Читать книгу BAT Boy - C. A. Raaven - Страница 7
Ein Hotel am Meer
Оглавлениеaul neigte sich ebenfalls über die Mauer und murmelte: »Hmmm, sieht aus, als könntest du recht haben. Wahrscheinlich führt die Straße da hin. Aber vielleicht auch nicht. Meint ihr wirklich, dass wir uns auf den Umweg einlassen sollten? Es ist doch schon ganz schön spät, und wir müssen zusehen, dass ...«
Weiter kam er nicht, denn er hatte sich beim Sprechen wieder aufgerichtet. So erblickte er Lucas und Betty, die beide wie zwei Wackeldackel nickend und grinsend nebeneinander standen.
»Na ja, dann schau mer mal. Wenn’s erst mal für diese Nacht was wird, dann brauchen wir uns wenigstens darum keine Gedanken mehr zu machen.«
Sie stiegen wieder in den Wagen und bogen an der einige hundert Meter weiter einmündenden Straße ab. Der Begriff Straße schien in diesem Fall allerdings tatsächlich etwas übertrieben zu sein, denn es war eher eine Schotterpiste, die sich hinein in den Pinienwald wand. Als sie langsam anfingen, sich Gedanken darüber zu machen, ob das Abbiegen wirklich so eine gute Idee gewesen war, kamen sie an eine Schranke, die ihnen den Weg versperrte. Dahinter standen zwei Männer, die sie neugierig musterten.
Paul stieg aus und redete auf die beiden ein. Im Versuch, entweder durchgelassen zu werden oder wenigstens eine Information zu bekommen, ob sie auf dem richtigen Weg wären, benutzte er außerdem beide Hände. Die beiden lächelten und kauderwelschten in ihrem Süditalienisch zurück, wobei sie mindestens ebenso stark mit den Armen in alle möglichen Richtungen wedelten. Lucas und Betty waren inzwischen ebenfalls ausgestiegen und gesellten sich dazu.
Lucas lauschte eine Weile. Dann fragte er einen der Männer auf Italienisch: »Ist das der Weg zu dem Hotel am Meer, das wir von der Küstenstraße aus sehen konnten?«
Der Angesprochene strahlte Lucas an und nickte eifrig. Er bedeutete seinem Kollegen wortreich, dass er die Schranke öffnen und die Urlauber durchlassen solle. Währenddessen hatten sich Lucas‘ Eltern zu ihm umgedreht. Beide starrten ihn an.
»Du kannst Italienisch?«, sagte Paul.
Lucas fragte sich das in diesem Moment ebenfalls. Natürlich hatte er nirgendwo Italienisch gelernt. Warum auch? Aber wieso hatte er eben offensichtlich das Richtige gesagt? Ein Blick auf die beiden Italiener, die inzwischen neben der offenen Schranke standen und sie erwartungsvoll anblickten, bestätigte ihm dies. Also sagte er das Erste, was ihm in den Sinn kam.
»Hab ich mal irgendwo im Fernsehen gehört. Scheint ja auch geklappt zu haben«, sagte er achselzuckend und setzte sich wieder ins Auto. Innerlich empfand er die gleiche Fassungslosigkeit, wie seine Eltern sie demonstrierten. Nach einer kurzen Wegstrecke kamen sie zu einem Parkplatz, wo sie ihren Wagen stehen ließen und zur Rezeption gingen. Dort stellte sich zu Lucas‘ Erleichterung heraus, dass der Pförtner durchaus Deutsch verstand und auch sprach. So musste er nicht noch einmal ausprobieren, ob er sich wirklich auf Italienisch unterhalten konnte.
Das Hotel hätten sie sich schöner nicht wünschen können: Mehrere zweistöckige, weiß gekalkte Gebäude waren in unregelmäßigen Abständen in einen Nadelwald an der Steilküste drapiert worden. Das Haupthaus mit Rezeption, Bar, Innenhof und Restaurant befand sich direkt am Rand einer etwa 25 m hohen Klippe. Davor ragten in einiger Entfernung weitere hohe Felsen mitten aus dem azurblauen und kristallklaren Meer. Sie mussten vor langer Zeit einmal davon abgebrochen sein. Einer dieser Felsen sah tatsächlich aus wie ein Tor, durch das man in die grenzenlose Weite der Adria blicken konnte. Die Luft war erfüllt vom salzigen Aroma des Meeres und dem würzigen Duft des Waldes. Von überall her drang das Rauschen des Meeres und das Zirpen von Grillen an ihre Ohren. In Lucas‘ Kopf verbanden sich die Eindrücke zu einer Sinfonie aus Farben, Formen, Düften und Klängen, die ihm unfreiwillig Tränen der Rührung in die Augen trieben. Jedoch verströmte die Umgebung eine Ruhe, die nicht danach zu trachten schien, ihn zu überwältigen, sodass er es einfach nur genießen konnte.
Im Restaurant wurde ihnen ein herrliches Abendessen aus Antipasti, verschiedenen Nudelgerichten und frischem Salat serviert. Sie merkten erst jetzt, wie hungrig sie waren, und schlugen sich die Bäuche voll. Lucas war mittlerweile so an die Geschmacksexplosionen beim Essen gewöhnt, dass es ihm immer leichter fiel, die verzückten Laute, die ihm entweichen wollten, zu unterdrücken. Als sie im Anschluss auf ihr Zimmer geführt wurden, sahen sie, dass ihr Gepäck bereits dort war. Das Zimmer befand sich in der oberen Etage eines etwas abseits gelegenen Hauses. Zu ihrer großen Freude entdeckten sie außerdem eine riesengroße Dachterrasse, von wo sie einen fantastischen Blick über Baumwipfel und Meer hatten. Als Lucas später in seinem Bett lag und durch ein Fenster auf die wunderschöne Landschaft schaute, die draußen allmählich in Schatten versank, fühlte er sich unendlich glücklich und zufrieden. Um auszuschließen, dass dies alles nur ein Traum war, aus dem er wieder erwachen musste, kniff er sich kräftig in die Wange. Der sofort aufflammende Schmerz war definitiv dazu geeignet, ihn in die Wirklichkeit zurückzubringen. Leider verebbte dieser nicht wieder, sondern behielt auch Minuten später eine unangenehme Intensität.
