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STRICHER (ERSTER TEIL)

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1

Die Schreibblockade hatte mich an den Eiern gepackt, und ich konnte sie einfach nicht abschütteln. Ich saß da und schaute zu, wie sich die Nächte in endlosen Wodkafontänen auflösten. An einem Nachmittag hatte ich dann das Gefühl, mich hätte der Blitz getroffen.

Vitamin C … ich brauche einen Liter, dachte ich.

Völlig zerschlagen war ich aufgewacht, die grelle Sonne auf dem Gesicht. Es war brutal, als wollte mich die Natur daran erinnern, was für ein schlechter Mensch ich war. In Wahrheit war ich kein schlechter Mensch – nur verkatert. Da kommen solche Gefühle schon mal hoch.

Allerdings war ich, wie ich zugeben muss, in schlechter Verfassung. Das fiel schon auf. Freunde redeten darüber. Ich war bei Jobs rausgeflogen. Das einzig Gute war, dass die meisten meiner Freunde ebenfalls Fehler machten und ich mir keine verächtliche Kritik anhören musste, trotzdem merkte ich es. Ich wusste von ihrem Geläster, das musste mir niemand erst sagen. Mein innerer Kompass schlug Alarm.

Einige Freunde waren gestorben, andere tauchten ab, weil sie Eltern wurden und wegzogen, alt und schlaff wurden und wegzogen, oder in aller Stille verrückt wurden und wegzogen – alles lief aufs Gleiche hinaus. Das Klima wurde kälter.

Ich, seit sechs Stunden zum ersten Mal nüchtern, bekam Angst. Ich musste Druck ablassen. Ich wollte einen Stricher.

Eigentlich war ich immer noch ein schöner Mann – wenigstens sagte meine Mutter das oft zu mir –, aber ich wollte mehr Kontrolle haben. Ich wollte jemanden für ein bestimmtes Erlebnis zu einer bestimmten Uhrzeit bezahlen, damit wir hinterher auch ganz bestimmt wussten, dass es das gewesen war. Ich wollte einen Stricher.

Kennengelernt hatte ich ihn schon vor Jahren; inzwischen wohnte er in Los Angeles. Er war hollywoodhübsch, aber nicht unerreichbar. Er war im Fernsehen, setzte sich für die Rechte von Schwarzen ein und zog sich an wie ein Stricher vom anderen Stern.

«Wie viel?», textete ich ihm.

«Für dich 200, weil du du bist», antwortete er.

In Lederjacke und Leoprint-Bike-Shorts kam er bei mir an. Obwohl ich mich für «groovy» halte, zuckte ich innerlich zusammen. Mir wäre es lieber gewesen, er wäre wie bei all seinen anderen Kunden in Hetero-Verkleidung erschienen und hätte sich als Chad oder Jonah ausgegeben. Stattdessen schaute er mich beim Reinkommen so warmherzig an, als wollte er sagen, okay, ich kriege Geld für Sex mit einem Freund.

Sein Doggy-Style war auf den Punkt; sein Schwanz, seine Technik waren auch nicht ohne, man merkte, dass er mit Ficken seine Brötchen verdiente. Um ihn zu beeindrucken, lieferte ich eine pornoreife Bottom-Show ab; ich versuchte so sehr, ihn zu beeindrucken, dass ich mich irgendwann fragte: «Halt stopp – ich bezahle ihn, muss er da nicht mich beeindrucken?»

Ich kam drei Mal.

Ich drehte mich auf dem Bett auf die Seite und schaute ihm in die Augen. Es war einer dieser merkwürdigen «du bist echt hübsch»-Blicke, als würde man etwas anschauen, das weit weg ist und doch genau vor einem. Ihm fiel das auch auf.

«Du brauchst dringend was zu trinken, das seh ich dir an», sagte er.

«Mit Alkohol ist die Welt viel klarer», erwiderte ich. Wir lachten, obwohl die Bemerkung treffender gewesen war, als ich beabsichtigt hatte.

Wir knutschten erneut rum.

Ich bat ihn, unseren gemeinsamen Freunden nichts von dem Vorfall zu erzählen. Außerdem fragte ich, ob es unsere Freundschaft beeinflussen würde, sprich: ob ich jetzt bis in alle Ewigkeit für Sex mit ihm bezahlen musste oder ob gelegentlich auch eine Gratis-Nummer drin wäre.

«Klar», sagte er, aber ich war mir nicht sicher, welchen Teil der Frage er meinte.

2

Mike war der erste Stricher, mit dem R. J. jemals zusammengewohnt hatte. Sie waren beide neunzehn und wohnten in dieser Fabriketage in Tenderloin. Verschiedene Faktoren hatten die Jungs dort hingeführt, eine schwindelerregende Mischung aus Abenteuerlust und Familienfrust, und wo hätte man in San Francisco für fünfhundert Dollar sonst unterkommen sollen? Es war das Jahr 2002 und beide wollten endlich Risiken eingehen, Fehler machen und das mit dem Erwachsensein ausprobieren.

