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Von Berlin in die Wüste
Im Jahre 1924 lebten meine Eltern in Berlin. Ich war noch nicht geboren und zu dieser Zeit, nach dem ersten Weltkrieg, herrschte eine schwere Rezession in Europa. Die Arbeitslosigkeit war extrem hoch und das Geld nicht viel wert.
Hertha, meine Mutter, hatte im Stadtteil Charlottenburg einen kleinen Krämerladen, wo sie hauptsächlich Seifen verschiedenster Art sowie andere Wasch- und Reinigungsmittel verkaufte. Vater Emil arbeitete als Schlosser, während Mutters Laden mehr schlecht als recht lief. Die Leute konnten sich fast nichts mehr leisten und auch Vaters Entgelt war ziemlich karg. Zum Glück bekam er den Lohn täglich ausgezahlt und so konnten sie von der Hand in den Mund leben. In diesem Jahr kam mein älterer Bruder Horst auf die Welt. Dies machte das Leben nicht einfacher, zumal sie auch noch für die Großmutter, die zusammen mit ihnen in der kleinen Wohnung lebte, sorgen mussten.
Vater und sein Freund Hermann, ebenfalls Schlosser, arbeiteten in derselben Firma und so manches Mal träumten sie von der großen weiten Welt und von einem besseren Leben. Die beiden Freunde waren jung und steckten voller Tatendrang und Abenteuerlust. Sie hatten den furchtbaren Weltkrieg überlebt und erhofften sich noch mehr vom Leben als die Enge und die Armut, die sich ihnen in Berlin bot.
In einer gemeinsamen Mittagspause, als Vater die Tageszeitung durchblätterte, stieß er auf eine große Anzeige. Ihm klopfte plötzlich das Herz bis zum Hals und ziemlich aufgeregt las er seinem Freund vor: „Reparatur-Schlosser werden gesucht für eine Diamantengesellschaft in Afrika. Nachfragen und Bewerbungen: Lüderitzbucht, S.W.A.“
Vater überlegte nicht lange und sagte: „Du, Hermann, die suchen nach Männern wie uns! Komm wir bewerben uns, schlechter als hier kann es uns da auch nicht gehen. Aber wo genau ist S.W.A?“
„Südwestafrika? Unsere ehemalige Kolonie? Mit dem Dampfer dauert die Reise vier Wochen. Jetzt steht Südwest ja unter britischer, besser gesagt südafrikanischer Verwaltung.“
Nach einigen Überlegungen beschlossen sie, einen Bewerbungsantrag bei der genannten Adresse in Lüderitzbucht einzureichen. Um sich keinen falschen Hoffnungen hinzugeben, behielten sie die ganze Sache vorerst für sich und warteten mit Spannung auf Antwort. Dann, nach über drei Monaten, als es fast schon in Vergessenheit geraten war, fand Hermann einen Brief mit schönen, fremdländischen Briefmarken in seinem Briefkasten. Darin wurden sie beide zum Vorstellungsgespräch zu einer Berliner Adresse eingeladen. Voller Aufregung fuhren sie gemeinsam dorthin, stellten sich vor und wurden prompt eingestellt. Alle Kosten, auch die Reisekosten, wollte die Diamantengesellschaft Consolidated Diamond Mines, kurz CDM, übernehmen. Dazu sollte es noch ein gutes Taschengeld für die Überfahrt geben.
Vater sagte zu Hermann: „Du bist ledig, ich habe Frau und Kind und Hertha weiß noch gar nichts davon.“ „Ach, Emil“, sagte Hermann, „wie ich Hertha kenne, wirst du ihr das schon beibringen können!“
Nach Feierabend begleitete Hermann dann doch meinen Vater zu Mutter nach Hause, um diesen bei seiner Beichte zu unterstützen. Ganz verlegen betraten sie die Wohnung und nachdem Vater seinen Mut zusammengenommen hatte, berichtete er von der Bewerbung und dem Ergebnis. Mutter hörte gespannt zu und sagte: „Wenn es das ist, was euch Spaß macht und es uns auch noch besser gehen soll, dann ran an den Speck! Ich bleibe vorerst hier in meinem Laden, weil ja auch die Großmutter noch bei uns wohnt. Wenn es euch beiden da gefällt, verkaufe ich alles und komme nach.“
Es wurde also kurzerhand gekündigt, dann gepackt und alles Wichtige besprochen. Arbeitskameraden lachten: „Was wollt ihr beide auf dem schwarzen Kontinent, ihr seid bald wieder hier, weil bei dem unkultivierten Volk dort kann man doch nicht leben. Außerdem haben zu allem Übel die südafrikanischen Engländer und die Buren in Südwest jetzt das Sagen.“ Die beiden ließen sich, trotz aller Argumente, nicht beirren und so kam es, dass sie sich, recht unbedarft und relativ unvorbereitet, Anfang 1927 auf einem Dampfer der Woermann-Linie Richtung Südwestafrika befanden.