Das kann ich so nicht lassen.
Er stand auf und ging ins Bad, um sich ein feuchtes Handtuch zum Kühlen zu holen. Wenn ihn der Schmerz nicht bereits in die Realität befördert hätte, dann wäre er spätestens beim Blick in den Spiegel dort angelangt. Das, was Lucas sah, ließ ihn vor Schreck die Augen weit aufreißen: Auf seiner rechten Wange prangte ein beachtlicher tiefroter Bluterguss. Dort, wo sich die Fingernägel in sein Fleisch gegraben hatten, befand sich sogar etwas Blut.
Verdammte Sch..., fuhr es ihm durch den Kopf. Was hab ich denn da gemacht? Hab ich wirklich so stark zugedrückt?
Aber egal, warum es dazu gekommen war, so ließ sich der Effekt doch nicht übersehen. Ein feuchtes Handtuch würde schwerlich genügen, um den Schaden, den er sich selbst zugefügt hatte, zu beheben. Lucas blickte sich hilfesuchend um, als es klopfte. Seine Eltern konnten das nicht sein, die hatten einen Schlüssel. Also ging er zur Tür und öffnete sie. Draußen stand ein Zimmermädchen mit einem glänzenden Gegenstand in den Händen. Sie setzte sofort zu einem wahren Redeschwall an. Darin ging es um ihre Schwester, ihren Verlobten und eine ganze Kette von unglücklichen Umständen, die letztendlich dazu geführt hätten, dass sie es noch nicht geschafft hatte, ihnen als neuen Gästen den Willkommens-Sekt aufs Zimmer zu bringen. Lucas versicherte ihr ebenso wortreich, dass seine Eltern ihr das nicht übel nehmen, sondern sich im Gegenteil sogar herzlich bedanken würden. Schließlich übergab sie ihm den Sektkübel, in dem sich eine eisgekühlte Flasche befand, und verließ ihn sichtlich erleichtert.
Als er gerade die Tür geschlossen hatte, meldete sich eine Stimme aus seinem Hinterkopf: Du hast es schon wieder getan.
Was habe ich schon wieder getan?
Italienisch geredet. Du glaubst doch wohl nicht, dass die dich verstanden hätte, wenn du Deutsch gesprochen hättest. Außerdem sprach sie ja auch Italienisch.
Das hatte sie tatsächlich. Und er hatte sie verstanden. Die Erklärung, die er sich und seinen Eltern vorhin gegeben hatte, war mit einem Mal wie weggewischt. Zurück blieb nur das unbestimmte Gefühl, dass etwas in ihm vorging, was er selbst nicht unter Kontrolle hatte. Seufzend trug Lucas den Kübel zum Tisch, wo er ihn abstellte. Dabei fiel sein Blick auf das darin langsam vor sich hinschmelzende Eis.
Bingo! Das ist wesentlich besser, als nur ein nasser Lappen.
Er nahm sich drei Eiswürfel, wickelte sie in das Handtuch, das er immer noch in der Hand hielt, und begab sich wieder ins Bett. Dort fing er an, die puckernde Wange zu kühlen, während seine Gedanken um die Seltsamkeiten des Tages kreisten. Aber dann forderte der lange ereignisreiche Tag seinen Tribut, und er versank in traumlosem Schlaf.
Der nächste Morgen dämmerte golden heran, als Lucas wieder erwachte. Er schlug die Augen auf, sah durch das Fenster das sanfte Grün der Bäume und lächelte still vor sich hin. Dann stand Lucas leise auf. Er ging auf die Terrasse, um den Anblick der aufgehenden Sonne zu genießen. Eine Weile lang stand er einfach nur da. Wie ein Schwamm sog er den Frieden dieses Augenblicks in sich hinein, als ob er ihn dort sicher für schlechte Zeiten aufbewahren wollte. Sonnenaufgänge hatte er schon immer geliebt. Da hörte er, wie sich seine Eltern noch ein wenig schlaftrunken unterhielten, und ging wieder ins Zimmer zurück, um sich umzuziehen. Das wunderbare Gefühl von Urlaub genießend schlenderten sie zusammen den Weg zum Restaurant entlang, um zu frühstücken. Wiederum erwies sich die Hotelanlage als gut ausgestattet. Es gab alles, was man für einen Start in den Tag gebrauchen konnte: frisch gepressten Orangensaft, eine Auswahl von Müsli und Cornflakes, verschiedene Eiergerichte und eine große Auswahl an Brot. Das ausgedehnte Frühstück weckte Lucas‘ Lebensgeister erst so richtig. Er beschloss, sich nun den Rest des Hotelgeländes anzusehen, denn dazu hatte er gestern nach der unangenehmen Fahrerei keine rechte Lust gehabt. Er ging zur Rezeption, um nachzusehen, ob es dort so etwas wie einen Lageplan der Anlage gäbe, damit er sich besser orientieren könnte. Während er dort noch am Tresen herumstöberte, hörte er plötzlich eine Stimme, die ihm das Herz in die Kehle springen ließ.
»Nee, das ist ja‘n Ding! Lucas, was machst du denn hier?«
Lucas drehte sich langsam um. Obwohl er die Stimme auf Anhieb erkannt hatte, hoffte er doch, sich zu irren.
Vor ihm stand Ines zusammen mit zwei Erwachsenen, vermutlich ihren Eltern. Alle zusammen lächelten sie Lucas freundlich an. Das brachte sein Herz dazu, wieder ein wenig langsamer zu schlagen. Er beförderte schnell ein etwas schief geratenes Grinsen in sein Gesicht.
»Hi«, sagte er nur.
Ines und ihre Eltern werteten dies offensichtlich als Zeichen seiner Überraschung, denn sie gingen nicht weiter auf diese wortkarge Begrüßung ein. Ines stellte ihre Eltern als »Tom und Diana Bunge« und ihn als »Lucas aus meiner alten Klasse« vor.
