Mittel, rechtfertigte er sein Vorgehen. Fraglich war dabei noch immer, ob ihm dadurch ein Erfolg beschieden sein würde. Er hoffte aber, daß dieser Mann, so wie er ihn einschätzte, seinen vagen Vorstellungen entsprechend reagierte.

Dr. Lindau sollte sich nicht geirrt haben.

»Was heißt, andere müssen das beurteilen?« begehrte Andreas Strasser auf. »Wollen Sie diesen kleinen Unfall etwa an die große Glocke hängen?«

Dr. Lindau behielt die Ruhe. »Ein kleiner Unfall, der allerdings die Tötung eines Ungeborenen zur Folge hatte«, wiederholte er. »Für Sie ist das vielleicht eine Bagatelle. Doch ich meine, daß Tötung eine ernste Sache ist – ob nun ein Erwachsener oder ein Kind oder ein noch ungeborenes Leben davon betroffen wird. An die große Glocke werde ich diesen Fall natürlich nicht hängen, wie Sie sich ausdrücken. Ich werde es nur weitermelden an die zuständige Behörde. Das werden Sie sicher verstehen, Herr Strasser.« Daß er in diesem Fall zu einer Meldung gar nicht verpflichtet war, behielt er für sich. Er konnte jetzt nur hoffen, daß Andreas Strasser das nicht wußte und auf seine Worte einging, so wie er sich das insgeheim wünschte. Natürlich war ihm klar, daß seine Art des Vorgehens schon fast einer Erpressung gleichkam. Doch es ging ihm jetzt ja nur darum, den Bauunternehmer ein wenig in die Enge zu treiben, in der stillen Hoffnung, ihn damit zu Zugeständnisse hinsichtlich eines Verzichtes auf das geplante Feriencenter zu verleiten. Er hatte schon längst erkannt, daß dieser Mann eine enorme Angst vor irgendwelchen Skandalen hatte. Die Vermutung lag sehr nahe, daß Andreas Strasser vor allem aber die Reaktion seiner Frau fürchtete, wenn diese von seinem Seitensprung erfuhr. Dr. Lindau kombinierte, daß der Bauunternehmer in einer gewissen Abhängigkeit zu seiner Frau stand, vor der er seine Beziehung zu Gisela Karner auf jeden Fall geheimhalten wollte und wahrscheinlich auch mußte.

»Sie… Sie… wollen das melden?« unterbrach Andreas Strasser die kurzen Überlegungen des Chefarztes. Fassungslos starrte er den Klinikleiter an. »Das… das… gibt eine Katastrophe.«

»Nun, so schlimm wird es wohl nicht werden, Herr Strasser«, entgegnete Dr. Lindau. »Sie werden sicherlich erklären können, wie es zu diesem… hm… ungewollten… Unfall kam.«

»Das ist es nicht, Herr Doktor«, kam es gepreßt über Andreas Strassers Lippen. »Diesen Punkt würde ich wahrscheinlich entschärfen können. Aber ich denke an meine Frau, an ihre Reaktion, wenn sie das alles hört. Und sie wird es erfahren, wenn Sie Meldung machen.«

In Dr. Lindaus Augen blitzte es kurz auf. Sein Plan schien zu gelingen. Andreas Strassers Reaktion auf seine Worte bewiesen das. »Tja, Herr Strasser, das ist nun Ihr Problem«, sagte er. Fragend blickte er den Bauunternehmer an, der nun gar nicht mehr so selbstbewußt und hochfahrend war wie noch vor wenigen Stunden. »Ich verstehe nur nicht, was Ihre Frau mit alldem zu tun hat.« Natürlich wußte er das, konnte es sich zumindest denken.

Andreas Strasser kämpfte mit sich. »Also schön, dann will ich offen sein«, stieß er hervor. »Sicher haben Sie schon mitbekommen, daß Frau Karner meine Freundin ist, von der meine Frau natürlich nichts weiß«, fuhr er fort. »Erfährt sie aber davon, dann läßt sie sich sofort scheiden, und ich stehe mit leeren Händen da, denn die Firma gehört ihr und damit auch das Firmenvermögen.«

»Ich verstehe«, erwiderte Dr. Lindau.

