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Man schrieb den 28. Mai 1580.

Eine glühende Mittagssonne brannte auf den Südwesten Spaniens. Am azurblauen Himmel war nicht der winzigste Wolkenstreifen zu sehen, die Luft stand flirrend über dem Land. Kein Windhauch regte sich.

Die sonst übliche Geschäftigkeit war in der Hafenstadt Cadiz zu dieser Stunde erloschen. Es schien, als lieferte die totale Windstille den Menschen ein glaubhafteres Motiv für die Siesta, die Ruhepause während der größten Hitze des Tages.

Cadiz, auf dem nördlichsten Felsplateau einer etwa sechs Meilen langen Landzunge gelegen, wurde nach Westen, zur Atlantikseite hin, durch das Fort San Sebastian abgeschirmt. Innerhalb der mächtigen Mauern der Befestigungsanlage staute sich die Sonnenglut zur Unerträglichkeit. Die mit Musketen bewaffneten Posten, die ihre Runden auf den Wachgängen drehten, drückten sich immer wieder in den spärlichen Schatten der hohen Zinnen, um auf diese Weise wenigstens vorübergehend den unerbittlichen Sonnenstrahlen zu entgehen.

Ein Rumpeln und das metallische Knirschen schwerer Ketten durchbrachen die Stille im Fort. Das mächtige Haupttor der Befestigungsanlage wurde geöffnet.

Pferdehufe klapperten über das Steinpflaster der Fort-Einfahrt. Eine offene Kalesche rollte ins Freie. Der Kutscher ließ die Peitsche über dem Kopf des braun-weiß gescheckten Zugpferdes knallen.

Die Posten beiderseits der Einfahrt salutierten.

Obwohl zur zivilen Bevölkerung von Cadiz gehörig, genoß der Mann, der auf der gepolsterten Sitzbank der Kalesche hockte, so viel Ansehen, daß jeder Soldat sich ihm gegenüber zur Ehrenbezeigung verpflichtet fühlte.

Romeronde Zumarraga erwiderte den Gruß der Torposten mit einer müden, herablassenden Bewegung seiner welken Greisenhand.

Das Wagenpferd trabte an, und der Kutscher lenkte die Kalesche von der gepflasterten Zufahrt herunter auf den unbefestigten Weg, der über den bergigen Landvorsprung stadteinwärts nach Cadiz führte.

Der Fahrtwind, der den alten Mann in der Kalesche umfächerte, brachte keine nennenswerte Abkühlung. Romeronde Zumarraga trug einen flachen schwarzen Hut, dessen breite Krempe ihn vor den Sonnenstrahlen schützte. Seine maßgeschneiderte dunkle Kleidung ließ auf den ersten Blick erkennen, daß er zur gehobenen Gesellschaftsschicht von Cadiz gehörte.

Zumarraga war von greisenhaft dürrer Statur. Seine Gesichtszüge erinnerten frappierend an die Häßlichkeit eines Geiers, wobei sein dünner Ziegenbart diesen Eindruck nur noch verstärkte.

Zumarraga schloß die Augen und döste vor sich hin. Das monotone Rauschen der Meeresbrandung war eine Geräuschkulisse, die er nur noch im Unterbewußtsein wahrnahm.

Das von Falten durchzogene Gesicht des alten Mannes in der Kalesche verzog sich zu einem satanischen Grinsen.

Er hatte einen überwältigenden Erfolg errungen, in dem er sich nun sonnen konnte.

Natürlich hatte er von Anfang an gewußt, daß dieser angebliche irische Kapitän namens Philip Drummond niemals ein Ire sein konnte. Zumarraga hatte es von dem Augenblick an gewußt, als dieser große schwarzhaarige Mann in seinem Geschäft aufgetaucht war.

Ihm, Romeronde Zumarraga, war es gelungen, den falschen Iren vor das Militärtribunal zu bringen.

Die Verhandlung war soeben beendet worden – mit Erfolg. Ein Erfolg insbesondere für die hochangesehene spanische Adelsfamilie de Coria in Cordoba. Allerdings wußte die Familie noch nichts von den jüngsten Geschehnissen in Cadiz. Zumarraga gedachte, mit der Meldung nach Cordoba zu reisen, wo er sicherlich eine Prämie für sein kluges Verhalten kassieren würde.

