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Pferdeblut

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Heroldstadt war aufgebaut wie die typische, mittelgroße Stadt im Pfauenreich. Da gab es den Kern, wo sich die wichtigsten Gebäude, wie das Rathaus, sechs Wachtürme, die Handwerkszünfte, einige Geschäfte, sowie der Marktplatz befanden. An die innere Stadtmauer, durch einen Wassergraben abgetrennt, schloss unmittelbar der äußere Ring an. Hier lebte der Großteil der Bevölkerung. In diesem Stadtteil fand man unter anderem zwei weitere Wachtürme, das Hospital und das Badehaus, einige Manufakturen, Schlachthöfe, Bäcker und die Tierunterbringungen. Eine zweite Stadtmauer grenzte den äußeren Ring von allem ab, das außerhalb der Stadt lag, wie das Lager der Türmer, mehrere Turnierwiesen, der Jahrmarktsplatz, ein neues Wohngebiet, für das innerhalb der Mauern kein Platz mehr gewesen war und die breite Pflasterstraße im Osten.

Im Westen und Norden schloss die Stadt an ein weites Flachland an, während sie Richtung Südosten leicht anstieg. Direkt dahinter nämlich lag der Säbelfels – ein Hügel, auf dessen Gipfel der Graf von Säbelfels über Heroldstadt und die umliegenden Ländereien herrschte. Dahinter erstreckte sich, soweit das Auge blicken konnte, der Säbelwald.

Es war später Abend gewesen, als Lannie und Linnea Heroldstadt erreicht hatten. Da sie nicht als Türmer, sondern als gewöhnliche Reisende unterwegs waren, hatte man sie ohne weiteres passieren lassen und gewährte ihnen eine Übernachtung im äußeren Ring. In einem Schlachthof im Süden der Stadt bot man ihnen eine Unterkunft im Dachboden, für die sie nur wenig zahlen mussten. Wie lange hatten die beiden nicht mehr unter einem festen Dach geschlafen? Nicht, dass sie es vermisst hatten … Es fühlte sich ungewohnt weich und fremd an. Doch schließlich war es nur für eine Nacht.

* * *

Am nächsten Morgen trennten sich die beiden, um Vorkehrungen für die Weiterreise zu treffen. Lannie begab sich zum Marktplatz, um dort eine Landkarte aufzutreiben, sei es in einem der Geschäfte oder auf dem Markt. Linnea machte sich mit Räubertochter, die Lannie nicht in den Stadtkern begleiten durfte, auf die Suche nach einem Bäcker. Außerdem wollte sie nach den Pferden sehen, die sie in einer Tierunterbringung abgegeben hatten.

Es schien ihr sinnvoll, sich zuallererst in Richtung Stadtkern zu halten. Sie lief stets auf den nächstgelegenen Wachturm zu, der nicht weit entfernt in den weiß-blauen Himmel aufragte. Räubertochter folgte ihr auf dem Fuß. Bald schon gingen sie über eine kleine Holzbrücke und überquerten somit den Burggraben – eine dreckige, schäumende Brühe mit der Farbe und Konsistenz von Schlamm, in der ein paar vereinzelte, traurig wirkende Wanderenten schwammen. Auf der anderen Seite führte ein schmaler Pfad direkt an der Stadtmauer entlang. Die beiden folgten dem Weg eine Weile, ohne auch nur einer Menschenseele zu begegnen. Räubertochter schnüffelte an jeder Ecke, markierte ihr Revier und scheuchte ein paar lebensmüde Eichelhasen auf die Bäume. Einen Bäcker fanden sie allerdings nicht.

Bei der übernächsten Brücke, neben einem weiteren Wachturm, beschloss Linnea, den Wassergraben wieder zu überqueren. Und endlich, nachdem sie eine Weile ziellos durch ein Wohngebiet gestreift waren, stieg Linnea der unverwechselbare und überwältigend schmackhafte Geruch von frisch gebackenem Brot in die Nase. Fortan ließ sie sich von ihrer Nase leiten und gelangte so zu einem zweistöckigen, recht unscheinbaren Gebäude, aus dessen Schornstein weiße Rauchschwaden quollen.

Gelangweilt legte sich Räubertochter vor die Tür und ließ den Kopf auf den weißen Pfoten ruhen, als wüsste sie bereits, dass sie nicht hineindurfte. Die Tür war offen, also trat Linnea ein. Der Duft nach Elfenmehl und Blütenhefe war schier umwerfend. Genussvoll sog sie ihn mit einem tiefen Atemzug ein. Augenblicklich lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

Der Raum war eine einzige, große Backstube. Drei Frauen liefen eilig hin und her, kneteten Teig, nahmen Gebäck aus den Öfen oder schoben rohe Teigklumpen hinein. Sie streuten Mohn, Körner und Elfenmehl auf die Brote, rührten Zutaten zusammen, füllten Kisten mit noch dampfendem Brot und schickten sich an, die große Zahl an Kunden zu bedienen, die vor der Ladentheke Schlange standen. Endlich war Linnea an der Reihe.