Dann verabschiedeten sich ihre Eltern mit den Worten: »Na dann hast du ja doch noch jemanden in deinem Alter gefunden.«
Nun waren sie beide allein und Lucas fühlte das dringende Bedürfnis, sich in eine Stehlampe oder so zu verwandeln. Er fand es zwar gut hier jemanden zu haben, mit dem man gemeinsam etwas unternehmen konnte, aber musste es ausgerechnet Ines sein? Nicht, dass er sie nicht mochte. Im Gegenteil. Ines hatte ihm von allen seinen Mitschülerinnen immer am besten gefallen. Aber als er ihre Stimme gehört hatte, war sofort wieder die Sache mit Kevin und dem Teleskop aus der Halb-Vergessenheit aufgetaucht. Er fühlte schon, wie sich seine Ohrenspitzen vor Scham röteten.
Doch in diesem Moment half Ines ihm unverhofft aus der Patsche, indem sie sagte: »Schön, dass du es bist. Ich meine, stell dir mal vor, ich hätte hier Bonzo getroffen.«
Damit verflüchtigte sich der Schock vollends, sodass Lucas nicht anders konnte, als sie strahlend anzulächeln. Nicht weil er sich freute, dass sie ihn Bonzo vorzog – dem Klassenrowdie, der ständig über alles und jeden herzog. Nein, ihre Reaktion zeigte ihm, dass Ines es nicht wusste. Sie hatte ihn nicht erkannt. Also würde er ihr jetzt nicht dafür Rede und Antwort stehen müssen. Wie dumm war er gewesen, sich die ganze Zeit über davor zu drücken, ihr über den Weg zu laufen, aber egal: Das war jetzt vorbei. Es gab doch Gerechtigkeit auf dieser Welt. Durch sein Lächeln musste auch Ines lachen. Sie machten sich zusammen auf, die Gegend zu erkunden. Ines war bereits einen Tag vorher angekommen. Sie fuhr schon seit Jahren hierher, nur dass in diesem Jahr außer ihnen nur Eltern mit kleineren Kindern hier Urlaub machten. So lernte Lucas in den folgenden Tagen jeden Winkel der Hotelanlage kennen. Auch seine Eltern verstanden sich gut mit Ines‘ Eltern. Während diese sich tagsüber am Strand oder abends in der Bar vergnügten, ging Lucas zusammen mit Ines mehr und mehr eigene Wege. Sie verbrachten die meisten Abende damit, Spaziergänge durch die Anlage zu machen oder auf Lucas‘ Terrasse zu sitzen und sich über Gott und die Welt zu unterhalten. Nach ein paar Tagen änderte sich jedoch irgendetwas. Unmerklich zunächst, aber dann doch immer spürbarer beschlich Lucas das Gefühl, dass in Ines eine Veränderung vorgegangen war, die er nicht einordnen konnte. Es war in ihren Blicken und in der Art, wie sie sprach, ja sogar in ihren Bewegungen. Als er einen Tag später seine Mutter darauf ansprach, lächelte sie nur und sagte: »Schön, dass du es bemerkt hast, aber an der Erkenntnis musst du wohl noch arbeiten.«
Als sie Lucas‘ verständnislosen Blick auffing, ergänzte sie: »Kannst du dir das nicht vorstellen? Sie hat sich in dich verliebt, mein Großer.«
Mit dieser Information hatte Lucas nicht gerechnet. Es war ihm, als ob in seinem Kopf plötzlich zwei Lautsprecher angeschaltet worden waren, von denen jeder etwas anderes von sich gab. Die erste Stimme jubilierte: Sie liebt dich, sie liebt dich. Das Leben ist toll ...
Die zweite Stimme hingegen sah die Sache ein wenig anders: Das kann doch nicht sein. Mam verarscht dich doch. Ines kann sich doch nicht ausgerechnet in dich verknallt haben ...
Dieser Widerstreit war ihm offensichtlich vom Gesicht abzulesen, denn Betty sagte: »Du kannst mir ruhig glauben. Ich erkenne sowas ganz gut. Sogar Papa hat schon ein paar Andeutungen in der Art gemacht.«
Das ließ die zweite Stimme in seinem Kopf verstummen. Zurück blieb nur eine seltsame Leichtigkeit. Er hatte glatt das Gefühl zu schweben. Stattdessen musste er sich setzen, weil ihm auf einmal die Knie ganz weich wurden.
»Echt jetzt? Und was nun?«
»Na was denkst du denn?«, lächelte Betty zurück.
»Das wollte ich doch gerade von dir wissen«, sagte Lucas flehentlich. In seinem Bauch machte sich spontan ein ungutes Gefühl breit. Was sollte jetzt passieren? Was würde man – würde Ines nun von ihm erwarten?
»Nein, nein«, kam es von seiner Mutter zurück. »Ich meine magst du sie denn auch?«
»Machst du Witze? Sie ist das tollste Mädchen, das ich mir vorstellen kann«, antwortete Lucas sofort. Noch während er sprach, wunderte er sich darüber, dass er es tatsächlich jemandem erzählt hatte.
»Na dann sag ihr das auch. Deine Gedanken kann sie nicht lesen.«
»Und wie!?«, entfuhr es ihm. Panik kam in ihm auf. Wie sollte er das bloß anstellen? Bei seiner Mutter eben war ihm das so rausgerutscht. Aber sich nun vor Ines hinzustellen und ihr seine Gefühle zu offenbaren kam ihm nahezu unmöglich vor. Im Geist sah er sich wie in einem dieser alten Filme vor ihr knien. Er gestand ihr seine Liebe, woraufhin Ines aber nur mäßig interessiert lächelte, sich dann umdrehte und ihn wie einen Idioten aussehen ließ.
