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Es klingelte etliche Male. Nach einer kurzen Pause hämmerte jemand mit den Fäusten gegen die Tür.

Die Decke hing größtenteils auf den Boden gestrampelt von der Matratze, Palmer lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett, quer und alle viere von sich gestreckt, die nackten Füße über den Bettrand hinaus, als sie mühsam die verklebten Lider aufsperrte. Die linke Hüfte schmerzte, ihre Vernunft war gelähmt. Aber in den tiefsten Winkeln ihres Gehirns verstand sie: Drückt jemand die Glocke und klopft, dann wartet ein Mensch an der Tür und will zu dir.

Shit. Wieso riefen die Leute nicht an, bevor sie vorbeikamen?

Sie zog sich die Decke über den Kopf, am liebsten hätte sie weitergeschlafen. Als ihr dies aber auch nach etlichen Minuten nicht gelang, raffte sie sich auf, obwohl längst niemand mehr die Klingel drückte.

Bezüglich Kater brachte Palmer einiges an Erfahrung mit. Da hatte sie schon Schlimmeres erlebt als heute. Dennoch dröhnte der Kopf, und sie hatte das Gefühl, keine Sekunde geschlafen zu haben. Geträumt hatte sie erst recht nicht, wahrscheinlich wegen des Alkohols, der dafür sorgte, dass man auf tieferer Ebene dämmerte, unterhalb jener, auf der Träume abliefen. Sie spürte, heute würde sie den ganzen Tag über ein oder zwei Schritte neben sich stehen, falls sie nichts dagegen unternahm.

In der Küche warf sie zwei Aspirin ein, neigte ihren Kopf zum Spülbecken und schluckte direkt ab dem Hahn eine gehörige Portion Wasser. Dann genehmigte sie sich einen, nur einen einzigen, dafür großen Schluck Johnny. Dies war das Großartige: Nicht nur das Gift, sondern auch das Gegengift lieferte dieselbe Flasche. Endlich atmete sie tief ein und harrte mit angehaltenem Atem eine ganze Weile aus. Als sie endlich die Luft ausstieß, fühlte sie sich besser. Sie starrte auf den Rest Whiskey in der Flasche. Schließlich gab sie sich einen Ruck, zögerte, nahm einen entschlossenen letzten Schluck und leerte die Flasche in den Ausguss.

Nachdem sie Sachen aus dem Schrank gesucht und ins Bad getragen hatte, schmiss Palmer die getragene Wäsche in die Maschine, wo die Shorts und Shirts anschließend flatschten und patschten, während sie unter der Dusche stand. Das kühle Nass perlte über ihre Haare, sie griff nach dem Limonenduschgel, und der frische Duft arbeitete gegen die Nebel in ihrem Kopf, während sie den Schaum auf sich verteilte. Dann stützte sie sich an der Wand ab und ließ den Wasserstrahl auf ihre Haut prasseln, bis sie sich annähernd wieder wie ein Mensch fühlte.

Sie rubbelte den ganzen Körper trocken und betrachtete sich im Spiegel. Eine Nacht lang hatte sie das Gesicht im Bettzeug vergraben, jetzt zeichneten sich Falten der Textilien auf ihrer Wange ab, welche auch die ausführliche Dusche nicht ganz hatte beseitigen können. Bevor sie in Erwägung ziehen konnte, es mit einer Creme zu versuchen, griff sie zur Zahnbürste und schrubbte sich drei Minuten lang Zähne und Zunge, bis sie sicher war, auch den letzten Rest von Alkoholgeschmack und nächtlichem Absturz besiegt zu haben. Sie öffnete die kleine Tür des Spiegelschranks und wählte unter der ansehnlichen Armee von Mundwassern ihren treuesten Soldaten. Das Zeug brannte mehr als ein Stroh 80 auf Ex und war Palmers Allzweckwaffe für solche Fälle. Mit Zahnhygiene hatte sie einen Spleen. Okay, es gab schlimmere Angewohnheiten, wie sie letzte Nacht eindrücklich bewiesen hatte.