„Puh, das ist vielleicht ein Durcheinander“, seufzte die schwarzhaarige Bäckerin hinter der Theke, bevor sie Linnea freundlich fragte: „Was kann ich für dich tun?“

Linnea räusperte sich. „Ähm … Ich brauche ein Brot – ein großes Brot, das gut satt macht und das sich einige Zeit lang hält.“

„Geht es denn auf Reisen?“

Linnea musste erst an sich heruntersehen, um zu verstehen, warum jemand einer Türmerin die Frage stellte, ob sie denn auf Reisen gehe. Den bunten Überwurf, der die Spielleute kennzeichnete, hatte sie nämlich abgelegt. Sie trug einen schlichten, grauen Rock und eine ausgeblichene, schwarze Bluse mit kurzen Ärmeln stattdessen. Sie sah aus wie ein gewöhnliches Mädchen mit dünnem Geldbeutel.

„Ja. Wir sind auf der Durchreise und wollen noch heute weiter.“

„Ah, sehr schön. Bei diesem herrlichen Wetter ist es ein Traum, zu Reisen. Ich denke, ein Grillzopf ist genau das Richtige für dich.“

Daraufhin griff die Bäckerin in eine der Kisten und holte ein Brot aus hellrotem Teig hervor, das wie ein Zopf geflochten war. „Das ist ein Schalotten-Brot, gänzlich ohne Hefe hergestellt. In den Teig sind rote Zwiebelkörner mit eingebacken. Ansonsten hätte ich noch das hier.“ Sie hielt eine Art Weißbrot hoch. „Das ist ein Zimmerstab, ebenfalls ohne Hefe. Zur Hälfte Schalotten, zur anderen Hälfte Pfefferteig. Sie halten sich beide recht lang. Der Stab ist etwas größer, der Zopf macht durch die Körner aber mehr satt.“

Linnea fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, als sie fragen musste: „Welches kostet denn weniger?“

Die Bäckerin lächelte verständnisvoll. „Der Grillzopf ist günstiger. Soll es also dieser sein?“

Linnea nickte. Sie tauschten Geld gegen Ware, bedankten und verabschiedeten sich.

Als Linnea mit dem Grillzopf ins Freie trat, sprang Räubertochter munter auf und sah neugierig auf das rote Brot. „Räuberin, das magst du bestimmt nicht. Warte.“ Sie kramte in ihrer Rocktasche, bis sie ein Stück Trockenfleisch fand. „Hier, bitte.“

Vorsichtig nahm die Lichtwölfin das Fleisch entgegen und zerkaute es geräuschvoll.

„Dann gehen wir mal die Pferde besuchen, ja? Dort haben sie bestimmt auch etwas zu Futtern für dich. Ein Wolf hat es nicht gerade einfach in der Stadt, was?“ Die Wölfin legte den Kopf schräg und hob eine Augenbraue. Ihre Ohren bewegten sich bei jedem Wort, das sie kannte, lauschend nach vorne – wie Räuberin, Pferde, Futter oder Wolf.

„Ja, du verstehst mich.“ Linnea zerwühlte ihr das Nackenfell. „Komm mit, Räuberin.“ Die weiße Wölfin schüttelte sich kurz, als müsse sie ihr Fell richten, dann trappelte sie voraus.

Es war herrlich warm, die Vögel zwitscherten und um Linneas Kopf summte eine Mückenbiene. Glücklich blickte sie zum Himmel auf und hoffte sehr, dass auch Steinspalter ein so herrlicher Tag vergönnt war, wo immer er auch war.

* * *

Die Tierunterbringungen waren über ganz Heroldstadt verteilt. Die Nächstgelegene befand sich in derselben Straße wie der Schlachthof, in dessen Gästeräumen Linnea und ihre Mutter übernachtet hatten. Von der Straße wirkte das Gelände nichtssagend, breitete sich jedoch weitläufig nach hinten aus. Bis zur äußeren Stadtmauer reichte es und selbst außerhalb grenzte noch eine umzäunte Wiese an, wo größere Tiere Platz hatten.

Linnea fühlte sich an einen Tiergarten erinnert, als sie durchs Tor eintrat. Sie fand sich zunächst in einem Raum wieder, dessen Fenster mit grünem und rotem Glas verdunkelt waren. Die Hitze staute sich hier und schon bald traten ihr Schweißperlen auf die Stirn. Auch Räubertochter hing die Zunge aus dem Maul. Allerlei bunt geschuppte Echsen tummelten sich hier, liefen und flogen teilweise frei herum. Andere waren hinter dicken Eisengittern eingesperrt, zischten und ließen lange Reptilienzungen hervorschnalzen, als Linnea vorbeilief.

Als sie auf der anderen Seite des Reptilienhauses ins Freie und auf das große Gelände dahinter trat, fragte sie einen edel gekleideten Mann höflich nach dem Weg zu den Pferdeställen. Diese lagen an der frischen Luft und schlossen an eine Koppel an, wo zahlreiche Pferde aller möglichen Farben und Rassen umhergaloppierten, grasten oder sich im Schatten ausruhten. Schon von weitem roch sie den vertrauten, warmen und würzigen Pferdeduft.

Schnell erspähte sie Venus und Cupido. Die beiden standen in einer separat abgetrennten, kleinen Koppel mit dazugehörigem Unterstand. Cupido hörte auf, sich den Nacken am Zaun zu scheuern und klappte freudig die Ohren nach vorne, als er Linnea sah. Einige Pferde tänzelten nervös umher, wieherten und legten die Ohren an, als sie die Wölfin witterten, die Linnea übers Gelände folgte. Cupido und Venus jedoch waren die Gesellschaft eines Raubtieres gewohnt und fürchteten sich schon lange nicht mehr vor ihm. Und vielleicht war gerade das ihr Fehler.

