Читать книгу Deutschland auf dem Weg in die Anstalt - Burkhard Voß - Страница 10
Einleitung
ОглавлениеJa, es gibt sie, die Krachmacher, die Lauten, die Rüpel, die Handyterroristen, Kampfradler, aggressiven Huper und lethargisch-ignoranten Nichtblinker, dickfelligen Eltern und Hundebesitzer, die ein Restaurant in Nullkommanichts in eine Mischung aus Kita für schwer erziehbare Kinder und Hundezwinger verwandeln. Die glauben, sie dürften alles, bloß weil sie es in ihrem Selbstverwirklichungsplan so ausgebrütet haben. Die ihre Verdauungsphysiologie in botanischen Irrenhäusern, auch Dschungelcamp genannt, lauthals kundtun und dafür – wie selbstverständlich – prämiert werden.
Oder die lautstarken Dauerquassler, Popcorn-Vernichter im Kino, bei denen man sich fragt, warum sie für einen Film bezahlen, der sie offensichtlich überhaupt nicht interessiert. Hauptsache futtern und drauflosquatschen, je weniger es passt, umso besser. Warum überhaupt noch darauf achten, ob etwas passt? Schließlich gilt „was nicht passt, wird passend gemacht“ selbstverständlich für den Rüpel mit dem größten Muskel- und dem kleinsten Hirnvolumen. Ja, wir haben sie, die Rüpelrepublik! Mittlerweile gut beschrieben in Büchern wie Seichtgebiete von Michael Jürgs oder Benehmt Euch von Stephan Gärtner und Jürgen Roth.
Doch immer stärker nervt auch eine seit Jahren stetig größer werdende Gruppe der Gesellschaft, die sich hyperreflexiv und dauersensibel von allem genervt fühlt, sei es Zigarettenqualm, Parfümduft, Kindergeschrei, Klartext, Vogelgezwitscher oder der Ehepartner. Ganz nervig für sie, geradezu die Hölle auf Erden, ist natürlich der Arbeitsplatz, von Burn-out ganz zu schweigen. Auch erklären sie andauernd, warum etwas wann genau nicht geht. Der Grund ist natürlich, dass ihnen das „nicht guttut“. Ihre eigene Befindlichkeit ist ihnen sehr wichtig, die der anderen, nun ja, man muss schon Prioritäten setzen. Sowieso scheint sich alles nur noch um subjektives Fühlen und Erleben zu drehen. Wie fühlt sich das an, fühle ich mich da wohl, was macht das mit mir, möchte ich das jetzt wirklich? Das sind wohl die Maximen der Wellness-Ära. Es ist sicher kein Zufall, wenn die Kolumnistin und Bestsellerautorin Amelie Fried, ihres Zeichens Psychologin, von einer „Wohlfühldiktatur“ spricht. Unter Psychologen und Therapeuten ist sie mit dieser Meinung aber ganz klar in einer Außenseiterposition. Denn diese stricken in ihrer Ratgeberliteratur die Märchen von Burnout, Achtsamkeit als Lebenschance und Depression als unvermeidbarem Tribut an die Leistungsgesellschaft ständig weiter. Womit wir bei den psychotherapeutischen Krankheitserfindern sind, die mit immer aberwitzigeren Kreationen (z. B. Gesamtschulphobie) eine ganze Gesellschaft mit System erst durchpsychologisieren und dann psychopathologisieren.
In einer Gesellschaft, in der sich jeder seine Privatwirklichkeit zurecht zimmert und immer größere Gruppen nicht mehr miteinander reden können, wird es immer anstrengender.