Anschließend wickelte sie noch zwei Kaugummis aus dem Alu und schob sie in den Mund. Zwei, weil ihr gerade Zahlen viel ästhetischer schienen als ungerade. Sie zog sich ein Shirt über den Kopf. Erst auf dem einen, dann auf dem anderen Fuß hüpfend, schlüpfte sie in die sauberen Jeans. Kauend und mit tropfenden Haaren betrat sie die Terrasse und legte beide Hände auf das raue Holz der verwitterten Brüstung. Zum Schutz vor der Morgensonne kniff sie die Augen zusammen und hörte, wie das Wasser glucksend zwischen den Ufersteinen ans Ufer schlug. Ein letzter Rest feuchter Nachtluft strich kühl über ihre nackten Füße.

Sie spürte einen Stich im Herzen, so sehr hatte sie sich auf den neuen Job gefreut. Die Bilder des Gesprächs mit diesem mittelschwer überheblichen Kerl kamen wieder hoch. Je länger sie darüber nachdachte, umso mehr kam sie zu dem Schluss, dass sie von Anfang an keine Chance gehabt hatte. Dem Mann hatte wohl das eine oder andere an ihr nicht gepasst, irgendwas. Dass sie zwei Minuten zu spät gekommen war, hatte er dann zum Anlass genommen, ihr daraus eine Absage zu basteln. Wenn man länger darüber nachdachte, war es geradezu lächerlich. Er legte angeblich Wert darauf, dass man Wichtiges von Unwichtigem unterschied. Einem Menschen in Not zu helfen oder auf die Minute pünktlich zu einem Vorstellungsgespräch zu erscheinen, da gab es eigentlich keinen Diskussionsbedarf. Eigentlich!

Nach etlichen weiteren Momenten der vergeblichen Rückwärtsanalyse mit stets demselben Ergebnis klatschte sie beide Hände flach auf das Holz, zog hörbar die tanggeschwängerte Seeluft ein, marschierte ins Wohnzimmer, griff nach der Fernbedienung und fläzte sich aufs Sofa, nicht ohne ein unterschwelliges Gefühl von Versagen, das sich jetzt für Palmers Geschmack zu energisch meldete. Sie schob es beiseite und konzentrierte sich auf den Bildschirm.

Sogleich knallte die Headline von Tele1 viel zu hell in ihre Augen.

Überfall auf Party!

Palmer war direkt bei den stündlich wiederholten Nachrichten des Vortags gelandet. Die Sprecherin schaffte es nicht, ihre freudige Aufregung im Zaum zu halten, als sie in ernstem Ton erklärte: »Der High-Society-Juwelier Thomas Diethelm ist bekannt für seine extravaganten Sommerpartys für seine Stammkunden. Kriminelle haben die diesjährige Veranstaltung im Schlosshotel Gütsch überfallen und allen Gästen Schmuck und Luxusuhren abgenommen. Auch haben die Täter die Vitrine mit einer millionenteuren Weltneuheit aufgebrochen. Diethelm hat sich zur Wehr gesetzt und nach der Waffe des Angreifers gegriffen. In der Rangelei hat sich ein Schuss gelöst. Eine Kellnerin, die laut Augenzeugen Diethelm zu Hilfe eilen wollte, wurde dabei getroffen. Ärzte kämpfen zurzeit in einer Notoperation um ihr Leben. Die Täter sind mit Motorrädern unerkannt durch den Gütschwald entkommen. Der Einsatz der Polizei wurde erschwert durch ein Fahrzeug, mit dem die Täter die Zufahrt zum Hotel blockiert hatten. Zum Wert der Beute wollten sich weder Diethelm noch die Polizei äußern. Aber dem Vernehmen nach soll der Schaden in die Millionen gehen. Bei ihrem Einsatz hat die Polizei das Gebiet großräumig abgeriegelt, was einen Stau in der gesamten Innenstadt ausgelöst hat. Um zu verhindern, dass jemand den Überfall filmte, haben die Täter die Handys der Besucher eingesammelt. Trotzdem ist es einem Gast gelungen, uns Aufnahmen des Vorfalls zuzuspielen. Bitte entschuldigen Sie die mangelhafte Bildqualität.«

Palmer richtete sich auf, schob die Fernbedienung auf den Sofatisch, stützte sich mit den Ellbogen auf den Knien ab und starrte gebannt auf die verwackelten Bilder.