Die Lichtwölfin nahm die Bedrohung als erste wahr, legte die Ohren nach hinten, ging in Lauerstellung und knurrte leise. Nur einen Wimpernschlag später entdeckte auch Linnea die gedrungene, meterlange, goldgelb geschuppte Echse, die sich in seltsam watschelndem Gang von hinten an Cupido anschlich. Ihr Schwanz war noch einmal so lang wie ihr Körper, die großen Füße waren klauenbewehrt, aus dem schmal zulaufenden Maul schoss immer wieder nervös witternd eine schwarze, gespaltete Zunge hervor.

Linnea rannte auf die Pferde zu, fuchtelte wild mit den Armen und rief: „Cupido!“ Nein, nein, nein! dachte sie. Vermutlich waren es weniger ihre Worte als ihr hysterischer Tonfall, der den apfelgrünen Hengst hellhörig werden ließ. Er legte die Ohren an und wollte sich gerade schnaubend umdrehen, da richtete sich die Echse bereits auf und schlug ihm die Klauen ins linke Hinterbein. Cupido schrie panisch auf und trat mit beiden Hufen aus. Das Vieh ließ ihn los und presste sich flach auf den Boden. So verfehlte er es und kam ins Straucheln. Die Echse schlug ein zweites Mal zu. Blut spritzte auf. Diesmal stürzte Cupido.

Venus stieg wiehernd auf die Hinterbeine hoch und trat mit den Vorderhufen nach dem Angreifer. Sie verfehlte ihn knapp und ihre Hufe glitten von dem gelben Schutzpanzer ab, ohne die Echse zu verletzen. Als sie abrutschte, verdrehte sich ihr rechtes Vorderbein, auf einmal knickte sie ein und kippte nach vorn, die Hinterbeine noch ausgestreckt und nach Halt suchend.

Das Echsenvieh wandte sich zischend von der Stute ab und erneut dem sich windenden Cupido zu, der verzweifelt wiehernd versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Dann schlug es die Krallen abermals in seine Flanke und leckte am roten Fleisch darunter.

„Räuberin!“, rief Linnea und sah sich im Laufen nach Ihr um.

Aber die Lichtwölfin schien unschlüssig, knurrte nur und schob sich ganz langsam, wie ein lauernder Löwe, voran. Linnea wurde klar, dass sie von der weißen Wölfin keine Hilfe erwarten konnte. Daher kletterte sie über den Zaun und stürzte sich augenblicklich auf die goldgelbe Riesenechse. Sie packte deren schuppigen Schwanz und zerrte mit aller Kraft daran. Abrupt ließ der Widerstand nach, Linnea stolperte und landete auf dem Allerwertesten. Voller Entsetzen starrte sie auf den Schwanz der Echse in ihrer Hand und konnte nicht fassen, was sie da sah. Eine saubere Abrisskante, aus der frisches Blut tropfte. Hatte sie dem Vieh gerade den Schwanz ausgerissen?! Unkontrolliert wandt er sich in ihrer Hand und verspritzte dabei Blut auf dem Boden und auf Linneas Beinen. Linnea spürte ein Pochen im Hinterkopf und schmeckte bereits Galle. Angewidert warf sie das zuckende Ding von sich. Schwer schluckte sie den scheußlichen Geschmack herunter und kam wieder auf die Beine, um sich der jetzt stummelschwänzigen Echse zu stellen, die zischend und mit schnalzend hervorschießender Reptilienzunge auf sie zukam.

Der kurze Anflug von Mut war jäh verflogen und Linnea stand als das hilflose, unbewaffnete Mädchen da – gegen ein wahres Monster mit messerscharfen, blutbefleckten Klauen. Ihr Herz klopfte schnell, ihr Magen schmerzte. Sie wich zurück und stieß gegen den harten Holzzaun. Sie saß in der Falle. Die Echse stellte sich auf ihre Hinterbeine und holte zischend zum Schlag aus.

Linnea wappnete sich – da schoss ein weißer Blitz zwischen den Zaunlatten hindurch und riss das gelbe Vieh von den Beinen. Knurrend und zischend rollten beide übers Gras. Aber Räubertochter gewann rasch die Oberhand, ohne auch nur einen Hieb einzustecken. Die Wölfin schloss ihre Kiefer um die Kehle des Untiers – aber ihre spitzen Zähne vermochten nicht durch die lederne Schuppenhaut zu dringen. Räubertochter stieß ein Jaulen aus, als ihr die scharfkantigen Schuppen in den Rachen schnitten. Sie zog die Schnauze kraus und biss fester zu, aber sie konnte die Echse nicht töten. Diese wand sich, schlug fauchend um sich, konnte aber ebenso wenig entkommen. Wieder jaulte Räubertochter und warf ihren Kopf mit der Echse im Maul hin und her, um ihr das Genick zu brechen.

„Stop! Aufhören! Schluss damit!“

Eine junge Frau schob sich neben Linnea zwischen den Zaunlatten hindurch. Sie war vielleicht zwei bis drei Jahre älter als Linnea und dazu die seltsamste Frau, die sie je gesehen hatte. Ihre strahlend blauen Augen und ihr weißblondes Haar, das sie an der Seite zu einem Zopf gebunden hatte, waren noch das normalste an ihr. Ihre Haut war pechschwarz, schwärzer als die Nacht und düsterer als jeder Schatten. Sie trug eine graue Hose, eine weiße Bluse, darüber ein enges, schwarzes Lederwams und dazu schwere, schwarze Lederstiefel.