»Deshalb muß ich diese Angelegenheit im stillen ordnen«, ergriff An­dreas Strasser wieder das Wort. »Es darf keine Meldung geben, Herr Doktor.« Diese letzten Worte klangen nicht fordernd; sie waren schon fast bittend hervorgestoßen.

»Sie stellen sich das einfach vor«, gab Dr. Lindau zurück.

»Nennen Sie mir Ihren Preis, Herr Doktor!« wurde Andreas Strasser nun direkt. »Ich schreibe Ihnen sofort einen Scheck aus, wenn Sie mir versprechen, eine Meldung zu unterlassen.«

»Wofür halten Sie mich?« Dr. Lindau spielte ein wenig den Entrüsteten. »Nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich nicht bestechlich bin«, fügte er betont hinzu.

»Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht bestechen.« Andreas Strasser atmete keuchend. Ihm ging es jetzt nur noch um seine Existenz, die er vernichtet sah, wenn dieser Arzt wirklich eine Meldung machte. Die aber mußte er verhindern, um jeden Preis. Da kam ihm plötzlich ein Gedanke. Er erkannte, daß dieser Arzt nicht zu kaufen war. Gleichzeitig jedoch fiel ihm ein, daß er sich gegen das von ihm geplante Feriencenter wehrte. Vielleicht war in dieser Richtung etwas zu machen. Was war verloren, wenn er nun auf dieses Projekt verzichtete? Nicht viel, denn außer dem Vermessungsauftrag hatte er noch nichts investiert. Der Kaufvertrag für das Gelände da unten am See war auch noch nicht unterschrieben. Was soll’s also? überlegte er blitzschnell weiter. Feriencenter konnte er immer noch irgendwo aufbauen lassen. Sein persönliches Problem zu lösen, hatte jetzt Vorrang.

Dr. Lindau beobachtete den Bauunternehmer scharf. Er ahnte, was in ihm jetzt vorging, daß er nach einem Ausweg suchte. Hoffentlich fand er den richtigen, dachte der Chefarzt.

»Herr Doktor«, ergriff Andreas Strasser unvermittelt wieder das Wort, ehe sich Dr. Lindau äußern konnte. »Ich bitte Sie, die Meldung zu unterlassen. Als Gegenleistung… hm… vielleicht klingt es besser, wenn ich sage, aus Dankbarkeit für Ihr Entgegenkommen wäre ich bereit, auch Ihnen entgegenzukommen.«

»Wie das?« fragte Dr. Lindau ruhig, obwohl er nun wirklich auf die nächsten Worte Strassers gespannt war.

»Ich erinnere mich, daß Sie gegen mein geplantes Feriencenter sind«, erwiderte Andreas Strasser.

»Allerdings, und zwar im Interesse der Klinik und der darin liegenden Patienten«, bestätigte Dr. Lindau.

»Nehmen wir nun an, ich hätte eingesehen, daß Sie recht haben«, erklärte der Bauunternehmer, »und ich würde aus diesem Grund auf dieses Projekt verzichten. Was dann?« fügte er fragend hinzu. »Würden Sie mir dann auch entgegenkommen?«

Dr. Lindau tat, als überlege er. Eine Art Triumph war in ihm. Seine Rechnung war aufgegangen, ohne daß er selbst hatte zu fordern brauchen. »Herr Strasser, ich muß gestehen, daß ich ein solches Angebot nicht einfach beiseite schieben kann«, gab er An­dreas Strasser nach sekundenlangem Überlegen zu verstehen. »Dazu bin ich viel zu sehr mit meiner Klinik verwachsen und…«

»Sie sind also einverstanden?« fiel Andreas Strasser dem Chefarzt hastig und erregt ins Wort.