Die Kamera schwenkte langsam über den ganzen Hotelgarten mit vielleicht 120 Leuten. Gläser klirrten, Loungemusik plätscherte, eine Dame in langem Abendkleid warf den Kopf in den Nacken und lachte laut. Aus den Gesprächsfetzen verstand man kein Wort. In freudiger Laune tauschten zwei Herren Visitenkarten aus, ein anderer in edlem Zwirn hielt einen imaginären Telefonhörer ans Ohr und signalisierte »ruf mich an« quer durch den ganzen Schlosshof. Die Aufnahme schwenkte weiter zur Security, einem Glatzkopf mit dunkler Sonnenbrille und Knopf im Ohr. Die rechte Hand hielt er um das linke Handgelenk gelegt und blickte starr über die Gesellschaft.

Palmer sah eine Bewegung am Bildrand. Im Hintergrund drängte sich ein schwarz maskierter Mann durch die Gruppe der Gäste. Zwischen den Lachern hörte man erste Schreie, zerbrechendes Glas, eine Männerstimme fluchte. Das Bild schnellte ruckartig zum Himmel, um sich dann in rasendem Tempo um die eigene Achse Richtung Steinboden zu drehen. Dann hüpfte das Gerät offensichtlich über den Untergrund, das Bild wurde schwarz, die Aufnahme stoppte.

Wieder erschien die Sprecherin.

»Der Schwanenplatz in Luzern ist bloß ein kleiner Fleck und trotzdem der Ort, wo weltweit die meisten Luxusuhren verkauft werden. Touristen aus der ganzen Welt, insbesondere Gäste aus China, erstehen hier ihre edlen Zeitmesser in Schweizer Qualität. Denn zusätzlich zu ihrer Uhr erhalten sie nicht nur ein Echtheitszertifikat, sondern auch die Gewähr, dass nicht nur die Uhr, sondern auch das Zertifikat über jeden Zweifel erhaben ist. Diethelm besitzt keines der Geschäfte am Schwanenplatz, sondern arbeitet äußerst erfolgreich mit einem anderen Geschäftsmodell. Er bringt mechanische Luxus-Armbanduhren im Direktverkauf an seine betuchte Klientel. Hierfür empfängt er diese in einem Prunkappartement. Als besondere Aufmerksamkeit überlässt er die Suite seinen Kunden auf Wunsch sogar kostenlos für einige Tage. Und einmal im Jahr begrüßt er den gesamten Kundenkreis aus dem In- und Ausland zu einer rauschenden Party. Unbestätigten Berichten zufolge geht die Polizei zurzeit von fünf schwarz maskierten und bewaffneten Angreifern aus. Unserem Mann vor Ort ist es gelungen, aus der Ferne folgende Szene zu drehen.«

Nun flimmerten unverwackelte Aufnahmen über den Bildschirm. Schaulustige standen unbeteiligt am Absperrband und gafften auf die weiße Schlossanlage. Die Kamera schwenkte zum Rosengarten und zoomte alles so nah, bis man erkennen konnte, wie da und dort Menschen in Schutzanzügen auf dem Boden kauerten und mit Pinzetten jeden kleinsten Dreck eintüteten.

»Thomas Diethelm wollte sich für ein Interview vor der Kamera nicht zur Verfügung stellen. Aber wir konnten ihn kurz per Telefon erreichen. Hörbar geschockt hat er erklärt, die Polizei habe seine Gäste gebeten, ihr bei der Suche nach den Tätern zu helfen und sämtliche Videoaufnahmen zur Verfügung zu stellen.«

Als lediglich noch Aufnahmen des Schlosses aus der Ferne folgten, machte Palmer den Fernseher aus und wunderte sich über die Aggressivität dieser für das beschauliche Luzern außergewöhnlichen Gewalttat.

Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass Whiskey entgegen anderslautende Thesen doch nicht zu den Grundnahrungsmitteln zählte. Zumindest nicht über einen längeren Zeitraum gesehen. Sie rieb sich die Stirn und quälte sich aus ihrer bequemen Position in die Küche. Ohne große Erwartungen zog sie die Kühlschranktür auf, aber wie gestern schon angenommen gab das Sortiment im Inneren abgesehen von zwei restlichen Bierdosen bestenfalls noch eine Bloody Mary her. Keine Milch, Eier schon gar nicht. In der ganzen Küche fand sie weder Kaffee noch Brötchen, nicht mal im Tiefkühler. Ein Verbrechen. Was war nur los mit ihr, dass sie nicht mal ihre Kaffeevorräte im Blick hatte? Dabei war Kaffee eindeutig lebensnotwendig, und Palmer ließ da auch keine anderen Meinungen gelten. Während sie nochmals jeden Schrank öffnete und sogar die Gewürzdosen beiseiteschob in Hoffnung auf eine vergessene Packung des aromatischen Pulvers, fiel ihr ein, dass sie gestern hatte einkaufen wollen. Warum hatte sie sich nicht zusammengerissen und war noch mal losgelaufen? Stattdessen hatte sie sich die Kante gegeben, in Selbstmitleid und Enttäuschung gebadet, wofür ihr das Leben anscheinend heute Morgen obendrauf den Mittelfinger zeigen wollte.