„Es reicht! Aus! Lass ihn los!“, rief sie und rannte auf Räubertochter zu. Die Wölfin hielt inne und sah Linnea verunsichert an.

Diese ergriff sogleich Partei für Räubertochter. „Er hat die Pferde angegriffen!“

Die Fremde zögerte kurz und musterte sie einen Moment. Dann entschied sie offenbar, das Wort lieber an die Lichtwölfin zu richten.

„Lass ihn los!“, sagte sie drohend und legte ihre Finger über Räubertochters Schnauze – jedoch, ohne zuzudrücken.

Dabei fiel Linnea auf, dass ihre weiß lackierten Fingernägel spitz zuliefen und sich wie Krallen krümmten. Räubertochter winselte leise, öffnete widerwillig das blutige Maul und trottete mit hängendem Kopf zu Linnea. Diese konnte nur staunend dastehen und die schwarze Frau bewundern, die es geschafft hatte, einen fremden Wolf so schnell zu bändigen.

Die junge Frau hob erneut die Stimme und rief der Echse zu, die sich gerade aus dem Staub machen wollte: „He! Pitt! Bleib gefälligst hier, du Flegel!“

Die gelbe Echse wandte sich tatsächlich um und fauchte. Linnea staunte verblüfft, als die Frau mit einem Zischen antwortete – dabei schoss eine schwarze, gespaltete Zunge aus ihrem Mund hervor. Die Echse zuckte zusammen, duckte sich und brummte. Trotzdem gehorchte sie und wehrte sich nicht, als zwei Stallburschen sie auf Anweisung der Frau packten, um sie fortzuschaffen. Noch mehr Männer umringten die beiden Frauen jetzt, bereit, ihnen zu helfen.

Aber die schwarzhäutige Frau winkte ab.

„Ihr macht die Pferde nervös.“

„Du! Wie ist dein Name?“, fragte die Frau an Linnea gewandt.

„Linnea.“

„Linnea, du kennst dich mit Pferden aus?“

Sie nickte knapp.

„Gut. Komm her. Beruhige die Stute. Sie muss aufhören, so laut zu wiehern, das löst noch mehr Panik aus. Ich sehe nach seinen Verletzungen.“ Damit ging sie neben Cupido in die Hocke und streichelte sanft seinen Hals, während sie ihm beruhigende Worte zuflüsterte.

Linnea tat wie ihr geheißen und ging langsam und äußerst bedacht auf die elend wiehernde und wild um sich tretende Venus zu, deren Vorderbeine noch immer eingeknickt waren. Verzweifelt nach Halt suchend, trat sie unkontrolliert mit den Hinterbeinen aus und ihr Schwanz peitschte durch die Luft.

„Ruhig. Ruhig.“ Die offene Hand nach vorne ausgestreckt, näherte sich Linnea Schritt für Schritt der dunkelgrünen Wiesenstute. „Schh …“

Venus beruhigte sich ein wenig. Sie schnaubte zwar noch wild, hatte die Augen vor Panik geweitet und die Ohren eng an den Kopf gelegt, doch sie hörte auf, um sich zu treten.

„Schh …“, machte Linnea erneut und berührte schließlich ganz sachte mit der flachen Hand Venus‘ bebende Nüstern.

Der heiße Atem der Stute war feucht auf Linneas Haut. Ganz vorsichtig machte sie noch einen Schritt auf Venus zu und legte die andere Hand auf ihre Wange. Die Stute zitterte und wieherte leise. Linnea bückte sich etwas weiter hinunter und packte ihr rechtes Vorderbein, um ihr auf die Beine zu helfen, zuckte dann aber erschrocken zurück, als die Stute einen alarmierten Schrei ausstieß und wild den Kopf hin und her warf.

„Sie hat Schmerzen“, mutmaßte die schwarze Fremde.

Betreten, diese Tatsache nicht selbst erkannt zu haben, wandte sich Linnea um. „Was?“

Langsam erhob sich die junge Frau, flüsterte Cupido ein „Warte kurz.“ zu, näherte sich Venus und hockte sich zu ihren Vorderhufen hin.

„Das hast du gut gemacht“, sagte sie zu Linnea. „Sie ist jetzt ruhiger. Aber ich brauche dich nochmal. Siehst du das? Ihr rechtes Vorderbein ist völlig verdreht. Wahrscheinlich ist das Gelenk verstaucht oder eine Sehne gerissen. Ich werde versuchen, den Huf herumzudrehen, um die Spannung zu lösen, damit sie aufstehen kann. Aber ich brauche deine Hilfe, Linnea.“

„Was soll ich tun?“, fragte Linnea unsicher, während ihr Blick immer wieder besorgt zu Cupido wanderte.

„Ich möchte, dass du deine Arme um sie legst und sie fest hältst. Ich verlasse mich auf dich. Wenn du sie nicht wirklich gut festhältst, wird sie mich verletzen.“ Ihre blauen Augen fixierten sie scharf.

„Verstanden. Du kannst mir vertrauen.“

„Vertrauen muss man sich erst verdienen“, gab die Schwarze zurück. Linnea nickte und schloss die Arme fest um Venus‘ Hals- und Brustbereich.

