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Monster und Geheimnisvolles
Оглавление„Und das hier war im Säbelwald vor acht Jahren. Das gleiche Monster, die gleichen Erscheinungen. Die Menschen berichten seit ein paar Tagen über die gleichen mysteriösen Ereignisse wie damals. Ob das Zufall war?“ Atemlos sah Tuk sie aus seinen hellbraunen Augen an, wartete gespannt auf ihre Antwort.
Er war ein sehr amüsanter junger Mann, aber er hatte das Talent, maßlos zu übertreiben und in allem Verschwörungen und übernatürliche Dinge zu sehen. Er war ebenfalls ein Drachenmensch, genau wie Hannah. Seine Reptilienhaut schimmerte allerdings in verschiedenen Brauntönen. Auch er besaß die seltsam kleinen Ohren mit der Klappe davor, krallenartige Fingernägel und eine schwarze, gespaltene Zunge. Außerdem trug er im Moment keine Schuhe, wodurch die enormen Klauen entblößt waren, die er anstelle von Füßen besaß. Linnea hatte sich furchtbar erschrocken, als sie Hannah das erste Mal barfuß gesehen hatte.
Tuk trug eine weite, braune Hose, ein hellblaues Hemd und darüber einen langen schwarzen Mantel, unter dem er auch bei dieser sommerlichen Hitze erstaunlicherweise nicht schwitzte. Das schwarze, fettige Haar hatte er sich hinter die Klappen seiner Reptilienohren gestrichen.
„Hör mal“, sagte sie bedacht. „In den Wäldern sehen die Leute ständig ungewöhnliche Dinge, die sie nicht erklären können. Die müssen aber ja nicht miteinander zusammenhängen. In einem Wald ist es düster, da leben viele unheimliche Tiere. Die Bäume knarzen …“
„Nein, nein, nein! Solche Geschichten hört man wirklich ständig, aber diese hier hat sich genauso schon einmal zugetragen. Und zwar vor acht Jahren. Da erzählten sich die Leute, dass im Wald ein Monster herumläuft, man hat niedergetrampelte Bäume gefunden – “
„Da leben echt große Tiere …“
„Damals ist eine Frau verschwunden“, flüsterte Tuk bedeutungsvoll.
Linnea zog die Augenbrauen hoch. „Tatsächlich?“
„Ja.“ Er verstellte seine Stimme, sodass sie bedrohlicher klang. „Es heißt, sie ging in den Wald, um nach den Monstern zu suchen. Und sie ist nie zurückgekehrt.“
Linnea musste unwillkürlich laut lachen, so komisch hatte seine Stimme geklungen.
„Was ist? Das ist mein Ernst! Man erzählt es sich so!“
„Entschuldige“, brachte Linnea mühevoll hervor. „Ich mag dich. Du bist witzig.“
Tuk schüttelte den Kopf. „Aha. Du nimmst mich nicht ernst. Schon klar.“
Linnea biss sich auf die Unterlippe und schluckte einen weiteren Lachimpuls hinunter, bis nur noch ein leichtes Schmunzeln zurückblieb. „Entschuldige“, wiederholte sie murmelnd.
Aber Tuk war schon wieder in seine Studien versunken. Die beiden saßen im Garten der Hohen Schule von Heroldstadt, Tuk vor einem über und über mit Papier- und Pergamentblättern beladenen Tisch. Linnea hatte es sich neben ihm auf einer bequemen Liege gemütlich gemacht. Der weitläufige Garten verlief einmal rund um das große Hauptgebäude der Hohen Schule herum. Überall tummelten sich Lehrer und Schüler gleichermaßen auf dem Gras, auf Liegen, in Pavillons oder an großen Lernpulten im Freien.
Auch Tuk war hier Schüler. Linnea hatte ihn erst vor wenigen Stunden kennengelernt, nachdem Hannah und Linnea gemeinsam die Stadt erkundet hatten. Hannah hatte ihr geraten, sich mit den Schülern zu unterhalten, die angeblich immer wüssten, wie man sich nebenbei etwas Geld verdienen konnte.
Leider verhielt es sich so nicht ganz. Bestimmt dreißig Leute hatte sie angesprochen, keiner hatte ihr weiterhelfen können. Viele hatten sie nicht einmal beachtet. Letztlich war sie bei Tuk gelandet, der ihr dummerweise auch nichts weiter raten konnte, als sich in der Stadt umzusehen und spontan an Verkaufsständen und in Läden nachzufragen. Die beiden waren ins Gespräch gekommen, hatten sich auf Anhieb gut verstanden, sodass sich Linnea bereits nach kurzer Zeit niedergelassen hatte, um ihm Gesellschaft zu leisten und sich seine verrückten, aber wahrhaftig interessanten Theorien anzuhören.