Nach Wochen erreichte das Schiff einen besonders kargen und völlig verlassenen Küstenstreifen. Ein Matrose, der diese Route bereits gefahren war, sagte: „Das ist jetzt die Küste Südwestafrikas.“ Kopfschüttelnd schauten sich die Freunde diese neue, nebelverhangene und sehr öde Welt an und fragten sich, was hier auf sie zukommen würde. Es wurde weder in Swakopmund, der deutschen Landebrücken-Stadt, noch in Walfischbucht, dem britischen Hafen, angelegt. Neben unglaublichen, in Fata Morgana verschwimmenden Weiten, erkannten sie, wenn die Sicht etwas klarer war, auch riesige Dünenwände vom Schiff aus. Eines späten Abends dann, es war eine mondlose, dunkle Nacht, erreichten sie endlich die kleine Bucht, ehemals Angra Pequena, mit der Stadt Lüderitz, wo sie bis zum nächsten Morgen auf Reede lagen.
Als die ersten Sonnenstrahlen langsam die Küste erhellten und als der Frühnebel sich lichtete, erblickten die Freunde von der Reling aus ein kleines Städtchen mit Kirchturm und einigen hübschen Häusern. Allerdings war das, was sie sahen, umgeben von einer sehr trostlosen Landschaft, bestehend aus nichts als Steinen, Klippen und nochmals Steinen. So weit man schauen konnte, gab es ringsherum nur Wüste.
Hermann sagte zu meinem Vater: „Emil, das sieht schlimm aus für uns beide!“
Während des Ausschiffens wurde nicht viel geredet, denn der Dampfer hatte zwei Tage Verspätung und entsprechend war die Eile groß. Ein Mitarbeiter der CDM-Gesellschaft erwartete sie am Pier. Vater wollte sich vergewissern und fragte: „Wir sind doch hier in Lüderitzbucht stationiert, oder?“ Die Antwort kam prompt: „Nein, hier sind keine Diamanten, ihr geht nach Elisabethbucht.“
„Oh Schreck, was noch?“, raunte Hermann meinem Vater zu, „und nun haben wir für zwei Jahre einen Vertrag unterschrieben.“
Am selben Tag ging es noch weiter nach Elisabethbucht, einem kleinen Minenort etwa dreißig Kilometer südlich von Lüderitz, ebenfalls direkt am rauen Atlantik gelegen. Elisabethbucht bestand gerade mal aus einer Handvoll Gebäuden und war, was sehr oft der Fall war, wie sie schnell noch feststellen sollten, in dicken Nebel gehüllt. So weit das Auge reichte, sah man entweder Wasser oder Wüste. Die Gegend war das Einsamste, was sie bisher in ihrem ganzen Leben gesehen hatten.
Die große Diamantenwaschanlage stand bereits und überall wurde noch weiter gebaut und prospektiert. Entgegen des ersten Eindruckes wurde dann doch alles noch sehr aufregend für die beiden Neuankömmlinge. Bevor sie sich weiter über ihr Schicksal Gedanken machen konnten, ging es bereits an die Arbeit. Im neunstündigen Schichtwechsel war die Diamantenförderung sehr interessant und spannend. Die riesigen Maschinen, die sie von nun an betreuen mussten, waren schweres Gerät, speziell für den Zweck der Diamantenförderung gefertigt und erforderten ihr ganzes Schlosserkönnen.