„Fertig? Dann auf Drei.“

Linnea atmete tief ein und flüsterte Venus beruhigende Worte ins Ohr, während sie selbst innerlich vor Aufregung flatterte.

„Eins … Zwei … Drei!“

Mit einem Ruck befreite die junge Frau Venus‘ Huf aus der verdrehten Position. Die Stute stemmte sich hell wiehernd gegen Linnea, bäumte sich in ihren Armen auf, sodass diese sich mit ihrem ganzen Gewicht unsanft an den Pferdehals hängen musste, um die Stute am Boden zu halten. Venus‘ Kopf schlug schmerzhaft gegen Linneas Schläfe und brachte sie aus dem Gleichgewicht. In diesem Moment ließ sie das Wiesenpferd los. Aber die Fremde war bereits zur Stelle, nahm den Kopf der Stute in beide Hände und drückte ihre Stirn gegen Venus‘.

„Es ist gut. Alles ist gut, meine Liebe. Brrr …“

Sehr langsam halfen sie der Stute aufzustehen. Ihr verletztes Vorderbein knickte immer wieder ein, aber schließlich stand sie wieder aufrecht und konnte sich selbst auf den Beinen halten.

„Das gibt wahrscheinlich eine schlimme Beule“, meinte die Schwarze und deutete dabei auf Linneas Kopf.

Sie befühlte selbst ihre Stirn. „Es schwillt schon an.“

Die Haut wurde schon hart unter ihren Fingern und ein pochender Schmerz zuckte durch ihre Schläfe. Besorgt schaute die Fremde zwischen ihr und Cupido hin und her.

„Wir sollten das kühlen.“

„Nein. Nein, ist schon gut. Wie geht es ihm?“

Beunruhigende Sorgenfalten bildeten sich auf der schwarzen Stirn der jungen Frau, als sie antwortete: „Die Wunden sind tief und müssen behandelt werden. Er ist schwach. Wir sollten ihm schnell helfen.“

Tatsächlich schnaufte Cupido sehr flach. Bei jedem Atemzug stieß er ein gequältes Röcheln aus, die Zunge hing aus seinem Maul.

„Er braucht einen Tiermediziner.“

„Dazu ist keine Zeit, fürchte ich. Hier gibt es keinen, der nächste wohnt am anderen Ende der Stadt. Ich werde es tun müssen.“

Sie wandte sich an die übrigen Stallburschen, die ein wenig unsicher bei ihnen standen. „Bringt einen Karren. Der Transport ist eure Aufgabe. Und gebt dem Direktor Bescheid.“ Die Männer eilten davon.

„Sind das deine Wiesenpferde?“, fragte die Fremde.

„Cupido gehört mir. Venus ist das Pferd meiner Mutter.“

„Verstehe. Wir geben deiner Mutter später Bescheid. Der Hengst – Cupido, ja? – hat jetzt Priorität.“

Linnea nickte. Sie wusste selbst nicht, weshalb, doch aus irgendeinem Grund hatte sie instinktiv Vertrauen zu der schwarzen Frau. Sie strahlte eine umwerfende Ehrlichkeit aus, die Linnea unwillkürlich beruhigte.

Inzwischen wurde Cupido auf den Karren gelegt und seine Wunden provisorisch abgedeckt.

„Linnea, kommst du bitte mit mir? Und lass die Wölfin hier, sie ist in guten Händen.“

Die Fremde gab den Helfern weitere Anweisungen, dann folgten die beiden Frauen dem Karren, der von der Weide weg und in einen kleinen Schuppen geschoben wurde. Die Schwarze lief die ganze Zeit nebenher und achtete darauf, dass Cupido nicht zu sehr durchgeschüttelt wurde, während die hölzernen Räder über die Wiese holperten.

Drinnen ließen die Männer Cupido auf dem Karren liegen und entfernten sich. Etwas unschlüssig die Hände ringend, blieb Linnea zunächst stehen, wo sie war. Die Schwarze holte unterdessen eine große Tasche aus rotem Leder hervor, wuchtete sie auf eine kleine Holzbank und klappte sie auf. Darin lagen eine Menge Tücher, Verbandsmaterial, Nadel und Faden, ein halbes Dutzend scharfer Messer und noch allerlei andere medizinische Geräte, die Linnea nicht benennen konnte.

Die junge Frau öffnete ihren Zopf, sammelte alle losen Haarsträhnen ein und band sie erneut zusammen. Dabei entblößte sie ihre Ohren. Diese waren ausgesprochen klein und die Ohrmuschel war mit einer Klappe aus ledrigen Hautlappen abgedeckt.

Die Fremde musste ein Drachenmensch sein!

Bevor Linnea diesen Gedanken zu Ende führen konnte, ging es bereits los. Die Echsenfrau wusch ihre Hände mit klarem Wasser aus einem Bottich und spritzte sich auch etwas davon ins Gesicht. Dann atmete sie tief durch. Sie schien unsicher.

