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Jugenderinnerungen

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Durch die Verkaufstätigkeit meiner Mutter in unserem kleinen Ortskonsum war ihr die Verwaltungsstelle der Konsumgenossenschaft Brandis im Nachbarort bekannt. Wir kamen überein, dass ich mich dort als Lehrling Fachverkäufer für Schuh- und Lederwaren bewerben würde.

Am 1. September 1968 begann meine Lehre. Diese umfasste eine Lehrzeit von zwei Jahren. An einer Lehre im Lebensmittelhandel hatte ich kein Interesse. Die praktische Ausbildung fand zu Beginn größtenteils in zwei Verkaufsstellen in Brandis statt. Das waren das Schuhwaren- und das Lederwarengeschäft.

Die Lehrzeit machte mir sehr viel Spaß, besonders auch die Berufsschulzeit. Die Schule befand sich in Leipzig. Dort war natürlich alles ganz anders. Ich fuhr an den Berufsschultagen von Waldsteinberg nach Leipzig. Zuerst musste ich mit dem Fahrrad ein ganzes Stück bis zum Bahnhof des Nachbarortes zum Haltepunkt Beucha Ost fahren. Dann ging es mit dem Zug nach Leipzig zum Hauptbahnhof und weiter mit der Straßenbahn bis zur Berufsschule.

Leipzig, die Großstadt. In der Klasse gab es viele aus dieser mir noch unbekannten Stadt. Es klaffte eine ziemliche Lücke in allem zwischen uns ländlichen Lehrlingen und den Städtern. Die Stadtmädchen waren ganz anders als wir. Wir waren folgsam, doch die Städter machten manchmal ganz anderes in der Unterrichtsstunde, zum Beispiel malten sie sich mit Schminke die Gesichter an. Das hätten wir uns nicht getraut, so etwas kannten wir gar nicht.

Zu Hause bereitete ich ziemliche Probleme, da ich absolut nicht mithalf und eine recht miese Einstellung zu vielen Sachen hatte. Ich war im wahrsten Sinn des Wortes faul. Heute sehe ich das alles mit anderen Augen.

Mein hässliches Aussehen setzte mir ständig zu. Ich hatte diese Hakennase und wurde überall verlacht, ob es in der Berufsschule war oder in der Straßenbahn. Überall richteten sich stark belustigende Blicke auf mich. Meine Mutter wusste davon gar nichts. Ich sagte es ihr auch nicht. Sie selbst übersah, dass ich mich darüber total grämte. Ich musste allein damit fertigwerden.

Mein jugendliches Leben war davon geprägt. Minderwertigkeitskomplexe, Angst, Schüchternheit. Keine richtigen Schulfreunde, denn wer wollte schon mit so einer Hexe befreundet sein. Ich schluckte das viele Jahre und legte meine ganze Kraft in das Lernen.

Während der Lehrzeit gab es keine wesentlichen anderen hervortretenden Ereignisse. Ich lernte eisern und hatte mir vorgenommen, nach der Lehrzeit ein Studium an einer Fachschule zu absolvieren. Geplant war, Betriebsökonomie zu studieren.

An den Wochenenden und in den Ferien verbrachten wir Jugendlichen aus Waldsteinberg viel Zeit mit Jugendlichen aus Leipzig, deren Eltern in unserem Ort eine Datsche besaßen. Das waren für uns die „Neureichen“ aus Leipzig, meist Kinder von selbstständigen Handwerksmeistern.

Dazu gesellten sich zwei Brüder aus Leipzig, die mit den Fahrrädern zum Baden kamen und etwas älter waren. Dem einen gelang es, sich derart in unser Haus einzunisten, indem er meine Mutter, meinen Bruder und mich umgarnte. Da er Maurer war, versprach er den Himmel auf Erden. Er wollte alles reparieren und bauen, was in den Jahren, als meine Mutter allein war, nicht gemacht werden konnte.

