Читать книгу 100 Boyfriends - Brontez Purnell - Страница 12

DAMN A LOVER COMES HOME TO DIE

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Wieder einmal steht er unangemeldet vor meiner Tür – nach einem wie-viel-auch-immer-tägigen Speed-Gelage. Seine Schuhe sind weg. Er atmet schwer und stinkt, als wäre er stundenlang durch heiße Straßen gelaufen.

Mein Herz zieht sich zusammen. Er ist so anders als der duftende europäische Dandy, den ich damals kennengelernt habe; gleich bei unserer ersten Begegnung hat er mich verzaubert. Viel Mühe musste er sich nicht geben, das war mir sofort klar – sein Wunsch war mir Befehl, selbst dann, wenn er nichts zu sagen hatte. Dabei war er nicht der Typ, den man einfach lieben musste. Eigentlich war er sogar ein Arschloch, doch vor allem war er jemand, den Gott nur für mich gemacht hatte.

Er war witzig, besorgniserregend schön, dauergeil, und wäre es nicht so traurig gewesen, hätte man seinen Selbstzerstörungstrieb sexy nennen können. Vielleicht war so was sexy gewesen, als wir noch jünger waren – aber es hatte sich längst von sexy in dämonisch verkehrt. Trotzdem hatte er immer noch Macht über mich, erklären konnte ich es nicht, aber es wäre mir nie in den Sinn gekommen, nein zu ihm zu sagen.

Es dauert nur eine halbe Sekunde, bis all diese Gedanken mein Hirn durchfluten, aber ich merke, dass er bereits sauer ist, weil ich fürs Wiedererkennen so lange brauche. Als wollte er mich provozieren und abwarten, ob ich es wage, ihn nicht reinzulassen.

Er sagt nichts, was mich irritiert, denn als es das erste Mal passierte, knallte es gewaltig – nun taucht er zum zweiten Mal völlig neben der Spur bei mir auf, und ich sage mir, nie wieder, aber das habe ich auch schon beim letzten Mal und jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.

Beim ersten Mal stand er komplett neben sich und war völlig irre. Eine extrem aktive Dissoziation. Er hatte Krämpfe, keuchte, würgte. Er machte Sachen kaputt und brüllte, dass ich mich aus seiner Wohnung verpissen sollte, dass er mich umbringen würde. Die Stimmung wandelte sich so schnell, dass ich nur stumm da stand. Er zog Shirt und Hose aus, und die Einstichstellen auf seinen Armen und Beinen erinnerten mich an Sternbilder. Er legte sich auf die Couch, sprang aber im nächsten Moment wieder auf; in Unterwäsche rannte er aus meiner Wohnung, ich lief ihm nach, verfolgte ihn, rief ihm hinterher, er solle zurückkommen, doch er rannte schneller und schneller. Das ist Jahre her. Ich war davon ausgegangen, dass er längst tot ist, und hatte die Erinnerungen an ihn begraben.

Dieses Mal ist er ruhiger. Er hat keine Energie mehr und ist so dünn, dass ich weinen möchte. Ich rasiere ihm den Schädel, lasse ihm ein Bad ein und schmeiße seine stinkenden, zerlumpten Klamotten weg. Ich schaue nach, ob ich saubere Sachen habe, damit er später bei mir im Bett liegen kann. Weil ich weiß, dass er innerlich verbrennt und sich beim Schlafengehen am liebsten unter eine kühle Decke legt, drehe ich die Klimaanlage hoch. Das habe ich aus der Zeit, als wir zusammen wohnten, noch in Erinnerung.

Vor fünfzehn Jahren war es noch seine Wohnung. Heute regen sich die Leute über die Preise in der Stadt auf, aber, mein Gott, selbst als man für eine Ein-Zimmer-Wohnung noch 650 Dollar zahlte, konnten wir sie uns kaum leisten. Ich war aus meiner Bude rausgeflogen, und er ließ mich bei sich einziehen, weil er mich in seiner Nähe haben wollte. Er wollte Ehepaar spielen. Und es lief gut. Oder sagen wir, es lief länger gut, als ich erwartet hatte.