Denn der angebliche Philip Drummond war als englischer Spion zum Tode durch Erschießen verurteilt worden.

Zumarragas belastende Zeugenaussage hatte entscheidend zur Verhängung des Todesurteils beigetragen.

Am morgigen Tag, dem 29. Mai 1580, sollte das Urteil bereits vollstreckt werden.

Romeronde Zumarraga hatte dem Tribunal überzeugend erklärt, daß der angebliche irische Kapitän Drummond niemals ein Ire sein könne. Zumarraga, Inhaber eines florierenden Handelshauses in Cadiz, hatte seine Behauptungen mit hieb- und stichfesten Fakten untermauert. Immerhin hatte er aufgrund eingehender Recherchen nach der 1556 verschollenen Hansekogge „Wappen von Wismar“ herausgefunden, daß das Schiff in Falmouth, Cornwall, von der Sippe der Killigrews überfallen worden war. Die Besatzung war ermordet und die Kogge nach Irland verkauft worden.

Wesentlichster Punkt von Zumarragas Zeugenaussage war es gewesen, daß seinerzeit eine spanische Uradelsfamilie einen Bankert auf der „Wappen von Wismar“ habe nach Deutschland bringen wollen, und zwar eben jenen, der sich heute Kapitän Drummond nannte. In Irland sei jedoch kein Bankert beim Verkauf abgeliefert worden. Logischerweise müsse dieses Kind daher in England geblieben sein, natürlich bei der räuberischen Sippe der Killigrews.

Daß dieser angebliche Kapitän Drummond der damalige Bankert sein mußte, so hatte Zumarraga ausgeführt, beweise seine frappante Ähnlichkeit mit seiner Mutter, einer spanischen Edeldame, deren Namen zu nennen Moral und Anstand verbäten, zumal sie eben einer bekannten Adelsfamilie Spaniens entstamme.

Der Killigrew-Bastard hatte vor dem Tribunal nur erklären können, daß Señor Zumarraga vermutlich wegen seines kürzlich erlittenen Schlaganfalls nicht mehr alle Sinne beisammen habe.

Doch das Militärgericht war anderer Meinung gewesen. Die Señores hatten sich der Beweisführung Zumarragas angeschlossen und den Engländer der Spionage für schuldig befunden.

Romeronde Zumarraga war davon überzeugt, daß er bei der Familie de Coria aufrichtige Dankbarkeit ernten würde. Immerhin hätte der Bastard seiner mütterlichen Familie für das, was man seiner Mutter und dem Vater, dem pommerschen Adligen Godefroy von Manteuffel, angetan hatte, ziemlichen Ärger bereiten können. Denn dank seiner Menschenkenntnis hatte Zumarraga sofort erkannt, daß – nach dem Kaliber des Bastards zu urteilen – die Fetzen geflogen wären.

Aber glücklicherweise saß der Bursche jetzt im Kerker der Festung, und von dort war noch niemals ein Todeskandidat entwischt.

Romeronde Zumarraga fühlte sich absolut sicher, zumal er erst vor wenigen Stunden erfahren hatte, daß das Schiff des angeblichen Iren Cadiz in der vergangenen Nacht mit unbekanntem Ziel verlassen habe.

So döste der Inhaber des Handelskontors beruhigt vor sich hin, während die Kalesche in zügigem Tempo über den steinigen Weg rollte.

Romeronde Zumarraga ahnte nicht, daß er beobachtet wurde.

Die beiden Männer verharrten regungslos hinter einem Felsvorsprung.

In ihrem Blickfeld lagen sowohl die Festungsanlagen von Fort San Sebastian als auch ein Teil des Weges, der nach Cadiz führte.

Schon von weitem sahen Ben Brighton und Sam Roscill die Kalesche, nachdem sie das Fort verlassen hatte. In der Staubfahne, die das zerbrechlich wirkende Gefährt hinter sich herzog, brachen sich die Sonnenstrahlen.

