Читать книгу Morgensterns Erkenntnis - Kriminalroman aus Niedersachsen - Burkhard Ziebolz - Страница 10

Vierter Tag

Оглавление

Bei der Morgenbesprechung des nächsten Tages gab es wenig Input der Kollegen. Meyer fehlte wegen eines Außeneinsatzes, so daß auch die humoristische Komponente etwas zu kurz kam. Hinterher setzte Fröhlich sich wie gewohnt an seinen Schreibtisch. Der vollständige Bericht der Spurensicherung lag vor. Er hatte zwar den Großteil der Fakten schon mündlich von seinen Kollegen erfahren, wollte aber alles noch einmal gründlich studieren. Mit einem Streichholz in den Zähnen stochernd, schlug er die Mappe auf.

Sie enthielt nur wenig Neues. Dr. Morgensterns Büro war von innen verschlossen gewesen, der Schlüssel hatte neben ihr auf dem Schreibtisch gelegen. Todesursache war die Giftinjektion am Hals, aber es gab am Tatort keine Spritze oder Nadel. Gestern, im Gespräch mit Schwester Barbara, hatte er kurz daran gedacht, daß ihr das Gift irgendwie vom gegenüberliegenden Fenster aus beigebracht worden sein könnte, aber dann hätte man ein Geschoß oder etwas ähnliches in ihrem Körper finden müssen. Das Büro war jedenfalls voller Fingerabdrücke der unterschiedlichsten Personen gewesen, die sich wahrscheinlich alle dem Stationspersonal zuordnen ließen. Seine Kollegen würden das noch prüfen.

Zwei Bücher hatten aufgeschlagen neben der Toten gelegen. Das Manuskript, an dem sie geschrieben hatte, war offenbar ein Krankenbericht über Tobias Kronburger gewesen. Seltsam, dachte Fröhlich, Tobias war doch Frenzels Studienobjekt. Wieso schreibt die Morgenstern einen Bericht?

Weit war sie noch nicht gekommen, als der Tod sie ereilt hatte. Die Kollegen von der Spurensicherung hatten dem Bericht Kopien des Textes beigelegt. Die anderthalb Seiten - Fröhlich hatte sie schnell gelesen - enthielten eine Einführung, die aus grundsätzlichen Fakten von Tobias' Krankenbild und einem Rückblick auf seine Krankengeschichte bestand. Bevor es interessanter werden konnte, war bei Frau Morgenstern der Tod eingetreten.

Es mußte einen aktuellen Anlaß für diesen Bericht gegeben haben.

Fröhlich hatte eine Idee. Er ging den Stapel der Fotos vom Tatort noch einmal durch. Der Fotograf hatte gründlich gearbeitet, er hatte wohl jeden Quadratzentimeter im Raum abgelichtet.

Er fand schnell, was er suchte. Das Foto zeigte den Oberkörper der Toten, zusammengebrochen über dem Schreibtisch. Der Fotograf hatte es aufgenommen, als er hinter ihr stand. Neben dem zur Seite gewandten, verzerrten Gesicht war alles mit auf das Bild gekommen, was auf dem Schreibtisch gelegen hatte. Fröhlichs Blick blieb bei den beiden aufgeschlagenen Büchern haften, die rechts neben dem Kopf lagen.

Er beugte sich über das Foto, dann nahm er eine Lupe zu Hilfe; trotzdem gelang es ihm nicht zu entziffern, was auf den Seiten stand, die sie gerade gelesen hatte. Er konnte nicht einmal den Seitenaufbau oder die Bilder identifizieren.

Schade. Das hätte vielleicht Aufschluß über den geplanten Inhalt oder Zweck ihres Berichtes gegeben. Er nahm sich vor, noch einmal zum Tatort zurückzukehren und den Sachverhalt zu überprüfen.

Auch der Innenhof vor dem Fenster des Mordzimmers war peinlich genau abgesucht worden. Der Hausmeister hatte ihn am Abend vor dem Mord mit der Kehrmaschine gereinigt, daher war es wahrscheinlich, daß alles, was gefunden worden war, mit dem Fall zu tun hatte.

Außer fünf Zigarettenstummeln, einem langen Stück dünner Nylonschnur und einigen Blättern hatte die Suche aber nichts zutage gefördert. Die Kippen waren wahrscheinlich aus den Fenstern geworfen worden.