Aber ohne Kaffee ging bei Palmer gar nichts. Wenn er auch keinen Kater vertrieb, immerhin weckte Kaffee den Geist. So behalf sie sich heute mit einem Schwarzteebeutel, den sie vorhin in einer Schublade aufgestöbert hatte. Sie warf ihn in eine Henkeltasse, füllte kaltes Wasser ein, stellte die Tasse in die Mikrowelle und wartete mit wippendem Fuß. Wie üblich stoppte sie das Gerät bei zwei, kurz bevor der Timer ganz runtergezählt hatte, und fühlte sich, als wäre es ihr gelungen, gerade eben noch eine Bombe zu entschärfen. Vorsichtig hob sie die dampfende Tasse heraus und an die Nase. Sie schnaubte angewidert, das Getränk roch nach vier Jahren Küchenschrank, also kippte sie es dem guten alten Johnny hinterher in den Ausguss. Sie warf einen Blick auf die Uhr und dann Richtung Wohnzimmer, aber die Entscheidung war bereits gefallen. Ein Frühstück und vor allem Kaffee am Bahnhofplatz waren es wert, sich aus der Wohnung zu quälen. Danach konnte sie noch das Nötigste einkaufen, was ihr sicher helfen würde, die üblen Gedanken an das gestrige Einstellungsgespräch zu vergessen.

Der Fußmarsch dem Seeufer entlang zum Bahnhofplatz tat ihr gut. Der Geruch von algenbedeckten Steinen und Wasser, vermischt mit der leicht feuchten, herrlich frischen Luft klärte ihren Geist, und die Bewegung baute spürbar die Stresshormone in ihrem Körper ab. Einfach mal eine Weile Abstand von der Tristesse ihrer Wohnung, in der leere Flaschen davon zeugten, dass sie nichts auf die Reihe bekam – ja, das würde ihr guttun. Vielleicht würden ihr so ganz neue Ideen kommen.

Ihre Laune hatte sich deutlich gebessert, als sie sich kurz darauf in der Morgensonne an einen der Bistrotische setzte, die alle schön an der Fassade entlang aufgereiht standen, zur Straße hin ausgerichtet wie zu einer Bühne.

Sie kannte die Bedienung seit Jahren, erhielt deshalb den Espresso bereits serviert, kaum hatte sie sich hingesetzt, unerwarteterweise jedoch begleitet von der Bemerkung, die Haselnussschnecke gehe heute aufs Haus. Palmer nickte zum Dank und lächelte zum ersten Mal an diesem Morgen.

Sie lehnte sich zurück und zog den geliebten Duft frisch gebrühten Kaffees ein. Anschließend gab sie sich mit geschlossenen Lidern den Sonnenstrahlen hin und gönnte sich bereits mit dem zweiten Bissen das saftige Herz der Haselnussspirale. In diesem Boulevardcafé liebte sie das hektische Treiben vor ihrer Nase. Menschen, die in Wellen aus dem Bahnhof schwappten oder in ihren Wagen über den Platz schossen. Welch ein augenfälliger Kontrast zum gemächlichen Umfeld ihrer Wohnung im Bootshaus des Ruderklubs.

Ein Schatten schob sich vor sie und nahm ihr die Sonne. Palmer hob den Kopf in der Annahme, die Bedienung wäre zurückgekommen, aber dem war nicht so. Sie blinzelte.

»Sie müssen mir helfen«, flehte die unbekannte Frau, die Palmer im Gegenlicht nur schemenhaft erkennen konnte.

»Hallo, die Lady. Danke gut, und Ihnen?« Palmer gönnte sich einen Schluck Espresso und stellte die Tasse auf den Teller zurück.

»Dieser Schweinehund will meine Schwester umbringen.«

Auf dem Weg zum Mund verharrte Palmers Schnecke in der Luft.