»Hm, ich denke, daß mir die Interessen der Klinik wichtiger sind als eine Meldung an die Behörde wegen des Unfalls auf dem See«, erklärte er.

»Also werden Sie nichts melden.« Andreas Strasser fühlte sich wie von einer schweren Last befreit. »Ich danke Ihnen und verspreche, anschlie­ßend sofort dem Bürgermeister meinen Entschluß mitzuteilen«, erklärte er. »Selbstverständlich gehen die Kosten der Behandlung von Frau Karner auch zu meinen Lasten. Die Vermessungsarbeiten werde ich umgehend einstellen lassen.«

Dr. Lindau zeigte seine Freude über das gelungene Experiment nicht. »Es ist gut, daß wir miteinander gesprochen haben, Herr Strasser«, sagte er. »Wir werden also den Unfall von Frau Karner eben nur als solchen betrachten, und zwar ohne fremde Gewalteinwirkung. Das enthebt mich dann einer Meldepflicht.«

»Ich bedanke mich für Ihr Verständnis, Herr Doktor.« Andreas Strasser holte sein Scheckbuch hervor. Zweimal schrieb er einen Scheck aus. Beide reichte er dem Chefarzt. »Dieser ist für die Kosten des Aufenthalts von Frau Karner«, sagte er, »und diesen bitte ich Sie, Frau Karner zu übergeben, damit sie nicht auf dem Trockenen steht, wenn sie Ihre Klinik verläßt.«

Dr. Lindau warf nur einen kurzen Blick auf die beiden Schecks und staunte nicht schlecht. Dem Bauunternehmer mußte der Friede und die Harmonie mit seiner Frau allerhand wert sein. Das bewiesen die beiden Summen, die er ausgeschrieben hatte. »Danke, ich erledige das«, sagte er und legte die beiden Schecks zur Seite.

Andreas Strasser erhob sich und reichte Dr. Lindau verabschiedend die Hand. »Leben Sie wohl, Herr Doktor.« Seine Stimme hatte nicht mehr den vorherigen gepreßten Klang. »Sie werden mich nicht mehr in dieser Gegend sehen. Dem Bürgermeister sage ich jetzt gleich Bescheid.«

»Alles Gute, Herr Strasser«, erwiderte Dr. Lindau. Er begleitete den Bauunternehmer noch bis zur Tür, ging dann wieder zu seinem Schreibtisch zurück und ließ sich in den Sessel sinken. Über sein Gesicht legte sich ein zufriedener Schimmer.

*

Es war kurz vor Dienstschluß, als Dr. Anja Westphal in ihrem Zimmer noch einige Krankengeschichten ergänzte. Überrascht hob sie den Kopf, als unvermutet der Klinikchef bei ihr eintrat.

»Du sollst die erste sein, die es erfährt«, platzte Dr. Lindau mit seiner Neuigkeit heraus. »Wir haben die Ruhe der Klinik gerettet.«

»Wie das?« fragte die Ärztin erstaunt. »Hat der Bürgermeister Vernunft angenommen?«

»Der nicht, aber Herr Strasser«, klärte Dr. Lindau die Kollegin auf. »Die Angst vor seiner Frau und deren Reaktion auf sein Liebesverhältnis haben ihn weich und nachgiebig gemacht.« Mit wenigen Sätzen erzählte er von dem Gespräch mit dem Bauunternehmer. »Unsere Sorge wären wir damit los.«

Anja Westphal lächelte. »Das hast du phantastisch hinbekommen«, anerkannte sie. »Ich muß schon sagen – wenn du es mir nicht verübelst – das hast du wirklich raffiniert gemacht.«

»Es hätte aber auch schief gehen können, wenn Herr Strasser gewußt hätte, daß ich zu einer Meldung nicht verpflichtet bin…«

»Er hat es aber nicht gewußt, und das ist in diesem Fall entscheidend«, fiel die Ärztin ihrem Chef ins Wort.