Es kam so weit, dass er bei uns einzog und das Sagen hatte. Da ich ziemlich sauer und sicher auch eifersüchtig war, wurde mein Verhalten noch schlimmer. Mir wurde durch diesen Mann der Umgang mit den Kumpels verboten. Bei irgendwelchen Streitigkeiten wurde ich von ihm geschlagen. Ich kann mich erinnern, dass ich mit einer Anzeige bei der Polizei gedroht habe, meine Mutter mich aber bedrängte, es nicht zu tun.

Irgendwann kündigte er mir an, dass ich mein Elternhaus verwirkt hätte und herausfliege. Meine Mutter hatte sowieso nichts mehr zu sagen und mit meinem Bruder war ich in jener Zeit auch entzweit. Im späten Frühjahr 1970 musste ich von zu Hause ausziehen. Ich war noch Lehrling im dritten Lehrhalbjahr und bekam nur Lehrlingsentgelt.

Die Stafflung meines Lehrlingsentgeltes war in den Jahren von 1968 bis 1970 folgendermaßen: 1. Halbjahr 70 MDN (Mark der Deutschen Notenbank), 2. Halbjahr 80 MDN, 3. Halbjahr 90 MDN und 4. Halbjahr 105 MDN.

Ich bat um Hilfe bei der Abteilung Jugendhilfe, die ihren Sitz in Brandis hatte. Diese Stelle kümmerte sich in der DDR-Zeit um Problemfälle und half, wo sie nur konnte. Ich bekam eine Wohnungszuweisung und zog in eine alte Villa unseres Ortes, wo mehrere Familien wohnten. Diese Familien waren untereinander verwandt. Dort erhielt ich zwei kleine Räume und eine winzige Kammer, die ich zur Küche umfunktionierte.

Ich erinnere mich, dass die Beleuchtung fast überall nicht in Ordnung war. Fließendes Wasser gab es im Haus auch nicht. Das war ich aber gewohnt, da in meinem Geburtshaus so etwas auch noch nicht vorhanden war. Hinter dem Haus im Garten befand sich eine Wasserpumpe (Schwengelpumpe), die ich betätigen musste, um Wasser in einen Eimer zu bekommen. Dieses Wasser konnte man aber auch hier nicht sofort verwerten, es war ebenfalls stark eisenhaltig. Das Wasser musste erst durch einen Filter geschüttet werden. Diesen musste ich mir auch noch beschaffen. Der Filtersand musste regelmäßig mit Wasser gereinigt werden.

Ich besaß in einem Raum einen Berliner Ofen, alle anderen waren nicht beheizbar. Etwa fünfzig Meter vom Haus entfernt befand sich ein alter Schuppen, wo ich Kohle und Holz aufbewahren konnte.

Möbel hatte ich fast gar keine. Geld war sowieso ein Fremdwort für mich. Ich konnte mir einige kleine Dinge von zu Hause mitnehmen. Zum Glück gab es in dieser Wohnung in einem der Zimmer Einbauschränke, so konnte ich wenigstens ein paar Sachen verstauen und musste sie nicht auf den Fußboden legen. An die Schlafgelegenheit kann ich mich nicht recht erinnern, aber ich glaube, ich bekam ein altes Sofa mit.

Da ich im Konsum lernte, erhielt ich einen Teilzahlungskredit. So konnte ich mir ein paar wichtige Dinge auf Ratenzahlung kaufen. An zwei Sessel und eine Stehlampe kann ich mich erinnern. Einen kleinen alten Holztisch, der ehemals meinen Großeltern gehörte, konnte ich von zu Hause mitnehmen. Dieser steht heute noch in meinem Wohnzimmer.

Da im Wohnraum eine Steckdose intakt war, gelang es mir, mittels der Stehlampe Licht zu erhalten. Denn für irgendwelche Reparaturen oder eine Deckenlampe hatte ich keinerlei Geld. Einen Fernsehapparat besaß ich nicht, nur ein kleines altes Kofferradio.

Meiner Mutter wurde durch den Herrn, der sich in unser Haus eingenistet hatte, der Umgang mit mir verboten. Sie arbeitete damals in unserem Ort als Reinigungskraft in einem Kinderheim, das sich „Starenhof“ nannte. Einige Male besuchte sie mich heimlich. Sie half mir auch beim Umzug mit dem Transport meiner Nähmaschine. Über diesen Besitz war ich sehr stolz. Das war ein Erbstück von meiner Oma, welches ich heute noch besitze. Sie leistete mir über Jahre gute Dienste.