Alle Angestellten waren in kleinen, aus Zementsteinen gebauten Zimmern untergebracht. Verpflegt wurden sie von der Minengesellschaft in einem großen Kantinengebäude. Da es nirgendwo Süßwasser in der Gegend gab, hatte man, um Trinkwasser zu gewinnen, große Glasplatten aufgestellt, mit denen der Nebel eingefangen wurde. Außerdem wurden Unmengen an Getränkeflaschen angefahren, auch reichlich Bier. Sogar ein Casino gab es und so war das Leben mit Arbeit und Freizeitvergnügen doch recht ausgefüllt und gar nicht so einsam wie anfangs befürchtet.
Wenn die beiden Glück hatten und zusammen auf Nachtschicht waren, konnten sie tagsüber – vorausgesetzt, dass keiner der lästigen Sandstürme über die Bucht fegte – gemeinsam am Strand mit Leinen angeln. Angelruten, wie man sie heute benutzt, gab es damals noch nicht. Das Angeln im fischreichen Atlantik begeisterte die Freunde mehr und mehr und sie entwickelten mit der Zeit eine große Leidenschaft dafür.
Nach drei Monaten bekamen Vater und Hermann das erste Mal eine Woche Urlaub und sie fuhren mit dem Minentransport nach Lüderitzbucht, wo sie einkaufen und sich etwas amüsieren wollten. Sie stiegen vor dem Kappshotel, dem einzigen im Ort, ab. Beim Eintritt kam Frau Kapps und jagte beide wieder hinaus mit den Worten: „Raus, Capies sind im Hotel nicht zugelassen!“ Die beiden verstanden das nicht und hatten keine Ahnung, was sie verbrochen hatten. Durch den dreimonatigen Aufenthalt draußen im Seewetter waren sie so braun gebrannt, dass Frau Kapps unter dem festen Eindruck stand, es handelte sich um sogenannte Capies, Farbige aus dem Kapland, die oft auf den Straßen herumlungerten und bettelten. Zum Glück kannte ein anderer Gast Vater und Hermann und so konnte Frau Kapps überzeugt werden, dass sie aus Deutschland kamen und Angestellte der Minengesellschaft waren. Sie wurden dann eingelassen, Frau Kapps entschuldigte sich und gab zur Bereinigung des Missverständnisses einen Schnaps aus. Es wurde noch lange an dem Tag gefeiert. Die Aufnahme in die kleine, geschlossene Gesellschaft von Lüderitz war gelungen.
Mehr als zwei Jahre lebten Vater und Hermann bereits in Elisabethbucht, als sie erfuhren, dass ihr Arbeitsvertrag verlängert werden sollte, sie jedoch irgendwann nach Kolmanskuppe, östlich von Lüderitzbucht, versetzt werden sollten. Bei Kolmanskuppe wurden zwar schon seit Jahren ebenfalls Diamanten abgebaut, der Ort befand sich jedoch immer noch im weiteren Ausbau. Die Wohnhäuser für Kolmanskuppe, so auch das, was man Vater versprochen hatte, mussten erst in Deutschland vorgefertigt, dann per Schiff geliefert und vor Ort, inmitten der Sanddünen, zusammengebaut und aufgestellt werden.
Nun war es an der Zeit, dass Mutter nachkam. Sie verkaufte also ihren Krämerladen, organisierte bei der Verwandtschaft die Versorgung der Großmutter, packte das wenige Hab und Gut der Familie zusammen und schiffte sich mit meinem Bruder Horst nach Südwest ein. Die Wiedersehensfreude meiner Eltern war groß, hatten sie doch Jahre aufeinander gewartet, um eine neue und bessere Zukunft gestalten zu können. Einige Monate verbrachten sie dann noch gemeinsam in Elisabethbucht, bevor sie in das neue Holzhaus in Kolmanskuppe einziehen konnten. Die Wohnhäuser der Minenarbeiter wurden alle mit schönen, neuen Möbeln von der Diamantengesellschaft eingerichtet. Horst wurde gleich in die Schule von Kolmanskuppe eingeschult und ich wurde dort am 21. 06. 1931 im Krankenhaus geboren.