Ben Brighton, Bootsmann auf der „Isabella VII.“, war untersetzt und breitschultrig. Er fuhr sich mit den Fingern durch das dunkelblonde Haar und wischte die Schweißperlen mit dem Handrücken von der Stirn. Ben, eines der langgedienten Mitglieder der Seewolf-Crew, hatte die tropische Hitze in der Neuen Welt kennengelernt und war ohne Mühe damit fertiggeworden. Es war nicht die Sonnenglut allein, die ihm hier in Spanien den Schweiß auf die Stirn trieb.

Der Seewolf befand sich in der Gewalt der gottverdammten Dons. Und das bereitete Ben Brighton mehr als nur Kopfzerbrechen.

So kniff er die Augen zu Schlitzen zusammen, als die Kalesche auftauchte. Kein Zweifel, daß es sich um das Gefährt des alten Gauners handelte, in dessen Haus Hasard überwältigt worden war.

Die einspännige Kutsche näherte sich rasch, und bald war der Mann auf der gepolsterten Sitzbank deutlich zu erkennen. Zwar lag die obere Hälfte seines Gesichts im Schatten der Hutkrempe, doch allein seine Statur und seine Kleidung waren unverwechselbar.

„He!“ flüsterte Sam Roscill, der neben Brighton hinter dem Felsvorsprung kauerte. „Das ist dieser schmierige Strolch, Ben. Schnappen wir ihn uns?“ Roscill, ehemaliger Karibik-Pirat, war schlank und dunkelhaarig. Seine schwarzen Augen blitzten unternehmungslustig.

„Moment noch“, entgegnete Ben Brighton ebenso leise. „Ich will ganz sicher sein.“

Die Kalesche war jetzt nur noch zwanzig Yards entfernt und hielt ihre Geschwindigkeit stetig bei.

„Ich will verdammt sein, wenn ich jemals einen so widerwärtigen Burschen gesehen habe“, murmelte Sam Roscill kopfschüttelnd. „Wenn’s das gäbe, würde ich meinen, er hat Ähnlichkeit mit einem Ziegengeier.“

Ben Brighton mußte lächeln, obwohl ihm keineswegs nach Frohsinn zumute war.

Die Kalesche rollte vorbei, und vor den beiden Männern waberte die von Sonnenstrahlen durchflutete Staubfahne hoch.

„Er ist es“, sagte Ben Brighton und nickte. „Wenn es einen gibt, der uns weiterbringt, dann dieser Gauner.“

Sam Roscill strahlte und schlug sich mit der geballten Rechten in die flache linke Hand. Der Bootsmann war ein Bursche, mit dem man Pferde stehlen konnte. Und wenn es hieß, zuzupacken, so entsprach das voll und ganz dem Draufgängerherzen, das in Roscills sehnigem Körper pochte.

Die Männer sprangen auf.

„Wo?“ fragte Sam Roscill knapp.

„An der übernächsten Wegbiegung“, entschied Ben Brighton kurzerhand.

Roscill nickte nur. Es war überflüssig, weitere Worte zu wechseln.

Im Schutz der Felsformationen am Wegesrand hasteten sie voran. Sie hatten das Gelände hinreichend erkundet. Es bestand genügend Sichtschutz, so daß sie vom Fort aus nicht entdeckt werden konnten.

Im übrigen verlief der Weg in solchen Schlangenlinien, daß sie durch die Abkürzung mindestens einen Zeitvorsprung von einer Minute herausholten, bis sie an der besagten Biegung in Position gingen.

In Ben Brightons Kopf reifte bereits ein rascher Plan, wie er diesen Erzhalunken Zumarraga überlisten konnte.

Schon seit den Nachtstunden waren der Bootsmann und Sam Roscill um das Fort gestrichen. Sie hatten diese Aufgabe übernommen, da sie an Bord der „Isabella VII.“ die einzigen waren, die fließend Spanisch sprachen – und zwar so vollendet, daß sie selbst einem Einheimischen gegenüber keinen Verdacht erwecken würden.