Lucas‘ Mutter holte ihn aus diesen Träumen zurück, indem sie sagte: »Versuch jetzt am besten nichts übers Knie zu brechen. Du hast jetzt eine Idee, was das mit euch zu bedeuten hat. Um ihr aber etwas in der Art zu sagen, musst du dir erst einmal deiner eigenen Gefühle klar werden. Außerdem sollte dafür auch das Drumherum stimmen.«
»Hmmmm«, überlegte sie weiter. »Du hast doch gesagt, dass Ines dir von einer einsamen Bucht erzählt hat, die sie nie besuchen konnte, weil weil man dort nur mit einem Boot hinkommt. Das wäre jetzt vielleicht die ideale Gelegenheit, um das Schlauchboot auszuprobieren. Dann hätte es Papa nicht, wie ich ursprünglich fand, völlig unnötigerweise eingepackt. Ich denke, wenn ich ihm die Umstände schildere, dann holt er es bestimmt aus dem Wagen, auch wenn wir übermorgen schon wieder los müssen.«
Das rief Lucas fast schmerzhaft ins Gedächtnis, dass dieser Urlaub und die schöne Zeit mit Ines schon so bald zu Ende sein würden.
Paul war sofort Feuer und Flamme. Er sprintete zum Auto und kam schon nach kurzer Zeit mit dem riesigen Sack zurück, in dem das Boot verstaut war. Er ließ es sich auch nicht nehmen, es sofort persönlich aufzupumpen. Lucas war dieser verschwörerische Eifer schon fast zu viel, aber auf der anderen Seite freute er sich auch auf die Bootsfahrt. Jetzt musste er nur noch Ines von seiner Idee berichten. Er fand sie schließlich lesend am Strand und erzählte ihr, dass er seinen Vater dazu überreden konnte, das Schlauchboot doch noch in Betrieb zu nehmen.
Sie blickte ihn schelmisch über den Rand ihres Buches hinweg an und antwortete in einem übertrieben altmodischen Tonfall: »Aber mein Herr. Was sollen denn die Leute denken, wenn ich mit Ihnen ganz allein auf das Meer hinaus fahre?«
Lucas‘ hatte das Gefühl, in voller Fahrt gegen eine Mauer zu knallen, sodass er- mit einem Mal verlegen- vor ihr stand.
»Ähm na ja, ich hatte nur gedacht, wo du doch noch nie diese Bucht ...«
»Manno, ich hab dich doch bloß auf den Arm genommen. Klar komm ich mit. Wollen wir gleich los?«
»Äh, klar«, konnte Lucas nur noch sagen.
Warum musste das alles immer nur so kompliziert sein? Dieses ständige Hin und Her, das er von seinen Eltern eigentlich kannte, kam ihm nun, da er selbst darin einbezogen war, ganz schön anstrengend vor. Ob es seinen Eltern auch so ging? Die wirkten dabei immer so locker. Ines war inzwischen aufgestanden und hatte ihre Sachen in einem Rucksack verstaut. Gemeinsam mit Paul, der vom Aufpumpen des 2-Mann-Bootes immer noch ziemlich kaputt war, hievten sie es ins Wasser. Ines stieg ein, Lucas schob es vom Strand weg und sprang dann auch hinein. Er schnappte sich die beiden Ruder. Dann sah er Ines erwartungsvoll an.
»Ja? Was denn?«, fragte sie.
»Weißt du, wo’s langgeht?«
»Ach so, natürlich. Wir müssen uns links an der Felswand halten, dann sollten wir sie in ein paar Minuten sehen.«
Lucas ruderte los. Für eine Weile saßen sich die beiden einfach nur still gegenüber und genossen den Augenblick. Das Boot glitt sanft über die fast spiegelglatte Oberfläche des kristallklaren Meeres. Über ihnen wölbte sich ein unbeschreiblich blauer Himmel, an dem hin und wieder Möwen vorbeizogen. Es dauerte nicht lange, da zeigte Ines auf einen Punkt hinter Lucas.
»Sieh mal. Das muss sie sein.«
Er drehte sich um und sah in einiger Entfernung einen Rücksprung in der zerklüfteten Steilküste. Dieser bildete eine Öffnung, die groß genug für eine Motoryacht war. Mitten darin befand sich ein aufgetürmter Haufen aus großen Felsen, die wie Bauklötze aussahen, die ein Riesen-Kind nach dem Spielen vergessen hatte. Die warme Nachmittagssonne schien in die verlassene Bucht. Bis auf das Plätschern der Ruder und den vereinzelten Schrei einer Möwe war nichts zu hören. Lucas fühlte sich plötzlich wie ein großer Entdecker oder ein Schiffbrüchiger, der endlich das rettende Gestade entdeckt. Er musste sich den typischen Schrei »Land!« geradezu verkneifen, ruderte aber trotzdem schneller. Es dauerte nicht lange, da waren sie am Strand der Bucht angekommen. Dort zogen sie das Boot ein Stück aus dem Wasser, setzten sich dann in den Sand und sahen sich um.
»Wow, jetzt weiß ich endlich, was ich in den ganzen Jahren verpasst habe«, brach Ines das Schweigen.
»Hmmja, wie im Paradies«, antwortete Lucas.
»Na dann gib mir mal nen Apfel, Adam.«
Lucas schoss sofort die Röte ins Gesicht. Hieß das jetzt ...? Wollte sie ...? Verdammt, warum musste das nur alles immer so schwer zu verstehen sein? Ines schien seine Reaktion bemerkt und auch die Gedanken, die durch seinen Kopf geschossen waren, zumindest teilweise erraten zu haben, denn sie wurde ebenfalls rot.
»Ich meinte einen Apfel aus dem Picknick-Korb«, sagte sie verlegen grinsend. Sie zeigte auf den Behälter, der hinter Lucas stand. Die Situation war so absurd, dass beide mit einem Mal losprusteten. Lucas zog – immer noch lachend – den Korb zu sich heran. Er holte für Ines einen Apfel und für sich eine Banane heraus. Als er dies tat, fing Ines erneut an, prustend zu lachen und er ließ sie wieder fallen. Stattdessen nahm er sich ein paar Trauben. Ihre Blicke trafen sich. In diesem Moment wunderte sich Lucas darüber, warum ihm das jetzt überhaupt nicht peinlich war. Er hatte glatt das Gefühl, dass er sich ihr gegenüber tatsächlich offenbaren konnte.
Wieder einmal fing Ines seine Stimmung erstaunlich gut auf.