Mutter lebte sich schnell in der neuen Umgebung ein, denn aus Kolmanskuppe war ein sehr kultiviertes Minen-Städtchen mit allem Drum und Dran geworden. Zeitweise galt es sogar als die reichste Stadt Afrikas, es verfügte über Kino, Kegelbahn, Tanzsaal, Turnhalle und sogar eine Eisfabrik. Jede Familie erhielt täglich eine halbe Stange Wassereis für den Kühlschrank. Sogar die erste Röntgenanlage auf der südlichen Halbkugel wurde ins Krankenhaus nach Kolmanskuppe geliefert. Wie alle dort verdiente Vater in der Zeit recht gut und die Gemeinschaft aus fast dreihundert Erwachsenen und etwa vierzig Kindern führte trotz der widrigen Umgebung, inmitten von Sandstürmen und gnadenloser Hitze, ein recht vergnügliches und luxuriöses Leben
Für mich war es eine schöne Kindheit. Meine damaligen zwei kleinen Freunde und ich hatten den größten Sandspielplatz der Welt und wir bauten darin, was man sich als Kind nur vorstellen kann. Während mein Bruder Horst die Schulbank drücken musste, liefen wir überall herum und stellten so manchen Unfug an.
Kolmanskuppe verfügte über ein kleines Schienennetz, um Waren leichter über die Sanddünen transportieren zu können. Der Schienenkontrolleur benutzte eine Schiebetrollie, um die Schienen regelmäßig vom Sand zu befreien und zu warten. Diese Trollie stand oft unbenutzt und unbeaufsichtigt auf den Gleisen und bot uns ein gutes Klettergerüst und Spielzeug. Wir schoben die Trollie zur Zentral-Wäscherei, der Diamantenwaschanlage am Hang, dort gaben wir ihr einen Schubs, sprangen schnell auf und dann ging es in rasender Fahrt bergab. Dieses Spiel trieben wir tagelang, bis die Zeit uns eines Tages einen Streich spielte. Die Lokomotive mit Frachtwaggons aus Lüderitz kam auf den Hauptgleisen angedampft und die Weichen waren inzwischen umgestellt worden. Als ich bemerkte, dass wir nun den falschen Weg einschlugen, schnappte ich mir die Eisenstange, die wir benutzten, um uns bei der Abfahrt abzustoßen und in Fahrt zu bringen, und warf diese vor den rasenden Trollie. Alles entgleiste und wir drei flogen in hohem Bogen durch die Luft. Einer hatte den Arm gebrochen, der andere hatte ein Loch im Kopf, nur ich kam, zumindest vorerst, glimpflich davon mit ein paar Schrammen und blauen Flecken. Der Lokomotivführer, der das alles beobachtet hatte, berichtete sofort bei der Werkstatt über das Unglück und Vater versohlte mir Knirps ordentlich den Hintern. Dies war dann leider das Ende unserer Schienentrollie-Abenteuer.
Dann wurde Mutter krank und konnte sich gar nicht wieder recht erholen. Der Arzt der Gemeinde von Kolmanskuppe, Dr. Krenzel, empfahl, dass sie sich ins Sanatorium nach Deutschland begeben sollte, um sich auszukurieren.
1935 fing man langsam an, die Minenstadt Kolmanskuppe nach Oranjemund, ganz im Süden des Landes, umzusiedeln. Dort hatte man bereits 1929 noch größere Diamanten entdeckt. Auch unsere Familie sollte in absehbarer Zeit nach Oranjemund folgen. Die Eltern beschlossen, dass Mutter, Horst und ich erst einmal nach Deutschland fahren sollten, bis es auch für uns Zeit war, Kolmanskuppe zu verlassen. Vater dachte, nach nun fast acht Jahren Tätigkeit für die Diamantengesellschaft und da die Zukunft in der Branche recht ungewiss erschien, über eine Rückkehr nach Deutschland nach. Überhaupt waren die Zeiten inzwischen nicht mehr ganz so rosig und nicht zuletzt hingen diese Überlegungen auch mit Mutters angeschlagener Gesundheit zusammen. So sollte sie dann auch in der Zeit, die sie und wir Kinder in der alten Heimat verbrachten, einmal die Fühler ausstrecken, ob sie dort einen Platz und auch Arbeitsmöglichkeiten für die Familie sah.
Während Mutter mit den Reisevorbereitungen begann, hatten meine Freunde und ich noch eine schöne Spielzeit, vor allem an der Abrissstelle der Zentral-Wäscherei, wo wir prima klettern und rumturnen konnten.