Mittlerweile stand die Sonne schon tief, die Fassade des großen Gebäudes in der Mitte des Gartens leuchtete rötlich. Tuk blätterte gerade einen Papierstapel durch, um weitere Beweise für seine Theorie mit den Monstern im Säbelwald zu suchen, als zwei Lizardoren an sie herantraten. Der eine war groß und dünn, hatte einen orangeroten Ziegenbart und ebenso rotes, ungekämmtes Haar. Seine Haut hatte die rötliche Farbe von Mauerziegeln. Der andere war ordentlich beleibt, hatte einen auffallend breiten Rücken und schien kurzsichtig zu sein, da er die Augen ein wenig zusammenkniff, wohl um besser sehen zu können. Er hatte kurzes, dunkelblondes Haar und eine ähnlich braune Haut wie Tuk.
„He, Tuk“, sprach der Große und klopfte dem Studierenden freundschaftlich auf die Schulter. Der andere warf Linnea einen argwöhnischen Blick zu, wandte aber schnell die Augen ab, als sie ihn ansah.
Tuk blickte auf. „Oh! He, Jungs. Wie geht’s?“ Sogleich stand er auf und begrüßte die beiden mit kameradschaftlichem Handschlag. „Also ... Ähm ... Darf ich vorstellen? Das ist Linnea, sie ist ... Ähm ... das ist Linnea. Linnea, das sind Backstein und Kreuz.“
Es war unverkennbar, welcher der beiden wer war.
„Freut mich.“
Linnea stand auf und gab jedem höflich die Hand.
Die beiden wirkten ein wenig irritiert, murmelten schnelle Worte des Anstands und wandten sich dann wieder an Tuk. „Wir gehen dann los. Kommst du nun mit oder willst du den ganzen Tag hier sitzen?“
„Ihr geht los? Wohin?“ Tuk sah verwirrt zwischen den beiden hin und her.
Backstein zog die Augenbrauen hoch. „Wirklich? Komm schon! Wo gehen wir wohl hin? In der Mitte der Woche, genau zu dieser Tageszeit?“
„Oh! Natürlich, Jungs! Ich ... entschuldigt. Ich war ein bisschen … abgelenkt. Wusste nicht, welcher Tag heute ist.“ Er grinste schief.
Kreuz sah Linnea aus den Augenwinkeln an, als wäre sie schuld an der Schusseligkeit seines Freundes.
„Ich bin sowieso schon viel zu lange hier“, meinte sie rasch und wandte sich zum Gehen. „Ich sollte mich mal auf den Weg machen.“
„Nein! Das musst du nicht, wirklich! Jungs, sie kann doch mitkommen, oder? Sie ist echt nett.“
Seine beiden Freunde tauschten einen vielsagenden Blick aus. „Also ... Weißt du ...“
„Ich möchte wirklich nicht – “, begann Linnea, wurde aber von Tuk unterbrochen.
„Jungs, kommt schon. Ich weiß, sie ist ein Mädchen, aber he, sie ist echt in Ordnung. Haben uns gerade erst kennengelernt ... Und sie interessiert sich für unsere Studien.“
„Tatsächlich?“, fragte Kreuz zaghaft.
Backstein wirkte ebenso wenig überzeugt und zuckte verlegen mit den Schultern, ehe er sprach: „Jaah ... Natürlich kann sie mitkommen. Ist doch kein Problem, dass sie ein Mädchen ist.“
Sie klangen immer noch nicht sonderlich begeistert. Doch Tuk überhörte ihren Tonfall.
„Wunderbar. Ich packe schnell noch meine Sachen ein, dann können wir auch schon los.“
Eilig sammelte er den Pergamenthaufen ein, klemmte sich alles unter die Arme und verschwand in Richtung Hauptgebäude. Schweigend sahen sich die drei Übrigen an. Man konnte ihr Unbehagen beinahe greifen.
Verunsichert begann Linnea eine Konversation: „Wohin gehen wir denn überhaupt?“
„Oh, also …“, begann Kreuz leise zu murmeln, sorgsam darauf bedacht, ihr nicht in die Augen zu sehen.
„Das ist so eine Tradition von uns. Mitte der Woche gehen wir nach der Schule immer zur Mehlerin, holen uns Gebäck, setzen uns dort in den Hof und lassen den Tag ausklingen“, erklärte Backstein mit kühlem Blick.