Mike war gay as fuck, aber aus irgendeinem Grund mit dieser Frau zusammen, mit der er in der Fabriketage in einem Zimmer hauste. R. J. hatte den Verdacht, ihre Liebe würde von der gemeinsamen Leidenschaft für Methamphetamine befeuert, und lag damit richtig. Als Mike und R. J. sich wie immer einen Becher abgestandenen Kaffee und ein Croissant teilten, erklärte Mike, dass Lisa, das Mädchen, für die Miete aufkäme und er anschaffen ginge, um für beide Speed zu kaufen. «Ist perfekt so», sagte er und zog R. J. aus dem Café und weiter zum nächsten Termin.

R. J. bewunderte Mike sehr; obwohl sie gleich alt waren, war Mike im Herzen der Ältere. R. J. war erst vor Kurzem aus einem verschlafenen New-England-Nest, wo es weder Drogen noch sexuelle Gefahren gegeben hatte, nach San Francisco gekommen. Er streifte gern durch die Stadt, und sein Herz schlug selbst an ruhigen Tagen vor Aufregung schneller.

Hier kann alles passieren, dachte er oft.

Mike war in der Nähe der Stadt aufgewachsen, ohne dass ihm seine Eltern wegen seiner Herumtreiberei ständig Vorwürfe gemacht hatten. Seit frühester Jugend hurte er sich schon durch S. F., und nun gab er sein Wissen an seinen neuen Bruder R. J. weiter. So hatte er R. J. an diesem Morgen beispielsweise den Tipp gegeben, nicht die superkurzen Shorts anzuziehen, aus denen Hintern und vordere Hosentaschen raushingen.

«Du musst dich anziehen wie ein Junge, sonst kriegen wir kein Geld», erklärte Mike, während er obszön viel Old-Spice-Deo unter seinen Achseln verteilte.

Sie waren durch Tenderloin gelaufen und hatten jeden Mann, der älter als dreißig aussah, um Kleingeld oder Bustickets angehauen. Mike konnte den Leuten alles abschwatzen. Deshalb überließ R. J. ihm immer das Reden. Fünf Dollar oder so hatten sie schon zusammen, und Mike sagte zu R. J.: «Weißt du, was ich will? Wandel! Und wenn, dann will ich radikalen Wandel, also, alles soll sich auf einmal um hundertachtzig Grad drehen. Dann ist es nämlich aufregender.»

Für R. J. war alles, was Mike sagte, die absolute Wahrheit, und sei es nur, weil Mike immer so überzeugt klang. Oft fragte er sich, wie der Motor in Mikes Kopf arbeitete; er stellte sich seine Gedanken wie Zündkerzen vor, die die nötigen Funken erzeugten – dem Satz mit dem radikalen Wandel war außer einem langen Schweigen nämlich nichts vorausgegangen.

«Wir sind da», sagte Mike, und beide blieben abrupt stehen.

Sie waren bei einem der vielen versteckten Pornofilmstudios in South of Market angekommen. Mike hatte schon bei Filmen mitgewirkt und Wind von einer Zeitungsanzeige bekommen, in der Bottoms gesucht wurden, die sich von einem Dildo-Roboter namens «The Butt Machine» ficken lassen sollten. R. J. war noch nie der Bottom gewesen und hatte so etwas Furchteinflößendes wie die Maschine noch nie gesehen.

Der Regisseur, der sie reinließ, führte sie durch einen Raum, der wohl eine Gefängniszelle darstellen sollte, es hingen sogar Ketten an der Wand. «Ihr lasst euch von der Maschine zwanzig Minuten ficken und kriegt dafür hundertfünfunddreißig Dollar und wir stellen es dann ins Internet. Könnt ihr euch mal ausziehen?»

Sie schlüpften aus ihren Klamotten, und zehn Sekunden später sagte der Regisseur, sie sollten sich wieder anziehen.

«Ruf du mich mal an», sagte der Regisseur und drückte Mike seine Karte in die Hand.

Die beiden Jungs gingen zurück in ihre Fabriketage, wo sie noch ein halbes Jahr zusammen wohnten, bis Mike auf Speed kollabierte und wegziehen musste.

Ein paar Jahre später sah R. J. ihn in einem Zug, Mike hatte stinknormale Sachen an und saß neben zwei stinknormalen Männern.

R. J. ging zu ihm. Mike umarmte ihn, küsste ihn, schaute ihm tief in die Augen und fragte: «Sorry, ist so lange her, wie heißt du nochmal?»

3

Er war ein gut aussehender, älterer Schwarzer. In den 1980ern und 90ern hatte er irgendeinen wichtigen Job gehabt, sich aber schon vor vielen, vielen Jahren aus dem Geschäft zurückgezogen – das erzählte er mir wenigstens.

