Читать книгу Lufthunde - Burkhard Müller - Страница 9
NIETZSCHESTECHEN
ОглавлениеEs gab früher eine besondere Art von Losorakel, das seinen Ursprung wohl in den innigeren Traditionssträngen des Protestantismus hat, dem Quietismus, dem Pietismus und wie sie alle heißen: das Bibelstechen. Man stellte der Heiligen Schrift eine Frage, die das persönliche Schicksal betraf, griff dann zu einer Strick-, Spick- oder Stopfnadel, einem langen spitzen Gerät jedenfalls, das den Körper des Buchs in voller Länge zu durchdringen vermochte, stach hinein, entschied sich noch für rechts und links – und da stand der Spruch, der unfehlbaren Aufschluss gab, wenngleich man ihm diesen oft erst durch langes und manchmal gewundenes Nachdenken entlocken musste. Den Amtskirchen war diese Art von privater Hermeneutik wohl immer ein Dorn im Auge, weil er dem Hauptstrom der Verkündigung ein kleines Wässerlein entzog, das jemand auf seine eigene Mühle zu lenken trachtete. Und es steckt gewiss auch ein frivoles Moment darin. Dieses muss sich verstärken, wo der Glaube schwächer wird. Auch ich, ein Heide, habe dieses Orakel verschiedentlich bemüht und andere ermutigt, es mir gleichzutun; ein Gesellschaftsspiel haben wir daraus gemacht. Aber darum waren die Fragen, die wir an das Buch richteten, doch immer bedeutsame – und die Antworten nicht minder; ja zuweilen war es erheiternd bis gespenstisch, wie ohne Umschweife der entlegene Vers auf das, was wir ihn fragten, passte. Glaubte man ihm? Nichts weniger. Und tat es doch in jener Weise, wie der Aberglaube es zu tun pflegt, nämlich im Erlebnis der guten oder schlechten Laune, in die man sich versetzt fand, je nachdem. In dieser Gestimmtheit besuchen pietätlose Touristen ein Spukschloss. Den Spuk erklären sie für Unfug und wären doch enttäuscht, wenn sie herausfänden, dass die Überlieferung ihn in Wahrheit einem anderen Ort zuschreibt und sie sich bei der Wahl ihres Reiseziels geirrt hätten. Sie wären sogar imstande, ihr Geld zurückzuverlangen, weil sie sich betrogen fühlen. Das sind so die homöopathischen Spätzustände der Geschichte.
Ein entsprechendes Stechen in den Gesammelten Werken Friedrich Nietzsches kann nicht ganz auf dieselbe Art funktionieren. Wir taten es zu zweit, nachdem wir einen langen, erschöpfenden Abend mit der Behandlung eines anderen literarischen Werks verbracht hatten: abschließend, zur Erholung und damit so etwas wie ein Ausklang da wäre. Während es mit der Bibel, auch im Zeitalter ihrer Säkularisierung, ja immer so steht, dass nicht wir sie prüfen (obwohl wir das vorgeben), sondern sie uns, musste es bei Nietzsche umgekehrt sein. Es ist ein Werk, groß genug, dass es sich verlohnt, es in jedem seiner Sätze einzeln zu untersuchen; aber doch eben wieder allzu deutlich Menschenwerk, als dass der Reiz dieses Verfahrens nicht eben vor allem darin bestünde, es dem Urteil auszusetzen. Nicht »Was sagst du mir?« konnte die Frage lauten, sondern »Was soll ich von dir halten?« Das ist übermütig bis zur Anmaßung, aber angesichts eines unabsehbar gewordenen Ruhmes hilft es womöglich weiter. »Nietzsche als solcher«, das ist ein Trumm, vor dem jeder instinktiv zurückschreckt. (Tucholsky erzählt von einem wiederkehrenden Albtraum: Es ist Deutschabitur, alle warten gespannt auf die Stellung des Aufsatz-Themas, da kommt es: Goethe als solcher. Schweißgebadet erwacht er.) Aber wenn es gelänge, Nietzsche nach einem zuverlässig kaleidoskopischen Verfahren zu sondieren, da könnte was herausspringen – zumal Nietzsche, speziell der mittlere, ja selbst dazu neigt, das Werk in kleinen Portionen vorzusetzen, durchnumeriert, um das Zufällige zu betonen, das in jeder Reihe herrscht, so dass man die Gefahr, hier etwas aus dem Zusammenhang zu reißen, als gering taxieren darf. Er will, was er zu sagen hat, durchaus in Brocken geben? Testen wir also die Brocken!
Drei oder vier Stiche wagten wir an jenem späten Abend und waren angenehm enttäuscht: enttäuscht, wie wenig er Stich hielt, in des Wortes buchstäblicher oder mindestens absätzlicher Bedeutung; aber doch angenehm, in welchem Grad wir der Zwiesprache teilhaftig wurden. Ja, an den mittleren hielten wir uns, der redet und mit sich reden lässt, und führten die Stiche mit einer gewissen vagen Vorauswahl (wie es beim Bibelstechen der tut, der möglichst weit hinten stochert, in der Hoffnung, ein Kraftwort aus der Apokalypse zu ergattern). Denn wir wussten gut genug, dass der späte nicht minder als der frühe Nietzsche vor allem Stil ist, ein ihn selbst arg strapazierender Stil; dass er dort ganz in sich befangen bleiben muss und sich dem anderen nur um bewundert zu werden, also: gar nicht öffnet. Den »Zarathustra« muss man zuallererst mögen oder nicht mögen; da bleibt die Frage nach seiner Wahrheit auf der Strecke, jene Frage, die dem, der sie stellt, immer sofort eine überschwengliche Freiheit beschert.
Auf was wir damals stießen, tut jetzt nichts mehr zur Sache. Jetzt halte ich die Nadel (einen hölzernen Schaschlikspieß) neu in der Hand und warte nicht ohne Bangen, worauf die kecke Wünschelrute wohl diesmal zeigt. Die Reaktion erfolgt im Kommentar, assoziativ, beipflichtend, weiterführend, einwendend, je nachdem, es soll hier keine Regel geben. Nur eine regulierende Bedingung führe ich ein: Wo das erstochene Stück mehr als zwanzig Zeilen hat, also zu viel, um in seiner Gänze Präsenz zu erlangen, lasse ich es beiseite und versuche es noch einmal.