»Ist echt witzig. Eigentlich müsste ich jetzt im Boden versinken, aber es macht mir gar nichts aus.«
»Stimmt«, antwortete Lucas. »Ist wirklich witzig ... sag mal, ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber ich ...«
Weiter kam er nicht, denn Ines war im gleichen Moment aufgesprungen und rief – bereits auf den in einiger Entfernung liegenden Felshaufen zurennend – über die Schulter: »Wer zuerst oben ist!«
Lucas starrte ihr hinterher. Eben noch war alles so einfach gewesen und nun das. Seufzend erhob er sich und rannte grübelnd hinter Ines her. Warum hatte sie das getan? Hatte er richtig gesehen? Ihm war so, als ob er in ihren Augen so etwas wie Angst aufblitzen gesehen hatte.
Zusammen mit Ines erreichte er die Felsen. Sie kletterten, so gut es ging, daran hoch. Lucas war gerade dabei, Ines zu überholen, als sie plötzlich anhielt und rief: »Boah, schau mal da!«
Lucas sah in die Richtung, die ihre Hand wies und erkannte, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Inmitten der Felsen war eine von unten nicht sichtbare Lücke, durch die eine Art Becken entstand. Dieses schien eine Verbindung zum Meer zu haben, denn das Licht, das die Nachmittagssonne auf das Meerwasser fallen ließ, drang von unten in das Becken. So erstrahlte das Wasser dort in einer leuchtenden Mischung aus Türkis und Violett. In diesem so außergewöhnlich illuminierten Bereich tummelten sich aberhunderte kleine Fische, die mit ihren silbernen Leibern glitzernde Reflexe in das Wasser zauberten. Die ganze Szenerie wirkte, als ob sie durch ein Fenster in eine völlig andere Welt blicken könnten. Entzückt machte Ines Anstalten, hinunterzuklettern, aber Lucas hielt sie zurück.
»Ich glaub nicht, dass das eine gute Idee wäre. Das geht da so steil runter. Da kommt man bestimmt nicht mehr richtig hoch«, bemerkte er, als er ihren verärgerten Blick sah.
Ines wirkte zwar enttäuscht, nickte dann aber und folgte Lucas auf den obersten Felsen. Von dort konnte man eine weitere, noch kleinere Bucht erkennen, die im Gegensatz zu der, in der sie gelandet waren, einen ganz feinsandigen Strand hatte. Eigentlich war es nur eine vom Meerwasser ausgewaschene Höhlung in der Klippe, aber sie lag noch ganz im Sonnenschein. Daher beschlossen sie, herunterzuklettern und sich dort ein wenig zu sonnen. Die ganze Zeit über rang Lucas innerlich mit sich. Wie sollte er es bloß anstellen, das zu sagen, was er schon die ganze Zeit sagen wollte? Immerhin war diese Höhle so klein, dass Ines nun kaum noch Möglichkeiten haben würde, wieder aufzuspringen und wegzurennen. Sie konnte höchstens ins Wasser springen. Schließlich kam er zu dem Schluss, einfach anzufangen und zu sehen, was dabei herauskam.
»Ähm, ich wollte dir unbedingt ...«, begann er, doch er kam wiederum nicht weit, denn ein rasches »Warte!« von Ines bremste ihn aus. Sie hatte sich ihm gegenüber kerzengerade aufgesetzt und sah ihm in die Augen.
»Bevor du jetzt das sagst, von dem ich glaube ... hoffe ... fürchte, dass du es sagst, habe ich nur eine Bitte. Sei ehrlich, egal was es ist. Ich kann auch damit klarkommen, wenn es nicht das ist, was ich denke oder will, solange es ernst gemeint ist.«
Dann blickte sie ihn erwartungsvoll an.
In Lucas wirbelten ihre Worte herum und machten ihn ganz konfus. Hatte sie »hoffe« gesagt? Ja, das hatte sie, aber sie hatte auch »fürchte« gesagt. Und sie hatte gesagt: »Sei ehrlich!« Und da war es wieder. Das Gefühl, das ihn beschlichen hatte, als er ihre Stimme hier zum ersten Mal gehört hatte. Nun jedoch war es zu einer Gewissheit geworden. Er musste da jetzt durch und zuallererst musste er ihr die Sache mit dem Fernrohr erklären. Entweder würde sich alles andere dann sowieso erledigt haben oder er hätte freie Bahn, Ines mit gutem Gewissen zu sagen, was er für sie empfand.
»Ja, gut«, begann er, während er im Kopf noch die Worte ordnete, die er gleich sagen wollte. »Es ist schon eine Weile her. Vielleicht erinnerst du dich noch daran.«
Ines‘ Augen blinkten ihn an. Sie sah nicht wütend aus, dachte Lucas. Er begann, zu hoffen, dass sie sich möglicherweise doch nicht mehr erinnern konnte oder es sie gar nicht interessierte.
»Na ja, also zu meinem ...«
»Ciao ragazzi!«, tönte es über das Wasser zu ihnen hin. Ines sog erschreckt die Luft ein und Lucas verschluckte sich mitten im Satz. Beide drehten sich zu der Stimme um, die sie gerade aufgeschreckt hatte. Ein Stückchen entfernt schipperte ein kleines Motorboot um die Felsen herum und zog ihr Schlauchboot hinterher. Im Motorboot saß Luigi, der Bademeister, Strandwächter und Betreiber des kleinen Imbissstandes am Hotelstrand. Er winkte ihnen zu. Als er näher kam und ihre Gesichter deutlicher erkennen konnte, bemerkte er mit einem leichten Lächeln: »Abe gestehrt? Mi dispiace. Abär eure Boot ... ähm triebe auf dän Wassär.«
Lucas sah sich verwundert um, denn er wusste, dass sie das Boot auf den Strand gezogen hatten. Dann erkannte er, dass es inzwischen schon recht spät war und die abendliche Flut eingesetzt hatte. Wahrscheinlich hatte das Wasser doch das Boot erreicht. Ohne es so recht zu wollen, wusste Lucas, dass er Luigi dankbar sein sollte, denn ohne Boot hätten sie wohl oder übel zum Hotelstrand schwimmen müssen. Das wäre in der einsetzenden Dämmerung und bei der Entfernung sicher kein Vergnügen geworden.