Meinetwegen hätte er mit dem Kopf unter dem Arm vor meiner Tür stehen können, ich hätte ihn trotzdem reingelassen – so sehr fühle ich mich ihm gegenüber überflüssigerweise verpflichtet. Als wir jung waren, sagte ich zu ihm: «Nein, ich werde dich niemals verlassen» – und er hielt mich im Klammergriff meines Versprechens wie ein Fangeisen eine Bärentatze.

Ich lasse ihm ein Bad ein und helfe ihm in die Wanne. Der Junge, der mir gefehlt hat, existiert schon sehr, sehr lang nicht mehr. Aber von dem, was von ihm noch da ist, kann ich mich nicht trennen. Der ehemals große, schöne Stern ist unter seinem eigenen Gewicht kollabiert und hat sich in ein schwarzes Loch verwandelt.

Ich erinnere mich an die Zeit, als wir jünger waren – er war derjenige, der mich ausgesucht hatte. Das weiß ich noch. Ich kellnerte in dem Diner um die Ecke von dem Laden, wo er Barkeeper war. Wir können nicht älter als zweiundzwanzig gewesen sein. Nach seiner Schicht schaute er im Diner vorbei, eine Woche lang kam er jede Nacht um Punkt drei Uhr rein. Er saß immer auf demselben Platz und glotzte mich an. «Haben Sie noch einen Wunsch, Sir?», fragte ich. «Ja, aber nichts, was auf der Karte steht», antwortete er dann mit freundlichem Zwinkern und hielt sich noch ein halbe Stunde an seiner Tasse Kaffee fest. Ich sah, wie er jede meiner Bewegungen mit den Augen verfolgte, und fand das ziemlich unhöflich. Nachdem ich bei ihm eingezogen war, meinte er, so habe er nicht rüberkommen wollen, und sagte: «So was wie dich hatte ich noch nie gesehen.» Bis heute hat er mir nicht erklärt, was er damit meinte. So was wie mich? Meinte er einen Punk, der in einem Diner arbeitet? Mein Gott, damals WIMMELTE es in der Stadt nur so von Jungs wie mir. Oder meinte er einen Schwarzen wie mich? Oder meinte er jemanden außerhalb des Mengendiagramms der sozialpolitischen Identitätspolitik?

Ich kann nur vermuten, dass er Schwarz meinte, weil er uns beide, obwohl er mich liebte, nie als etwas Gleiches ansah. Ich wusste, dass ich in seinen Augen «anders» war, und sollte eines Tages auch erfahren, warum das so war.

Vom Aussehen her war er der Typ Cholo – wenigstens hätten sich die sexuellen Erwartungen bei seinem Anblick in diese Richtung bewegt. Er war Mexikaner, eins neunzig, etwas kräftiger gebaut, mit dem Gesicht eines gefallenen Engels (überall tätowiert) und hatte genau den Style: besprühtes Skateboard, schwarzer Hoodie, Giants-Cap. Um seinen Hals hing eine Goldkette mit Kruzifix, auf das ich mich konzentrierte, wenn er es trug, also praktisch jeden Tag. Ich hatte genug Jungs mit katholischem Dachschaden gefickt, um zu wissen, dass einer, der ein Kruzifix um den Hals trägt, definitiv eine Nutte ist. Dieser war eine Nutte. Trotzdem war die ganze scheiß Aufmachung totaler Fake, denn sein Arsch war so Orange County wie eine Shoppingmall direkt neben Disneyland.

Ich weiß noch, wie er mich an Thanksgiving nach Südkalifornien schleppte, damit ich seine Familie kennenlernte. Ich hatte mit einem spanischen Festmahl à la Kolonialzeit gerechnet, mit Tamales oder Mole, doch dann hing im Wohnzimmer seiner Familie eine gerahmte amerikanische Fahne, und ich glaube, seine Mutter war beleidigt, weil ich sie wohl entgeistert angesehen habe, als sie an Thanksgiving ein Fertiggericht auftischte. Außerdem lief die ganze Zeit der Fernseher mit den Nachrichten. Ich kam mir vor wie in der Hölle und bekam Mitleid mit ihm. Wie war es möglich, dass dieser Mensch hier aufgewachsen war?