Doch dies funktioniert nicht nur in eine Richtung, auch umgekehrt wirken Zeitgeistverirrungen auf die Psychologie ein. Wie postmoderne Philosophie, bei der nur noch subjektive Sichtweisen gelten oder Gender-Mainstreaming, bei dem das natürliche Geschlecht nicht mehr existiert, um nur die wichtigsten zu nennen. Diese reichen auch schon vollkommen aus, um die Normalität Stück für Stück abzutragen. Was das dann für eine Gesellschaft bedeutet, kann noch nicht genau prognostiziert werden. Eines kann man aber schon jetzt sagen: Das Ergebnis wird den Dauerreflexiven und Hypersensiblen ganz bestimmt nicht gefallen. Denn in einer Gesellschaft, in der sich jeder seine Privatwirklichkeit zurecht zimmert und immer größere Gruppen nicht mehr miteinander reden können, wird es immer anstrengender werden.
In eigener Sache
Ein paar Sätze in eigener Sache. Als niedergelassener Nervenarzt könnte meine scharf formulierte Kritik an der Psychotherapie sowie an den Krankheitserfindern als irritierend erlebt werden. Es handelt sich aber mitnichten um eine Außenseitermeinung, wenn selbst einer der führenden amerikanischen Psychiater, Alan Francis, dies zum Thema seines aktuellen Buches, Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen, gemacht hat. Auch in Europa und Deutschland sind viele Psychiater und Psychologen dieser Auffassung. Die übertriebene Medikalisierung und Psychiatrisierung der Gesellschaft ist Fakt.
Die Psychiatrie ist Teilgebiet der Medizin, überschreitet diese aber bei Weitem. Kein anderes Gebiet ist so eng mit dem Zeitgeist, den kulturellen Strömungen und Verirrungen in Wechselwirkung. An so manche Erkrankung und Hypothese wurde über Jahre geglaubt und musste dann revidiert oder als schlichtweg falsch bezeichnet werden. Exemplarisch sei hier das Sissy-Syndrom genannt, bei dem besonders aktiven und leicht untergewichtigen Frauen eine Depression unterstellt wurde. Oder das Konzept der schizophrenogenen Mutter, das schon seit über 30 Jahren in der Mottenkiste der Medizinhistorie liegt.
Doch beim rein Nervigen bleibt es nicht. Im übertragenen Sinne ist es wahrlich nicht übertrieben, es als Terror zu bezeichnen, wenn einem in einer vermeintlich freien Gesellschaft gebetsmühlenartig Partialsichtweisen aufgedrängt werden, die einer kritischen Überprüfung nicht nur nicht Stand halten, sondern dann auch noch als angeblich herrschende Meinung ausgegeben werden, bzw. im medialen Raum einen überproportionalen Stellenwert haben. So machen Homosexuelle ca. 1 % der Bevölkerung aus, ihre sogenannten Outings nehmen jedoch in Presse und Fernsehen einen breiteren Raum ein als Forschungsergebnisse der Nobelpreisträger. Ebenso die Dauerberieselung über die psychologische Betreuung bei Opfern von Naturkatastrophen, Entführungen, Kriegserlebnissen etc., obwohl man genau weiß, dass der weitaus überwiegende Teil auch ohne psychologische Betreuung damit fertig wird (Untersuchungen haben ergeben, dass die Opferangehörigen von 9/11 nach einem Jahr am besten mit dem Verlust umgehen konnten, die KEINE Therapie in Anspruch genommen hatten!). Oder wenn Schicksale von Tieren mit der gleichen Empathie und Detailfreudigkeit in der Boulevardpresse angeprangert werden wie menschliches Leid.
„Wir müssen unsere Ohren gegen den einschmeichelnden Klang der gesellschaftlichen Phrasen abhärten.“
Michel de Montaigne
Etwas Tyrannisierendes hat auch die Dauerpräsenz der Themen Patientenverfügung, Tod, Trauer und Sterben. Als wenn das irdische Dasein nicht schon genug Energie und Nerven kosten würde. Natürlich muss man sich am Lebensende damit konfrontieren, aber nicht schon Jahrzehnte vorher. Wie hat es Goethe doch so treffend gesagt: „An’s Unabänderliche kein Gedanke, keine Regung.“