Die Nylonschnur beschäftigte Fröhlich, sie war irgendwie anders als die anderen Fundstücke. Natürlich konnte es sein, daß sie wie die Blätter über die Mauer geweht worden war, die den Hof nach außen abschloß. Trotzdem wollte er einen Blick darauf werfen. Er rief die Asservatenkammer an. Man versprach ihm, das Gewünschte umgehend zu schicken.

Er lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück, zündete sich eine Zigarre an und sah sich unbehaglich in seinem Büro um. Die Unordnung nahm allmählich beängstigende Ausmaße an. Berge von Unterlagen hielten nicht nur seinen Schreibtisch besetzt, sondern lagen auch auf allen Schränken, auf zweien der drei Besucherstühle und sogar auf dem Boden.

Das Chaos wurde von vollen Aschenbechern garniert, es roch nach kaltem Rauch. Fröhlich hatte schon vor Monaten den Putzfrauen den Zutritt zu seinem Büro verwehrt, damit sie keine Unordnung in das Chaos brachten. Ob es hier Ungeziefer gab? Einen Moment erfüllte ihn der Gedanke mit Besorgnis, dann beruhigte er sich damit, daß die Schädlinge wohl den Rauch nicht aushalten würden.

Trotzdem umsummte eine Fliege die Lampe. Fröhlich betrachtete sie genauer, es war ein sehr schönes, metallisch-grün glänzendes Exemplar. Goldfliege, identifizierte er. Er hatte kürzlich in einer Zeitschrift im Wartezimmer seines Zahnarztes einen Bericht über krankheitsübertragende Insekten gelesen, und sein geschultes Gedächtnis hielt immer noch einige Fakten gespeichert. Diese Tiere waren als sehr widerstandsfähig bekannt.

Es klopfte an der Tür. Ein Beamter brachte eine kleine, durchsichtige Plastiktüte, die alles enthielt, was auf dem Hof unter der geschlossenen Abteilung gefunden worden war. Fröhlich lud den Kollegen ein, kurz Platz zu nehmen. Er wollte einen schnellen Blick auf die Sachen werfen und sie dann gleich wieder zurückschicken.

Die Blätter aus dem Beutel waren von einer Kastanie; er erinnerte sich, einige dieser Bäume auf dem Gelände vor dem Innenhof gesehen zu haben. Wahrscheinlich waren sie über die Mauer geweht worden. Er fragte sich, warum die Spurensicherung die Blätter überhaupt eingesammelt hatte.

Die Zigarettenstummel waren zwei Malboro und drei Camel mit Filter, die keine besondere Merkmale, wie Lippenstift oder ähnliches, aufwiesen.

Die Nylonschnur hielt Fröhlich für eine Angelleine. Sie war sehr dünn und kaum sichtbar. Die Kollegen von der Spurensicherung hatten sie zum Knäuel aufgerollt. Leicht wie sie war, konnte sie durchaus der Wind in den Hof gebracht haben.

Fröhlich strich sich über die kurzen Haare. Das Zeug half ihm im Moment nicht weiter. Er schickte die Fundsachen zurück. Als der Beamte sein Büro verlassen hatte, beschloß er, noch einmal in die Klinik zu fahren und mit Frenzel zu reden.

Er griff zum Hörer und wählte die Nummer des Arztes. Anscheinend war dieser nicht da, denn nach vier- oder fünfmaligem Läuten wurde er automatisch zur Stationsschwester durchgestellt.

»Guten Morgen, Schwester Edith. Hier ist Hauptkommissar Fröhlich. Ich wollte eigentlich Dr. Frenzel sprechen. Ist er da?«

Schwester Ediths Stimme verriet leichte Aufregung. »Der Doktor ist noch nicht im Hause. Er hat angerufen und gesagt, daß er etwas später kommt.«

»Wann wird das sein?«

»In etwa einer Stunde. Herr Hauptkommissar...« Sie stockte.

Fröhlich schickte ein ermunterndes »Jaa?« durch die Leitung.

»Wir wollten Sie schon anrufen. Das Siegel, das Ihre Leute an der Tür von Frau Morgensterns Büro angebracht haben, ist verletzt.« Schwester Edith schien sich sehr unwohl bei der Weitergabe dieser Information zu fühlen.