»Eben«, bekräftigte er. Lindau. Nach einem Blick auf die Uhr erklärte er, daß er noch rasch zu Frau Karner gehen wolle. »Ich habe ihr einen Scheck zu übergeben…« Fragend sah er die Ärztin an. »Wie hat sie es übrigens aufgenommen, daß nun nichts mit dem Mutterwerden ist?« wollte er wissen.

»Erstaunlich ruhig, obwohl ich gemerkt habe, daß sie darüber traurig war«, antwortete Anja Westphal. »Durchblicken ließ sie aber auch, daß sie mit diesem Mann nichts mehr im Sinn hat.«

»Sie wird einen anderen finden«, meinte Dr. Lindau. »Sie ist ja noch jung.«

Das sagte er auch Minuten später zu Gisela Karner und übergab ihr den Scheck.

»Danke, Herr Doktor.« Gisela steckte den Scheck ein. »Aber wenn er glaubt, daß er mich damit wieder einfangen kann, so irrt er sich«, stieß sie hervor. »Ich habe nichts mehr mit ihm im Sinn.«

»Ich hatte den Eindruck, daß das bei ihm umgekehrt auch der Fall ist, Frau Karner, denn dazu hat er zuviel Angst vor seiner Frau und vor den Konsequenzen, die ein neuerlicher Seitensprung nach sich ziehen würde.«

»Ich war ja auch dumm, ihm zu glauben, was er alles versprochen hat«, flüsterte die Patientin.

»Jedenfalls sind Sie um eine Erfahrung reicher, Frau Karner, und wenn Sie in ein paar Tagen die Klinik wieder verlassen…«

»Dann werde ich mir die Männer etwas genauer ansehen, von denen ich mich gern zur Mutter machen lassen möchte«, fiel Gisela Karner dem Chefarzt lächelnd ins Wort. Ernst werdend fügte sie hinzu: »Ein Kind möchte ich nämlich wirklich gern haben, aber es soll dann auch seinen Vater ständig um sich haben.«

Dr. Lindau sprach noch ein paar aufmunternde Worte mit der Patientin und ging dann. Es zog ihn jetzt nach Hause.

Als er Minuten später durch die Halle dem Ausgang zuschritt, hörte er plötzlich seinen Namen rufen. Er drehte sich um und – sah Bürgermeister Hofstätter auf sich zukommen.

»Ich war vorhin bei Ihnen, Herr Dr. Lindau«, ergriff der Bürgermeister ohne Umschweife das Wort, »weil ich mit Ihnen reden wollte. Sie waren nicht da…« Man merkte ihm an, daß er zornig war.

»Ich dachte, Sie hätten Ihre Frau besucht?« gab Dr. Lindau zurück. Er ahnte etwas und sollte damit auch rechtbehalten.

»Das habe ich natürlich«, polterte der Bürgermeister.

»Es geht ihr gut, soviel ich weiß«, meinte Dr. Lindau.

»Ja, ja, es geht ihr gut, und sie kommt in wenigen Tagen wieder nach Hause«, brummte der Bürgermeister. »Aber schweifen Sie bitte nicht ab! Sie wissen genau, worüber ich mit Ihnen reden will.«

»Ich nehme an, über Ihre Frau«, gab Dr. Lindau zurück.

»Nein, zum Donnerwetter«, fuhr der Bürgermeister auf. »Über das Land da unten am See will ich mit Ihnen reden«, fuhr er fort. »Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?«

»Wobei?« tat Dr. Lindau unwissend.

»Das fragen Sie noch?« Zornig blitzte es in den Augen des ersten Repräsentanten von Auefelden auf. »Haben wir es nicht Ihnen zu verdanken, daß Herr Strasser vom Ankauf des Geländes zurückgetreten ist? Sie haben ihm doch wegen des geplanten Feriencenters, das unserem Ort unbestreitbar wirtschaftliche Vorteile gebracht hätte, zugesetzt?«

»Hat Herr Strasser das etwa behauptet?« wollte Dr. Lindau wissen.

