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Kapitel 1

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Der Mond stand wie eine goldene Kugel im Zenit des Nachthimmels. Keine Wolke verdunkelte sein helles Leuchten, das die Schneekristalle zum Glitzern brachte und eine unwirklich anmutende Stimmung heraufbeschwor. Der Schnee war gefroren. Jeder Schritt würde ein knirschendes Geräusch erzeugen und nachtaktive Jäger anziehen.

Ein großer schwarzgrauer Wolf lauerte reglos neben einem großen Stein. Er wirkte sicher, als ob er eine bestimmte Beute erwartete. Die Umgebung bildete ein perfektes Versteck. Ein einzelnes Tier war ungewöhnlich für Wölfe, die normalerweise in Rudeln lebten. Fast schläfrig verharrend, dann blinzelnd, hob er schließlich lauschend den Kopf. Er war alt, trotzdem entging nichts seinen scharfen Augen und Ohren. Der ehemalige Leitwolf, der nach langer Zeit einem jüngeren, stärkeren Rivalen hatte weichen müssen, bot noch immer eine imposante Erscheinung.

Sein früher tiefschwarzes Fell wies nach all den Jahren vereinzelte graue Strähnen auf. Der wache Blick aus den bernsteinfarbenen Augen ließ auf eine anhaltende, beträchtliche Stärke schließen. Für einen unbeteiligten Beobachter mochte er müde wirken. In Wahrheit war jeder seiner Muskeln gespannt.

Im Hintergrund ragte die majestätische Kulisse des riesigen Chief Mountains auf. Der quaderförmige Felsen, den die Blackfeet-Indianer als ihren heiligen Berg verehrten, unterstrich die friedliche Stimmung.

Ein leises, schlurfendes Geräusch unterbrach die Stille der eisigen Nacht. Über den schimmernden Schnee wanderte ein schmaler Schatten. Der Wolf rührte sich nicht, zog aber prüfend die Luft durch seine Nase ein.

Die Umrisse einer menschlichen Gestalt zeichneten sich ab. An den Füßen trug sie Schneeschuhe, um nicht einzusinken. Mithilfe von Stöcken kämpfte der Mann sich mühsam und mit schweren Schritten durch die Kälte. Er schien müde zu sein und keuchte vor Anstrengung. Vor seinem Mund bildete sich mit jedem Atemstoß eine kleine Nebelwolke. Die Kälte ließ die winzigen Wassertröpfchen zu Kristallen gefrieren. Über der dicken Jacke trug er einen großen Rucksack, dessen Last ihm offensichtlich Schwierigkeiten bereitete. Daneben hing ein Gewehr an einem Riemen lose über seiner Schulter.

Der Mann hielt schnaufend an und stützte sein Gewicht auf beide Stöcke. Das Ausruhen tat ihm sichtlich gut. Nach einer Weile hob sich sein Blick. Er fiel erst auf den Chief Mountain und verweilte dann am nächtlichen Himmel.

Ein atemberaubender Anblick, keine Wolke trübte die Sicht. Die Sterne funkelten um die Wette, als wollte jeder den anderen mit seinem Schein übertrumpfen.

Der Mann seufzte. Das Gewicht auf seinem Rücken erinnerte ihn an den weiten Weg, der vor ihm lag. Eigentlich blieb ihm keine Zeit, den Nachthimmel zu bewundern. Mit dem Auto hätte er die öffentliche Straße benutzen können. Er fürchtete dort jedoch eine Kontrolle durch die Polizei. Der Weg durch die Wildnis war erheblich beschwerlicher, aber so konnte er die Ware sicher an ihren Bestimmungsort bringen. Im Geiste sah er schon das dicke Bündel Dollarscheine vor sich, das ihm die Lieferung auch dieses Mal wieder einbringen würde. Es half nichts. Er musste weitergehen, um den Schutz der Dunkelheit für sich zu nutzen.

Als er sich anschickte, seinen Weg fortzusetzen, schoss plötzlich ein großer schwarzer Schatten auf ihn zu. Ein heiseres Knurren drang an sein Ohr. Er roch eine scharfe Ausdünstung, und das Blut gefror ihm vor Schreck in den Adern. Bevor er reagieren konnte, war der riesige Wolf schon über ihm und riss ihn von den Beinen. Sein Gewehr war nutzlos. Im Fallen tastete er nach seinem Messer, doch es fiel ihm aus den kraftlosen Händen. Ein unterdrückter Schrei entrang sich seiner Kehle, der in ein leises Röcheln überging, als die Kreatur ihre Fangzähne tief in seinen Hals grub. Das warme Blut rieselte als kleiner Strom in den Schnee und bildete einen hässlichen, dunklen Fleck. Ein letztes Zucken des Opfers, und der ungleiche Kampf war zu Ende. Der Wolf ließ von seiner Beute ab, die reglos im aufgewühlten Schnee liegen blieb.