Eines Vormittags spielten wir im Sand, ziemlich weit vom Haus entfernt. Ich fand einen schönen Stein. Blank blitzte er in meiner Hand und spiegelte das Sonnenlicht wider. Ich steckte ihn in meine Hosentasche und wir spielten weiter. Abends, als Vater nach Hause kam, zeigte ich ihm ganz stolz meinen Fund. Vater nahm den Stein und betrachtete ihn lange. Dann sagte er, etwas blass im Gesicht geworden: „Junge, das ist nichts, so was findest du überall!“ Er ging zum Fenster und warf meinen schönen Stein in einem hohen Bogen in den Dünensand hinaus.
Es hatte sich wohl um einen recht großen Diamanten gehandelt, aber, was ich damals nicht wusste: Niemand, der für die Gesellschaft arbeitete, durfte jemals im Besitz von Diamanten sein. Dies wurde hoch mit Gefängnis und Entlassung bestraft.
Mein Schicksal wurde wohl durch diese Begebenheit nachhaltig geprägt. Die Freunde und ich suchten noch tagelang nach dem Stein, haben ihn aber niemals wiedergefunden. Und den Rest meines Lebens sollte ich von nun an immer wieder mit dem Suchen nach Steinen, Mineralien und anderen Schätzen verbringen. Es war mir von Stunde an ins Blut übergegangen.
Die Zeit kam, um Abschied zu nehmen. Mutter, Horst und ich befanden uns auf dem Dampfer nach Deutschland. Meine liebste Beschäftigung bestand darin, den Matrosen beim Anstreichen des Schiffes zu helfen. So war meine Wäsche immer voller Farbkleckse. Damit Mutter nicht schimpfte, wuschen die Matrosen mir regelmäßig Hemd und Hose. Die lange Zeit der Überfahrt verging so wie im Fluge.
Tante Emma, Vaters Schwester, und ihr Mann Onkel Georg holten uns am Hamburger Hafen ab. Da sie keine eigenen Kinder hatten, nahmen sie uns gerne bei sich auf. Horst wurde in Berlin eingeschult und ich war die meiste Zeit mit Onkel Georg zusammen. In den zehn Monaten, die wir in Deutschland verbrachten, nahm er mich überall mit hin, während sich unsere Mutter langsam im Sanatorium erholte.
Die politische Situation, vor allem in Berlin, wurde jedoch immer angespannter. Die Nationalsozialisten hatten drei Jahre zuvor die Macht übernommen. Zwar unterstützte ein großer Teil der Bevölkerung diese neue Diktatur, aber viele andersdenkende Menschen trauten sich nicht mehr auf die Straße, da sie mit Strafe und Repressalien rechnen mussten. Abweichende politische Meinungen wurden nur noch hinter vorgehaltener Hand geäußert oder lieber gar nicht mehr. Private Briefe wurden geöffnet, kontrolliert und zensiert. Dies betraf auch besonders den Briefwechsel aus den ehemaligen deutschen Kolonien, da diese nun direkt oder indirekt unter britischer Verwaltung standen.
Trotz der damals stattfindenden Olympischen Spiele in einem Berlin voller Euphorie spürte Mutter die unterschwellig sehr bedrückte Stimmung in der Bevölkerung. Ihre Entscheidung bezüglich einer Rückkehr der Familie nach Deutschland war ein klares Nein. Nachdem sie wieder ganz gesund war, schrieb sie an Vater: „Kartoffeln schälen habe ich in Deutschland als junge Frau gelernt, das brauch ich nun nicht mehr zu erlernen.“ Vater verstand diesen Hinweis richtig und organisierte gleich für Mutter und mich die Rückfahrt nach Afrika. Nur mein Bruder Horst blieb vorerst in Deutschland bei Onkel und Tante, um die Schule zu beenden.
Nach unserer Rückkehr nach Südwestafrika Ende 1936 blieben wir nur noch kurz in Kolmanskuppe und siedelten dann über nach Oranjemund. An der Grenze zu Südafrika mündet dort der große Oranje-Fluss in den Atlantik. Im Gegensatz zu fast allen anderen Flüssen im Land führt er beständig Wasser mitten durch die Namib-Wüste und hat im Laufe vieler Jahrmillionen reiche Diamantenvorkommen ins Meer und an die südliche Küste gespült. In der Zwischenzeit waren unsere Häuser mitsamt Möbeln nach Oranjemund gebracht worden und so zogen wir neu in unser altes deutsches Holzhaus in Oranjemund ein.