„Zur Mehlerin?“
* * *
Es hätte nicht besser laufen können. Die Mehlerin entpuppte sich als Brigitte, die Bäckerin mit den schwarzen Locken, die Linnea zuvor den Grillzopf verkauft hatte und so sehr über zu viel Arbeit geklagt hatte.
„Danke dir, dass du das auf dich nimmst.“ Lannie wirkte betreten, als sie sich am nächsten Morgen vor dem Schlachthof mit einer Umarmung von ihrer Tochter verabschiedete.
„Das ist doch selbstverständlich. Wir brauchen das Geld. Wenn wir beide arbeiten, ist es einfach leichter.“
„Auch wenn ich weiß, dass wir keine andere Wahl haben, fühle ich mich trotzdem nicht wohl dabei, meine einzige Tochter arbeiten zu schicken. Erneut.“ Sie seufzte. „Nun gut, du musst los. Bis heute Abend.“
„Ja, bis nachher“, sagte Linnea, streichelte Räubertochter kurz über den Kopf und ging dann die Straße hinunter, während Lannie zurück in den Schlachthof trat. Sie würde dort ein wenig hinter der Ladentheke aushelfen.
* * *
Schon von weitem schlug ihr der Geruch von warmem Gebäck entgegen. Genussvoll sog sie ihn ein, während sie auf den Laden zusteuerte. Es war nicht das erste Mal, dass Linnea arbeiten gehen musste, weil ihre Familie unter Geldnot litt. Damals hatte sie drei Jahre lang im Eichenhaus gearbeitet, für den Freiherren vom Eichenwald – den Vater ihres geliebten Siegfried. Nun würde sie erneut unter festem Dach arbeiten. Sehnsüchtig sah sie zum hellblauen Himmel auf. Es war schwülwarm, die Hitze der Sonne brannte auf ihrer Haut. In diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als wieder Türmerin sein zu dürfen.
Mit einem tiefen Atemzug und einem flauen Gefühl im Bauch betrat Linnea die Bäckerei. Drinnen war es wärmer als sie erwartet hatte, auch wenn nur zwei von drei Öfen geschürt wurden. Der Geruch nach frisch gebackenem Brot war überwältigend. Linnea sah eine der Bäckerinnen Teig kneten, die andere schichtete dampfende Brotlaibe in Kisten auf – ihre Hände steckten in dick gepolsterten Handschuhen. Etwas unschlüssig, was nun zu tun war, wartete Linnea, bis die Kunden im Laden bedient waren und die Bäckerei verließen. Dann trat sie an die Theke.
„Linnea!“, rief die Mehlerin aus und klatschte in die Hände, „Du bist da, wie schön. Komm herum, komm herum, damit ich dir alles zeigen kann.“ Sie strahlte, als sie eine quietschende Holzklappe im Tresen öffnete und ihre neue Arbeitskraft hindurchließ. „Willkommen, meine Liebe.“
Linnea lächelte unsicher. „Danke nochmal, dass ich hier aushelfen kann, Mehlerin. Ich kann diese Arbeit wirklich gebrauchen.“
„Bitte! Mein Name ist Brigitte. Ich darf dich doch auch duzen?“
Linnea nickte. „Na klar“, antwortete sie sofort.
Noch keiner hatte sie jemals mit Ihr oder Euch angesprochen. Sie wurde stets geduzt und sie wollte es gar nicht anders. Es käme ihr falsch vor.
Die Mehlerin führte sie fort von der Theke und öffnete eine schwere Eisentür an der hinteren Wand, beinahe so dick wie die Mauer selbst. Sie brauchte einige Kraft, um den gewaltigen, schwarzen Riegel zur Seite zu schieben. Mit einem Ächzen zog sie langsam die Tür auf. Dahinter lag ein düsterer Raum mit einem einzigen, winzigen Fenster nahe der Decke. Es war auffallend kühl dort. Linnea sah jede Menge Mehl- und Getreidesäcke, große Batzen an Brotteig, aber auch fertig gebackene Brotstollen. Alles war ordentlich in Regale eingeräumt oder auf dem Boden verteilt. Eine riesenhafte Mühle nahm die rechte Seite des Raumes ein.
