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1. Ein unauffälliges Leben

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Wer war Bruder Lorenz? Wann und wo hat er gelebt? Was hat er gemacht? Was hat er erlebt? Wie ist er zu dem geworden, als der er in die Geschichte der christlichen Kirche eingegangen ist?

Wir wissen nicht viel von ihm. Um die kärglichen Fakten seiner Lebensgeschichte aufzuzählen, genügt eigentlich eine halbe Buchseite. Bruder Lorenz hätte mit seinem Zeitgenossen Paul Gerhardt (1607–1676) bekennen können:

An mir und meinem Leben ist nichts auf dieser Erd. Was Christus mir gegeben, das ist der Liebe wert.

Nein, er wollte nicht bekannt werden, und schon gar nicht berühmt. Was andere von ihm dachten, war ihm offenbar gleichgültig. Ihm war es nur recht, wenn er in seiner Klosterküche in aller Verborgenheit seinem Gott dienen konnte. Vergessen werden war ihm eine Freude.

Hier also die spärlichen Daten und Fakten. Wann er geboren ist, wissen wir nicht genau. Da er bei seinem Tod im Jahr 1691 etwa achtzig Jahre alt war, muss er irgendwann um 1610 geboren worden sein. Sein Geburtsort ist Hériménil, in der Nähe von Lunéville im damaligen Herzogtum Lothringen gelegen. Seine Eltern ließen ihn auf den Namen Nikolaus taufen. So hieß er mit bürgerlichem Namen Nicolas Herman. Von seinen Eltern wurde er gewissenhaft im Glauben der römisch-katholischen Kirche erzogen, hat aber offenbar keine Schule besucht. So standen ihm auch nur einfache, ungelehrte Berufe offen. Schon früh wurde er Soldat, dann, nach einer in einem Gefecht erlittenen Verwundung, Diener des fürstlichen Schatzmeisters Fieubet. Im Alter von gut fünfundzwanzig Jahren, im Juni 1640, trat er in das Kloster der Karmeliten in Paris ein und blieb dort bis an sein Lebensende.

Der Entscheidung, Mönch zu werden und in ein Kloster einzutreten, war eine höchst ungewöhnliche »Bekehrung« vorausgegangen. Bruder Lorenz hat sein Erlebnis selber so beschrieben: »Anlässlich meiner Bekehrung hat Gott mir eine besondere Gnade erwiesen. Ich lebte damals noch in der Welt und war achtzehn Jahre alt. Eines Tages betrachtete ich im Winter einen Baum, der zu dieser Zeit alle seine Blätter verloren hatte. Ich stellte mir vor, wie die Blätter nach einiger Zeit wieder hervorkommen würden und bald darauf die Blüten und schließlich die Früchte. Dabei gewann ich eine tiefe Einsicht in die Fürsorge und Allmacht Gottes, eine Einsicht, die später nie mehr aus meiner Seele ausgelöscht wurde. Dieser Eindruck hat mich ganz von der Welt losgemacht und eine so starke Liebe zu Gott in mir erweckt, dass ich nicht sagen kann, ob diese Liebe sich bei mir in den vierzig Jahren, die verflossen sind, seit ich diese Gnade empfing, noch vermehrt hat« (vgl. Seite 40). Dass er gerade bei den Karmeliten um Aufnahme bat, mag auch darin seinen Grund haben, dass ein Onkel Mitglied dieses Ordens war.

Die Karmeliten? Unter den Orden der römisch-katholischen Kirche ist dieser Orden einer der strengsten. Die Mönche folgen konsequent einer kontemplativen Berufung, leben also ein Leben des Schweigens, des Gebets und der Meditation. Der Name »Karmeliten« erinnert an den biblischen Berg Karmel, den Berg, auf dem der Prophet Elia mit den Baalspriestern um den Glauben an den einen wahren Gott, den Gott Israels, stritt (1. Könige 18). Der Prophet Elia steht aber auch für eine ganz besondere Gotteserfahrung, als ihm der lebendige Gott in einem »stillen, sanften Sausen« (Luther), in einem »verschwebenden Schweigen« (Buber) begegnete, und nicht in den spektakulären, zerstörerischen Erscheinungen von Sturmwind, Erdbeben und Feuer (1. Könige 19,9 ff.).

Im Kloster durchlief der junge Mann das zweijährige Noviziat. Nach dessen Beendigung wurde er von seinen Oberen zur Ablegung der »ewigen« (endgültig bindenden) Gelübde zugelassen. Dies überraschte den demütigen jungen Bruder sehr; seiner Selbsteinschätzung nach machte er alles verkehrt und taugte zu nichts. Als Mönch erhielt er den Namen »Bruder Lorenz von der Auferstehung«, und so kennen wir Nikolaus Herman heute eigentlich nur unter dem Namen »Bruder Lorenz«.