Anmerkung: Kolmanskuppe und das alte Elisabethbucht sind heute Geisterstädte, die man nur noch als Tourist erleben kann. Die verlassenen Gebäude von Elisabethbucht sind durch Sandstürme und die salzige Luft des Atlantiks wabenartig zerfressen. Sie stehen zum Teil noch als bizarre Ruinen an der Küste des heutigen Namibias. Sofern sie nicht für Besichtigungen teilweise wiederhergerichtet wurden, werden die übriggebliebenen Gebäude von Kolmanskuppe und alles andere, was dort einfach von den Bewohnern zurückgelassen wurde, allmählich von den Dünen der Namib zugedeckt und begraben.
Aus Oranjemund schickten meine Eltern monatlich Geld nach Deutschland um für Kost und Logis für meinen Bruder aufzukommen. Unser südafrikanisches Geld war sehr viel mehr wert als die Deutsche Mark und so profitierten auch Onkel Georg und Tante Emma.
Es gab hier weniger Kinder, mit denen ich mich anfreunden konnte. Doch eines Tages kam ein junger Mann in die Stadt und suchte nach Arbeit. Er wurde als Aufseher bei der Minengesellschaft eingestellt und musste außerdem den Transport für die Schichtwechsel übernehmen. Um die Arbeiter hin und zurück zu transportieren, wurde ihm ein Chevrolet zur Verfügung gestellt. Der junge Mann wurde ein guter Freund meiner Eltern und so bekam ich zu Onkel Hermann noch einen zweiten väterlichen Freund dazu, Pepi Schierie-Lartz.
Da ich meistens alleine war und Mutter nicht auf die Nerven fallen wollte, dachte ich mir einen Plan aus. Wenn mein Vater Nachtschicht hatte, kam er früh morgens nach Hause, um sich schlafen zu legen. Ich wollte unbedingt mal mit zum Abbau fahren. Als Vater dann wieder eines Morgens von Onkel Pepi nach Hause gebracht wurde, wartete ich bereits am Tor, in der Hoffnung, dass Onkel Pepi sich auf meine Seite stellen würde. Ich bettelte laut vor Vater und, wie gehofft, kam dann auch prompt von Pepi der Befehl: „Bruno, steig ein!“ Bevor Vater protestieren konnte, kletterte ich schnell hinten auf die Ladefläche. „Bye-bye, Vater, sag Mutti Bescheid. Ich bin jetzt erst mal weg!“ Wir brausten davon. Das Problem, welches Vater jetzt mit Mutter hatte, war ja nicht mehr meines und von da ab fuhr ich öfter mit Onkel Pepi mit.
Irgendwann ging meine schöne Kinderfreizeit zu Ende. Ich wurde im vierhundert Kilometer entfernten Lüderitzbucht eingeschult und kam ins Schülerheim. Frau Baronin von Krauss war unsere Heimmutter und hütete uns streng, aber doch liebevoll. Wir Kinder aus Oranjemund hatten, trotz der großen Entfernung zu den Eltern, eine schöne Zeit im Schülerheim. Viele deutsche Farmerkinder waren ebenfalls mit uns dort und wir gingen gemeinsam in die Schule. In den Ferien fuhren alle Minenkinder dann mit einem großen Lastwagen den weiten Weg nach Oranjemund zu den Eltern.