Ich weiß noch, dass er mal zu mir sagte: «Ich find’s toll, dass du von irgendwo herkommst – ich hab nicht das Gefühl, von irgendwo herzukommen.» Ich dachte wieder an Thanksgiving und wusste sofort, was er meinte. Doch das war nur eine der vielen Leerstellen in seinem Leben, eins der vielen Löcher, die er mir so gerne zeigte.

Ich musste nicht erst in eine Glaskugel blicken, um seine Probleme zu erkennen. Er hatte die Angewohnheit, sie gut sichtbar vor mir auszubreiten.

Als wir zusammen wohnten, hatte er zum Beispiel noch andere Boyfriends – etliche Daddys, aber auch Jungs in unserem Alter. Manchmal musste ich einen kennenlernen, und es war immer dasselbe. Irgendein bizarrer Typ, der außerhalb unserer Welt existierte; er versuchte immer, sich «hochzudaten». Mit keinem dieser Männer lief es lang, und ich fand es scheißunhöflich, dass er den Nerv hatte, mir seine Nutten vorzuführen.

Aber mich hatte er nun mal zu seinem Liebling auserkoren, und lange Zeit waren wir glücklich. Jedenfalls länger, als ich erwartet hatte.

Aus unseren ersten Begegnungen erwuchsen Nächte, in denen wir komplett zugedröhnt bis weit nach Sonnenaufgang durch die Stadt zogen. Er tauchte in meinem Diner auf, mit Tütchen von irgendwelchen Drogen, die er in seiner Bar abgestaubt hatte. Wir zogen uns alles rein, warteten das Ende meiner Nachtschicht um sechs Uhr früh ab, begaben uns zu dieser einen Bar, die rund um die Uhr geöffnet hatte, und feierten dort bis in den Nachmittag. So machten wir es gefühlte Jahre, in Wahrheit waren es wohl nur ein paar Monate. Mit ihm kam mir die Zeit immer verschwommen und verzerrt vor. Ein Tag mit ihm fühlte sich an wie eine Stunde und gleichzeitig ein ganzes Leben. Das war die Art Liebe, die uns verband.

Ich weiß noch, eines Nachts prügelten wir uns sternhagelvoll wegen gar nichts in einer Bar und flogen raus. Etliche Blocks weiter versöhnten wir uns in einem Ladeneingang – wir hockten uns auf den Boden, knutschten rum und hatten dann auf der Straße Sex, drei Leute kamen vorbei und blieben nicht mal stehen. Gott schütze San Francisco.

In einer anderen Nacht meinte er total besoffen zu mir, wenn ich ihn wirklich liebte, würde ich alles tun, was er von mir verlangte. Ich erwiderte: «Ja, ich liebe dich. Ich würde alles tun, was du von mir verlangst.» Daraufhin zog er mich am Arm unter einen Sattelschlepper, der vor einer roten Ampel hielt. Dort machten wir eine halbe Ewigkeit rum, dann hörten wir das Getriebe und liefen weg, bevor uns der Laster überfahren konnte.

Natürlich gab es auch Regeln – er bezeichnete mich nie als seinen Boyfriend. Wir vögelten zusammen, wohnten zusammen und wären beim Feiern fast zusammen draufgegangen – das komplette Scheißprogramm. Aber er war der Liebhaber und ich der Geliebte. Ich musste alles tun, was er von mir verlangte; als wären wir so ein inzestuöses Geschwisterpaar, ich der jüngere Bruder, der sich immer nach dem anderen richtet, was schon komisch war, denn wir waren ja gleich alt.

Meine Beziehung zu ihm war eine besondere Form von Mindfuck – wir benahmen uns wie Boyfriends, obwohl wir es offiziell nicht waren, in Wahrheit jedoch schon. Wir machten alles, was Leute machen, die sich zu gut kennen. Oft wechselten wir einander darin ab, tödlich gelangweilt zu sein. Wenn ich körperlich oder mental präsent war, war er es nicht – sogar, wenn wir am selben Tisch aßen oder im selben Bett miteinander Sex hatten.