Fröhlich atmete scharf ein. »War jemand in dem Raum?« fragte er.

»Wir haben niemanden gesehen. Nachdem wir das zerrissene Siegel bemerkt haben, habe ich auch keinem den Zutritt gestattet.

Ich wollte warten, bis die Polizei kommt.«

Sehr tüchtig, dachte der Kommissar. »Gut. Sorgen Sie bitte dafür, daß die Tür geschlossen bleibt und niemand das Zimmer betritt. Ich bin gleich bei Ihnen.«

Fröhlich schlüpfte in sein Sakko. Wenn die Öffnung des Raumes kein Versehen gewesen war (auch das gab es gelegentlich), dann war der Mörder dafür verantwortlich. Und vielleicht hatte er Spuren hinterlassen.

Wie der Blitz war er die Treppe hinunter und riß dabei beinahe Meyer um, der gerade von seinem Einsatz zurückkam.

Meyer konnte sich gerade noch auf den Beinen halten und schrie ihm hinterher: »Trainierst du für Olympia, oder hast du Durchfall?«

Fröhlich hatte keine passende Erwiderung parat und ignorierte ihn deshalb.

Zwanzig Minuten später - nach Übertretung der meisten gängigen Verkehrsregeln - erreichte er das Krankenhaus. Eine Funkstreife, die sich kurz an ihn angehängt hatte, um ihn als vermeintlichen Verkehrsrowdy zusammenzufalten, hatte er durch seinen aus dem Auto gehaltenen Dienstausweis und eine kurze Meldung über Funk von ihrem Plan abgebracht.

Kurz darauf stand er vor der Tür zum Mordzimmer. Wie die Stationsschwester gesagt hatte, war das Siegel zerrissen und die Tür nur noch angelehnt. Vorsichtig stieß er sie auf.

Auf den ersten Blick schien sich seit seinem letzten Besuch nichts geändert zu haben. Die Polizei hatte sich bemüht, alles so zu belassen, wie es zum Zeitpunkt der Tat gewesen war. Er betrat den Raum und drehte sich einmal um die eigene Achse. Dann fiel sein Blick auf die Schreibtischplatte, und er stöhnte laut auf vor Enttäuschung.

Die beiden Bücher, die Dr. Morgenstern bei ihrer Arbeit benutzt hatte und die möglicherweise Aufschluß über die Absicht ihres letzten Berichtes gegeben hätten, waren verschwunden.

Schwester Edith war wütend und in ihrer Ehre verletzt. Der Vorfall war zwar nicht direkt auf ihrer Station passiert, da sie allerdings auch die Büros der Ärzte und das Schwesternzimmer als ihr Territorium betrachtete, faßte sie die Öffnung von Dr. Morgensterns Büro als Mißachtung ihrer Autorität auf. Das setzte ihr augenscheinlich sehr zu.

Eine jüngere Schwester hatte den Einbruch bemerkt und sofort gemeldet. Die rasche Prüfung ergab, daß es irgendwann am frühen Vormittag passiert sein mußte. Niemand hatte etwas Verdächtiges bemerkt oder gesehen, daß jemand das Zimmer betreten oder verlassen hatte. Fröhlich bedauerte zutiefst, daß Dr. Morgensterns Büro nicht auch im Flur der geschlossenen Abteilung lag, in diesem Fall wäre der Kreis der Verdächtigen wesentlich kleiner und definierter gewesen. Hier, im gegenüberliegenden Teil des Gebäudes, hatte praktisch jeder Zutritt - Personal, Patienten und alle anderen, die es darauf anlegten.

Edith hatte ihm einen Kaffee eingegossen. Das Gebräu war schwarz, heiß und sehr gut. Fröhlich saß neben ihr am Tisch des Schwesternzimmers, die Arme aufgestützt, das Sakko nachlässig neben sich über einen Stuhl geworfen, und machte sich leichte Vorwürfe. Warum hatte er den Bericht der Spurensicherung, der schon am Vorabend auf seinem Schreibtisch gelegen hatte, nicht sofort gelesen? Dann wäre er ganz bestimmt noch rechtzeitig gekommen.

Gedankenverloren zog er eine Zigarette aus der Tasche und steckte sie sich zwischen die Lippen. Schwester Ediths tadelnder Blick, den er aus den Augenwinkeln auffing, ließ ihn sein Vorhaben jedoch rückgängig machen, noch bevor sie ihn verbal mahnen konnte. Mit Bedauern steckte er die Zigarette zurück ins Päckchen.