Erster Stich: Menschliches, Allzumenschliches,
Erster Band: Anzeichen höherer und niederer Kultur, Nr. 266
»Unterschätzte Wirkung des gymnasialen Unterrichts. – Man sucht den Wert des Gymnasiums selten in den Dingen, welche wirklich dort gelernt und von ihm unverlierbar heimgebracht werden, sondern in denen, welche man lehrt, welche der Schüler sich aber nur mit Widerwillen aneignet, um sie so schnell er darf von sich abzuschütteln. Das Lesen der Klassiker – das gibt jeder Gebildete zu – ist so, wie es überall getrieben wird, eine monströse Prozedur: vor jungen Menschen, welche in keiner Beziehung dazu reif sind, von Lehrern, welche durch jedes Wort, oft durch ihr Erscheinen schon einen Mehltau über einen guten Autor legen. Aber darin liegt der Wert, der gewöhnlich verkannt wird – dass diese Lehrer die abstrakte Sprache der höhern Kultur reden, schwerfällig und schwer zum Verstehen, wie sie ist, aber eine hohe Gymnastik des Kopfes; dass Begriffe, Kunstausdrücke, Methoden, Anspielungen in ihrer Sprache fortwährend vorkommen, welche die jungen Leute im Gespräche ihrer Angehörigen und auf der Gasse fast nie hören. Wenn die Schüler nur hören, so wird ihr Intellekt zu einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise unwillkürlich präformiert. Es ist nicht möglich, aus dieser Zucht völlig unberührt von der Abstraktion als reines Naturkind herauszukommen.«
Dieses Gymnasium hat mit dem heutigen nicht mehr viel Ähnlichkeit. Dieses Gymnasium, das ganz auf den Frontalunterricht in den alten Sprachen setzt, kannte ich (Bayern 1970 – 80) noch zum Teil. Es war, obwohl gern das Gegenteil behauptet wird, keine eigentlich gute Schule; vielleicht ist heute tatsächlich vieles besser, mindestens nicht mehr so dumpf. Wenn ich mich erinnere, erstaunt mich vor allem, was ich damals nicht erkennen konnte oder für selbstverständlich hielt, mit wie geringem Aufwand oder sagen wir lieber gleich: mit welcher Faulheit diese Lateinlehrer alle durchkamen. Auf etlichen von ihnen lag nicht nur jener Mehltau, von dem Nietzsche spricht, er faltete sich geradezu aus der Fläche in bizarren Wucherungen auf. Mit der alten Schule ist auch der völlig durch seine Marotten charakterisierte Lehrer dahin. Das ist ein Verlust im Malerischen, sonst wohl eher nicht. Nietzsche spricht offenbar in erster Linie von jenem Zögling, der er war, also dem, der von allem Lernbaren unter doch widrigen Umständen das Maximum gelernt hat; er selbst war der ideale Schüler, den er im Auge hat. Und sogar der erreichte das wahre Lernziel, von dem die Institution und ihre Mitwirkenden gar keinen Begriff haben (was taugt sie also als solche, als Institution?), auf vorwiegend indirektem Weg. Dabei lernt doch, wie es im »Faust« heißt, jeder nur, was er lernen kann, und das heißt jedenfalls: die anderen noch weniger. Hier liegt das Fragwürdige dessen, was man als das Argument der formalen Bildung kennt. Heute schaffen die Gymnasiasten allerdings durch die Bank etwas, das Nietzsche für schlechterdings unmöglich erklärt hatte, nämlich das Gymnasium als reine Naturkinder zu verlassen. Das habe ich erst gestern erleben dürfen, als ich meinerseits mit den frischgebackenen Studenten den lateinischen Konjunktiv durchnahm und rasch darauf stieß, wie wenig Sinn bei ihnen für den deutschen Konjunktiv waltet. Der Konjunktiv kann als der Prüfstein dessen gelten, was Nietzsche meint, als der Inbegriff der »abstrakten Sprache der höhern Kultur«. Damit also ist es nichts.
Über Nietzsches Text liegt etwas unerwartet Frohgemutes, das angesichts der eingestanden miserablen Qualität des genossenen Unterrichts erstaunt. Zwischen Unterricht und Bildung, Lehrern und Lehre setzt er ein Verhältnis an, wie es im Mittelalter zwischen empirischer Kirche und vorausgesetztem Christentum, lästerlichem Pfaffen und verheißenem Heil bestand. Niemals vermag der schlechte Mönch das Sakrament, das er erteilt, zu beflecken und zu entweihen, hier vollzieht sich etwas Übergroßes durch ihn hindurch kraft einfachen Amtes. Und auch dass der Empfänger ein arger Sünder oder gänzlich unreif ist, stellt kein Hindernis dar. So wirkt im Internat Schulpforta, das Nietzsche besuchte, das alte Kloster fort, das es vorher war. Diese Zuversicht, die keine pädagogische, sondern eine metaphysische ist, hat es ihn gelehrt, obschon er es nicht weiß. Die wahre Tradition wirkt immer unterirdisch. Das eben will uns Nietzsche sagen, und tut es um so überzeugender, als er selbst den Prozess nur zur Hälfte durchschaut und uns zur anderen Hälfte stattdessen ein bewusstloses Exempel gibt.
Zweiter Stich: Menschliches, Allzumenschliches,
Zweiter Band: Der Wanderer und sein Schatten, Nr. 312
»Zerstören der Illusionen. Die Illusionen sind gewiss kostspielige Vergnügungen: aber das Zerstören der Illusionen ist noch kostspieliger – als Vergnügen betrachtet, was es unleugbar für manchen Menschen ist.«
Kürze ist ein lohnenswertes stilistisches Ziel; aber keine Tugend, welche ihren Lohn in sich selbst trägt. Man sollte niemals der Kürze Opfer der Klarheit bringen, lieber noch zwei bis drei Sätze hinzufügen, um komplettes Verständnis zu sichern. Sonst gelangt man beim Aphorismus heraus, der letztlich nichts anderes als die Hohlform der Geschwätzigkeit darstellt. Denn er setzt seinen Ehrgeiz und seine Eitelkeit in die Andeutung, wieviel mehr als das manifest Vorhandene der Autor sich noch gedacht habe; und der Leser wird ermuntert bis genötigt, es ihm darin nachzutun. Im Aphorismus will der Gedanke glänzen, aber das soll er nicht wollen; Glanz darf er nur nebenbei und gewissermaßen unwillkürlich erreichen, als ein Abfallprodukt des Transparenten, wie eine Fensterscheibe, die, in bestimmtem Winkel gedreht, das Licht zurückwirft, das sie sonst durchlässt. Dieses Stück hier schrammt für meinen Geschmack schon gefährlich dicht am Aphorismus entlang – namentlich in dem Wortspiel von »Vergnügungen« und »Vergnügen«. Die zwei kommen rein zufällig zusammen, im ersten Fall ist es eine ziemlich unbedachte feste Redewendung, im zweiten Fall aber im Ernst etwas, worin der, der es tut, seine Lust findet. Der Satz ist minder tief, als er glaubt; er geht sich sozusagen selbst auf den Leim, er ist ein Stück entfesselte Geistreichelei. Nietzsche sagt an anderem Ort durchaus das Nötige über den Unterschied des Geistreichen und des Gedankenvollen; hier hat er es vergessen. Heißt dieser Satz noch etwas anderes, als dass z. B. der Fromme viel Geld für Blattgold und Räucherkerzen verbraucht, man es ihm aber in Gottesnamen nicht madig machen soll, weil die Enttäuschung allzugroß für ihn wäre, größer jedenfalls als die Einbußen, die er durch seine Andacht erleidet? Darüber sollte man nachdenken – und sich gleichzeitig den viel größeren Ernst vor Augen halten, mit dem Sigmund Freud dasselbe Thema in »Die Zukunft einer Illusion« behandelt hat. Freud hat übrigens niemals Aphorismen geschrieben, das hätte sein ärztliches Ethos ebensowenig zugelassen wie die Ausstellung eines unleserlichen Rezepts.