»Das zwar nicht, aber ich bin sicher, daß Sie dahinter stecken«, fauchte der Bürgermeister.

Dr. Lindau straffte sich. »Herr Bürgermeister…«, sein Ton wurde energisch, »… überlegen Sie gut, was Sie sagen. Ihre Vorwürfe sind haltlos, denn ich habe Herrn Strasser nicht zugesetzt, wie Sie sich auszudrücken belieben. Ich habe ihn lediglich – und das schon vor zwei Tagen – auf die Nachteile für die Klinik hingewiesen. Zu meiner Genugtuung muß ich anerkennen, daß Herr Strasser vernünftiger ist, als es manche andere sind.«

»Wollen Sie sagen, daß ich unvernünftig bin?« brauste der Bürgermeister auf. »Ich habe nur das Wohl von Auefelden im Sinn.«

»Das glaube ich Ihnen sogar«, entgegnete Dr. Lindau ungerührt. »Versuchen Sie aber auch, mir zu glauben, daß ich einzig und allein das Wohl und die Ruhe der Klinik und der darin liegenden Kranken gewährleistet haben will. Denken Sie einmal an Ihre Frau«, fuhr er in nun fast beschwörendem Ton fort. »Was glauben Sie, wie sich die Unruhe und der Lärm eines neben der Klinik befindlichen Feriencenters auf ihre Gesundheit beziehungsweise auf den Heilungsprozeß auswirken würde. Negativ in jedem Fall.« Natürlich war das in diesem Fall doch ein wenig übertrieben, aber Dr. Lindau wollte ja den Bürgermeister nur zu überzeugen versuchen, daß Ruhe und Frieden nun einmal zu einer Klinik gehörten.

Wie es schien, beeindruckten die Worte des Chefarztes den Bürgermeister doch ein wenig. Er wurde nachdenklich, obwohl sein Ärger immer noch die Oberhand hatte. »Trotzdem kann ich Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, daß durch Ihre Schuld der Gemeinde Auefelden…«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen, Herr Hofstätter«, fiel Dr. Lindau dem Bürgermeister energisch ins Wort. »Denken Sie einmal in Ruhe über alles nach! Mich entschuldigen Sie jetzt aber!« Er murmelte einen Gruß und ließ den ersten Bürger von Auefelden einfach stehen.

Verdutzt sah er dem Chefarzt nach, der die Klinik verließ und draußen seinen Wagen bestieg. »Der ist ja ein noch härterer Brocken, als ich es bin«, brummte er und strebte dem Klinikausgang zu.

*

Es war wirklich erstaunlich, wie rasch sich die Neuigkeit innerhalb der Klinik verbreitete. Einer sagte es dem anderen, und schließlich wußten es alle – es würde kein Feriencenter neben der Klinik geben. Allgemeine Erleichterung machte sich breit.

Lediglich Dr. Bernau, der schon vor Stunden den Abenddienst übernommen hatte, wurde ein wenig nachdenklich, denn diese Neuigkeit bedeutete für ihn, daß Vera, die er in diesen wenigen Tagen wirklich irgendwie in sein Herz geschlossen hatte, ganz sicher ihre Vermessungsarbeit beendete. Das bedeutete, daß sie wahrscheinlich schon am nächsten Tag wieder abreisen würde. Das aber ließ ihm keine Ruhe. Lange überlegte er und entschloß sich dann doch zu einem Anruf im GOLDENEN OCHSEN. Er hatte Glück, denn Vera Solbach war gerade in der Gaststube und wurde an den Apparat geholt.

»Hallo, Werner«, meldete sie sich. »Ich habe gehofft, daß du anrufst.«

»Das war auch nötig«, erwiderte Dr. Bernau und erzählte die Neuigkeit.