»Schwester Edith, als Sie die Tote fanden, sind Ihnen da zwei Bücher aufgefallen, die auf dem Schreibtisch lagen?«

Edith schüttelte verneinend den Kopf. »Tut mir leid, Herr Hauptkommissar, darauf habe ich nicht geachtet.« Fröhlich konnte ihr dies nicht verdenken, in ihrer Lage hätten die wenigsten derartige Nebensächlichkeiten bemerkt.

»Inwieweit war Dr. Morgenstern in die Arbeit mit Tobias Kronburger involviert?«

»Prinzipiell gar nicht. Behandelnder Arzt war von Anfang an Dr. Frenzel. Er hat ihr als seiner Chefin natürlich berichtet.«

Schwester Edith musterte ihn von der Seite. Wieder spürte Fröhlich die gleiche Unsicherheit wie bei ihrem Gespräch am Vortag, als die Rede auf die Patienten kam. Zögernd sprach sie weiter.

»Aber wo Sie es jetzt sagen - in letzter Zeit hat sie sich oft mit Tobias unterhalten. Ich habe mich schon etwas gewundert.«

»Was hat Frenzel dazu gesagt? Empfand er das nicht als Einmischung in seine Kompetenzen?«

»Ich habe ihn nicht gefragt. Jedenfalls verhielt er sich ruhig. Vielleicht war es mit ihm so abgesprochen.«

»Hat Frau Morgenstern sich zu dieser Sache geäußert?«

»Nein. Die Einteilung der Arbeit hatte sie zu entscheiden, da gab es keine Diskussionen. Ich habe mich da nie eingemischt.«

»Natürlich nicht. Können Sie sich vorstellen, warum sie die Gespräche mit Tobias hatte? Was Sie sagen, bleibt selbstverständlich unter uns.«

Die Schwester schüttelte den Kopf und verneinte.

»Gibt es Zeugen der Gespräche?«

»Nicht daß ich wüßte. Therapiegespräche finden in der Regel unter vier Augen statt. Herr Fröhlich, ich glaube, ich bin Ihnen heute keine große Hilfe.«

»Alles hilft ein Stück weiter«, beruhigte der Hauptkommissar, wenig überzeugend. »Ist Dr. Frenzel jetzt im Haus? Dann melden Sie mich bitte bei ihm an.«

Schwester Edith tat, worum er sie gebeten hatte. Frenzel war sofort zu einem Gespräch bereit.

Fröhlich lächelte sie dankbar an. »Morgen würde ich gern mit Tobias sprechen. Denken Sie, das wird sich machen lassen?«

»Sicherlich. Paßt es Ihnen gegen zehn Uhr?« Wieder dieses kurze Aufflackern von Unsicherheit. Was beunruhigte Schwester Edith so, das mit den Patienten zusammenhing? Fröhlich hoffte insgeheim, daß es nichts mit dem Mord zu tun hatte. Schwester Edith war ihm trotz ihrer überkorrekten Erscheinung sehr sympathisch, und ihr Kaffee war exzellent.

Gedankenverloren ging er durch die Flure des Krankenhauses. Er sehnte sich nach einer Zigarette - die Beschaulichkeit einer Zigarre gönnte er sich nur ab und an zu Hause oder im Büro -, wußte aber, daß fast im ganzen Gebäude Rauchverbot herrschte. Eine junge Schwester kam ihm auf dem Gang entgegen. Fröhlich sprach sie an.

»Guten Morgen, Schwester. Ich bin Hauptkommissar Fröhlich und untersuche den Mord an Frau Morgenstern. Wo gehen Sie hier hin, wenn Sie eine rauchen wollen?«

Die Schwester, eine kleine, dickliche Person, hatte Sinn für Humor. Sie lachte jedenfalls. »Nanu. Brauchen Sie das wirklich für die Aufklärung des Mordes, oder läßt die Krankenhausverwaltung jetzt alle Raucher durch die Kripo verfolgen?«

Fröhlich versicherte ihr, daß er ein ganz privates Interesse daran habe. Sie glaubte ihm und zeigte sich hilfsbereit. Offensichtlich konnte sie seine Qualen verstehen. »Na gut. Wir gehen dazu meistens ins Treppenhaus. Aber lassen Sie sich nicht erwischen«, setzte sie im Scherz hinzu.