Meine Mutter wurde von diesem Untermieter jahrelang total unterdrückt. Er begann sie zu schlagen. Sie erlitt einige Oberschenkelhalsbrüche. Ich denke, die Ursachen dafür lagen auch bei diesem Mann.

Meine Lehre war mir sehr wichtig, ich lernte eisern und bemühte mich, die Facharbeiterprüfung so gut wie möglich zu bestehen.

Ein riesiges Dilemma kam aber auf mich zu. Ich musste damals zur Facharbeiterprüfung eine schriftliche Hausarbeit über ein Fachgebiet der Schuh- und Lederwarenkunde schreiben. Ich kann mich erinnern, dass es um Lederaustauschstoffe ging, das war damals etwas Brandaktuelles.

Als ich mit dem Schreiben dieser Abschlussarbeit begann, wohnte ich noch zu Hause, also im mit Problemen behafteten Elternhaus, und vergaß als Quelle ein Fachbuch anzugeben. Die Ausbilder sprachen mit mir und legten dar, dass das Betrug sei. Ich schilderte ihnen meine häusliche Situation, dass ich kurz vor dem Auszug stünde. Man erlaubte mir, die Quelle zu ergänzen. So konnte ich meine Facharbeiterprüfung als Fachverkäuferin für Schuh- und Lederwaren mit „Sehr gut“ abschließen, allerdings hätte ich die Lehrzeit ohne dieses Missgeschick „mit Auszeichnung“ bestanden.

Die Zeiten nach dem Rauswurf aus meinem Elternhaus waren für mich natürlich als Lehrling finanziell sehr schwierig. Von meiner Mutter bekam ich in dieser Zeit keinen Pfennig. Kleidung kaufte ich mir, wenn ich sie benötigte, nur in einem Gebrauchtwarenladen für ganz wenig Geld. Ich hatte zu hungern gelernt, denn das Geld reichte manchmal nur für trockenes Brot. In der Zeit war ich meiner Tante im Nachbarort Brandis sehr dankbar, denn sie gab mir, wenn ich sie besuchte, Obst mit. Ich lebte manchen Tag nur von Birnen und trockenem Brot.

Die Kosten für die Fahrkarten zur Berufsschule, Miete, Versicherung und Heizkosten mussten bezahlt werden, das alles nur vom Lehrlingsentgelt. Wenn ich mich recht erinnere, musste ich monatlich 25 MDN Miete bezahlen. Das war schon ein sehr hartes, aber lehrreiches Leben.

In dieser Zeit änderte sich die Struktur der Konsumgenossenschaft, so gehörte die Konsumgenossenschaft (KG) Brandis zur KG Kreis Wurzen. Damit veränderten sich auch meine Lehrorte. Ich wurde in den Orten Brandis, Beucha und in Wurzen als Fachverkäuferin für Schuh- und Lederwaren ausgebildet. Ich fuhr mit dem Fahrrad in die Nachbarorte oder mit dem Zug nach Wurzen, dadurch erhöhten sich meine Geldausgaben wieder.

Bevor es zu dem Wohnungsauszug kam, hatte ich geplant, ein Fachschuldirektstudium auf dem Gebiet Betriebsökonomie zu beginnen, welches drei Jahre umfassen würde. Durch den Auszug aus meinem Elternhaus war das für mich finanziell nicht mehr möglich. Ich war zwar zum Aufnahmegespräch an dieser Fachschule, aber ich musste das Studium infolge des Geldmangels absagen.

Die damalige Kaderleiterin (heute Personalleiter) der Konsumgenossenschaft Kreis Wurzen half mir, eine andere Lösung zu finden. Sie schlug mir vor, ein Fernstudium aufzunehmen, und bot mir an, gleich nach der Lehrzeit ein vierjähriges Fernstudium an der Fachschule für Ökonompädagogen in Aschersleben zu beginnen.