»Bedaure, dies zu vernehmen. Aber für Probleme dieser Art ist die Polizei zuständig.« Palmer schob sich den Rest des Gebäcks in den Mund, leckte sich die klebrige Glasur von den Fingern und wischte sich diese an der Innenseite des Hosenbeins trocken, da die Serviette vorher bei einem Windstoß davongeflattert war.

»Das interessiert die Polizei doch gar nicht. Gestern hat mir der Einsatzleiter auf der Hauptwache kurz zugehört und versichert, sie würden in alle Richtungen ermitteln. Heute aber hat er mich nur abgewimmelt. Die sind mit ihren Nachforschungen noch keinen Millimeter weiter.«

»Gute Dame. Will jemand Ihre Schwester umbringen, sind Sie bei mir sicher an der falschen Adresse. Ich bin Warenhausdetektivin.«

Gut, sie wäre eine Warenhausdetektivin gewesen, hätte der Depp mit Anzug und Superman-Haarlocke sie gestern nicht um den fast sicheren neuen Job gebracht. Palmer unterdrückte den Impuls, ihre nun leicht schwitzigen Handflächen nochmals an der Hose abzuwischen.

»Jeder kennt Sie hier. Sie sind Palmer, Sie unterstützen Frauen in Not, wenn ihnen sonst niemand hilft. Die Zeitungen waren voll davon. Mehr als einmal. Durch Rumfragen weiß ich, Sie trinken fast jeden Morgen Ihren Espresso hier.«

»Genau das ist der Punkt. Wiederholt habe ich mich eingemischt und bin dabei fast draufgegangen.« Sie sah der Frau in die Augen. »Nein. Bei allem Verständnis für Ihre Notlage. Ich lasse mich nicht nochmals in irgendeinen traurigen Mist reinziehen, der mich eigentlich nichts angeht. Sie entschuldigen.«

»Sie sind vorsichtig, das verstehe ich.«

Palmer schwieg.

»Aber Sie werden mich nicht los. Ich weiß, Sie werden mir helfen.«

»Sorry, habe leider keine Zeit. Ich muss mir dringend eine neue Arbeitsstelle suchen.«

»Kein Job? Dann haben Sie erst recht Zeit, mir zu helfen. Aus Zeitungsinterviews kenne ich Ihren Ehrenkodex. Sie können einer Frau in Not Ihre Hilfe nicht abschlagen.«

»Sie wissen gar nichts. Ich stecke selber in der Scheiße.« Sie rückte mit dem Stuhl etwas zur Seite und streckte mit geschlossenen Augen das Gesicht in die wärmende Sonne. Als Palmer nach einer Weile die Augen wieder öffnete, stand die Frau noch immer da.

»Sie werden mich nicht los. Das sagte ich doch.«

»Sie stehen da und wollen was von mir, ich weiß nicht mal, was. Aber zwei Dinge weiß ich: Mir dröhnt der Kopf, und seit Sie mich angesprochen haben, wird es schlimmer.«

»Ich heisse Hannah. Hannah Bischof. Ich benötige Ihre Hilfe. Bitte.«

Palmer neigte sich auf ihrem Stuhl nach vorne, um die Frau besser im Blick zu haben. Sie ging auf die 40 zu, wies einen verbitterten Zug um die Mundwinkel auf und Ringe unter den grünen Augen, die aber leuchteten vor Entschlossenheit. Palmer wusste, jede Enttäuschung hinterließ ihre Spuren, und diese Frau sah aus, als hätte sie zahlreiche davon durchlebt. Sie musste etwas kleiner sein als Palmer und halbwegs schlank. Alle Rundungen saßen an den richtigen Stellen, soweit Palmer dies erkennen konnte, denn Hannah trug ein weites, knöchellanges graues Kleid mit roten Blumen drauf, dazu Ledersandalen, von Make-up keine Spur. Der Pagenschnitt ihres dunklen Haars wirkte etwas aus der Mode gekommen, darin zeigte sich das erste Grau.

Hannah machte einen Schritt zur Seite und trat Palmer wieder in die Sonne.