Fröhlich bedankte sich. »Sie haben mir das Leben gerettet.«

Hastig bewegte er sich in die angegebene Richtung. Vor einigen Jahren hatte er sich einmal das Rauchen abgewöhnt. Acht Monate lang hatte er keine Zigarette angerührt, dann war er eines Tages bei einer Feier in der Dienststelle rückfällig geworden. Es war am dreizehnten Juli gewesen, das Datum wußte er heute noch. Alkohol war bei ihm schon immer der Wegbereiter des Nikotins gewesen und hatte auch damals seine Wirkung nicht verfehlt. Seitdem hatte er es nicht wieder versucht. Der Frust, in einem unbedachten Moment die Bemühungen vieler Monate zunichte gemacht zu haben, und die Möglichkeit, daß das erneut passieren konnte, hatten ihn davon abgehalten.

Frenzel erwartete ihn am Schreibtisch seines Büros. Er war durchgestylt bis unter die Haarspitzen, wie beim ersten Mal. Seine Kleidung war makellos, seine Rasur hielt jeder Kritik stand. Ein Hauch von Sauberkeit, Frische und teurem Eau de Toilette hing in der Luft. Vor Frenzel auf dem Tisch lagen zwei Mappen, anscheinend die Vorgänge, die er gerade bearbeitete. Ansonsten war die Arbeitsplatte leer.

Fröhlich dachte wehmütig daran, daß er es noch nie geschafft hatte, seinen Schreibtisch, der gleichzeitig Arbeitsfläche und Ablage war, länger als eine Woche in einigermaßen aufgeräumtem Zustand zu erhalten. Vorsichtig nahm er auf dem Designerstühlchen, das der Doktor für seine Besucher vorgesehen hatte, Platz. Wider Erwarten trug es seine fast neunzig Kilo, ohne auch nur die Andeutung eines Bruchgeräusches von sich zu geben, und fühlte sich auch noch ziemlich bequem an.

Nach den üblichen Lockerungsübungen kam Fröhlich schnell zur Sache.

»Wußten Sie von Dr. Morgensterns Gesprächen mit Tobias?«

Der Doktor verzog keine Miene. »Natürlich. Wir hatten das Vorgehen abgestimmt. Dr. Morgenstern wollte eine neue Therapie an ihm ausprobieren und unterzog ihn deswegen einigen Interviews.«

»Waren Sie bei den Gesprächen anwesend?«

»Nein. Die ersten Gespräche sollten nur dazu dienen, Frau Morgenstern auf den neuesten Stand zu bringen. Ich hatte sie zwar auch schon über alles informiert, sie bildete sich aber gern ein eigenes Urteil. Jedenfalls meinten wir beide, daß mir, der ich fast täglich mit Tobias arbeite, diese Gespräche nichts Neues bringen würden. Sie stellte mir daher die Teilnahme frei. Da ich genug andere Dinge zu tun hatte, verzichtete ich gern.«

»Wissen Sie etwas über die neue Therapie, die Frau Morgenstern an Tobias ausprobieren wollte?«

Frenzel zögerte keine Sekunde. Der Mann war überaus glatt. »Sie arbeitete seit zwei oder drei Monaten an einer neuen Theorie über die Ursachen für schizoide Verhaltensweisen und die Therapie derselben. Sie stand erst am Anfang, hatte nur theoretische Überlegungen, nichts war auch nur entfernt durch Fakten belegt; aus diesem Grund war ich noch nicht eingeweiht. Die Versuche mit Tobias waren als Einstieg in die Praxis gedacht.«

»Sind Sie sicher, daß Ihre Chefin Sie noch einweihen wollte?« Fröhlich wagte einen kleinen Provokationsversuch.

Frenzelließ sich nicht darauf ein. »Bisher hat sie das immer getan. Ich kann mit bescheidenem Stolz behaupten, daß Dr. Morgensterns Erfolge auch meine Erfolge waren. Auch wenn sie meist im Mittelpunkt des Interesses stand: In der Fachwelt ist bekannt, daß ich maßgeblich zu allen ihren Arbeiten beigetragen habe.«

Das klang wie auswendig gelernt. Fröhlich konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Verblichene Frenzel mehr dominiert hatte, als er zugeben wollte, und daß er auch darunter gelitten hatte.