Dritter Stich: Die Fröhliche Wissenschaft,
Viertes Buch: Sanctus Januarius, Nr. 328
»Der Dummheit Schaden tun. – Gewiss hat der so hartnäckig und überzeugt gepredigte Glaube von der Verwerflichkeit des Egoismus im ganzen dem Egoismus Schaden getan (zugunsten, wie ich hundertmal wiederholen werde, der Herden-Instinkte!) namentlich dadurch, dass er ihm das gute Gewissen nahm und in ihm die eigentliche Quelle alles Unglücks suchen hieß. ›Deine Selbstsucht ist das Unheil deines Lebens‹– so klang die Predigt jahrtausendelang: es tat, wie gesagt, der Selbstsucht Schaden und nahm ihr viel Geist, viel Heiterkeit, viel Erfindsamkeit, viel Schönheit; es verdummte und verhässlichte und vergiftete die Selbstsucht! – Das philosophische Altertum lehrte dagegen eine andere Hauptquelle des Unheils: von Sokrates an wurden die Denker nicht müde zu predigen: ›eure Gedankenlosigkeit und Dummheit, euer Dahinleben nach der Regel, eure Unterordnung unter die Meinung des Nachbars ist der Grund, weshalb ihr es so selten zum Glücke bringt – wir Denker sind als Denker die Glücklichsten.‹ Entscheiden wir hier nicht, ob diese Predigt gegen die Dummheit bessere Gründe für sich hatte als jene Predigt gegen die Selbstsucht; gewiss aber ist dies, dass sie der Dummheit das gute Gewissen nahm – diese Philosophen haben der Dummheit Schaden getan!«
Das ist ein sehr anregender Text; anregend bis zu dem Punkt, wo man sein Falsches erkennt. Über die Quelle seines bestechenden Irrtums kann Nietzsche sich nicht im klaren sein. Sie liegt, wie schon beim letzten Fall, im unbedachten Doppelsinn eines Worts, hier der »Dummheit«. Dummheit oszilliert ja immer zwischen den Polen des Intellektuellen und des Moralischen – wobei diejenigen, die sich dem Thema mit den Energien des Zorns gewidmet haben, alle auf der moralischen Seite gelandet sind. Dies geschieht freilich erst im Zeitalter Nietzsches selbst, dem 19. Jahrhundert. Als Nietzsches Zeitgenosse schreibt Gustave Flaubert an dem semidokumentarischen »Wörterbuch der vorgefassten Meinungen«. (»Dictionnaire des Idées Reçues«). Nie hat ein Bußprediger leidenschaftlicher gegen die Sünde gewettert als Flaubert gegen die Dummheit, und nie auch nur annähernd so verzweifelt, denn Flaubert steht keine regulative Idee zur Seite, die zum Bestrittenen das Andere wäre, wie die Nächstenliebe (oder auch die Hölle) es zum Egoismus ist, kein Licht in der Nacht; Flaubert erstickt vor ratlosem Hass, das ist sein Schicksal, in dieser Verfassung stirbt er. Solche Dummheit, solche tiefste, hoffnungsloseste Verkommenheit ist gemeint, wenn es heißt, dass mit ihr die Götter selbst vergebens kämpfen. (Die Wendung stammt von Schiller, den man jedenfalls hinsichtlich seiner Wirkung ganz dem 19. Jahrhundert zurechnen darf.) Diese Dummheit ist vom Egoismus nicht geschieden, sondern fasst ihn unter dem Aspekt seiner anstrengungsfreien Unbelangbarkeit, die ihren von vornherein verlorenen Widersacher mit lebenszerfressender Erbitterung füllt. Sie ruht gesichert in der Tautologie: Denn dumm sein heißt, es bleiben wollen.
Diese eminent moralische Kategorie ist aber eindeutig nicht, was die antike Philosophie im Sinn hatte. Schon die entsetzlich gute Laune, die Philosophen wie Sokrates und Seneca versprühen, lenkt den Blick darauf, dass sie es unmöglich mit derselben Dummheit wie Flaubert zu tun haben können. Mit größerem Recht spräche man hier von einer ursprünglichen Unbedarftheit, die zu beheben die Philosophie ja eben antritt. Sie, die bloße »Meinung«, soll in einem pädagogischen Zweistufenprogramm beseitigt werden. Schritt eins: die Haltlosigkeit des bisherigen intellektuellen Zustands wird nachgewiesen, das Falsche beim Namen genannt und damit ausgeräumt. Hier kratzt sich der Gegenstand der philosophischen Pädagogik am Kopf und sagt, »Fürwahr, Sokrates, ich weiß es nicht mehr«. Schritt zwei: anstelle des Falschen tritt nach und nach das Richtige. Die Gesprächsbeiträge des anderen Dialogpartners tendieren nunmehr sehr zur Kürze, denn er hat nur noch zuzustimmen. Danach bedarf es keines weiteren bekehrenden oder umkehrenden Aktes; das Richtige erkennen und es auch tun hält die Antike für wesensgleich. Der Weise, der Gute und der Glückliche sind für sie ein und dieselbe Figur, die der Welt nur mal diese und mal jene Seite ihres Dreiecks zuwendet; und umgekehrt erklärt sie ebenso dumm, bös und unglücklich für kongruent. Die Bosheit zu verdammen und an der Dummheit zu verzweifeln, gibt es gar keinen Grund, denn beide sind ja schon mit sich selbst hinlänglich gestraft, in ihrem Unglück nämlich. »Schaden getan«, wie Nietzsche meint und wie Flaubert es allzugern bewirkt hätte, hat die antike Philosophie der Dummheit nie; sie betrachtete die Dummheit als eine Krankheit und sich als den Arzt, und nicht Schaden tun, sondern heilen war ihre Absicht. Hier liegt der Hauptunterschied zu dem, was die christliche Predigt dem Egoismus zufügen will; denn der Egoismus ist auf seine Weise ja durchaus immer gesund, so gesund wie es der Teufel eben zu sein pflegt, und muss anders, mit anderen Mitteln und anderen Zwecken, bekämpft werden. Das Christentum respektiert das Böse (und eben dieses erkennt sie im Egoismus) als Gegner eigenen Rechts, statt es als bloßen Defekt herausschneiden zu wollen. Die antike Philosophie hingegen (die vor allem eine Ethik ist) verfehlt das Böse kategorial und wird darüber, in ihrem übertrieben optimistischen Menschenbild, selber dumm. Das Christentum erst machte mit der furchtbaren Seichtheit des antiken philosophischen Denkens ein Ende, es zerstieß die Wand dieses allzu heiteren Nichtschwimmerbeckens zum Ozean aus Heil und Verdammnis – nicht ohne bald in seiner eigenen Dummheit zu versacken, wie Nietzsche anzumerken nicht unterlässt. – So also erliegt Nietzsche der vorsprengenden Wucht seiner Assoziationen. Auf Höhe des Wortes »Dummheit« liegt eine dünne Stelle, der Funke springt falsch über, und der Gedankenblitz zündet als Kurzschluss.