»Gestern haben Kriminelle die Party des Uhrenhändlers Diethelm überfallen. Dabei ist eine Kellnerin niedergeschossen worden. Susa, meine Schwester. Sie liegt im Koma. Die Polizei ist der Ansicht, der Schuss hätte Susa nur versehentlich getroffen. Aber Diethelm, dieser Schweinehund …«, sie lachte abschätzig, »… ich sage Ihnen, das war Absicht.« Ohne ein Wort der Zustimmung oder Aufforderung von Palmer abzuwarten, schob sie sich auf den zweiten Stuhl an Palmers Tisch. »Der ist kein Lämmchen. Fragen Sie mal seine zweite Ex-Frau.«

Palmer hätte gerne wissen wollen, ob es Hannah gewesen war, die heute Morgen bei ihr geklingelt und sie geweckt hatte. Aber sie ließ es bleiben. Ändern konnte sie es eh nicht mehr.

»Hören Sie, das mit Ihrer Schwester tut mir leid. Trotzdem muss ich auf die Polizei verweisen. Eine Frage trotzdem: Wie kommen Sie darauf, Diethelm hätte Ihre Schwester mit Absicht niedergestreckt? Die Medien haben das anders dargestellt. Der Schuss habe sich im Kampf um die Waffe gelöst.« Sogleich hätte sich Palmer ohrfeigen können. Mit dieser simplen Frage hatte sie sich aktiv ins Gespräch eingeklinkt. Nun, sie würde der Frau einige Momente lang ihr Ohr schenken und dann die Unterhaltung anständig beenden.

»Erst hat er meine Schwester geschwängert, dann hat er sie versetzt. Seither ist sie nicht mehr an ihn herangekommen. Er hat jedes Treffen verweigert. Auch will dieser reiche Schweinehund für seinen Sohn keinen Rappen zahlen. Genügend Geld hätte er ja. Und die besten Anwälte. Er sitzt am längeren Hebel, Susa ist zu unbedeutend. Ein Kampf von David gegen Goliath.«

»Um sie tatsächlich mit Absicht abzuknallen, wie hatte er wissen können, auf dieser Party Susa anzutreffen? Eben noch haben Sie gesagt, er wäre ihr strikt aus dem Weg gegangen. Für mich nicht stichhaltig. Und weshalb hätte er sie umnieten sollen? Wenn er für den Sohn nicht zahlen will, müsste er nicht die Mutter, sondern den Sohn umbringen. Aber dann vor all seinen Gästen als Zeugen? Und ins Gefängnis marschieren, nur um keine Alimente zu zahlen? Nein. Glaube ich nicht.«

»Helfen Sie mir, Susa zu beschützen. Diethelm wird den Mordversuch wiederholen. Vorausgesetzt, sie überlebt die Schussverletzung.« Sie biss sich auf die Unterlippe und kämpfte sichtlich mit den Tränen. »Weshalb glaubt mir keiner? Ich bin heute wieder zum Krankenhaus gefahren. Man hat mich nicht zu ihr vorgelassen, sie ist noch immer nicht aufgewacht.« Ein Schluchzen kam aus ihrer Kehle, und Palmer wusste, dass ihre Mauer gleich massiv bröckeln würde. »Und vor der Tür steht nicht mal ein Wachmann. Dabei gibt es doch sicher eine Videoüberwachung, die meine Darstellung bestätigt. Ich sage Ihnen, der wollte sie töten.«

Palmer schloss kurz die Augen.

Großartig.

»Nenn mich Palmer, ich sag’ Hannah.« Sachte legte sie ihre Hand auf Hannahs Unterarm und tätschelte ihn. »Reden tut gut. Aber Hilfe musst du bei der Polizei anfordern.«

Hannah atmete kurz und stoßweise.

»Solange die Polizei keine Indizien für deine Anschuldigungen findet, kannst du von ihr nicht erwarten dazwischenzufahren.«

Mit Daumen und Zeigefinger kniff Hannah die Nasenwurzel zusammen. »Nein, nein, nein«, sagte sie flehend vor sich hin. »Susa hat damals auf Diethelm gesetzt, einen Mann. Was ist dabei herausgekommen? Er hat sie verarscht. Du bist Palmer, du bist eine Frau, die Frauen hilft. Wenn ich auf der Wache aussage, sehe ich schon ihre Gesichter vor mir. Wieder so eine Hysterische, die sich was einbildet. Ja, ich kann hören, was sie denken. Die Männer. Ich werde alles tun, damit Susa überlebt. Und auch Lenny. Er ist 17 und leidet unter einem Vitium Cordis.«