„Ich habe noch nie eine Operation durchgeführt.“

„Bitte hilf ihm. Du schaffst das.“

Die Fremde sah sie an. „Du kennst mich gar nicht. Und doch legst du sein Leben in meine Hände …“

„Meine Auswahl an Medizinern ist nicht gerade groß.“

Da schmunzelte die Schwarze. „Also schön.“ Sie wühlte erneut planlos in der Tasche, entschied sich für einen dicken Faden und eine kupferne Nadel und trat an den Karren heran. „Komm her! Du musst mir zur Hand gehen.“

„Ich? Gibt es niemand anderen, der – ?“

„Nein. Das sind alles nur Pfleger und Fütterer. Und für Cupido ist es sicher besser, wenn du bei ihm bist.“

Zögerlich näherte sich Linnea Cupido und entfernte auf Anweisung der Fremden seine losen Verbände. Obwohl sie sie eben erst angelegt hatten, waren die Tücher bereits von Cupidos Blut durchtränkt. Nach und nach legte Linnea alle Wunden frei – eine schlimmer als die andere. Den blutigen Stoff ließ sie zu Boden gleiten und häufte einen dunkelroten Leinenberg an. Bei diesem Anblick wurde ihr ganz flau im Magen, mit Sicherheit war ihr Gesicht noch bleicher als ihre Haut ohnehin schon war.

„Keine Sorge, wir lassen ihn nicht sterben.“

Die meiste Zeit über reichte Linnea der Fremden jetzt frische Tücher sowie Nadel und Faden, nahm selbiges wieder entgegen, reichte es ihr erneut. Die kleineren Schnitte durfte sie selbst wieder verbinden, nachdem sie sie gereinigt hatten. Bald waren alle leichten Verletzungen behandelt und die Fremde machte sich schließlich an die weit klaffenden Risse in Cupidos Seite. Ganz sachte tupfte sie die Wunden mit nassen Tüchern ab und begann dann damit, sie zuzunähen.

Linnea strich leicht über Cupidos Wange, die heiß war und unaufhörlich bebte. Sie beobachtete den Hengst genau und gab der schwarzen Frau in regelmäßigen Abständen Auskunft über seinen Zustand. Ab und zu, wenn die junge Frau nicht ganz so vorsichtig war, schnaubte er laut und schlug mit dem Schwanz nach ihr. Aber seine Kraft reichte nicht aus, um nach seinen Rettern zu treten oder sich sonderlich zu wehren.

Nach einigen letzten Stichen legte die Schwarze die Kupfernadel ab und atmete geräuschvoll aus. „So. Das wäre geschafft.“

„Und?! Wie geht es ihm nun?“, platzte Linnea heraus.

Die Schwarze überlegte einen Moment. „Wir müssen seinen Zustand weiter beobachten. Wenn er die nächsten Stunden ohne weiteres übersteht … dann sollte er durchkommen. Mehr kann ich dir im Augenblick nicht sagen, tut mir leid.“ Sie wirkte benommen und erschöpft.

„Ich danke dir“, flüsterte Linnea.

„Noch nicht. Abwarten.“

Gemeinsam sammelten sie die rot gefärbten Tücher ein, die überall verstreut waren – auf dem Boden, dem Karren, im Wasserbottich, sogar auf Cupido.

„Das hast du gut gemacht, Linnea. Wirklich. Das war bewundernswert. Wie alt bist du eigentlich?“

„Ich bin … 18“, antwortete sie zögerlich. Tatsächlich war ihr Geburtstag zwei Tage zuvor an ihr vorübergezogen, ohne gefeiert zu werden.

„Ich hätte dich für älter gehalten.“

Linnea zuckte die Achseln. Sie sprach nicht gerne über sich selbst. Das konnte dazu führen, dass die Schwarze nach ihrer Herkunft fragte … Also lenkte sie das Gespräch rasch in eine andere Richtung.

„Darf ich dich etwas fragen?“, begann sie, während sie einen Haufen Tücher in ein Holzfass stopfte.

„Aber ja“, antwortete die Fremde sogleich freundlich.

Neugierig betrachtete Linnea den schwarzen Körper der Frau, inspizierte insgeheim ihre Echsenmerkmale. Doch da fiel ihr noch etwas anderes ein.

„Wie ist dein Name?“

Die Fremde schmunzelte. „Das haben wir in der Aufregung wohl ganz vergessen. Mein Name ist Hannah. Du wolltest aber doch eigentlich etwas anderes fragen?“

„Ähm, ja. Du … Du bist ein Drachenmensch, oder?“

Hannah sammelte ein paar letzte Tücher vom Boden auf, warf sie in das Holzfass zu dem Rest und reinigte dann die Kupfernadel im Wasserbottich. „Du bist noch nie einem Drachenmenschen begegnet? Es gibt hier in der Gegend recht viele von uns.“

„Doch, schon. Ich hab‘ nur noch nie mit einem Drachenmenschen gesprochen. So ganz persönlich.“

Linnea verstummte verlegen.

„Ja, du hast Recht. Ich bin ein Lizardor – ein Echsenmensch, oder wie es die meisten nennen: Drachenmensch.“

„Deshalb konntest du die Echse so leicht überwältigen, oder?“

„Hm, nicht unbedingt. Ich beschäftige mich einfach viel mit Tieren, da kennt man irgendwann deren Eigenarten ganz gut. Viele meiner Art leben wie normale Menschen. Nur wenige, die ihre menschliche Seite verdrängen, verschlägt es in die Wildnis. Wir sind weniger Echse, als es den Anschein macht. Ich bemühe mich, beide Seiten zu verbinden, so gut ich kann“, erklärte sie mit einem Lächeln. Linnea konnte nicht anders, als das Lächeln zu erwidern.