Vierter Stich: Jenseits von Gut und Böse: Unsere Tugenden, Nr. 231
»Das Lernen verwandelt uns, es tut das, was alle Ernährung tut, die auch nicht bloß ›erhält‹–: wie der Physiologe weiß. Aber im Grunde von uns, ganz ›da unten‹, gibt es freilich etwas Unbelehrbares, einen Granit von geistigem Fatum, von vorherbestimmter Entscheidung und Antwort auf vorherbestimmte ausgelesene Fragen. Bei jedem kardinalen Probleme redet ein unwandelbares ›das bin ich‹; über Mann und Weib zum Beispiel kann ein Denker nicht umlernen, sondern nur auslernen – nur zu Ende entdecken, was darüber bei ihm ›feststeht‹. Man findet beizeiten gewisse Lösungen von Problemen, die gerade uns starken Glauben machen; vielleicht nennt man sie fürderhin seine ›Überzeugungen‹. Später – sieht man in ihnen nur Fußtapfen zur Selbsterkenntnis, Wegweiser zum Probleme, das wir sind – richtiger, zur großen Dummheit, die wir sind, zu unserm geistigen Fatum, zum Unbelehrbaren ganz ›da unten‹. – Auf diese reichliche Artigkeit hin, wie ich sie eben gegen mich selbst begangen habe, wird es mir vielleicht eher schon gestattet sein, über das ›Weib an sich‹ einige Wahrheiten herauszusagen: gesetzt, dass man es von vornherein nunmehr weiß, wie sehr es eben nur – meine Wahrheiten sind.«
Ein eigentümlich umwegiger Text. Man weiß erst gar nicht, was er will, merkt bloß etwas befremdet, wie hier das Pompöse – »Fatum«, »Granit«, »vorherbestimmt«, »ausgelesene Fragen«, »kardinales Problem« – Hand in Hand geht mit dem Herumdrucksen des »ganz ›da unten‹«, dieses auch noch, zum Zeichen des schlechten Gewissens, in Gänsefüßchen gesetzt. (Es gibt hier allgemein sehr viele Gänsefüßchen.) Das, worum es sich in Wahrheit handelt, wird in einem Understatement, das an Falschmeldung grenzt, mit einem ›zum Beispiel‹ hereinbugsiert. Das Weib also. Seine Angst davor und sein Unglück, das daraus entspringt, kann Nietzsche nicht zugeben, am allerwenigsten aber seinen Mangel an Erfahrung mit diesem imaginierten Wesen. Es ist lustig und traurig zugleich, wie er hier zwischen Umlernen und Auslernen den Unterschied macht, wo er doch kaum zum Anlernen gekommen ist, und mit was für miserablen Exemplaren: seiner Mutter, seiner Schwester und der schlimmsten von allen, der Sammlerin bemerkenswerter Männer Andreas-Salomé. Auf dieses vampirische Terzett lassen sich keine verallgemeinerungsfähigen Aussagen gründen. Aber um sein höchstpersönliches Pech zu maskieren, muss Nietzsche tun, als hätte er unter keinen Umständen was Besseres gekriegt, weil die anderen nämlich auch alle so sind. Die Brüste sind ihm viel zu sauer. Er flüchtet sich, was er mit seiner feinen Psychologie bei einem anderen sofort durchschaut hätte, aus der Scham in den Trotz. Wenn einer mit dieser Geste sagt »meine Wahrheiten«, dann kann man Gift drauf nehmen, dass es noch nicht mal seine Wahrheiten sind. Interessant ist die Sache mit den Fußtapfen zur Selbsterkenntnis, die man nach einiger Lebenszeit aus seinen verschiedenen und scheinbar ganz getrennt-zufälligen Erlebnissen lesen kann. Damit dieser Gedanke aber Wahrheit erlangte, müsste er mit mehr Freiheit entwickelt sein und nicht so völlig aus dem unfruchtbaren Geist der Defensive.
Fünfter Stich: Menschliches, Allzumenschliches,
Erster Band: Von den ersten und letzten Dingen, Nr. 32
»Ungerechtsein notwendig. – Alle Urteile über den Wert des Lebens sind unlogisch entwickelt und deshalb ungerecht. Die Unreinheit des Urteils liegt erstens in der Art, wie das Material vorliegt, nämlich sehr unvollständig, zweitens in der Art, wie daraus die Summe gebildet wird, und drittens darin, dass jedes einzelne Stück des Materials wieder das Resultat unreinen Erkennens ist, und zwar dies mit voller Notwendigkeit. Keine Erfahrung zum Beispiel über einen Menschen, stünde er uns auch noch so nah, kann vollständig sein, so dass wir ein logisches Recht zu einer Gesamtabschätzung desselben hätten; alle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Endlich ist das Maß, womit wir messen, unser Wesen, keine unabänderliche Größe, wir haben Stimmungen und Schwankungen, und doch müssten wir uns selbst als ein festes Maß kennen, um das Verhältnis irgendeiner Sache zu uns gerecht abzuschätzen. Vielleicht wird aus alledem folgen, dass man gar nicht urteilen sollte; wenn man aber nur leben könnte ohne abzuschätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! – denn alles Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein. Ein Trieb zu etwas oder von etwas weg, ohne ein Gefühl davon, dass man das Förderliche wolle, dem Schädlichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Wert des Zieles existiert beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen und können dies erkennen: dies ist eine der größten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins.«
Die hier angewendete Art, Texte auszuwählen, führt dazu (und das darf man nicht nur als einen Nachteil buchen), dass auch solche zum Vorschein kommen, die sonst kaum jemand der näheren Betrachtung gewürdigt hätte. Einige der vorherigen Stücke waren problematisch; dieses darf man mit Fug und Recht als schwach bezeichnen. Es hält sein Thema nicht. Zunächst scheint es um den Wert des Lebens überhaupt zu gehen, man vermutet eine Abrechnung mit den pessimistischen Theorien; auf sehr pedantische Weise wird auseinandergesetzt, warum wir keine vollständigen Daten zum Wert des Lebens gewinnen können, was wenig zur Sache tut. Dann aber, wiederum gelockt von nur einem Wort (»ungerecht«) und unter dem Vorwand des Beispiels, springt Nietzsche in eine völlig andere Bahn über: Plötzlich geht es darum, ob wir unsere Mitmenschen billig beurteilen können. Das können wir natürlich nicht. (Übrigens schließt das die Weiber ein – man sollte Nietzsche öfters mit sich selbst konfrontieren.) Wo, bitte, steckt hier das Problem? Sollte es je eins gewesen sein, so hat es sich jedenfalls nicht bis in unsere Zeit gehalten und ist verdunstet. Auch die beklagte »Disharmonie« wurde nicht aufgelöst, sondern ist verklungen, so ähnlich wie manche andere, die sich auf Nietzsche zurückführt, z. B. der Antagonismus von Künstler und Bürger im »Tonio Kröger« von Thomas Mann. Dass der Mensch ein grundhaft unlogisches Wesen sei, darf man getrost verneinen. Nicht folgerichtig bis in jenes Letzte, in dem doch zumeist auch ein geheimer Fehler steckt, der, wenn man nicht einschreitet, monströse Irrtümer zeitigt, unterwirft er sich doch von Sekunde zu Sekunde den einströmenden Daten und mittelt seine Stellung dazu aus, die so gut wie immer eine sehr vernünftige Näherung ans je Erforderliche mit sich bringt. Ein Individuum ist er halt, in jedem seiner ungezählten Exemplare, dem die Justierung auf das ihn umgebende Allgemeine nicht erlassen wird. Gerechtigkeit ist seine geringste Sorge. Übrigens kann jeder, der sich umhört, feststellen, dass das, was die Leute so übereinander sprechen, abgesehen von einer gewissen spitzen Neugier, die aber selten bösartig wird, einander sehr große Gerechtigkeit widerfahren lassen. Und wo sie aus konventioneller Gedankenlosigkeit ihre Einwände zu Protokoll geben, etwa wenn eine ältere Frau und ein sehr viel jüngerer Mann zusammenfinden, dann genügt meist eine einzige lenkende Bemerkung – Bedenkt, das Glück der beiden hängt auch davon ab, was ihr davon redet! –, um sie zur Besinnung zu bringen. Das Gerechtigkeitsgefühl waltet in den Meisten wie ihr Gleichgewichtssinn: rein subjektiv, aber doch mit einer blitzschnellen praktischen Unfehlbarkeit begabt, die verhindert, dass irgendwas kippt und stürzt. Selbst die Ungerechtigkeit kann man, mit jener erheblichen Lust, die dem Ausübenden von seiner besonderen Kunst gewährt wird, ins Joch der Gerechtigkeit zwingen. Dazu braucht man allerdings Übung. Man kann es lernen, sein Ressentiment als Leitspur zu gebrauchen. Hier stimmt was nicht, das sagt mir meine Nase – doch was? Hier muss man dann vom Geruch zum nachweislichen Augenschein übergehen. Und Gerechtigkeit, auch das sollte nicht vergessen werden, ist nicht alles; in den besten, wichtigsten, fruchtbarsten menschlichen Beziehungen kann ihr immer karges Kalkül vor lauter Großmut gar nicht Fuß fassen. Die Luft um dieses Thema ist nicht so gewitterhaft, wie Nietzsche uns glauben machen will.