Luigi grinste und winkte wieder. »Kommte här. Isch farre eusch.«
Lucas sah Ines an, die auch recht erleichtert wirkte. Sie beugte sich zu Lucas herüber und raunte ihm zu: »Lass uns das Reden auf nachher vertagen. Es sieht so aus, als ob es heute eine tolle Nacht wird. Da haben wir noch viel Zeit.«
Sie stand auf, watete ins Wasser und schwamm dann das Stück bis zu Luigis Boot. Lucas folgte ihr. Als er am Boot angekommen war, hatte Luigi Ines bereits herausgezogen und machte ihr zweideutige Komplimente. Lucas mühte sich damit ab, den Rand des Bootes zu fassen zu bekommen, um sich ebenfalls hereinziehen zu können. Anstatt ihm zu helfen, fuhr Luigi damit fort, mit Ines zu radebrechen, wie schön das Sonnenlicht auf ihren Haaren glänzte. In Lucas wuchs der Zorn. Dieser Typ ließ ihn doch tatsächlich hier im Wasser hängen, während er seinem Mädchen schöne Augen machte! Seine Wut wurde in Sekundenschnelle so stark, dass er, als er schließlich den Bootsrand zu fassen bekam, mit aller Kraft zog. Mit einem Satz schnellte er aus dem Wasser und landete schnaubend im Boot, das durch sein Reißen bedenklich schwankte. Luigi starrte Lucas einen Moment lang erschrocken an, dann brachte er ein schiefes Lächeln zustande. »Ah, scusa. Abe bei die schene Mädchen ganz vergesse.«
»Stronzo!«, schoss es Lucas aus dem Mund, bevor er sich hätte daran hindern können.
»Wa?«, rief Luigi und funkelte ihn bedrohlich an.
»Es ging schon so!«, funkelte Lucas nicht minder bedrohlich zurück. Von hinten in seinem Kopf schrie eine Stimme Lucas panisch an: Hast du sie noch alle? Der ist doch mindestens anderthalb Köpfe größer als du und doppelt so breit!
Aber irgendetwas hinderte Lucas daran, jetzt klein beizugeben. Vielleicht war es dieses Etwas, dass Luigi letztendlich davon abhielt, Lucas einfach wieder zurück ins Meer zu schubsen und mit Ines davon zu fahren. Er zuckte mit den Schultern und drehte sich um. »Wolle wia jetz zu Hause fahre?«
Lucas grunzte zustimmend. Auch Ines nickte geistesabwesend, während sie Lucas immer noch mit offenem Mund anstarrte.
Die Fahrt zurück im Motorboot dauerte nicht lange. Als sie am Hotelstrand ankamen, erblickten sie sofort ihre Eltern, die es sich in ein paar zusammengestellten Liegestühlen bequem gemacht hatten. Während der Fahrt hatten sie alle ihre Fassung wiedergewonnen, sodass niemand von der knisternden Spannung, die kurz vorher noch geherrscht hatte, etwas mitbekam. Lucas‘ Mutter strahle ihn an. Sie hatte dabei einen fragenden Gesichtsausdruck, der ihn spontan wieder an den eigentlichen Zweck seines Ausfluges mit Ines erinnerte. Er brachte ein kleines Grinsen zustande und zuckte dabei mit den Schultern, was den Gesichtsausdruck seiner Mutter in ein fragendes Stirnrunzeln verwandelte. Er winkte ab und flüsterte: »Später.«
Es war inzwischen ohnehin Zeit zum Abendessen. Also trennten sich die beiden Familien, um sich umzuziehen. Kaum war Ines mit ihren Eltern verschwunden, da wurde Lucas auch schon von Betty mit Fragen bestürmt: »Wo wart ihr denn? War’s schön? Hast du was sagen können? Was hat sie gesagt? Wo kam denn Luigi her ...?«
»Schatz, wenn du so weiter machst, dann wirst du nie etwas davon erfahren, denn dann hast du Lucas totgequatscht«, unterbrach sie Paul.
Seine Mutter schaute ihn zwar leicht säuerlich an, hörte jedoch auf Fragen zu stellen. Stattdessen sah sie Lucas aufmunternd an. Lucas erzählte ihnen von den Versuchen und wie sie irgendwie immer fehlgeschlagen waren.
»Mach dir nichts draus«, sagte Betty schließlich. »Das wird heute Abend bestimmt noch was.«
»Ja, hoffentlich«, antwortete Lucas. »Sie fahren doch morgen schon ab.«
»Ja, aber wir haben uns für heute nach dem Essen noch in der Bar zum Klönen verabredet. Da werdet ihr bestimmt eine Chance haben, euch davonzumachen.«
Lucas hoffte das auch. Nachdem er sich gestattet hatte, sich auf seine Gefühle einzulassen, hielt er es bei dem Gedanken, dass sie sich morgen wieder trennen sollten, kaum aus. Auch während des Essens konnte er sich nur schwer auf die Fülle an Speisen konzentrieren. All die Pasta und Salate, frisch gefangener Fisch und Pizza ließen ihn eher kalt. Er stopfte immer nur hin und wieder geistesabwesend einen Bissen von dem, was ihm seine Mutter auf den Teller lud, in den Mund. Selbst die Geschmacks-Sensationen der verschiedenen Gerichte ließen ihn diesmal kalt. Ines schien es ähnlich zu gehen, denn sie mümmelte nur ein wenig an dem Salat herum, der vor ihr stand. Jedoch vermied sie es, die Blicke, die Lucas ihr von Zeit zu Zeit zuwarf, zu erwidern. Lucas‘ Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Hatte er sich etwa geirrt? Hatte er sie mit seiner Aktion mit Luigi vielleicht erschreckt oder verärgert? Das Essen schien sich endlos in die Länge zu ziehen. Als sie schließlich beim Cappuccino angelangt waren, hielt Lucas es nicht mehr aus.