»Warum sind Sie denn überhaupt hier im Krankenhaus geblieben?« Fröhlich blieb auf Kurs. Sein Ton wurde etwas härter. »Ihre Chefin stand doch sicherlich jedem beruflichen Fortkommen im Wege. Waren Sie zufrieden damit, die zweite Geige zu spielen?«

Diese Frage hatte er bei ihrem ersten Zusammentreffen schon einmal gestellt. Er erinnerte sich, daß Frenzel dabei unsicher geworden war, und war gespannt, ob sich das wiederholen würde.

Dieser war jedoch ein Fels in der Brandung. »Darüber sprachen wir schon. Ich bin nicht besonders ambitioniert. Die Arbeit hier ist mir sehr wichtig, ich habe zu vielen der Patienten eine sehr gute und persönliche Beziehung und fühle ihnen gegenüber eine gewisse Verpflichtung. Außerdem konnte ich von Dr. Morgenstern immer noch sehr viel lernen.«

»Als Frau Morgenstern starb, schrieb sie gerade an einem Bericht über Tobias. War das nicht etwas verfrüht, wenn ihr Projekt wirklich erst im Anfangsstadium war?«

»Überhaupt nicht. Ich nehme an, es handelte sich um eine Art Zwischenbericht, in dem sie die Ergebnisse der Vorgespräche festhalten wollte. Das ist durchaus üblich.«

»Hätte sie sich die Vorgespräche nicht sparen können? Sie waren über Tobias' Verhalten und Fortschritte doch bestens auf dem laufenden und hätten den Bericht aus dem Stehgreif schreiben können. Warum hat sie Sie nicht einfach gefragt?«

Frenzel wirkte nun etwas gelangweilt und zeigte das auch. Offenbar war er auf das, was der Hauptkommissar vorbrachte, gut vorbereitet. »Sie bildete sich über alles prinzipiell selbst ein Urteil. Verstehen Sie mich nicht falsch - es war kein Mißtrauen gegen mich oder irgend jemand anderen. Es war einfach ihre Art, die gesunde Neugier des Forschers, der seine Arbeit auf eine solide, selbsterarbeitete Basis stellen will.«

Fröhlich sah keine weiteren Ansatzpunkte, die gegnerische Deckung zu durchbrechen, und zog sich auf seine Standardstrategie zurück. Allerdings versprach er sich viel davon.

»Herr Frenzel, wo waren Sie heute vormittag?«

Frenzel hob leicht die Augenbrauen. »Ich war drüben auf der Station. Welche Zeit meinen Sie genau?«

»Den Zeitraum zwischen acht und zehn Uhr.«

»Dann habe ich Sie soeben belogen.« Er schmunzelte. »Von acht bis neun war ich noch in meinem Büro. Ich hatte einiges nachzuarbeiten. Dann bin ich zur Station rübergegangen. Ab neun habe ich mit Tobias gesprochen. Warum wollen Sie das wissen?«

»Reine Routine. Heute morgen wurde in Frau Morgensterns ehemaliges Büro eingebrochen. Man hat den Tatort verändert. Zwei Bücher, die auf ihrem Schreibtisch lagen, wurden entfernt.«

»Meinen Sie damit, sie wurden gestohlen?« Frenzel zeigte sich erstaunt.

»Das wissen wir nicht. Ich persönlich vermute, sie wurden einfach weggenommen und ins Regal zurückgestellt. Der Täter wollte wohl verhindern, daß die Polizei von der Thematik der Bücher Schlüsse auf Dr. Morgensterns Bericht zog.«

»Sie vermuten also, daß Frau Morgensterns Bericht der Grund für ihre Ermordung ist?«

»Das ist natürlich nur eine Theorie. Aber überlegen Sie mal: Jemand bricht die Tür auf, obwohl er weiß, daß er sich dadurch strafbar macht und sogar einem Mordverdacht aussetzt. Die Bücher repräsentieren - das nehme ich mal an - keinen Wert, der die Tat rechtfertigen würde. Sie sind aber verschwunden. Wissen Sie einen anderen Grund, der in Frage kommen könnte?«

Frenzel mußte passen, blieb aber weiter interessiert.

» Aber was hätte sie in ihrem Bericht denn schreiben können, was einen Mord rechtfertigt?«

Fröhlich ließ die Frage unbeantwortet.