Sechster Stich: Morgenröte, Drittes Buch, Nr. 194
»Eitelkeit der Morallehrer. – Der im ganzen geringe Erfolg der Morallehrer hat darin seine Erklärung, dass sie zu viel auf einmal wollten, das heißt, dass sie zu ehrgeizig waren: sie wollten allzugern Vorschriften für alle geben. Dies aber heißt im Unbestimmten schweifen und Reden an die Tiere halten, um sie zu Menschen zu machen: was Wunder, dass die Tiere dies langweilig finden! Man sollte begrenzte Kreise sich aussuchen und für sie die Moral suchen und fördern, also zum Beispiel Reden vor den Wölfen halten, um sie zu Hunden zu machen. Vor allem aber bleibt der große Erfolg immer dem, welcher weder alle, noch begrenzte Kreise, sondern einen erziehen will und gar nicht nach rechts und links ausspäht. Das vorige Jahrhundert ist dem unsern eben dadurch überlegen, dass es in ihm so viele einzeln erzogene Menschen gab, nebst ebenso vielen Erziehern, welche hier die Aufgabe ihres Lebens gefunden hatten – und mit der Aufgabe auch Würde, vor sich und aller anderen ›guten Gesellschaft‹.«
Der Morallehrer als zertifizierte Profession scheint sich heute erledigt zu haben – was natürlich nur bedeutet, dass er auf bedeutend niedrigerem Niveau wiederkehrt. Gäbe es so etwas noch ausdrücklich und anerkanntermaßen, hätten niemals Figuren wie Ulrich Wickert oder Peter Hahne auftretenkönnen. Es setzt sich also ein Niedergang fort, den bereits Nietzsche selbst beklagt, wenn er das achtzehnte Jahrhundert gegen das neunzehnte ausspielt. Um die Moral braucht einem deswegen aber nicht bange zu sein, sie stellt sich überall von selbst ein, wo Menschen nur überhaupt in Gesellschaft leben, also immer, wie die Hormone in der Pubertät. Wahrscheinlich ist der Erfolg der Morallehrer in jeder Epoche extrem gering gewesen. Schopenhauer, von dem Nietzsche anfänglich viel hielt, hatte das behauptet, und zwar gerade angesichts der in diesem Stück glorifizierten Erziehungsverhältnisse von früher: Wer wissen wolle, was es mit der Pädagogik auf sich habe, der schaue sich den berühmtesten Lehrer aller Zeiten an – Seneca – und seinen einzigen Schüler – Nero –, und er wisse genug. Nietzsche, selbst der gröbste, späteste, bleibt immer ein bedingungslos Gläubiger der Pädagogik. Pflanzt euch nicht fort, pflanzt euch hinauf! Dieses Geschäft will er weder der Evolution überlassen, die ihn nichts angeht, noch dem dialektischen Prozess der Geschichte, den er bestreitet – den beiden anderen konkurrierenden Baumschulen des neunzehnten Jahrhunderts –, sondern allein der »Zucht«. Wie sehr er aber, trotz allem, Zucht als Liebe denkt und Liebe als Überredung, das zeigt sein schöner Einfall von der Predigt an die Wölfe, sie möchten Hunde werden. Er will den Lehrer geehrt wissen. Nietzsche hat über die gelacht, die ihn seines großen Schnurrbarts wegen als wilden Mann fürchteten. Diesem Hinweis auf seine getarnte Sanftmut sollte man nachgehen. Nietzsche, der sich wechselnd auf alle möglichen Geister berief, nur um sie wieder zu verwerfen (zum Beispiel Schopenhauer), hat zwei wirkliche dauernde Vorbilder: Konfuzius und den heiligen Franziskus.
Siebter Stich: Jenseits von Gut und Böse: Der freie Geist, Nr. 35 »O Voltaire! O Humanität! O Blödsinn! Mit der ›Wahrheit‹, mit dem Suchen der Wahrheit hat es etwas auf sich; und wenn der Mensch es dabei gar zu menschlich treibt –›il ne cherche le vrai que pour faire le bien‹– ich wette, er findet nichts!«
Das ist zwar knapp und etwas dunkel, hält sich aber zum Glück in seinem Charakter des Stoßseufzers von den Versuchungen des Aphorismus fern. Plötzlich ist für Nietzsche das achtzehnte Jahrhundert nicht mehr kultiviertes Vorbild, dem er nachtrauert, sondern in seinen edelsten, nämlich pädagogischen Bestrebungen »Blödsinn«. Allgemein kann man bei Nietzsche feststellen, dass er eine Art von sukzessiver Dialektik betreibt, jetzt dies und etwas später dessen Gegenteil behauptet, ohne jedoch beides miteinander abzugleichen, ganz als hätte er das Vorherige vergessen. Er erfasst die räumliche Struktur einer Frage, indem er im Lauf der Zeit um sie herumgeht, wobei sie ihm verschiedene Aspekte zukehrt. Es schwächt die Geltung dessen, was er sagt, und macht es fruchtbar für alle, die nach ihm kommen; so verfährt ein guter, doch sehr anspruchsvoller Lehrer, bei dem die Schüler nicht nur die Worte hören, sondern auch das Lächeln sehen sollen, das die Worte einschränkt. Darum geht es auch in diesem kurzen Stück: dass es mit dem Suchen der Wahrheit etwas auf sich habe – was, da legt er sich nicht fest, da bleibt Spielraum. Sein Spott gilt dem Aufklärer Voltaire, der in den Spuren des antiken Tugendoptimismus wandelt, indem er das Gute und das Wahre für schlechterdings identisch erklärt. (Fehlt nur noch das Schöne, und wir hätten die Präambel der alten bayerischen Schulordnung.) Aber es steckt darin mehr Gutartigkeit und Nachsicht, als Nietzsche an dieser Stelle durchblicken lassen möchte. Er weiß schon, wie viel vom Verspotteten er in sich selbst birgt; und darum bleibt sein Urteil über Voltaire (wie über Sokrates) ausgesetzt und angehalten, bis ganz zuletzt, als er Eindeutigkeit mit rabiaten Mitteln herstellen will.