»Ich weiß es bereits, denn Herr Strasser hat auf das weitere Vermessen verzichtet«, gab Vera zurück. »Am späten Nachmittag hat er es mir gesagt, bevor er abreiste. Meine Arbeit ist damit beendet.«

»Schade, denn ich hatte gehofft, noch ein paar Tage mit dir zusammensein zu können.« Dr. Bernaus Stimme hatte tatsächlich einen bedauernden Klang. »Ich nehme an, daß du schon am Packen bist und morgen…«

»Ich habe noch nicht gepackt«, fiel Vera dem Arzt ins Wort, »denn ich habe die Absicht, noch ein paar Tage hier zu bleiben.«

»Wirklich?« Dr. Bernaus Stimme klang fröhlich.

»Ja«, bestätigte Vera. »Mir gefällt eben der See und die ganze Umgebung gut.«

»Sonst nichts mehr?« fragte Dr. Bernau.

Vera lachte leise. »Darüber schweigt des Sängers Höflichkeit«, zitierte sie. »Aber wenn du möchtest, dann können wir uns morgen sehen«, setzte sie hinzu.

»Und ob ich das möchte«, betonte Dr. Bernau. »Ich komme dich gleich morgen früh um halb neun abholen und…« Er unterbrach sich, weil eine Schwester ihm zuwinkte. »Entschuldige bitte, aber ich werde gerade gerufen«, sagte er. »Bis morgen also.«

»Bis morgen«, gab Vera zurück und legte auf.

*

Ähnliche Worte sagte fast zur selben Zeit im Doktorhaus auch Astrid zu ihrem Vater. »Morgen, Paps, fährst du los und beendest deinen unterbrochenen Urlaub!«

Eine Stunde hatte sie mit Unterstützung ihres Mannes gebraucht, um ihren Vater zu bewegen, seinen Urlaub fortzusetzen. Dem war schließlich nichts anderes übriggeblieben, als seiner Tochter nachzugeben.

»Es ist zum Verzweifeln«, meinte er, »aber gegen dich komme ich einfach nicht an.«

»Es ist nur zu deinem Vorteil, Paps«, belehrte Astrid den Vater. »Jetzt nach diesem überstandenen Nervenkrieg hast du den Urlaub noch viel nötiger.«

»Da muß ich Astrid zustimmen«, unterstützte Alexander Mertens seine hübsche, aber auch energische Frau.

Dr. Lindau zog eine Grimasse. »Zwei gegen einen – das ist doch etwas unfair«, murrte er. Der Ausdruck in seinen Augen zeigte aber, daß er mit der Entscheidung seiner Tochter und seines Schwiegersohns nicht unzufrieden war. Ohne das Zureden der beiden hätte er wohl kaum seinen unterbrochenen Urlaub fortgesetzt. »Also gut, damit ihr euren Willen habt – ich fahre morgen früh wieder in Urlaub«, erklärte er sich einverstanden. »Aber nur eine Woche und keinen Tag länger«, setzte er mit Betonung hinzu.

»Ich wußte doch, daß ich einen vernünftigen Vater habe«, meinte Astrid lächelnd.

»Und ich einen klugen Schwiegervater«, ergänzte Dr. Alexander Mertens.

»Danke für die Blumen, aber nun ist’s genug«, fuhr Dr. Lindau Tochter und Schwiegersohn gutmütig an und lachte verhalten. »Es könnte sonst sein, daß ich noch eitel werde.«

»Wäre auch nicht so schlimm«, entgegnete Alexander. »Nun schlage ich vor, daß wir noch ein Gläschen Wein zusammen trinken, damit Vater in Stimmung bleibt und nicht noch im letzten Augenblick seine Meinung ändert.«

»Gute Idee«, lobte Astrid. »Hol schon inzwischen die Gläser und den Wein, Alexander, während ich noch einmal nach unserem Kleinen sehe!«

»Ihr seid doch wirklich ein ausgekochtes Paar«, erklärte Dr. Lindau lächelnd. »Ich verstehe nicht, weshalb ich euch trotzdem liebe.«

Astrid und ihr Mann sahen sich an und lachten. Dr. Lindau konnte nicht anders – er stimmte mit in dieses Lachen ein.

Die Klinik am See Staffel 2 – Arztroman

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