Dan O’Flynn hatte beobachtet, wie Soldaten den bewußtlosen Seewolf von Zumarragas Haus zum Fort San Sebastian geschleppt hatten. Dan hatte dies dem Bootsmann sofort gemeldet, und Ben Brighton hatte daraus gefolgert, daß es im Hafen von Cadiz zu gefährlich für sie werden konnte. Die „Isabella VII.“ war daraufhin zur Mündung des Rio de San Pedro verholt worden. Ben Brighton hatte das Kommando an Ferris Tucker übergeben. Gemeinsam mit Ed Carberry, Big Old Shane, Stenmark, Al Conroy, Dan O’Flynn, Matt Davies, Sam Roscill und Luke Morgan war der Bootsmann daraufhin in einem Kellerversteck bei dem Kaufmann Pedro de Castro geblieben, der sich den Seewölfen gegenüber bisher als ausgesprochen loyal und hilfsbereit erwiesen hatte.

Nach ihren Beobachtungen beim Fort San Sebastian waren Ben Brighton und Sam Roscill felsenfest davon überzeugt, daß etwas Bedrohliches im Busch sein mußte.

Zumarraga war an diesem Vormittag nicht der einzige Besucher in der Festung gewesen. Es waren noch sehr viele andere Señores erschienen. Zum Teil mußte es sich um Offiziere gehandelt haben. Die anderen hatte Ben Brighton nach ihrem Äußeren und ihrem Gehabe als Juristen oder Gerichtsbeamte eingestuft. Ben besaß seine Erfahrungen, um Typen dieser Kategorie erkennen zu können.

Und stimmte seine Vermutung, dann deutete das alles darauf hin, daß gegen Hasard eine Gerichtsverhandlung stattgefunden haben mußte.

Als Fazit blieb, daß der alte Zumarraga tatsächlich der Schlüssel zu allen Informationen war, die Ben Brighton brauchte, um dem Seewolf aus der Klemme helfen zu können.

Wie erwartet, erreichten sie die Wegbiegung mit ausreichendem Vorsprung.

Die Kalesche war noch nicht zu sehen. Lediglich das Klappern der Pferdehufe und das knirschende Mahlen der Räder auf dem felsigen Grund waren zu hören.

Brighton und Roscill verbargen sich hinter knapp mannshohen Felsbrocken.

Ohne lange suchen zu müssen, fand Ben einen walnußgroßen Stein. Er zog die Schleuder aus der Tasche. Sam Roscill warf einen Blick herüber und nickte nur. Er wußte, daß der Bootsmann diese primitive Waffe mit höchster Fertigkeit zu benutzen verstand.

Ben Brighton spähte hinter dem Felsbrocken hervor. Ein Lächeln huschte über seine harten Gesichtszüge, als er feststellte, daß der Weg mit beträchtlicher Steigung zu dieser Stelle heraufführte.

Unvermittelt tauchte die Kalesche in Sichtweite auf.

Der Bootsmann zog den Kopf ein. Seine Muskeln spannten sich. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, daß Sam Roscill bewegungslos verharrte.

Die Fahrgeräusche des Einspänners näherten sich rasch.

Ben Brighton riskierte einen vorsichtigen Blick.

Der Alte döste hinten auf dem Sitz, und auch der Kutscher schien beträchtliche Mühe zu haben, gegen seine Schläfrigkeit anzukämpfen. In kurzen Abständen sank sein Kopf immer wieder vornüber.

Die Kalesche war noch fünf Yards entfernt, als der Bootsmann der „Isabella VII.“ die Steinschleuder rotieren ließ. Innerlich völlig ruhig, zählte Ben Brighton die Sekunden.

Dann richtete er sich blitzschnell auf und schickte das Steingeschoß auf die Reise.

Ein kaum hörbares Sirren entstand.

Ben Brighton duckte sich sofort wieder.

Es war, als verhaspele sich das Pferd in einem über den Weg gespannten Seil.

Jäh wurde der Kutscher aus seinem Dämmerzustand gerissen. Er schrak auf, schraubte sich kerzengerade auf dem Bock in die Höhe – und konnte sich gerade noch rechtzeitig festhalten, um nicht nach vorn zu kippen.