Achter Stich: Der Antichrist, Nr. 18
»Der christliche Gottesbegriff – Gott als Krankengott, Gott als Spinne, Gott als Geist – ist einer der korruptesten Gottesbegriffe, die auf Erden erreicht worden sind; er stellt vielleicht selbst den Pegel des Tiefstands in der absteigenden Entwicklung des Götter-Typus dar. Gott zum Widerspruch des Lebens abgeartet, statt dessen Verklärung und ewiges Ja zu sein! In Gott dem Leben, der Natur, dem Willen zum Leben die Feindschaft angesagt! Gott die Formel für jede Verleumdung des ›Diesseits‹, für jede Lüge vom ›Jenseits‹! In Gott das Nichts vergöttlicht, der Wille zum Nichts heilig gesprochen! …«
Ich mag den »Antichrist« nicht; und nur mit einiger Bekümmerung setze ich diese Stelle, die der Zufall nun einmal wollte, hierher. Fangen wir mit der Interpunktion an. Beim späteren Nietzsche proliferiert das Ausrufezeichen, was bei jedem Autor ein böses Indiz ist. Dass das Stück aber nicht nur mit einem Ausrufezeichen aufhört, sondern dann noch drei Punkte folgen, signalisiert ein echtes Formproblem. Der Ruf sollte eine in sich gerundete Geste sein und nicht verläppern. Da fehlt es an der Kraft zu schließen. Was ist aus Nietzsche geworden, schlimmer noch: was hat er sich zu werden gezwungen. Unheiter, grob und lautstark, in einem Grad, dass es ihm selbst, um einen seiner Lieblingsausdrücke zu gebrauchen, wider den Geschmack gehen sollte. Einmal bemerkt er zu Pascal: Es sei quälend anzuschauen, wie dieser in sich die Vernunft abtöte, wie ein zähes, langbeiniges Insekt, das nicht sterben will. Derselbe Anblick bei Nietzsche ist noch quälender, denn das Gut, in dessen Namen er den Abtötungsprozess vollzieht, ist jedenfalls ein noch niedrigeres als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Das »Leben«! Das Leben gibt es nicht, und wenn doch, dann nur als den Todfeind des Lebendigen, indem es sich stets und immer auf dessen Kosten erhält und weitermacht, wenn dieses stirbt.
Das braucht keine Überhöhung, das sollte man nicht verherrlichen, das ist der traurig rätselvolle Lauf der Welt. Angesichts des Lebendigen aber kann es eigentlich nur ein Erschrecken vor dessen Gebrechlichkeit geben. Die Verleumdung des Diesseits begreift man am besten als eine Folge dieses Schrecks: so leicht und schnell soll uns der Hals gebrochen sein! Nein, das wollen wir nicht hinnehmen, wir wollen, dass das Lebendige in allem, was es in seiner kurzen Zeit war, an einem Ort aufgehoben werde. Diesen Ort bewacht und garantiert der christliche Gott. Er ist nicht bestellt, das Leben zu bekämpfen, sondern das Lebendige zu schirmen. Nicht das Nichts vertritt er, sondern das bisschen, das sich so erschütternd wenig davon unterscheidet, den »Hauch in den Mulden«, als den Max Frisch das Lebendige auf Erden vom Flugzeug aus gesehen hat. Wir sollten eher Erbarmen haben mit denen, die diesen Gott brauchten, und mehr noch mit uns selbst, die wir nicht einmal ihn mehr haben. Natürlich beruht der Glaube an ihm auf einem bedürfnisgeborenen Irrtum, er ist Illusion und aus den Mündern bestimmter interessierter Kreise, z. B. der Priesterschaft, sogar Lüge. Es lässt sich Vieles gegen das Christentum sagen, und mit dem Ton des Zorns. Nietzsches Einwände sind die verkehrten.
Neunter Stich: Die Fröhliche Wissenschaft,
Drittes Buch, Nr. 237 bis 241
»237. Der Höfliche. ›Er ist so höflich!‹– Ja, er hat immer einen Kuchen für den Zerberus bei sich und ist so furchtsam, dass er jedermann für den Zerberus hält, auch dich und mich – das ist seine ›Höflichkeit‹.
238. Neidlos. – Er ist ganz ohne Neid, aber es ist kein Verdienst dabei: denn er will ein Land erobern, das niemand noch besessen hat und kaum einer auch nur gesehen hat.
239. Der Freudlose. – Ein einziger freudloser Mensch genügt schon, um einem ganzen Hausstande dauernden Missmut und trüben Himmel zu machen; und nur durch ein Wunder geschieht es, dass dieser eine fehlt! – Das Glück ist lange nicht eine so ansteckende Krankheit – woher kommt das?
240. Am Meere. – Ich würde mir kein Haus bauen (und es gehört selbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zu sein!). Müsste ich aber, so würde ich, gleich manchem Römer, es bis ins Meer hineinbauen – ich möchte mit diesem schönen Ungeheuer einige Heimlichkeiten gemeinsam haben.
241. Werk und Künstler. – Dieser Künstler ist ehrgeizig und nichts weiter: zuletzt ist sein Werk nur ein Vergrößerungsglas, welches er jedermann anbietet, der nach ihm hinblickt.«
Hier ruhte die Spitze der Nadel eigentlich nur auf der Nummer 237, das heißt der unergiebigsten in weiter Runde (denn dazu, die Höflichkeit aus berechnender Furcht zu deduzieren, gehört nicht eben viel Erkenntnis); und ich habe mir die kleine Schummelei gestattet (kein Orakel und kein Aberglaube ohne kleine Schummeleien, von denen ihre Autorität merkwürdigerweise jedoch nie angetastet wird), die nächsten Nummern noch dazuzunehmen – auch darum, weil es einzeln eben wieder bloß ein Aphorismus wäre und Werk und Künstler als das erscheinen müssten, was Nietzsche in Nr. 241 sagt; dieses Stück soll um seines warnenden Inhalts willen die zitierte Strecke abschließen. Es ist in der »Fröhlichen Wissenschaft« doch ein anderes Bauprinzip vorhanden als die Selbstverliebtheit, nämlich der Wille, aus hingestreuten Mosaiksteinen ein Ganzes zu fügen. Es ist ein heiteres Prinzip. Nietzsche aber muss es sogleich übertreiben und spricht statt von einer heiteren von einer fröhlichen Wissenschaft. Damit senkt sich auf das Lichte etwas Schwüles herab, von dem das Gemeinte zu Boden gedrückt wird. So ähnlich steht es damit wie mit seiner, des hilflosen Nichttänzers, Rede vom Tanz, die peinlich berührt.