Die Augen des Toten waren weit aufgerissen, seine Pupillen starrten stumpf und leblos vor sich hin. Aus seinem Rucksack, der sich durch den Sturz und den anschließenden kurzen Kampf geöffnet hatte, waren prall gefüllte Plastikbeutel herausgefallen, die nun wahllos im Schnee lagen.

Die Nacht war wieder totenstill. Die Sterne schienen vom Himmel und erhellten die unwirkliche Szenerie, als wäre nichts geschehen.

Der Wolf war verschwunden.

„Wenn du glaubst, damit durchzukommen, hast du dich geirrt!“

Detective Gina Deluca war kurz davor, ins Telefon zu schreien und den Hörer aufzuknallen. Sie versuchte, ihre Wut zu unterdrücken. Robert wollte bei der Scheidung zweihundertfünfzigtausend Dollar von ihr für das gemeinsame Apartment. Woher auf einmal so viel Geld nehmen? Sollte ihn doch der Teufel holen. Die ständigen Auseinandersetzungen mit ihrem Noch-Ehemann setzten ihr kräftig zu. Auch ihren Kollegen auf dem Revier war es nicht verborgen geblieben, wie dünnhäutig sie geworden war. Dabei stand sie im Ruf, hart durchzugreifen und sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Das Leben war so schön gewesen. Robert und sie hätten nicht glücklicher sein können.

Auf der Highschool hatte sie keinen Freund gehabt, was nicht an mangelnden Einladungen lag. Die meisten meldeten sich nach dem ersten Abend nicht wieder. Gina machte das nichts aus. Es war ohnehin nie ein Junge dabei, den sie wirklich interessant fand. Sie ging nur der Höflichkeit halber aus und um ihrer Mutter eine Freude zu machen. Diese sorgte sich sehr um ihr einziges Kind.

Ihre Mutter war eine temperamentvolle Schönheit aus Italien, die mit einem drüben stationierten Soldaten in die USA gekommen war. Ihre Ansichten und Wertvorstellungen waren typisch italienisch. Eine Frau durfte eine solide Ausbildung absolvieren. Das vorrangige Ziel sollte es aber sein, einen guten Ehemann zu finden. Ginas Mutter wünschte sich für ihre Tochter einmal eine große Familie. Die ständigen Unterweisungen in hausfraulichen Fertigkeiten hatten das Mädchen dazu gebracht, all diese Dinge aus tiefstem Herzen zu hassen. Nur das Kochen machte ihr Spaß. Gina trieb sehr viel Sport, probierte alles Mögliche aus, um ihre Aggressionen abzubauen. Als die Mutter erfuhr, dass ihre Tochter eine hervorragende Kampfsportlerin war und ausgezeichnet Schießen gelernt hatte, war sie zutiefst bestürzt. Sie beschwerte sich bei Ginas Vater, kein Mann werde eine solche unweibliche Frau heiraten.

Ihr Vater nahm das nicht so ernst. Als ehemaliger Soldat mochte er die entschlossene Art seiner Tochter. Er beruhigte seine Frau mit dem Hinweis, amerikanische Männer seien keine Italiener und kämen auch mit energischen Frauen gut zurecht.

Nach der Highschool ging Gina ein Jahr nach Europa, besuchte die italienische Verwandtschaft und weitere Länder. Ausgerechnet da passierte es. In einer Jugendherberge stand er urplötzlich vor ihr – ein schlaksiger junger Mann mit wasserblauen Augen und blonden Haaren. Es war Liebe auf den ersten Blick. Von da an machten sie ihre Europareise gemeinsam. Sie hatte unendlich schöne Erlebnisse und Erinnerungen an diese Zeit. Robert war humorvoll und zeigte Verständnis für ihre Bedürfnisse. Seine ausgleichende Art bildete einen Ruhepol für ihr manchmal recht aufbrausendes Wesen.

Sie kehrten nach Hause zurück und besuchten beide die Universität. Während Robert von Anfang an Medizin studieren wollte, versuchte Gina sich in verschiedenen Disziplinen. Nichts konnte ihr Interesse auf längere Zeit richtig fesseln. In diesem Fall war Ginas Mutter nicht beunruhigt. Die Aussicht auf einen gut verdienenden Schwiegersohn genügte ihr. Der Vater brachte Gina schließlich auf die Idee, in den Polizeidienst einzutreten. Hier könne sie doch ihre Sportlichkeit und den ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit richtig einsetzen. Damit hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Der Polizeiberuf war genau das Richtige.