Seine Oberen machten ihn zum Küchenmeister und vertrauten ihm die Klosterküche an. Wie Bruder Lorenz selbst gelegentlich sagte, war dies wahrhaftig nicht sein Traumberuf; er hatte »von Natur aus eine ausgesprochene Abneigung« gegen die Küchenarbeit. Fünfzehn Jahre lang übte er das Amt des klösterlichen Küchenmeisters aus. Später durfte er als Schuster seinen Brüdern die Sandalen flicken.

Dem Bruder Lorenz waren solche Arbeiten gerade recht. Nie hätte er diese Dienste als zu niedrig oder gar als unter seiner Würde eingestuft. Im Gegenteil, er liebte die einfachsten Arbeiten, gaben sie ihm doch die Möglichkeit, seiner Berufung zu folgen, alles nur aus Liebe zu Gott zu tun und Gott in und mit diesen einfachen Verrichtungen zu dienen und anzubeten.

Wer das eigene Zeugnis des Bruders Lorenz über seine Erfahrungen liest, wird vor allem fasziniert sein von der unglaublichen Freude, die er bei seiner Arbeit erlebte. »In beständiger Freude« bringe er sein Leben zu, so hat er es selbst einmal gesagt (vgl. Seite 54). Und diese Freude war offenbar nicht aufgesetzt, nicht eingebildet oder aufgezwungen, sondern echt und glaubwürdig. So erlebten ihn jedenfalls seine Mitbrüder und bald auch die Besucher, die ratsuchend ins Kloster kamen und den stillen Bruder um Wegweisung für ihr Seelenheil baten. Auf diese Weise wurde Bruder Lorenz bekannt, obwohl er die Verborgenheit liebte.

So lebte Bruder Lorenz in ruhigem Gleichmaß seinen Glauben und seine Gottesliebe, unauffällig und ohne Stress, so wurde er alt und älter, bis er nach einer nur wenige Tage währenden Krankheitszeit am 12. Februar 1691 für immer die Augen schloss. Er starb, wie die Alten sagten, »selig«. Über seine letzten Tage und Stunden gibt Gerhard Tersteegen (Seite 323 f.) den folgenden Bericht, den wir hier im Wortlaut, ohne sprachliche Überarbeitung, wiedergeben:

Da nun der Bruder Lorenz bei seinem Leben seinen Gott so brünstig geliebt, so liebte er Ihn nicht weniger in seinem Tode. Er übte noch immer Taten der Liebe aus; und als er von einem Bruder gefragt wurde, ob er Gott aus ganzem Herzen liebe, da antwortete er: »Ach, wenn ich wüsste, dass mein Herz meinen Gott nicht liebte, so wollte ich es sogleich ausreißen.« Seine Krankheit wurde zusehends immer größer, so dass man ihm das Abendmahl reichte, welches er freudig, mit völliger Erkenntnis und gesundem Verstand (welchen er bis zum letzten Atemzug behalten), empfangen.

Ob man ihn schon Tag und Nacht keinen Augenblick allein gelassen, sondern ihm alle mögliche Hilfe geleistet, die er von der Liebe seiner Mitbrüder hoffen konnte, so hat man ihn doch, nachdem er das Heilige Abendmahl empfangen, ein wenig ruhen lassen, um die letzten, so schätzbaren Augenblicke des Lebens sich noch zunutze zu machen, und die hohe Gnade, so er von Gott empfangen, zu betrachten. Er hat diese Zeit sehr nützlich angewendet, und Gott um Beständigkeit bis ans Ende in seiner heiligen Liebe angerufen. Ein Geistlicher fragte ihn, was er mache, und womit sein Geist beschäftigt wäre? Dem gab er zur Antwort: »Ich tue jetzt, was ich in alle Ewigkeit tun werde; ich preise Gott, ich liebe Gott, ich bete Ihn an, und liebe Ihn von meinem ganzen Herzen. Dies ist unser ganzes Geschäft, meine Brüder, dass wir Gott anbeten, und Ihn lieben, ohne uns um das übrige zu bekümmern.«

Ein Geistlicher bat ihn, er möchte für ihn von Gott den wahren Geist des Gebets erbitten. Diesem gab er zur Antwort, er müsste seinen Fleiß mit beitragen, und seinerseits sich dahin bearbeiten, dass er dazu würdig gemacht würde. Dies waren die letzten Ausdrücke seines Herzens. Des andern Tages, am 12. Februar 1691, am Morgen um 9 Uhr, starb Bruder Lorenz von der Auferstehung, ohne Todeskampf, ohne jede Verstellung oder Zucken der Glieder, bei gutem Verstande, unter den Umarmungen des Heilandes, und übergab seinem Gott seine Seele in solchem Frieden und Stille, als einer, der einschläft. Denn sein Tod ist nichts anderes gewesen als ein süßes Einschlummern, welches ihn aus diesem elenden Leben, worin er ungefähr achtzig Jahre alt geworden, in die ewige Freude versetzte. Dort ist nun sein Glaube in ein klares Schauen, seine Hoffnung in eine völlige Besitzung verwandelt, und seine hier angefangene Liebe mit einer ewigen, vollkommenen Liebe gekrönt worden.

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