»Ich brauch jetzt mal ein bisschen frische Luft. Kaffee mag ich jetzt nicht«, sagte er. Damit stand er auf und ging auf die Terrasse, von der aus man einen atemberaubenden Blick über das Meer auf den Sonnenuntergang hatte.
Lucas stand an der schmiedeeisernen Brüstung und betrachtete das überwältigende Farbenspiel von Sonne und Meer. Als er schon dabei war, sich zu fragen, ob dieser Abend vielleicht doch nicht so toll werden würde, wie der Nachmittag den Anschein erweckt hatte, tippte ihm jemand auf die Schulter. Ines stand hinter ihm und lächelte ihn an. »Schönes Plätzchen hast du dir da ausgesucht. Hier sollten wir gleich wieder hingehen. Aber erst wollen unsere Eltern noch auf den schönen Urlaub anstoßen, und ich glaube, unsere Anwesenheit ist da gefragt«, sagte sie und verdrehte dabei belustigt die Augen.
Lucas musste grinsen. Was die Erwachsenen immer so wichtig daran fanden, aus irgendwelchen Anlässen einen zu trinken. Er folgte Ines zur Bar, wo ihre Eltern es sich schon in einer Ecke gemütlich gemacht hatten und sie zu sich winkten. Ihre Gläser waren bereits gefüllt. Auch in denen von Ines und Lucas befand sich eine klare bernsteinfarbene Flüssigkeit.
»Zur Feier des Tages haben wir entschieden, dass ihr auch mal einen heben dürft«, rief ihnen Paul mit einem leichten Schwips in der Stimme zu.
Alle lächelten sie an und bedeuteten ihnen, dass sie ihre Gläser nehmen sollten. Sie taten wie ihnen geheißen, rochen aber zunächst an dem Getränk. Es roch undefinierbar süß, aber nicht unangenehm.
»Na denn auf einen tollen, leider fast zu Ende gegangenen, Urlaub und das, was noch daraus werden kann. Hoch die Tassen!«, ließ sich Ines‘ Vater leutselig vernehmen.
Alle tranken, auch Ines und Lucas. Das Getränk schmeckte quietschsüß – viel süßer als der Geruch es hatte vermuten lassen. Während Lucas auch ein Mandelaroma erkennen konnte, sackte eine angenehme Wärme durch Lucas‘ Körper bis zu seinen Füßen.
Dann begannen die Dinge, schief zu laufen.
Lucas lauschte gerade seinem Vater, wie dieser davon erzählte, dass sie sich mit Diana und Tom – Ines‘ Eltern – so gut verstanden, wie mit kaum jemand anderem. Da hörte er auch in seinem Kopf wieder eine leise Stimme flüstern. Er konnte aber nicht verstehen, was sie sagte. Erst als sein Vater bei der Erkenntnis angekommen war, dass sie zuhause fast Nachbarn seien, wurde die Stimme deutlicher.
Nein! Nein, tu das nicht!
Inzwischen hatte sich die Wärme in seinem ganzen Unterleib ausgebreitet und er hatte den Eindruck, langsam mit hinuntergezogen zu werden. Er kam sich mit einem Mal vor wie in einem dieser Filme, wo der Hauptdarsteller versucht, ein schreckliches Ereignis zu verhindern. Aber er selbst hat das Gefühl, sich nur in Zeitlupentempo bewegen zu können und kann daher nur ohnmächtig zusehen, wie das Unheil seinen Lauf nimmt. Verzweifelt kämpfte Lucas gegen die sich immer weiter in seinem Körper ausbreitende lähmende Wärme an. Er versuchte, seinen Vater irgendwie dazu zu bringen, das Thema zu wechseln, ohne selbst überhaupt richtig zu wissen, was dieser denn so schlimmes sagen könnte. Aber bevor Lucas den Mund aufmachen konnte, um etwas – irgendetwas – zu sagen, da war es auch schon zu spät. Mit einer plötzlichen erstaunlichen Klarheit konnte er Paul von Lucas‘ Geburtstagsgeschenk und dem, was ihm dazu scherzhaft eingefallen war, berichten hören. Im gleichen Moment hörte er ein Poltern und drehte sich erschrocken zu der Geräuschquelle um.
Es war Ines. Sie war offensichtlich abrupt aufgestanden und hatte dabei ihren Stuhl umgestoßen.
Als sein Blick ihre aufgerissenen Augen traf, verengten sich diese zu Schlitzen.
Sie zischte ihm zu: »War’s das?! Los sag schon! Ist. Es. Das. Gewesen?«
Lucas‘ Herz rutschte ihm buchstäblich in die Hose. Er hatte auf einmal das Gefühl, sämtliche Kraft würde durch ein defektes Ventil an seinem Rücken entweichen und ihn als kleines Häufchen Elend zurücklassen. Sie hatte es nicht vergessen. Im Gegenteil, sie schien es ebenso wie er geradezu bildlich vor sich zu sehen und sie wirkte fuchsteufelswütend. Aber sie kannte nicht die ganze Wahrheit. Sie musste ja denken, dass er es gewesen war, der sie beobachtet hatte.
»He, was is nu?!«, riss Lucas aus seinen Gedanken. Er wurde sich schlagartig bewusst, dass ihn alle anstarrten. Nicht nur die an ihrem Tisch Sitzenden, sondern alle in der gesamten Bar sahen wegen des Aufruhrs, der soeben stattgefunden hatte, zu ihm herüber.
»Nein«, antwortete Lucas mutlos.
»Was nein? War es nicht dein Fernrohr?«
»Doch, aber...«
»Warum sagst du dann ‘Nein’?«
»Ich ... du ... du verstehst das nicht richtig ...«
»Oh, doch! Ich habe verstanden und ich hoffe, auch du verstehst, dass ich daraus meine Konsequenzen ziehe!«
Ines drehte sich auf dem Absatz um und stampfte aus der Bar in die klare, sternfunkelnde Sommernacht. Nur langsam sickerte es in Lucas‘ Verstand, was da eben passiert war. Ebenso langsam realisierte er, dass ihn immer noch alle anstarrten. Paul sah mit schreckgeweiteten Augen zu ihm herüber und brachte kein Wort heraus.