Man beachte, wie in den Stücken 238 und 240 das Personalpronomen verwendet ist, wie es hier einmal »er« und einmal »ich« heißt, obwohl es sich bestimmt beidemale um niemanden als Nietzsche selbst handelt. Leichter liefert er seine bürgerliche Existenz aus, die in der Frage nach dem Immobilienbesitz tangiert wird. Seine Antwort: grundsätzlich nein, aber wenn ja, dann nur in größtem Stil. Ein bisschen Protzerei ist bestimmt auch dabei. Es schwingt außerdem noch etwas anderes mit, das sich, altphilologisch codiert, für den heutigen Leser so ziemlich verbirgt: Dieses Hinausbauen der Villen ins Meer stellt im philosophischen und poetischen Diskurs der römischen Kaiserzeit das klassische Beispiel für maßlose Verschwendung dar; kaum ein Autor, der sich dieses offenbar stark auffällige Motiv entgehen ließ, um zu demonstrieren, was an der Entwicklung seiner Zeit schiefläuft. Nietzsche schlägt hier, uns kaum mehr erkennbar, dem ethischen Konsens der Antike ins Gesicht. Es handelt sich um eine verkappte Polemik gegen die stoische Forderung nach Wahrung des rechten Maßes. Maßlos will er sein in der Wendung ans Elementare! Freilich so verklausuliert, dass es sein Maß doch wieder in der geringen Zahl jener trägt, die es wirklich verstehen können.
Daneben steht eine andere und noch viel größere Vorsicht in Nr. 238. Es gehört nicht zu den Geheimnissen, dass unter Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen Neid, Hass und Eifersucht gedeihen wie kaum sonst irgendwo, einfach deswegen, weil erstens jeder, was er leistet, nur allein leisten kann, zweitens jeder andere als Konkurrent erscheint und es drittens keine ein für allemal ausgemachten Ränge gibt, damit auch keine Beilegung des Wettstreits, der tendenziell nie endet. Dichter, herrlich wie Möwen im Flug und wie Möwen abscheulich untereinander, sagt Elias Canetti. Hier vom Neid nichts wissen, heißt aus der Art zu schlagen und muss inniges Misstrauen wecken. Wie kann sich da jemand erlauben, nicht neidisch zu sein? Ist er so dumm? oder so größenwahnsinnig? oder gar wirklich so groß? Natürlich letzteres, wie Nietzsche von sich selber weiß, nicht weil er etwas Größeres hätte als die anderen, sondern weil er es will. Auf das, was dem anderen seinen höchsten Stolz bedeutet, nicht neidisch sein, ist für ihn die tiefste Kränkung; diese muss man, egal was man denkt, unbedingt vermeiden. Sonst bräche Neid auf die Neidlosigkeit hervor; und wenn generell gilt, dass der Neider unglücklich werden muss, weil er so selten kriegt was er will, so sähe der Neid sich in diesem Fall in eine spezielle Paradoxie und Sackgasse hineingedrängt, die ihn hochschlagen ließe wie eine Brandungswelle in einer engen Felskehle; der gewissermaßen gutmütige Normalneid würde zu völlig neuen Dimensionen der Bosheit gepeitscht. Und darum: Pst! und: »er«.
In Nr. 239 unterläuft Nietzsche eine kategoriale Verwechslung. Als Gegenpart der Freudlosigkeit setzt er nicht etwa die Freude – die steckt nämlich durchaus an –, sondern das Glück, das nun freilich immer ein sehr persönliches ist und nicht ohne weiteres überspringt. Das gilt allerdings fürs Unglück auch. Und so fällt eigentlich bei näherer Betrachtung das ganze Stück dahin.
Zehnter Stich: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert: Streifzüge eines Unzeitgemäßen, Nr. 25
»Mit Menschen fürlieb nehmen, mit seinem Herzen offen haushalten, das ist liberal, das ist aber bloß liberal. Man erkennt die Herzen, die der vornehmen Gastfreundschaft fähig sind, an den vielen verhängten Fenstern und geschlossenen Läden: ihre besten Räume halten sie leer. Warum doch? – Weil sie Gäste erwarten, mit denen man nicht ›fürlieb nimmt‹…«
Die Gleichsetzung von Herz und Haus ist ein schönes Bild. Sonst aber bin ich mit diesem Stück recht unzufrieden. Mit Menschen fürlieb nehmen und mit seinem Herzen offen haushalten, das sind doch wohl zwei sehr verschiedene Dinge. Das Fürliebnehmen bedeutet so ziemlich das Gegenteil eines offenen Herzens, denn man darf den anderen um keinen Preis die darin schwingende Geringschätzigkeit spüren lassen, er wäre sonst – und zu Recht – tödlich beleidigt. Das offene Herz wendet sich dem anderen zunächst als Menschen zu, er mag sonst sein was er will, und ehrt ihn als solchen; es sieht trotz aller manifesten Unterschiede davon ab, die Menschen wie die Eier nach Handelsklassen zu sortieren. Walter Benjamin hat diese – seltene – Fähigkeit als den Takt beschrieben; und Nietzsche tut ihr Unrecht, wenn er sie als »bloß« liberal einschränkt und auch schon schmäht (wobei man immerhin vermuten darf, dass er als Lateiner nicht an die verschiedenen neuzeitlichen Begriffsnuancen von »liberal« denkt, sondern an die ursprüngliche Bedeutung: »was eines freien Mannes würdig ist«). Dem »Vornehmen« misstraue man immer, da es sich ganz grundsätzlich mit nichts als der eigenen Abgrenzung und der Wahrung seines Privilegs beschäftigt; es schließt immer eine rohe Arroganz in sich, noch mehr als die verwandte Rede von der Elite, die sich ja immerhin funktional auf die Totalität beziehen könnte, während das Vornehme es immer nur für sich selbst ist. Das Vornehme ist in Wahrheit das Pöbelhafte, besonders wenn es sich seinerseits beim Namen des Vornehmen zu nennen geruht, und am allermeisten in der vulgären Kursivierung, die Nietzsche hier setzt. Man sieht hier förmlich eine neureiche Dame mit ihrem teuren Hut im Geschmack der 1880er Jahre promenieren. Auch beachte man das Gestrüpp im Bild des letzten Satzes: Wir haben hier direkt hintereinander eine Kursivierung, ein Paar Gänsefüßchenund drei weiterführende Pünktchen. Diese Räume sind in Wahrheit nicht leer, sondern komplett vollgerümpelt.
