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Was ist Reflexivkultur?

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Als Reflexivkultur definiere ich die Überhöhung und kultische Verehrung des reflexiven Denkens, welches die Aufmerksamkeit von der Umwelt auf das eigene Selbst bzw. Subjekt lenkt. Durch das vermehrte Überdenken und Betrachten der subjektiven, innerseelischen Vorgänge soll sich die betreffende Person klar werden über die eigenen Motive, die zu der jeweiligen Handlung führen. Wo „ES“ war, soll „ICH“ werden, wie die Analytiker zu sagen pflegen. Die unbewussten Triebfedern der Existenz sollen bewusst werden, wozu auch das sich Hineinversetzen in andere Menschen unter Berücksichtigung ihrer Biografie und ihres kulturellen Hintergrundes gehört. Grundsätzlich eine sinnvolle Angelegenheit. Doch auch für nichtstoffliche Vorgänge gilt der Grundsatz des Paracelsus: Die Menge macht das Gift. Auch reflexives Denken kann übertrieben werden. So hört sich ein vertrautes Wort fremd und eigenartig an, wenn man es einige Male hintereinander ausspricht und jeden Buchstaben bzw. Silbe auf ihren Klang prüft. Oder wenn man einen Gegenstand längere Zeit anschaut, gewinnt man plötzlich den Eindruck, dass er sich zu bewegen scheint, was objektiv definitiv nicht der Fall ist.

In der Reflexivkultur kann grundsätzlich alles problematisiert werden. Vorzugsweise natürlich die eigene Befindlichkeit.

Genauso kann das reflexive Bewusstsein, im Übermaß auf selbstverständliche Lebensprozesse angewandt, eine zersetzende Wirkung ausüben, so dass man im wahrsten Sinne des Wortes den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Zielgerichtetes Handeln wird dann unmöglich. Man verliert den Überblick über das, was man spontan gerne mag oder tun möchte. Das Natürliche und Selbstverständliche wird zu Grabe getragen und künstliche Probleme sprießen hervor. Gender-Mainstreaming ist ein solches. Dazu später mehr. Ebenfalls mit Pseudoproblemen setzt sich die Quantified Self-Bewegung auseinander, deren Anhänger ihre physiologischen Abläufe wie Blutdruck, Puls, Temperatur, Gewicht, Kalorienaufnahme und -verbrauch minutiös katalogisieren und auswerten, um so ihre körperliche Fitness zu optimieren. Wobei sich die Frage aufdrängt, was hieran eigentlich „Bewegung“ bedeuten soll, ein Begriff, der bis vor Kurzem noch mit Politik verbunden war. Bei Quantified Self kreisen Neonarzissten um sich selbst, werden gemeinsam nichts bewegen, außer zusätzliches Geld, welches aus den Gesundheitssystemen heraus und in die Therapie ihrer hypochondrischen Befürchtungen hineinfließt. Doch nicht nur sie haben den Bezug zu natürlicher Selbstverständlichkeit verloren. In der Reflexivkultur kann grundsätzlich alles problematisiert werden. Vorzugsweise natürlich die eigene Befindlichkeit.

Das Natürliche und Selbstverständliche wird zu Grabe getragen und künstliche Probleme sprießen hervor.

Aus der Fülle dieser Befindlichkeitsstörungen wachsen die nächsten Kunstpflanzen, die natürlich auch in den Status von psychischen Erkrankungen erhoben werden. Um ihrer Herr zu werden, werden die diagnostischen Kriterien immer weiter abgesenkt. Doch auch was nicht als krank angesehen wird, kann permanent kommuniziert werden, seien es echte oder eingebildete Mängel jedweder Couleur. In der Reflexivkultur geht es nicht mehr um die Hinwendung zur Welt, sondern um Kommunikation als solche, losgelöst von der Lösung. Beispielhaft hierfür ist die Beratungs- und Coachwelle, bei der die Akteure nicht allzu viel tun können und die Klienten, die sich an sie wenden, nicht allzu viel wissen – oder zu faul sind, sich ihrer eigenen mentalen Fähigkeiten (falls vorhanden) zu bedienen. Kant ist immer noch aktuell. Falls die Beratung nicht zu 100%igem Erfolg führt, was häufig der Fall ist, sieht man sich als traumatisiert an und ist Opfer der Umstände. Der Opferstatus wird zäh verteidigt. In der Losschlag-Kultur geschah Verteidigung noch mit Zähnen und Klauen, in der Reflexivkultur stehen hierfür Advokaten und Therapeuten zur Verfügung. Doch es hilft nichts, Europa ist das Staatengebilde mit dem größten Reichtum, den höchsten Sozialabgaben und den längsten Urlauben. Ideale Rahmenbedingungen für einen Rosengarten der Selbstaufmerksamkeit, der durch die Reflexivkultur sorgsam gehegt und gepflegt wird. Bei der Bewältigung der Realität hilft dies jedoch nur bedingt. So erreichten in einem psychologischen Experiment, bei dem es um die Wiedererkennung von Gesichtern ging, diejenigen Testpersonen die höchsten Trefferquoten, die ein Gesicht spontan identifizieren sollten. Diejenigen, die ein Gesicht erst in Worte fassen sollten (was inhaltlich einem Reflektieren nahekommt), schnitten weitaus schlechter ab. Hier schlägt Intuition Sprache. Und nicht nur in diesem Fall. So sind die partnerschaftlichen Beziehungen, in denen am meisten psychologisiert und reflektiert wird, erfahrungsgemäß die schlechtesten.

So sind die partnerschaftlichen Beziehungen, in denen am meisten psychologisiert und reflektiert wird, erfahrungsgemäß die schlechtesten.

Fazit:

Wer nicht reflektiert, ist klar im Vorteil.

Deutschland auf dem Weg in die Anstalt

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