Er bestellte mich immer ins Arbeitszimmer seines Lofts. Dort standen Bücher, sooooooo viele Bücher. Kunst an der Wand, ein Tisch mit Computer und ein schwarzes Ledersofa, auf dem er nackt saß, während ich davor kniete und ihm den Schwanz lutschte. «Du bist der hübscheste Junge, den ich je hatte. Sei lieb zu Daddy», sagte er. Ich war zwanzig und hatte das Gefühl, er sagte das zu allen Jungs. Trotzdem hörte ich es gern.

Ich ging auf den Strich, weil das alle meine Bekannten taten. Ich glaubte, ihnen beweisen zu müssen, dass ich es ebenfalls konnte. Als es noch legal war, hatte ich auf den hinteren Seiten der schwulen Castro-Zeitung eine Anzeige geschaltet: «Bester Blowjob, vernünftiger Preis.» Er war mein erster Stammkunde.

Beim allerersten Termin kniete ich vor ihm und blies ihm einen, als er den tätowierten Frauennamen auf meiner Brust sah. «Ist das deine Freundin?», fragte er.

«Nein», antwortete ich, «meine Mutter.» Er zuckte merklich zusammen und spritzte quer über mein Tattoo. Ich war viel zu jung, um zu wissen, dass er niemals mein Stammkunde hätte werden dürfen.

Sein Körper war rund und weich und warm. Hinterher hielt er mich manchmal in den Armen, und die anderen Jungs meinten, dafür müsste ich ihm extra was berechnen, aber das tat ich nicht. Er fühlte sich zu gut an. Vielleicht fühlte sich auch nur die Aufmerksamkeit gut an. Jedenfalls ließ ich ihn einfach machen. Ich spürte, wie mich eine Hand sanft streichelte und mir langsam die Kontrolle entzog, aber ich war noch zu jung, um zu wissen, dass dich alle Männer, die dir etwas wegnehmen wollen, superzärtlich berühren. «Du bist der hübscheste Junge …» Er sagte das so oft, bis ich es irgendwann glaubte.

Ich nahm nur fünfzig Dollar für Termine, die lediglich einen Blowjob umfassen und eine Stunde dauern sollten, sich aber zu sehr viel mehr entwickelten und erst bei Sonnenaufgang endeten.

Irgendwann musste er Frau und Kinder gehabt haben, so viel reimte ich mir zusammen. Ältere Fotos, auf denen er eine Frau und zwei kleine Jungs umarmte, hingen überall in seinem Loft – im Flur und im Wohnzimmer, den einzigen Räumen, die ich, abgesehen von Bad und Arbeitszimmer, betreten durfte. Mein Verdacht bestätigte sich, als er zu mir sagte: «Weißt du, ich hab Söhne in deinem Alter.»

Wenn ich zu ihm kam, führte er mich jedes Mal in sein Arbeitszimmer. Ich wusste nur, wenn ich ihm in einem Monat oft genug den Schwanz lutschte (er holte mich viermal im Monat zu sich, immer nur am Wochenende), dann hatte ich genug Geld für Gras oder die neuesten Jordans zusammen. Ich liebte ihn – wenigstens glaubte ich, Liebe würde sich so anfühlen.

Einmal zündete er sich, nachdem ich ihm einen geblasen hatte, eine Zigarette an und sagte: «Du bist nicht wie andere Jungs – du bist gern bei Daddy.» Er hatte recht.

An einem Wochenende ging er mit mir wandern. Unterwegs fiel er über mich her und riss mir Hose und Unterhose runter. Er nahm mich mitten auf dem Wanderweg, was mir peinlich war, weil ja jederzeit Leute hätten vorbeikommen und uns sehen können.

Aber nein sagen, konnte ich nicht. Ich fand es aufregend, auf einem Wanderweg mitten in der Natur gefickt zu werden. Als wäre ich etwas Besonderes. Aber ich wusste auch, auf lange Sicht würde das mit uns nicht halten.

Eines Tages sah ich ihn dann auf der Straße, mit zwei jungen Männern in meinem Alter. Seine Söhne, wie ich vermutete. Als ich näherkam, trafen sich unsere Blicke und er schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: «Nein – nicht hier, nicht jetzt.» Gern wäre ich gekränkt gewesen, aber in Wahrheit war dieser Mann eben ein Fremder, nicht mein Vater. Wie wenig man sich auf Männer im Allgemeinen verlassen kann, sollte ich kurz darauf erfahren. An dem Tag ging ich einfach weiter.

Die Jahre vergingen und wir mit ihnen – irgendwann funktionierte sein Schwanz nicht mehr, und ich entwickelte mich vom Stricher zum Kellner zum College-Absolventen. Ich musste nicht mehr für Geld ficken und überließ das den Jüngeren.

Ich weiß noch, dass er bei unserer letzten Begegnung richtig geschockt war, weil meine Haare bereits grau wurden. Wir verloren uns natürlich aus den Augen, aber immer, wenn ich an ihn denke, fällt mir wieder ein, wie hübsch ich bin.

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