Denn die Fahrt der Kutsche wurde abrupt gestoppt, als das Pferd in der Zuggabel wie vom Blitz getroffen zusammenbrach.

Der heranzischende Stein, der das Tier an den Kopf getroffen hatte, war für den Kutscher unsichtbar gewesen. Mit fassungslos geweiteten Augen stierte er auf das Pferd, das nach kurzen Zuckungen regungslos liegenblieb.

In einem Anflug von Geistesgegenwart zog der Kutscher den Hebel, durch den die Räder blockiert wurden.

Romeronde Zumarraga erwachte erst jetzt aus seinem Halbschlaf. Blinzelnd blickte er sich um, erfaßte die Situation und wurde krebsrot im Gesicht. Er ballte die dürren Greisenhände und schlug sich damit auf die Knie.

„Por diablo!“ schrie er wütend. „Zum Teufel, mit welcher elenden Mähre fährst du Mistkerl mich durch die Gegend!“ Nicht weniger als über den Zwischenfall war Zumarraga darüber erbost, daß sein angenehmer Traum von der Prämie, die er in Cordoba zu kassieren gedachte, unterbrochen worden war.

Der Kutscher wandte sich verlegen um.

„Perdone me, Señor“, sagte er kleinlaut. „Verzeihen Sie, aber ich kann es mir selbst nicht erklären. Dies war ein frisches Pferd, und ich kann mir wirklich nicht erklären …“

„Dummes Gewäsch“, unterbrach ihn Zumarraga keifend. „Du wirst sofort in die Stadt laufen.“

„Si, Señor.“

„Und du holst einen Gaul, der wirklich frisch ist.“

„Si, Señor.“

„Der Teufel persönlich wird dir in den Hintern treten, wenn du dich nicht beeilst. Und es wird das letztemal gewesen sein, daß ich deine Dienste in Anspruch genommen habe.“

„Si, Señor.“

„Auf was wartest du noch?“ schrie Zumarraga erbost. „Hoffentlich bist du bald unterwegs! Pronto, pronto!“

„Si, si, Señor.“

Hastig schwang sich der Kutscher vom Bock. Mit fliegenden Fingern löste er die Arretierung des Verdecks und schlug es hoch.

„Damit Sie vor der Sonne geschützt sind, Señor“, sagte er.

„Hm“, brummte Zumarraga nur.

Er maß den Mann mit einem verächtlichen Blick, als dieser die Beine in die Hand nahm und mit langen Sätzen losrannte. Schon nach wenigen Minuten war der Kutscher hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden.

Romeronde Zumarraga lehnte sich zurück und faltete die Hände über dem mageren Körper. Erneut zog er die Hutkrempe tief in die Stirn und schloß die Augen. Er bemühte sich, seinen Zorn über den unvorhergesehenen Aufenthalt verrauchen zu lassen. Wenn es eine Stunde Zeitverlust gab, so spielte das keine entscheidende Rolle. Seine erhoffte Belohnung konnte er in Cordoba immer noch kassieren. Dabei kam es auf eine Stunde mehr oder weniger wahrhaftig nicht an.

Zumarraga entschied sich, die Zeit für ein erholsames Nickerchen zu nutzen. Die hastigen Schritte des Kutschers waren bereits nicht mehr zu hören, ringsherum war Stille eingekehrt. Überdies ließ sich die Hitze unter dem schattenspendenden Verdeck der Kutsche recht gut ertragen.

Mit sich und der Welt zufrieden, war Romeronde Zumarraga schon sehr bald im Begriff, einzuschlafen.

Er nahm nicht das leiseste Geräusch wahr.

Um so heftiger traf ihn der Schreck, als sich jäh etwas unangenehm Hartes an seine faltige Wange preßte.

Zumarraga zuckte zusammen, riß die Augen auf und wollte aufspringen.

„Besser, du bleibst sitzen, Amigo“, sagte eine metallisch klingende Stimme. „Es könnte sonst sein, daß ich ein nervöses Zucken im Zeigefinger kriege.“

Zumarraga erstarrte. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Er wagte nicht mehr, sich zu rühren. Seine Augen wölbten sich aus den Höhlen. Im äußersten rechten Winkel seines Blickfeldes erkannte er, daß es sich bei jenem Harten, das seine Wange eindellte, um die Laufmündung einer schweren Steinschloßpistole handelte.