„Pitt ist ein furchtbarer Flegel. Was geschehen ist, tut mir leid“, sagte Hannah dann. „Er ist schon oft ausgerissen, aber wir konnten ihn bisher immer rechtzeitig einfangen, sodass er nie einen derartigen Schaden angerichtet hat. Es tut mir leid, dass ich das ausgerechnet dieses Mal nicht verhindern konnte.“ Sie verstummte.

„Pitt? Die Echse hat einen Namen?“

„Aber natürlich! Und eigentlich … ist er ein Drache.“ Auf Linneas entgeisterten Blick hin ergänzte Hannah schnell: „Genau genommen ein Komodo-Drache. Kein Feuerspeien, kein Fliegen, keine sonderlich beeindruckenden Zähne – und größer wird er auch nicht mehr. Aber dennoch ein Drache.“

„So wie du in gewisser Weise auch einer bist.“

„Ja … aber viel weniger. Ich habe keine Schuppen und auch keinen Schwanz, den ich abwerfen könnte wie Pitt.“

Das Bild des zuckenden gelben Schuppenschwanzes erschien wieder in Linneas Kopf.

„Abwerfen? Das heißt, ich hab ihn nicht – “

„Abgerissen?! Du meine Güte, nein! Manche Drachenarten werfen ihren Schwanz ab, um einer drohenden Gefahr zu entkommen. Der wächst nach, keine Sorge. Er ist dann viellleicht nicht mehr so lang und prächtig wie zuvor, aber Pitt wird sich regenerieren. Wie kommt es, dass du so etwas nicht weißt? Bist du nicht zur Schule gegangen?“

Linnea fühlte sich unbehaglich. Sie druckste erst ein wenig herum, bevor sie herausbrachte: „Ähm … Nein, nicht hier … in der Gegend. Ähm …“

„Ist in Ordnung, du musst mir nicht erzählen, woher du kommst.“

Erleichtert atmete Linnea aus.

„Warte!“, rief Hannah aus. „Du bist nicht aus Heroldstadt?“

„Nein.“ Linnea wurde misstrauisch. „Wieso?“

„Was hältst du davon, wenn ich dir die Stadt zeige? Dich ein wenig herumführe? Natürlich nur, wenn wir sicher sein können, dass Cupido auf dem Weg der Besserung ist. Was meinst du?“

Linnea überlegte einen Moment, ob es klug wäre, sich auf diese Fremde einzulassen. Aber dann willigte sie doch ein. Die beiden hatten zusammen einen Drachen bezwungen und eine Operation durchgeführt – der Drache war nur klein gewesen und die meiste Arbeit hatte Hannah geleistet, aber dennoch – es wurde Zeit, dass sie auch etwas Angenehmes zu zweit unternahmen. Schließlich würde sich ihr Aufenthalt in der Stadt nun zweifelsohne verlängern. Daher konnte es nicht schaden, sich mit der Umgebung vertraut zu machen. Ohne Fortbewegungsmittel hatten sie keine Chance, in nächster Zeit weiter zu kommen.

* * *

Auf ihrem Weg in die Stadt machten Hannah, Linnea und Räubertochter am Schlachthof Halt, um Lannie die schlechten Neuigkeiten zu überbringen. Linnea fürchtete sich vor der Reaktion ihrer Mutter. Schließlich war es ihre Idee gewesen, sich auf diese lange Reise zu begeben und in Heroldstadt halt zu machen. Bereits so früh vom Schicksal in die Knie gezwungen zu werden, traf sie deshalb umso härter. Und Lannie mit hineingezogen zu haben, die ohnehin schon so niedergeschlagen war, machte es auch nicht leichter.

Durch einen kleinen, doppeltürigen Vorraum, der die Wärme draußen halten sollte, gelangten sie in den düsteren Eingangsbereich vor der langen Ladentheke. Wände und Boden des niedrigen Raums waren vollständig mit Steinfliesen in der Farbe von Schlamm ausgekleidet. Es gab nur ein einziges, quadratisches Fenster, durch das ein einzelner Sonnenstrahl auf den fleckigen Boden fiel. Im nächsten Moment klatschte ein patschnasser, grauer Lumpen auf die sonnenbeschienenen Fliesen und Linnea blieb abrupt stehen, um nicht darauf auszurutschen.

„Hoppla! Hab‘ euch gar nicht gesehen“, polterte die hagere Metzgersfrau, die zu ihren Füßen hockte und sich soeben anschickte, mit dem Lumpen den Boden zu schrubben. Die dünne Frau trug eine lange, dunkle Schürze und hatte ihr dunkelblondes Haar zu einem seitlichen Zopf gebunden. „Deine Mutter ist auch gerade zurückgekommen.“

„Dankeschön“, erwiderte Linnea höflich und stieg mit einem entschuldigenden Lächeln vorsichtig über den nassen Lumpen hinweg. „Ich geh‘ am besten vor“, sagte sie zu Hannah, bevor sie die Stufen zum Dachzimmer erklomm.

„Mutter?“

„Linnea, schön, dass du zurück bist!“, rief Lannie und kam ihr sogleich freudestrahlend entgegen.