Es fing damit an, dass er immer öfter nicht nach Hause kam. Er stand auf ältere Daddys, vor allem solche, die ihn auf Pfade lockten, die finsterer waren, als er sie für mich vorgesehen hatte. Er gab damit an, dass er tagelang bei dem einen Daddy mit den blickdichten Ledervorhängen rumhockte, Drogen nahm und kein Tageslicht sah. Irgendwann hatte ich genug davon, ihn nach seinen Exzessen wieder aufzupäppeln. Ich hatte immer das Gefühl, seine Daddys wollten alles Gute an ihm mit den Drogen, die sie in ihn reinpumpten, abtöten und ihn in ein zugedröhntes Porno-Püppchen verwandeln. Waren sie mit ihm fertig, musste ich die Scherben wieder zusammenkleben. In einem Winkel meines Hirns muss ich – obwohl alle Faktoren dagegen sprachen – geglaubt haben, er würde mich bitten, ihn zu heiraten. Doch irgendwann wurde mir klar, dass ich für ihn nie mehr sein würde als ein Krankenpfleger und Ersatz-Boyfriend. Hätte er mich Jahre zuvor nicht vor der Obdachlosigkeit bewahrt, ich hätte mich von seinem Zauber womöglich lösen können, doch seine frühere Großzügigkeit hielt mich wie ein Sicherheitsgurt in meiner Position. Die Fahrt ging immer weiter, Aussteigen unmöglich. Inzwischen sind wir beide zweiunddreißig.

Ich weiß noch, dass seine Abwesenheit in der Wohnung irgendwann zum Dauerzustand wurde. Ich hörte nichts mehr von ihm, und er zahlte keine Miete mehr. Fast befürchtete ich, er wäre tot, doch dann stand er auf einmal wieder vor meiner Tür. Als er unsere ehemalige gemeinsame Wohnung sah, muss ihm klar geworden sein, dass ich mein Leben ohne ihn weiterlebte, und vermutlich rastete er deswegen so aus. Allerdings verstehe ich nicht, warum er einfach ausblendete, dass er es war, der mich verlassen hatte.

Ich ziehe ihm eine weiße 130-Dollar-Jogginghose von Champion an, die ich mir vor Kurzem bei einem Shoppingtrip auf Pillen gekauft habe, und kombiniere sie mit einem weißen 130-Dollar-Hoodie, weil ich ihn in teure Sachen hüllen und in mein bequemes Bett legen will.

Ich betrachte seinen Körper und weiß, er wird nicht schlafen können. Die Drogen brettern durch ihn hindurch wie ein Güterzug. Ich kenne seinen Körper so gut wie meinen eigenen, auf den Torso hat er sich unsinnig viele Pro-USA-Tattoos im Taylor-Jerry-Style stechen lassen, sie ziehen sich über seinen Bauch und die Brust, doch über dem linken Schlüsselbein fangen die seltsamen Aztekenmotive an. Diese Phase begann, als er nach San Francisco zog und «woke» wurde. Vom Schlüsselbein bis über den Hals zieht sich der Umriss eines aztekischen Kriegergotts, dessen Hand, wie mir einfällt, sich genau dort befindet, wo die Halsschlagader wie irre Blut pumpte, wenn er high war. Manchmal hatte ich zugeschaut, wie sie sich auf und ab und auf und ab bewegte, und mich dabei fast selbst hypnotisiert.

Ich fülle eiskaltes Wasser in einen Eimer, lege einen Waschlappen über den Rand und stelle ihn neben das Bett. Ich lasse die Nachttischlampe an und bleibe die ganze Nacht mit ihm wach. Jedes Mal, wenn ich sein Gesicht mit dem kalten Waschlappen abwische, sage ich: «Du benimmst dich jetzt anständig. Und kommst zu mir zurück.»

100 Boyfriends

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