»Glücklicherweise haben wir ein paar Fotos vom Tatort, auf denen die Bücher zu sehen sind.« Er beobachtete sein Gegenüber. Der Doktor verzog keine Miene.

»Glauben Sie, daß man durch die Fotos die Bücher identifizieren könnte? Ein Psychologe, der die einschlägige Fachliteratur kennt, sollte doch eigentlich dazu in der Lage sein.«

»Käme auf einen Versuch an. Natürlich gibt es sehr viele Fachbücher, und Dr. Morgenstern hatte eine ganze Bibliothek in ihrem Büro. Man müßte sich an die bestimmte Seite des Buches erinnern, die auf Ihren Fotos zu sehen ist. Das ist ziemlich unwahrscheinlich.«

Fröhlich stimmte zu. »Würden Sie es trotzdem mal versuchen?«

»Selbstverständlich.«

Er lud ihn für den folgenden Tag ins Präsidium ein. »Sollte ich nicht da sein, melden Sie sich bitte bei Kommissar Meyer. Besten Dank für Ihre Hilfe.«

Fröhlich erhob sich von seinem Stuhl. Er durfte nicht vergessen, Meyer um Unterstützung zu bitten.

Der Nachmittag blieb ohne weitere Erkenntnisse. Fröhlich, der den Saustall in seinem Büro nicht mehr recht ertragen konntevielleicht war der perfekte Eindruck aus Frenzels Optimalbüro daran schuld -, raffte frühzeitig und mit nur wenig schlechtem Gewissen einige Unterlagen zusammen und machte sich auf den Nachhauseweg.

Der Tag war von angenehmer Wärme. Eine leichte Brise bewegte die grünen Kronen der Bäume, dicke Hummeln probten den Landeanflug auf bunte Blumen, aufgeregte Enten schnatterten im und am Kreuzteich. Fröhlich, der etwa acht Kilometer vom Präsidium entfernt wohnte, fuhr die meiste Zeit des Jahres mit dem Fahrrad ins Büro. Heute war dies das reine Vergnügen. Der Fahrtwind war sehr angenehm, die Mitmenschen schienen alle ganz besonders nett zu sein. Alte Leute saßen entspannt auf Bänken und ließen sich die Sonne auf den Bauch scheinen, und junge Mädchen in luftigen Kleidchen bevölkerten die Bürgersteige.

Für einen Moment vergaß Fröhlich seine kriminalistischen Überlegungen und gab sich ganz dem momentanen Genuß hin. »Und sprach zum Augenblick: Verweile doch, du bist so schön«, murmelte er bei sich und wich dabei blitzschnell einem Hundehaufen aus, der den Radweg garnierte.

Er wohnte zusammen mit seiner Frau Ulrike in einem kleinen Häuschen am Rand von Riddagshausen, einem Vorort von Braunschweig. Die Wohnlage war nicht billig und das Häuschen sehr schön gelegen. Sie waren Doppelverdiener und kinderlos; sein Gehalt alleine hätte nicht ausgereicht, sich die hervorragende Gegend zu leisten.

Seine Frau war noch nicht zu Hause. Ihr Beruf als leitende Angestellte in einem Kaufhaus brachte es mit sich, daß sie oft erst nach Ladenschluß kam. Frenzel schlüpfte in Shorts und TShirt und setzte sich auf die Terrasse.

Fröhlichs hatten das kleine Haus über die Jahre selbst renoviert. Die dschungelhafte Wildnis des Grundstücks war durch allmähliche und sensible Korrektur in ein gemütliches Stück ÖkoGarten verwandelt worden. Direkt dahinter begann das Naturschutzgebiet mit seinem dichten Wald und den Teichen. Die Gegend war so reich an Tieren und Pflanzen, daß die Biologiestudenten der Braunschweiger Universität sie oft für ihre Exkursionen nutzten. Es war idyllisch, und man vergaß hier schnell, daß man nur wenige Kilometer vom geschäftigen Treiben der City entfernt war.

Fröhlich dachte an sein letztes Gespräch mit Frenzel. Irgend etwas lag die ganze Zeit verborgen in seiner Erinnerung, bohrte wie ein Wurm in einem Apfel, etwas, das mit dem Arzt zu tun hatte. Er hatte es irgendwo am Rande registriert, konnte es aber jetzt nicht mehr greifen. Er überlegte angestrengt, die Stirn in Falten gelegt und den Blick auf unendlich akkumuliert.