Betty berührte ihn sacht am Arm und sagte: »Komm, geh ihr nach.« Mit einem lächelnden Blick auf Lucas‘ entsetztes Gesicht fügte sie hinzu: »Ich denke, tief in ihr drin hofft sie, dass du es tust.«
Als Lucas sich gerade daran machte, aufzustehen und Ines zu folgen, hörte er allerdings noch jemand anderen etwas sagen, das ihn davon abhielt.
Es war Tom – Ines‘ Vater – der mit einer Stimme, die die Verwirrung in seinem Gesicht widerspiegelte, zu ihm sprach: »Ich glaube nicht, dass das jetzt so eine gute Idee wäre. Wenn ich das, was Paul eben erzählt hat, mit dem zusammenreime, was hier gerade abgelaufen ist, dann bist du wohl der Letzte, den Ines jetzt sehen möchte. Ich hab ihr zwar versprochen, darüber nichts zu erzählen, aber ich denke, zur Erklärung muss ich das jetzt doch tun.« Er räusperte sich. »Nur soviel: Einer der Gründe, warum wir bei euch in die Nachbarschaft gezogen sind, war der, dass wir aus unserer bisherigen Wohnung raus mussten. Ines ist dort immer wieder von einem Nachbarn beobachtet worden und so weiter. Wenn du nun auch ...«
»Ich hab das aber doch gar nicht! Das war alles ganz anders«, brauste Lucas auf, aber Betty legte ihm die Hand auf den Arm und er beruhigte sich wieder.
Tom schnitt eine Grimasse, die den Widerstreit, der sich gerade in seinem Kopf abspielen musste, erkennen ließ. Er sagte zu Lucas: »Ich glaube dir das sogar, aber im Moment kann ich mir nicht vorstellen, dass Ines das auch tun würde.«
Diana erhob sich und wandte sich zum Gehen. »Entschuldigt ihr mich bitte? Ich will mal nach ihr sehen. Tom, du kannst ja dann später nachkommen.«
»Ach weißt du, ich komme doch gleich mit. Wir haben ja morgen noch eine weite Strecke vor uns. Nichts für ungut Leute. Wir sehen uns dann morgen beim Frühstück«, sagte Tom und folgte seiner Frau.
Nun waren sie also allein – soweit man das in einer überfüllten Bar so nennen konnte. Die anderen Barbesucher hatten jedoch zwischenzeitlich ihre unterbrochenen Gespräche wieder aufgenommen, sodass sie nun keiner mehr beobachtete. Lucas drehte sich zu seinen Eltern um, die beide aussahen, als wüssten sie mit dieser Situation nicht so recht umzugehen. Paul hielt immer noch sein Glas in der Hand und dreht es verkrampft hin und her.
»Mensch Junge, das tut mir ...«
»Ach Quatsch, gar nichts tut dir leid!«, polterte Lucas. »Ihr versteht gar nichts und es interessiert euch auch gar nicht. Es hat euch ja auch damals nicht interessiert, was an meinem Geburtstag passiert ist, sonst hättest du eben nicht so einen Müll erzählt!«
Er sprang auf und rannte aus der Bar, ohne noch einen weiteren Blick auf seine Eltern zu werfen, die ihm mit offenen Mündern hinterher sahen. Das war sehr unfair gewesen. Im Grunde war Lucas seinen Eltern sogar immer dankbar gewesen, dass sie ihn nicht nach den Vorkommnissen seines Geburtstages gefragt hatten. Aber eine heiße Wut war in ihm aufgebrandet, und er hatte sie geradezu verletzen wollen. Lucas stürmte durch die Nacht, ohne auf seinen Weg zu achten. Schließlich stellte er fest, dass seine Schritte ihn zu einem kleinen Felsvorsprung an der Klippe geführt hatten. Sie war auf der landwärtigen Seite von einem dichten Gebüsch abgeschirmt, man hatte von dort aus allerdings einen schönen Blick übers Meer. Im Normalfall wäre er heute mit Ines hergekommen, um die letzten Stunden ihres gemeinsamen Urlaubs zu genießen, aber was war schon normal? Er ließ sich auf dem Felsen nieder. Dabei dachte er darüber nach, ob das, was er in den letzten Jahren immer wieder von Verwandten oder Freunden zu hören bekommen hatte, tatsächlich ein Fünkchen Wahrheit enthielt. Er hatte es bisher immer für abergläubischen Schwachsinn gehalten. Aber wie er nun so dasaß, fragte er sich, ob sie vielleicht doch anfingen, Recht zu haben.
Ja, gut, er war am 13. Juni 1986 geboren worden. Ja und es war außerdem ein Freitag gewesen, doch musste das nun gleich bedeuten, dass er vom Pech verfolgt sein würde? Nein, sicher nicht, zumindest bisher nicht. Aber an seinem 13. Geburtstag hatte es angefangen ... Ja was eigentlich? Würde er von nun an vielleicht doch vom Pech verfolgt werden? Und wie lange würde das dauern? Ein Jahr? Für immer? Während er noch darüber grübelte, hörte er zwei Stimmen, die sich in einiger Entfernung an ihm vorbei bewegten. Es waren seine Eltern.
»Was ist bloß in den gefahren und verdammt noch mal wo ist der jetzt?«, hörte Lucas seinen Vater grummeln.
»Paul, beruhige dich doch. Für Luky muss in dem Moment eine Welt zusammengebrochen sein. Da hat er ein bisschen überreagiert.«
»Überreagiert ist gut. So habe ich ihn noch nie erlebt. Und dann rennt er einfach weg und ist verschwunden.«
»Mach dir mal nicht solche Sorgen. Er wird schon nichts Dummes tun. Vertrau unserem Sohn einfach. Wir lassen die Tür unverschlossen, dann kann er später ins Bett kommen.«
Die Stimmen erstarben, als sie durch eine Hecke, um die Lucas‘ Eltern bogen, verschluckt wurden. Lucas war nun wieder allein mit sich. Er fuhr fort, auf das Meer und die darüber schwebende Mondsichel zu starren, bis schließlich die sanfte Dunkelheit des Schlafes ihn umfing.