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EINLEITUNG

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Lufthunde: Das sind in Kafkas Erzählung »Forschungen eines Hundes« jene Wesen, die, obschon zweifellos dem großen Volk der Hunde zugehörig, welchem das warme Beisammensein über alles geht, es sich dennoch herausgenommen haben, allein und auf eigene Faust sich hoch in den Lüften umherzutreiben. Was sie dort oben anstellen, was sie an greifbaren Forschungsresultaten mitbringen, das erscheint alles sehr zweifelhaft. Es kann sogar aussehen, als wären sie bloß ein schönes Fell und ihre Frisuren größer als der ganze Hund. Und trotzdem erfüllen sie in ihrer grandiosen, manchmal traurigen Vereinzelung hoch droben, wo sie nur mit dem Wind zu kommunizieren scheinen, einen wichtigen, wenngleich unbestimmten Auftrag. Wer in der Hundeschaft emporblickt, kann ihre Kontur als kleine Wolken über sich erkennen.

Lufthunde: Wer so eine Sammlung von Essays über die Autoren der deutschen literarischen Moderne tauft, der vereinzelt sie gegeneinander und erteilt ihnen allen dasselbe leichte Gewicht. Aber er handelt nicht respektlos. Er betreibt keine biographischen Studien, aber er blendet auch nicht in werkimmanentem Furor die Tatsache aus, dass nur lebendige Wesen Werke zu schaffen vermögen. Portraits wollte ich geben. So, denke ich mir, wünscht sich jeder schöpferisch Tätige zur Kenntnis genommen zu werden: Dass man über dem Werk nicht den Menschen, und über dem Menschen nicht das Werk vergisst. Tradition genügt nicht; man sollte sich bereit finden, Nachwelt zu sein. Nur im Modus der Nachwelt wird dem Tod das entscheidende Schnippchen geschlagen. Sie ist eine höchtspersönliche Angelegenheit, auf beiden Seiten: jemand ist sie für jemanden. Mit einer Doppel-Ausnahme sind alle Menschen, die in diesem Buch auftauchen, tot, teils schon länger, als man es sich eingestehen möchte; fast ein Jahrhundert trennt uns inzwischen von Kafka. Dazu müssen diese Portraits sich verhalten. Sie müssen ihre Auswahl begründen und jeweils erkennbar machen, was an den Verstorbenen so lebendig und unverjährt ist, dass sie hier ihren Platz finden.

Es kann, so paradox es klingt, belebend auf jemanden wirken, wenn er tot ist. Solang er lebt, bietet sich sein Leben als unentrinnbar progressive Linie dar. Alles, was vor dem gegenwärtigen Augenblick liegt, den er mit sämtlichen anderen jetzt Lebendigen teilt und dessen Tyrannei er nicht zu entrinnen vermag, kann nur als vorbereitender Weg ins Jetzt gedeutet werden. Der Tod erst hebt diese unbedingt verpflichtende Linie auf und zerbricht das gewesene Leben in seine einzelnen Punkte, die plötzlich Selbständigkeit erlangen. So gewinnt das einstige Besondere, der geglückte Abend zum Beispiel, der sich nie wiederholen sollte, eine absolute Freiheit, die es nie zuvor genoss. Aus Stationen werden gültige Orte. Man muss dann den mittleren Nietzsche nicht mehr im Zeichen des sich anbahnenden Wahnsinns lesen, und in Gertrud Kolmars Lyrik nicht mehr nach den Vorahnungen von Auschwitz fahnden. Das Unwissen von dem, was noch kommen soll, ist der vitale Kern jedes Menschen (unserer auch). Es könnte keiner glücklich sein, der seine Zukunft kennt, nicht einmal wenn es eine glückliche Zukunft wäre.

Die Form des Portraits und seine entschiedene Tendenz zum Kontrahieren nimmt die Figur aus der Zeit heraus und erstattet sie an den Raum. Fünfzehn solcher Portraits also habe ich zusammengestellt, eine angemessen unrunde Zahl. Das Zufällige und das Unzufällige haben dabei, wie in einem Kartenspiel, ihre Rolle vereint gespielt. Manche Autoren gerieten en face ins Visier, manche wurden im Halbprofil angeschnitten, je nachdem was der Aufgabe zu entsprechen schien. Manche sind vergrößert, manche verkleinert aus dem Prozess hervorgegangen; Pietät wurde nicht geübt. Die hier versammelten Texte sind zu verschiedenen Gelegenheiten entstanden, gern zu runden Geburts- und Todestagen – sie gehen aus der Zeitlichkeit hervor, um ihr Trotz zu bieten. Der Begriff der Moderne scheint, nach beiden Seiten, von mir ein wenig überstrapaziert, indem sowohl schon Wilhelm Busch als auch noch Martin Walser und Günter Grass ihren Platz finden. Entscheidend war, dass sich mir die Autoren als eine frische Vorwelt darboten, deren wirkende Kraft sich in der Gegenwart spüren lässt (Walser und Grass mögen mir verzeihen, die Bücher, von denen ich spreche, sind fünfzig Jahre alt); und dass sie in meiner Sprache, dem Deutschen, schrieben.

In vier Gruppen habe ich die Texte sortiert. Sie kriegen keine eigenen Titel, das hieße den Lufthunden Gewalt antun. Aber in ihr schwebendes Muster darf man doch so etwas wie Sternbilder hineinsehen. Darum erscheint als I: Die Ursprünge im 19. Jahrhundert, Busch, Nietzsche, Freud; als II: die Lyriker, Kolmar, Rilke, Kraus, Oppenheim (deren künstlerische Eigenart sich jedenfalls als eine lyrische bezeichnen lässt), Morgenstern; als III: die Prosa-Autoren, Kafka, Thomas Mann, Hesse, Keun; und als IV die immer noch Umstrittenen, mögen sie teils auch tot sein, Benn, Jünger, Grass/​Walser.

Besonders danke ich Anne Hamilton, die dieses Buch ermöglicht hat, indem sie es mir abverlangte. Sie verfügt über die bemerkenswerte Fähigkeit, schon ein Buch zu sehen, wo andere Leute vorerst nichts als einen Haufen Zettel erblicken.

Lufthunde

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