Nach der Heirat lebte sie mit Robert glücklich und zufrieden in einer kleinen Mietwohnung. Später leisteten sie sich ein hübsches Apartment. Es lief fast wie im Märchen. Bis zu dem Tag, als er ihr aus heiterem Himmel eröffnete, er liebe eine andere. Danach war nichts mehr wie vorher. Nicht nur sie musste mit diesem Schock klarkommen, auch ihre Umgebung reagierte verstört auf die Trennung. Gina bemerkte die vorwurfsvollen Blicke. Was hatte sie angestellt, um Robert in die Arme einer anderen Frau zu treiben? Sie fühlte sich unverstanden. Ihr Stolz verbot es, sich bei Familie und Freunden auszuweinen und um Mitleid zu betteln. Für Außenstehende schien es, als habe sie alles gut verkraftet. Sie ließ sich nichts anmerken, deshalb hielt man sie für abgebrüht und gefühlskalt. Natürlich spielte sie nur eine Rolle für ihre Umwelt. Aber das tat sie sehr gut. Die einzigen Menschen, die wirklich über Ginas Seelenzustand Bescheid wussten, waren Karen van Horn, die Sekretärin ihres Chefs, und Rafe Clover, ihr engster Kollege. Die beiden spendeten Trost und halfen mit ihrer Lebenserfahrung. Von Karen gab es die guten Ratschläge. Rafe half eher mit sarkastischen Kommentaren über trübe Stimmungen hinweg. Ab und zu vertrieb ein gutes Glas Rotwein am Abend die Geister der Vergangenheit.

Wenn Robert einen Rosenkrieg haben wollte, sollte er ihn bekommen.

Eintauchen, wischen, nachpolieren – es war eine eintönige Arbeit, mit der die beiden Männer in blauen Anzügen in der Fifth Avenue die große, gläserne Flügeltür putzten. Sie war der Eingang zur Galerie Valerie Morgan, für Kunstkenner eine der besten Adressen der ganzen Stadt. Wer hier ausstellte, hatte es geschafft. Seine Werke wurden von einer exklusiven Kundschaft begutachtet, die auch über die notwendigen finanziellen Mittel verfügte, um die Exponate zu kaufen.

Die derzeitige Ausstellung zeitgenössischer Werke eines amerikanischen Malers schwamm auf der Erfolgswelle. Bei einer besonderen Abendvorstellung am nächsten Tag sollte der Künstler persönlich anwesend sein. Deshalb wurde alles für den großen Moment auf Hochglanz gebracht. Die Besucherliste verzeichnete wichtige zahlungskräftige Gäste. Es war von großer Wichtigkeit, einen reibungslosen Ablauf sicherzustellen.

Für Valerie Morgan war dies ein Grund, die Arbeiten persönlich zu überwachen. Nachdem sie den beiden Männern eine Weile zugesehen hatte, schweifte ihr Blick zu ihrem Porträt, das neben dem Eingang hing. Als junge Frau war sie eine wahre Schönheit gewesen. Auch mit Anfang fünfzig hatte sie nichts von ihrer Attraktivität eingebüßt. Bei den meisten Frauen mittleren Alters sah langes Haar nicht mehr passend aus. Valeries haselnussbraune Mähne jedoch fiel in dichten Locken über ihre Schultern und verlieh ihr eine reizvolle Jugendlichkeit. Das fein geschnittene Gesicht ohne störende Fältchen ließ die professionelle Arbeit eines Schönheitschirurgen erahnen. Jüngere Frauen beneideten sie um ihre makellose, schlanke Figur, bei der sich die Rundungen nur an den richtigen Stellen befanden. Sie trug ein cremefarbenes Kostüm von zeitloser Eleganz, das hervorragend zu ihrem Typ passte und sie zehn Jahre jünger aussehen ließ.

Jay würde Augen machen, wenn sie ihm erzählte, dass sein teuerstes Bild bereits einen Abnehmer gefunden hatte. Dieser große Erfolg stellte die Basis für ihn dar, weitere Bilder zu verkaufen. New York war nur der Anfang. Mit ihren guten Beziehungen konnte sie Ausstellungen in Übersee organisieren und ihm zu einem internationalen Durchbruch verhelfen.