Elfter Stich: Menschliches, Allzumenschliches,
Erster Band: Der Mensch mit sich allein, Nr. 621
»Liebe als Kunstgriff. – Wer etwas Neues wirklich kennen lernen will (sei es ein Mensch, ein Ereignis, ein Buch), der tut gut, dieses Neue mit aller möglichen Liebe aufzunehmen, von allem, was ihm daran feindlich, anstößig, falsch vorkommt, schnell das Auge abzuwenden, ja es zu vergessen: so dass man zum Beispiel dem Autor eines Buches den größten Vorsprung gibt und geradezu, wie bei einem Wettrennen, mit klopfendem Herzen danach begehrt, dass er sein Ziel erreiche. Mit diesem Verfahren dringt man nämlich der neuen Sache bis an ihr Herz, bis an ihren bewegenden Punkt: und dies heißt eben sie kennen lernen. Ist man so weit, so macht der Verstand hinterdrein seine Restriktionen; jene Überschätzung, jenes zeitweilige Aushängen des kritischen Pendels war eben nur der Kunstgriff, die Seele einer Sache herauszulocken.«
Hier musste auch ich einen Kunstgriff zu Hilfe nehmen: Das Orakel wies erst auf die Nummer 619, sie überging ich, ebenso 620, um mich erst mit der 621 zufriedenzugeben. Der elfte sollte nämlich der letzte Stich sein – elf, die klare Zahl der Schiefe, des Abbruchs und der Untererfüllung. Aber dann durfte dieses elfte Stück eben kein belangloses sein. – Was Nietzsche hier, übrigens selbst für ihn, den großen Stilisten, in besonders schwungvoller Sprache, beschreibt, sollte eigentlich die normale Vorgehensweise eines jeden Kritikers darstellen. Was gibt mir dieses Buch, das ich vorher nicht kannte? So sollte der Kritiker fragen und ihm auf dieses Neue hin allen möglichen Kredit einräumen. Enthält es Neuesüberhaupt (und sei es im bündigen Ausdruck eines allgemein umlaufenden, aber bislang noch nicht auf seinen Namen getauften Irrtums oder Fehlers), so verdient es jedenfalls Beachtung. Erst jetzt darf man beginnen, ihm die Mittel vorzurechnen, mit denen es dieses sein Neues mehr oder weniger zielgenau erreicht.
Ich schränke meinen Kommentar hier ausdrücklich auf das Buch ein, während Nietzsche ja eine Dreier-Reihe aus Menschen, Ereignissen und Büchern aufmacht. Daran zu glauben, dass Ereignisse Individuen wie Menschen oder Bücher wären, fiel dem geschichtsstolzen 19. Jahrhundert ja eben so leicht, wie es uns heute schwerfällt. Befremdlich finde ich, dass in Nietzsches Blick keinerlei Differenz zwischen Büchern und Menschen statthat und er die Neigung zu beiden mit dem universalen Namen der Liebe umfasst. Natürlich lebt das Beste eines Autors in seinem Buch, und er fühlt sich im Innersten verletzt, wenn man das Buch attackiert. Der du dies liest, gib Acht! sagt Gertrud Kolmar im Einleitungsgedicht ihres lyrischen Werks, denn sieh! du blätterst einen Menschen um. (Ich werde dieses Gedicht an seinem Ort noch ausführlicher zitieren.) Und doch gibt es auch in der innigsten Liebe zu einem Werk noch etwas, das dem Menschen nicht völlig zugehört, oder umgekehrt: es fehlt dieser Liebe die Qualität und Wärme des Bedingungslosen, die für einen Menschen das Kostbarste ist, was ihm widerfahren kann, die bei einem Buch aber fehl am Platze wäre, ja gar nicht entstehen könnte, denn ein Buch wird ja doch immer für etwas geliebt. Von diesem Unterschied, der eigentlich jedem selbstverständlich ist, weiß Nietzsche wenig; man spürt hier deutlich, wie seine besondere Begabung an einen menschlichen Defekt gebunden bleibt. Nietzsche will kühl sein. Wüsste er aber, welche Kälte wirklich aus einem Titel wie »Liebe als Kunstgriff« strömt, er wäre wahrscheinlich doch erschrocken.
Natürlich blättere ich nach Abschluss dieser elf Stiche noch ein bisschen in Nietzsche herum und finde andere, möglicherweise noch interessantere und »bessere« Stellen. Auf sie einzugehen, muss ich mir aus methodischen Rücksichten versagen. Nur so, wie ich es getan habe, in der abrupten Endlichkeit, konnte ich mich auf Nietzsche, diese unendliche Lockung, einlassen. Den Anschein der Anmaßung, Abschätzigkeit und Ungerechtigkeit konnte ich dabei nicht völlig vermeiden. Aber das ist egal. Nietzsche wird meistens ganz falsch geehrt, nämlich als großer Monologist. Dabei gibt es wohl niemanden, der inständiger zum Gespräch auffordert. Er beweist sich, sobald man bereit ist ihm zuzuhören, als das, was Sokrates zu sein bloß behauptete: als der Pädagoge, der den anderen im Dialog zu sich selbst bringen will. Sokrates ist die große Gegenfigur, an der sich Nietzsche zeitlebens abarbeitet, mit uneindeutigem Ergebnis. Sokrates veranlasst den anderen zum Reden; aber er weiß vorher genau, wohin der Weg führt. Er achtet den anderen als anderen nicht wahrhaft. Es wird diesem zuerst entwunden, was er sicher zu haben glaubte, und sodann ein neues Programm gestartet, bei dem ihm dann kaum mehr etwas zu sagen bleibt als »Wie auch nicht, o Sokrates«, »So meine ich auch, o Sokrates«, »Aber gewiss doch, o Sokrates«. So verfährt Nietzsche nicht. Er ist tatsächlich und nicht nur scheinbar offen; er hat keinen verborgenen Lehrplan, den er sukzessive entfaltet; er schweigt lange zwischen den Einzelstücken, in die er seine Rede zerbricht, damit der andere Gelegenheit zur Gegenrede erhält. Manches von dem, was Nietzsche sagt, ist falsch, vieles verstiegen; ja, verstiegen wie ein Bergsteiger, der sich ohne Seil und Haken, ungesichert bis zum Halsbrecherischen, in eine übersteile Bergwand gewagt hat, aus der er nun nicht mehr herunterkommt. Er tut es zu unseren Gunsten, damit wir angesichts des Überspitzten und Unhaltbaren den Mut zur Widerrede finden. Die sollte man ihm nicht verweigern. Dann zaubert er, zwangloser und wahrer als der Athener, Dinge aus uns hervor, von denen wir gar nicht wussten, dass sie in uns lagen. Er hat in dieser seiner guten, mittleren Phase viel zu wenig zurückbekommen; man ließ, was freundlich-dringliches Angebot zum Gespräch war, auf sich beruhen als in sich selbst vergnügtes heiliges Wort. Im Absoluten sah man nicht die Ironie (eine Ironie, die, anders und humaner als die sokratische, ihn selbst meint und nicht die Unterlegenheit des Gegenüber), nahm es für bare Münze und gab ihm kein Wechselgeld heraus. Da scheint er sich irgendwann gesagt zu haben: dann eben nicht, und ist aus lauter Enttäuschung über seine allzubraven Schüler erst in jenes brüllende Selbstgespräch verfallen, das schwellenlos in seinen Wahnsinn überging. Das ist das Gute daran, wenn einer tot ist: Es hebt die Reihenfolge auf und den Zwang, der in ihr liegt, und alles was einer je getan und geschrieben hat, stellt sich wieder gleichzeitig ein, als wäre es nie verreist gewesen. Der mittlere Nietzsche steigt nun nicht mehr mit Unabwendbarkeit in den Hades des späten hinab; halten wir ihn auf und bereiten wir ihm ein anderes, ein freies Schicksal. Ich kann hier wirklich jeden bloß ermutigen, dass er, allein oder zu mehreren, selbst zur Nadel greift.