„Das ist unser Lagerraum. Hauptsächlich lagern hier unsere Zutaten, die wir zum Backen brauchen. Wenn die Öfen alle belegt sind und wir Teig übrig haben, dann wird der auch hier aufbewahrt. Die Brote sind von vorgestern oder älter. Sie werden zum halben Preis verkauft – meist an Bauern, die ihre Schweine damit füttern, oder ärmere Leute, die sich kein frisches Brot leisten können. Einmal in der Woche geht eine von uns auf den Marktplatz und verteilt altes Brot an Bettler und Straßenkinder.“
„Das ist wundervoll“, meinte Linnea verblüfft.
„Wir würden es sonst wegwerfen. Diese Leute brauchen es. Es wäre Verschwendung.“
Sie verließen den kühlen Lagerraum und Linnea schlug die Hitze der Backstube noch heftiger entgegen. Brigitte schob die gewaltige Tür zu und wuchtete den Riegel mit einem Ächzen wieder in Position, bevor sie Linnea zu der älteren Bäckerin führte, die gerade neuen Brotteig herstellte. Sie knetete den blass rosafarbenen Teig kräftig mit den mehlbestäubten Händen, wälzte ihn abwechselnd durch eine Schüssel Wasser und einen Haufen verschiedener Getreidekörner und schlug ihn immer wieder ein paar mal grob auf das Backbrett.
„Hier hinten machen wir unseren Teig. Du wirst in der ersten Zeit hier arbeiten und Resi helfen. Teig kneten und dich um die Vorräte im Lager kümmern. Resi?“
Die Alte blickte auf. Sie war ausgesprochen dünn, hatte ein knochiges Gesicht und sehr glattes, blondes Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war. Ihre von Falten umringten Augen waren keineswegs vom Alter getrübt, sondern strahlten in einem hellen Blaugrau und ihr Lächeln war, trotz der Zahnlücke im Oberkiefer, warmherzig.
„Ah, hallo“, begrüßte sie Linnea. In ihrer Stimme schwang ein harter, östlicher Akzent mit.
„Resi, das ist Linnea. Ich hab‘ dir von ihr erzählt. Linnea, das ist Resi. Sie kommt aus Ostseufzen und ist jetzt seit ... puh, wie lange? Zehn Jahren bei uns?“
Resi nickte, während sie ihre Hände an ihrer Schürze abklopfte, was das Mehl stauben ließ, und erst dann Linneas Hand schüttelte. „Jah ... Ich glaube, es sind schon bald 15 Jahre, die ich hier bin, Brigitte.“
„Doch so lange, ja?“
„Ja, ich bin mit meinem Mann, meiner Tochter und dem Schwiegersohn aus Ostseufzen hierher gekommen, habe kurz bei diesem Metzger ausgeholfen und bin dann gleich zu dir gekommen. Natasha hat noch über zwei Jahre woanders gearbeitet.“
„Ostseufzen, das Land der 10 000 Jungfrauen?“, fragte Linnea mit einem Schmunzeln.
Resi lächelte. „Ja, genau. Sagt man das immer noch so, ja?“
Die Ladenglocke bimmelte. Eine rundliche, offenbar schwangere Frau betrat den Laden und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Komm, ich erkläre dir schnell noch den Rest, Linnea. Es ist nicht mehr viel. Dann muss ich mich um die Kundin kümmern.“
Gehorsam folgte Linnea der Mehlerin an der Theke vorüber zu Resis Tochter Natasha, der jüngsten Bäckerin, die sich gerade die gepolsterten Handschuhe von den Fingern zog und sich anschickte, die neue Kundin zu bedienen.
„Ist schon in Ordnung, Natasha. Ich mache das gleich“, sagte Brigitte zu ihr. „Sie sieht sowieso aus, als ob sie sich kurz erholen muss“, raunte sie im Flüsterton.
Natasha kicherte leise hinter vorgehaltener Hand. Sie war sehr klein, hatte das blonde, glatte Haar ihrer Mutter Resi, das ihr in feinen Strähnen ins Gesicht fiel, sowie die gleichen knochigen Gesichtszüge und ebenso strahlenden Augen. Ihr Akzent war sogar noch ausgeprägter.
„Natasha? Freut mich sehr. Ich bin Linnea“, stellte sie sich höflich vor. Sie blieb bei Natasha neben dem Ofen stehen, als Brigitte zu der Schwangeren eilte.
Hinten bei den Backbrettern erhielt Linnea ihre blass blaue Arbeitsschürze. Nachdem sie sie zugeknöpft und die ein wenig zu langen Ärmel nach hinten gekrempelt hatte, gesellte sie sich zu Resi. Im Grunde war alles, was Linnea an diesem Tag zu tun hatte, fertigen Teig ins Lager zu bringen und wieder zu holen, wenn er benötigt wurde, Getreidesäcke zu schleppen, dann wieder Teig und Brote herumzutragen.