Einmal, während dreiwöchiger Ferien, hatte Vater die Gelegenheit, auf Farm Eirub, der privaten Farm von Herrn Hoerlein, dem Betriebsleiter der Mine, etwas dazuzuverdienen. Er musste die Motoren und Maschinen dort warten und reparieren. Mutter und ich durften mitfahren und so lernten wir das erste Mal ein bisschen Südwester Farmleben kennen. Die Farmen im Süden des Landes waren meist Schaffarmen, die mehrere zehntausend Hektar groß sein konnten. Es regnete hier sehr wenig und die Weide bestand aus recht spärlich bewachsenen, weiten und trockenen Grassavannen. Ideale Bedingungen für die genügsamen Schafe, die zur Fell- und Fleischproduktion gezüchtet wurden. Die Farmer brauchten mitunter mehrere Tage, um ihren Besitz abzufahren und dabei hunderte Schafe zu kontrollieren. Der Absatz ihrer Produkte war zu den meisten Zeiten gut und viele von ihnen waren recht wohlhabend. Allerdings entwickelten sich durch das Einsiedlerdasein auch recht eigensinnige Charaktere unter ihnen. Eirub war eine wunderschöne Farm und ich genoss diese Ferien sehr. Leider ging es viel zu früh wieder ins Schülerheim zurück.
Onkel Pepi zog dann irgendwann auf die Nonidas-Kleinsiedlung in der Nähe von Swakopmund. Als „Kleinsiedlung“ bezeichnet man eine kleine Farm oder Bauernhof. Dort betrieb sein Vater eine Milchwirtschaft und Pepi stieg mit in den väterlichen Betrieb ein. Diese ersten Kleinsiedlungen lagen einige Kilometer vor der Mündung des Swakop Riviers, dieses großen Trockenflusses aus dem zentralen Inland. Trockenflüsse werden, nach dem afrikaansen Wort für Fluss, „Rivier“ genannt. Die fruchtbaren und grünen Uferbereiche am Swakop boten die einzige Möglichkeit, etwas Landwirtschaft in der weiten Umgebung der Wüste um Swakopmund herum zu betreiben.
Die politische Stimmung kippte auch hier plötzlich. 1938 teilte man meinem Vater mit, dass er sich naturalisieren lassen müsse, um ein „british subject“ zu werden, andernfalls würde man ihm die Kündigung nahelegen. Dies bedeutete, dass er seine deutsche Staatsbürgerschaft abgeben und dafür die südafrikanische annehmen sollte. Vater war Reichsdeutscher und sprach weder das landesübliche Afrikaans noch Englisch, auch fühlte er sich nach wie vor der deutschen Kultur eng verbunden, so dass er sich zu diesem einschneidenden Schritt nicht durchringen konnte. Wir verließen also CDM und Oranjemund.
Onkel Hermann hatte sich naturalisieren lassen und blieb bei der Mine angestellt. Trotz der nun folgenden unsicheren Zukunft stand für Mutter eines fest und sie sagte zu Vater: „Alles kann ich mir vorstellen, nur nach Deutschland gehen wir nicht!“ Während des Sanatorium-Aufenthaltes in Berlin war ihr nämlich unmissverständlich klar geworden, dass bald Krieg in Europa kommen würde.
Vater kaufte uns in Keetmanshoop ein Auto, einen Nash Lafayette, der uns noch über viele Jahre gute Dienste leisten sollte. Möbel hatten wir keine, da diese ja der Minengesellschaft gehörten. Ohnehin durfte man als Angestellter bei CDM keine eigenen Möbel besitzen, da man ja sonst darin, bei einem Umzug, gut ein paar Steinchen hätte verstecken können.
Zunächst reparierte mein Vater bei einem Herrn Doktor Mehl auf Farm Guinas bei Maltahöhe Motoren und Pumpen. Dann, obwohl wir Deutsche waren und Vater die Landessprache nicht beherrschte, bekam er eine Anstellung als Reparaturschlosser bei der Eisenbahn in Usakos. Usakos lag an der Bahnstrecke Richtung Swakopmund und ich ging dann dort zur Schule. Wir wohnten in einem schönen, großen Steinhaus, welches meine Eltern von einem Herrn Hoffmann mieteten. Herr Hoffmann war der Tischlermeister von Usakos und fertigte uns endlich eigene Möbel an.
Das erste Jahr in Usakos ging schnell vorüber. Mitte 1939, während der Ferien, als wir Onkel Pepi auf Nonidas besuchten, kehrte auch endlich mein Bruder Horst wieder heim und wir holten ihn vom Schiff in Walfischbucht ab. Gerade noch rechtzeitig, denn kurz darauf brach der Zweite Weltkrieg in Europa aus, er hätte eine Rückkehr für ihn unmöglich gemacht. Und Vater musste nun schon wieder kündigen, weil er Reichsdeutscher war.