Wie immer, wenn er bei einem Problem nicht weiterkam, begann er, sich abzulenken. Nichts war in so einer Situation schlimmer, als zu verkrampfen. Es war wie mit Erbsen in einem Trichter: Drückte man von oben auf die Erbsen, um den Vorgang zu beschleunigen, gab es eine Blockade an der engsten Stelle, und nichts ging mehr. Ließ man sie von alleine ohne äußeren Einfluß laufen, klappte es. Genauso war es bei ihm: Je mehr er sich das Gehirn zermarterte, um so weiter entfernte er sich von der Lösung.

Er ging also in die Küche, goß Wasser in die Kaffeemaschine und fütterte sie mit Filterpapier und frisch gemahlenem Kaffeepulver.

Er schob eine CD in die Stereoanlage und hörte einige Zeit zu.

Er griff sich drei Jonglierbälle und jonglierte mit ihnen (sein Rekord lag bei vier Bällen; das schaffte er aber nur selten).

Er wischte Staub über die Bücherregale.

Es nützte nichts.

Fröhlich holte sich seinen Kaffee und setzte sich wieder auf die Terrasse. Sein Blick schweifte über den Garten, die Bäume, die mehr oder weniger zufällig angelegten Blumenbeete, durch die Glasscheibe der Terrassentür ins Innere der Wohnung und blieb an einem Buch haften, das seine Frau am Vorabend auf dem Wohnzimmertisch liegengelassen hatte.

Das war's.

Was hatte Frenzel bei der letzten Befragung gesagt? ›Man müßte sich an die bestimmte Seite des Buches erinnern, die auf Ihren Fotos zu sehen ist.‹ Er war also davon ausgegangen, daß eines oder beide Bücher aufgeschlagen gewesen und Seiten des Innenteils auf den Bildern zu sehen waren. Fröhlich hatte dies nicht erwähnt. Daß Frenzel es aus anderer Quelle hatte, war sehr unwahrscheinlich.

Fröhlich überlegte. Bei näherer Betrachtung ließ die erste, spontane Begeisterung nach. Natürlich gab es wieder mehr als eine mögliche Begründung für Frenzels Aussage.

Erste Möglichkeit: Zufall. Frenzel setzte unwillkürlich voraus, daß ein Buch, mit dem gearbeitet wurde, aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Das war durchaus in Ordnung.

Zweite Möglichkeit: Er hatte die Bücher auf dem Schreibtisch gesehen. Da er am Tag nach dem Mord nicht in Dr. Morgensterns Büro gewesen war und danach schon das Siegel an der Tür geklebt hatte, konnte dies nur heißen, daß er in der Mordnacht dort gewesen war, sich nun daran erinnert hatte und gezwungenermaßen die Bücher entfernen mußte. In diesem Fall war Frenzel also der Killer. Nicht sicher, aber möglich.

Fröhlich nahm einen Schluck aus dem Becher. Der Kaffee war nicht ganz so gut wie der bei Schwester Edith, tat aber seine Wirkung.

Wer hätte außer dem Mörder ein Interesse daran gehabt, die Bücher zu beseitigen? Theoretisch kamen da viele in Frage. Fröhlich war ernüchtert. Das Morgensternsche Büro war vom gegenüberliegenden Flügel des Krankenhauses aus einsehbar. Vielleicht konnte man von dort sehen, was auf dem Schreibtisch lag? Das mußte er prüfen. War dies der Fall, konnte möglicherweise jeder mit dem richtigen Fachwissen das Buch identifizieren und sich aus Gründen, die für Fröhlich im Moment noch nicht nachvollziehbar waren, belastet fühlen. Die Gelegenheit zum eigentlichen Einbruch hätte theoretisch auch fast jeder gehabt.

Das brachte ihn also nicht weiter. Enttäuscht holte er sich die Unterlagen, die er aus dem Büro mitgenommen hatte, auf die Terrasse und vertiefte sich hinein. Als seine Frau nach Hause kam, war er in seinem Stuhl in der Abendsonne eingeschlafen.

Morgensterns Erkenntnis - Kriminalroman aus Niedersachsen

Подняться наверх