Als sie am Ende ihres ersten Arbeitstages die Schürze auszog, taten ihre Oberarme und ihr Rücken weh. Sie hatte schwer mit der dicken Eisentür des Lagers zu kämpfen gehabt – und sie hatte sie sehr oft öffnen und schließen müssen. Hinter Stirn und Schläfen pochte es und ihr Kopf fühlte sich schwer an.
Nachdem sie sich bei den drei Frauen verabschiedet hatte und endlich wieder ins Freie trat, dämmerte es bereits und im Westen färbte sich der Himmel orangerot.
* * *
Bis nach Mitternacht wälzte sich Linnea unruhig auf den Laken herum. Sie wickelte sich in die raue Bettdecke ein, strampelte sie wieder von sich, legte sie sich über die Füße, warf sie schließlich aus dem Bett. Es war stickig auf dem Dachboden des Schlachthofs. Das winzige Fenster an der Giebelseite war offen und ließ eine leichte Brise kühlen Windes ein, trotzdem lief ihr der Schweiß in Rinnsalen über den Rücken. Ihr Haar roch, als hätte sie den ganzen Tag über mit dem Kopf in einem der Bäckeröfen gesteckt. Zudem fühlte es sich feucht und unangenehm warm an. Draußen schrie ein Seltener Kauz.
Sie drehte sich auf die andere Seite und blickte nun auf Lannie, die mit ruhigen, gleichmäßigen Atemzügen auf einem dicken Haufen aus Fellen schlief – oder schlafen sollte. Im bleichen Licht des Vollmondes, das durch das kleine Fenster schien, konnte Linnea erkennen, dass ihre Mutter mit offenen Augen in die Dunkelheit starrte. Doch sie rührte sich nicht und tat, als schliefe sie.
Also warf auch Linnea sich noch einmal herum und schlief schlussendlich ein. Sie begann zu träumen. Der Traum war so real wie keiner zuvor – sogar realer als die Wirklichkeit. Und er jagte ihr Angst ein.
Ein kleiner Junge lief ziellos im nächtlichen Wald umher. Er war etwa zehn Jahre alt, hatte kurzes, braunes Haar, etwas überstehende Augenbrauen und blassgrüne Augen. Er trug ein dunkles Lederwams über einer roten Steppweste und einer dicken Wollhose – trotz der warmen Kleidung schien er dennoch zu frieren. Er fürchtete sich.
Er hechtete rückwärts, als plötzlich der riesige Kopf eines wahrhaftigen Monsters zwischen den Bäumen auftauchte. Es war ein menschenfressendes Ungeheuer, dessen fuchsfarbene Haut zähflüssigen Schleim absonderte. Als es ein dröhnendes Brüllen ausstieß, entblößte es lange, hervorstehende Zähne. Der Junge schrie.
Plötzlich war da Hannah. Die Lizardorin hielt einen kleinen, geflügelten Drachen in ihren Armen. Sie hielt ihn wie ein Neugeborenes. Sie lief rückwärts, bis sie gegen eine Hauswand stieß. Als sie nicht weiter zurückweichen konnte, stellte sie sich tapfer ihrem Gegenüber – einer Echse, größer als ein Elefant, mit hartem, bräunlichem Panzer, unförmigen Wulsten auf dem Kopf und einem zahnlosen, spitzen Maul. Die Luft dampfte, als die Echse laut schnaubte.
Da war der Junge wieder. Die Luft flimmerte dort, wo er stand. Der Boden unter seinen Füßen leuchtete in einem hellen, weißen Licht. Vorsichtig und unsicher ging er ein paar Schritte nach vorn. Plötzlich stand er hoch oben am Rand einer Klippe. Überall um ihn herum flogen Drachen in schillernden Farben, umkreisten hohe Nadelbäume, oder stürzten sich waghalsig in die Tiefe.
Aber der Junge war unschlüssig. In seinen Augen glänzten Zweifel, als er Schritt für Schritt rückwärtsging.
Eine hübsche Frau mit langem, orange-rotem Haar saß am Tresen einer Gaststube und lächelte. Ein Mann gesellte sich zu ihr. Er hatte kurzes, fuchsrotes Haar, helle und freundliche grün-blaue Augen und trug einen Kittel aus schwarzer Wolle. Unvermittelt nahm sie seinen Kopf in ihre Hände, beugte sich nach vorn und küsste ihn.