Hannah, die sich etwas verlegen hinter Linnea herumdrückte, erblickte Lannie dabei nicht sofort. Wie so oft drängte sich Räubertochter geschickt an Linnea vorbei, um als Erste von Lannie begrüßt zu werden. Lächelnd ging Lannie in die Hocke und kraulte liebevoll das dicke Nackenfell der Lichtwölfin, wobei sie einen feuchten Wolfskuss mit der langen Zunge ins Gesicht bekam.

Lannie hob die linke Hand, die sie nicht in Räubertochters Fell vergraben hatte und zeigte ihrer Tochter eine große vergilbte Rolle aus Papier. „Schau mal, ich hab‘ tatsächlich eine Karte gefunden. Gleich neben dem Rathaus bei einem Schreiber. Hast du ein Brot bekommen?“

Linnea brauchte einen Moment, bis ihr einfiel, dass sie den Zopf aus Schalottenbrot immer noch in Händen hielt.

„Äh. Ja.“ Rasch legte sie den Grillzopf auf eine niedrige Holzkommode unter der schrägen Wand.

„Aber, weißt du … “

Lannies Mundwinkel wurden noch breiter und sie sagte:

„Perfekt, dann können wir ja bald wieder los.“

„Nun ja. Mutter, es gibt da ein Problem.“

Linnea wusste nicht recht, wie sie anfangen sollte.

Doch Lannie war bereits erstarrt und erhob sich ganz langsam wieder, den Blick auf Hannah gerichtet. Lannie runzelte die Stirn und betrachtete die schwarze Lizardorin verblüfft. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung und auf ihrem Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus.

Einen Moment lang wartete Linnea ab, doch keine von beiden schien etwas sagen zu wollen, also erklärte sie:

„Mutter, das ist Hannah. Sie kümmert sich um die Tiere in Heroldstadt.“

„Hallo.“ Hannah hob flüchtig die Hand zum Gruß.

Lannie öffnete den Mund, doch die Worte blieben ihr offenbar im Hals stecken, denn sie tat nichts weiter als die Drachenfrau erstaunt lächelnd anzustarren.

„Mutter. Es gab einen … Unfall.“

Linnea konnte regelrecht zusehen, wie das Lächeln ihrer Mutter von deren Gesicht abfiel und einen besorgten Ausdruck zurückließ. „Was ist passiert?“, fragte sie, den Blick noch immer unablässig auf Hannah gerichtet.

Linnea fuhr sich mit der Zunge über die plötzlich trockenen Lippen und sagte: „Cupido ist … schlimm verletzt worden ... Und Venus hat sich ein Gelenk verstaucht.“

„Was?! Wie ist denn das passiert? Dir geht es aber gut?“, fragte Lannie sofort, worauf Linnea eifrig nickte.

Weil Lannie noch immer nicht aufhörte, Hannah anzustarren – inzwischen mit einem äußerst bestürzten Ausdruck in den Augen – versuchte die Lizardorin nun ihr Glück und schilderte alles, was geschehen war. Sie ging nicht allzu sehr ins Detail, was Pitts Angriff auf Cupido und dessen aufgerissene Flanke anging, beschönigte aber auch nichts.

„Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr mir das alles Leid tut.“

Instinktiv hatte Linnea das Gefühl, sie in Schutz nehmen zu müssen: „Du musst wissen, Hannah hat Cupido operiert. Sie hat ihn gerettet.“

„Das stimmt schon, aber … Die Tiere waren unter meiner Aufsicht“, warf Hannah tapfer ein. „Ich hatte die Verantwortung. Es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass so etwas niemals passiert.“

Linnea begann sich zu sorgen, als ihrer Mutter noch immer die Worte fehlten. Ihre Stimme überschlug sich beinahe, als sie hastig klarstellte: „Ich möchte auch so schnell wie möglich weiter ziehen … Aber so kommen wir nicht weiter. Ich habe mir überlegt, dass ich mir eine Arbeit suchen sollte. Und sobald es den Pferden besser geht, reisen wir weiter, ja?“

„Etwas anderes bliebt uns auch nicht übrig, oder?“, entgegnete Lannie, die wohl endlich ihre Sprache wiedergefunden hatte, mit einem traurigen Lächeln. „Ich frag‘ hier im Schlachthof, ob ich vielleicht aushelfen kann.“

„Hannah wollte mir die Stadt zeigen. Da kann ich mich nach Arbeit umsehen.“

Die Lizardorin nickte bekräftigend. „Ich helfe gerne dabei. Ich möchte wieder gutmachen, was passiert ist.“

„Ich danke dir, dass du Cupido und auch Linnea geholfen hast. Und mach dir keine Sorgen, das war nicht deine Schuld. Ich bin mir sicher, du hast getan, was du konntest.“

Die beiden wollten sich schon zum Gehen wenden, da hielt Lannie Linnea noch einmal zurück und zog sie in eine Umarmung. „Ich hab‘ dich lieb.“

Verblüfft, dass Lannie sie vor den Augen einer Fremden so herzte, stammelte Linnea verlegen zurück:

„Ich dich auch.“

Noch perplexer war sie allerdings, als Lannie auch Hannah eine Umarmung schenkte.

„Achte gut auf sie“, sagte sie noch zu Hannah, bevor die beiden zur Treppe gingen.

Linnea war schon fast ganz unten angekommen, als Lannie ihr noch hinterher rief: „Du musst nicht hier in der Nähe bleiben. Geh‘ ruhig über die Brücke. Vielleicht findest du auf der anderen Seite etwas Gutes!“

Mythalia

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