Der Mann, der die Pistole in der Faust hielt, hatte harte, wettergegerbte Gesichtszüge. Das gefährliche Glimmen in seinen schmalen Augen ließ für den Kaufmann keinen Zweifel darüber, daß er sich in einer tödlich ernsten Lage befand.

Ein zweiter Mann, schlank und sehnig, tauchte hinter einem Felsbrocken auf, lief mit federnden Sätzen auf die Kutsche zu und schnappte sich wortlos den Ledereimer, der neben dem Bock hing. Er wandte sich um und eilte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Der Uferstreifen war nur einen Steinwurf weit entfernt.

„Was wollen Sie von mir?“ stammelte Zumarraga mit brüchiger Stimme.

„Das wirst du früh genug erfahren, du Ratte“, entgegnete Ben Brighton kalt. „Bevor wir uns weiter unterhalten, werden wir von hier verschwinden. Es gibt gemütlichere Orte für einen kleinen Plausch.“

Zumarraga preßte die fahlen Lippen aufeinander. Diese neue Wende der Dinge war für ihn schlimmer als das abrupte Erwachen aus dem Traum von der Belohnung. Instinktiv spürte er, daß sich Bedrohliches über ihm zusammenbraute. Ebenso ahnte er, daß dies mit der Gefangennahme des Manteuffel-Bastards zusammenhing. Es war zum Verrücktwerden. Was eben noch so ausgesehen hatte, als ob es klar und folgerichtig und ohne Schwierigkeiten ablaufen würde, erwies sich von einer Minute zur anderen als äußerst verhängnisvoll.

Sam Roscill kehrte mit dem gefüllten Ledereimer zurück und leerte ihn über dem Kopf des reglosen Pferdes. Das Tier reagierte nicht sofort auf den Wasserschwall, doch schon nach wenigen Sekunden begann es, sich zu regen. Sam tätschelte ihm die Nüstern und redete ihm mit leiser, eindringlicher Stimme gut zu.

Ben Brighton verpaßte dem Geiergesicht währenddessen einen Knebel und verband ihm die Augen. Zumarraga ließ es widerstandslos geschehen. Er war sich darüber im klaren, daß er gegen diese rauh und gefährlich aussehenden Männer nicht die geringste Chance hatte.

Der Bootsmann entspannte den Hahn seiner Pistole und schob die Waffe wieder unter den Ledergurt, der seine Hüften umspannte. Grinsend ließ sich Ben neben dem Alten auf der Sitzbank nieder und beobachtete zufrieden, wie es Sam Roscill gelang, das bis eben noch betäubte Pferd hochzupurren.

Sehr rasch stand das Tier wieder sicher auf den Beinen.

Sam Roscill schwang sich auf den Kutschbock und ergriff die Zügel. Mit knallender Peitsche ließ er das Pferd antraben.

Ben Brighton wußte, daß er Sam nicht zusätzlich anfeuern mußte. Roscill war ein jederzeit verläßlicher Mann. Und verdammt noch mal, letzten Endes ging es um das Leben Hasards, ihres Seewolfes!

In einer solchen Situation brauchte keiner der Männer der „Isabella“-Crew überflüssige Anweisungen. Wenn es galt, ihren Kapitän aus einer mißlichen Lage herauszupauken, entwickelten sie eine zähe, grimmige Verbissenheit, die schon manche Gegner das Fürchten gelehrt hatte.

Hätten Ben Brighton und Sam Roscill zu diesem Zeitpunkt allerdings geahnt, in welcher bedrohlichen Lage sich Hasard wirklich befand, wären sie mit Sicherheit weniger beherrscht gewesen.

Auf Umwegen fuhren die beiden Männer in die Stadt zurück. Ihr Ziel war die Hafengegend, wo sich die Lagergebäude ihres Verbündeten de Castro befanden.

Sie erreichten Cadiz, bevor der Kutscher mit dem frischen Pferd auftauchte.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 54

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