Ökonompädagogen waren Lehrmeister in der Berufspraxis des Einzelhandels, das gibt es in dieser Art heutzutage nicht mehr. Da ich unbedingt studieren wollte, sagte ich zu.

Fernstudium bedeutete, dass ich als Fachverkäuferin täglich arbeiten ging, wie alle anderen auch. Freitag und Sonnabend waren Seminartage der Fachschule für Ökonompädagogen in Aschersleben. Diese Seminartage fanden aber nicht in Aschersleben, sondern an der Betriebsakademie für Konsumgüterbinnenhandel in Leipzig statt. Alles andere für das Studium musste allein zu Hause in der Freizeit bewältigt werden. So erhielt ich nach meiner Lehrzeit monatlich mein Gehalt, konnte notwendige Ausgaben bezahlen und nebenbei studieren.

Durch mein hässliches Aussehen hatte ich kaum die Möglichkeit, einen Mann kennenzulernen. Einen richtigen Freund hatte ich weder in der Lehrzeit noch in den ersten Jahren meines Studiums. Ab und an lernte ich kurz jemanden kennen. Sex kam aber zur damaligen Zeit für mich nicht infrage. Es war generell nicht so üblich, gleich solche Beziehungen zu beginnen. Ich hatte viel zu viel Angst, ein Kind zu bekommen, denn ich wollte mir dadurch nicht die Zukunft verbauen.

Mein großer Traum – irgendwann wollte ich mir die Nase richten lassen – bestand immer noch. Ich hörte damals von kosmetischen Operationen in Tallwitz bei Wurzen. Das war etwas völlig Neues in dieser Zeit. Aber es war für mich finanziell noch ferne Zukunft.

So stürzte ich mich mit Leib und Seele in das Fachschulfernstudium. Für mich wurde das Lernen das Wichtigste auf der Welt.

Ab Januar 1972 erfuhr mein Leben wieder eine Veränderung. Ab diesem Zeitraum war ich nicht mehr in der Konsumgenossenschaft Kreis Wurzen tätig. Ich begann eine Tätigkeit als Lehrausbilder in der Konsumgenossenschaft Kreis Leipzig. Das entsprach wesentlich besser meinen Studienbedingungen. Diese Arbeitsstelle vermittelten mir Kommilitonen aus meiner Seminargruppe in Leipzig.

Ich erhielt ein monatliches Grundgehalt von 480 Mark der DDR. Es war zwar kein üppiges Gehalt, aber ich war sehr zufrieden damit. Als Fachverkäuferin in der KG Kreis Wurzen hatte ich monatlich nur 370 Mark verdient. Diese Veränderung war für mich schon eine große Errungenschaft.

Ich gab berufspraktischen Unterricht. Das bedeutete, dass ich bestimmte Lehrlingsklassen, welche den Beruf Fachverkäufer erlernen wollten, in berufsspezifischen Fachkenntnissen unterrichtete. So zum Beispiel die warenkundlichen Fachkenntnisse für einen Fachverkäufer Schuh- und Lederwaren. Diesen Beruf hatte ich ja vorher selbst erlernt. Ich arbeitete mich ebenfalls in die Warenkunde des Fachverkäufers für Industriewaren und Textilbekleidung ein und begann den Lehrlingen auch diese warenkundlichen Kenntnisse theoretisch und praktisch in den jeweiligen Lehrverkaufsstellen zu vermitteln.

Irgendwann im Jahr 1973 bekam ich wieder einen besseren Kontakt zu meiner Mutter und konnte sie ab und zu besuchen. Die Besuche bei meiner Mutter in meinem Geburtshaus blieben aber immer nur Besuche! Ich fühlte mich dort ein Leben lang nur als Gast.

Im Haus meiner Mutter hatte ich immer Angst, dass der Mann, der dort wohnte, mich wieder schlagen würde. Ich wusste, meine Mutter wurde von ihm nach wie vor mies behandelt. Auch später, wenn ich dort zu Besuch war, herrschte immer eine gefährliche Spannung zwischen ihm und mir.

Eine Witwe erinnert sich

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