»Was ist das denn?«

»Das ist einer der vielen Wege Gottes, uns zu zeigen, wie sehr er die Menschen liebt.« Sie lachte kurz, es klang fast wie ein Husten. »Lenny leidet an einem angeborenen Herzfehler. Sein Herz-Kreislauf-System ist in seiner Funktion eigeschränkt, versorgt den Körper nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff. Seit Geburt schwächelt er. Ständig ist er müde, jede Tätigkeit ist ihm zu anstrengend. In den letzten Jahren hat sich sein Zustand stetig verschlechtert. Jetzt ist er sogar ans Bett gefesselt. An den meisten Tagen schafft er es nicht mal bis zur Toilette. Und dann hat er überdies noch diese seltene Blutgruppe. Kriegt er nicht bald ein Spenderherz, stirbt er.« Sie krallte die Finger in ihr Kleid und ließ den Kopf sinken.

Eine Sache begriff Palmer nicht, aber gerade als sie Hannah fragen wollte, brüllte ein Motorrad so ohrenbetäubend vorbei, dass sie erst einige Augenblicke warten musste.

»Wieso hat sie Diethelm auf der Party besucht? Der widmet doch seine Zeit dort erst recht nicht Susa, wenn er mit ihr auf Kriegsfuß steht.«

»Susa hat über Jahre erfolglos seine Hilfe erfleht. Er ist seit Lennys Geburt jeglichem Kontakt ausgewichen, Susa ist einfach nicht an ihn herangekommen.« Sie rieb sich die Augen, aber Palmer konnte die Tränen sehen, die sofort nachströmten. »Lenny benötigt dringend diese Herzoperation. Dafür hat sie ihn inständig um Geld bitten wollen.« Hannah schüttelte energisch den Kopf und rang sichtlich um Fassung. »Nein. Zufall war das nicht. Nach Jahren trifft sie das erste Mal auf Diethelm, und er schießt sie gleich über den Haufen. Susa war so verzweifelt und am Rande ihrer Kräfte, dass sie keinen anderen Weg mehr gesehen hat, als sich Geld von ihm zu beschaffen, auf Biegen und Brechen. Ihr als Alleinerziehender fehlen jegliche Mittel. Susa hat Diethelm schließlich nicht gebeten, eine Niere oder so zu spenden.«

»Wenn Susa im Krankenhaus liegt, wer sorgt denn jetzt für Lenny?«

»Die beiden sind schon vor Längerem bei mir eingezogen. Wir haben ein Bett für Lenny in mein Arbeitszimmer gestellt, Susa nimmt das Sofa. Früher hat Susa in einem Restaurant bedient, heute arbeitet sie nur noch Teilzeit in einer Kita, um sich intensiver um Lenny kümmern zu können. Ihr Geld reicht schon lange nicht mehr für eine eigene Wohnung. Wohl oder übel sorge ich jetzt vermehrt für meinen Neffen.«

»Selber hast du keine Kinder?«, fragte Palmer, um sich etwas vom Thema zu lösen.

»Das fehlte gerade noch. Kinder sind bloß ein Mittel der Männer, Frauen in die Abhängigkeit zu drängen. Nein, Lenny reicht mir.«

Palmer schob das Geld für den Kaffee neben die Tasse, und während sie sich die Sonnenbrille auf der Nase zurechtrückte, erhob sie sich.

»Hannah, hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Ich hoffe, das kommt zu einem guten Ende mit deiner Schwester. Leider muss ich jetzt los, einige Einkäufe erledigen.«

»Wir haben denselben Weg.«

Palmer wunderte sich, da Hannah gar nicht wissen konnte, welche Richtung sie einschlagen würde. Als sie aufbrach, trippelte Hannah wie selbstverständlich neben Palmer her.

Ein heftiger Windstoß zerzauste Hannahs Frisur, während laut vernehmbar die Titelmelodie von Star Wars ertönte. Hannah riss die Augen auf und blieb schlagartig stehen.

»Warte«, meinte sie zu Palmer, die jedoch unbeirrt weitermarschierte. Im Hinterherstolpern kramte Hannah umständlich das Handy aus ihrer Strohtasche. »Lenny?« Geschockt starrte sie zu Palmer. »Scheiße, nein, Lenny!« Hannah rannte los. »Komm mit«, schrie sie Palmer zu.

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