Ihr Blick blieb an einer Schwarz-Weiß-Fotografie an der Wand hängen. Sie zeigte einen Mann mit ernstem Gesichtsausdruck und straff zurückgekämmten dunklen Haaren. Wie sie es ihm geraten hatte, lächelte er nicht auf dem Bild. Dadurch strahlte er eine geheimnisvolle Aura aus. Verstärkt wurde sie von einer Narbe, die sich von der rechten Schläfe bis zum Wangenknochen zog. Nur seine braune Hautfarbe hob sich nicht deutlich hervor. Jay Beaudine war Indianer vom Stamme der Blackfeet.

Die Galerie Valerie Morgan präsentierte als Neuheit die Werke des Malers. Seit Jahren arbeitete sie mit Künstlern aus unterschiedlichen Ländern. Bisher hatte sie keine Ausstellung für einen Indianer organisiert. Dieser Teil der Bevölkerung fand im amerikanischen Vielvölkerstaat wenig Beachtung. Beaudines Werke trafen jedoch auf große Bewunderung. Die farbigen Ölgemälde waren von beeindruckender Schönheit.

Jays exotische Ausstrahlung übte eine ungeahnte Anziehungskraft auf sie aus. Manchmal brachte er sie sogar dazu, ihre Selbstkontrolle zu verlieren. Es war eine ganze neue Erfahrung für sie. Ein irritierendes Gefühl, das sie ungeahnt stimulierte. Ihn zu lieben war aufregend. Der Gedanke daran jagte das Blut in einer warmen Welle durch ihren Körper. Er war ganz anders als ihre bisherigen Eroberungen. Es gelang ihr nicht, ihn zu durchschauen oder seine Handlungsweise zu erahnen. Sie hatte eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe und schaffte es in den meisten Fällen, eine Person nach ihren Vorstellungen zu manipulieren. Es war spannend und ein ziemliches Stück Arbeit, ihn so zu formen, wie sie ihn haben wollte. Das richtige Mittel dazu würde sich sicherlich finden. Sie musste nur ihrem siebten Sinn vertrauen. Es freute ihn, wenn sie seine Herkunft und die indianische Kultur wertschätzte, da diese den Hintergrund zu seiner Kunst bildeten. Wenn ihr ein paar bewundernde Worte dabei halfen, ihn noch mehr auf ihre Seite zu bringen, sollte es ihr recht sein. Es war wichtig für sie, in jeder Lebenslage die Oberhand zu behalten. Am Ende würde sie auch Jay Beaudine zähmen. Es war nur eine Frage der Zeit.

Ihr ausgeprägter Geschäftssinn sagte ihr, dass die Ausstellung ein Erfolg würde. Nicht nur war Jay ein begehrenswerter Mann, auch am Verkauf seiner Bilder konnte sie gut verdienen. Ihr Lebensstil war aufwendig, die Unterhaltung einer Galerie in New York sehr teuer. Geld konnte man nie genug haben. In einem Vorvertrag hatte sie sich die Exklusivrechte für weitere Ausstellungen gesichert. Unwissentlich war Jay dadurch von ihr abhängig, was sie zu ihrem Vorteil zu nutzen gedachte. Eric, ihr Ehemann, langweilte sie inzwischen in höchstem Maße. Er interessierte sich nur für seine Musik und ließ ihr nicht die Aufmerksamkeit zukommen, die sie verdiente. Für den Augenblick hatte sie jedoch einen probaten Ersatz gefunden.

Sie lächelte. Jay hatte ihren kleinen Wortwechsel vorhin am Telefon für bare Münze genommen. Eine geschickte Inszenierung, mit der sie ihn weiter in die Enge trieb. Das bot ihr einen guten Grund, von ihm eine Entschuldigung einzufordern. Valerie atmete tief durch. Sie musste sich bei ihrem Wiedersehen heute Abend nur richtig verhalten. Er wollte später zu einer Aussprache vorbeikommen, und die würde sie zu ihrem Vorteil nutzen. Das war nachher ein wichtiger Moment, sowohl in beruflicher als auch in privater Hinsicht.

Valerie begab sich auf einen abschließenden Rundgang durch die Galerie, um zu überprüfen, ob alles in Ordnung war. Die Mitarbeiter, die im Außen- und Innenbereich sämtliche notwendigen Tätigkeiten ausgeführt hatten, waren nach getaner Arbeit bereits nach Hause gegangen. Alleine und ungestört entging nichts ihren scharfen Augen. Sie genoss das erhebende Gefühl, durch ihr Reich zu wandeln. Die spitzen Absätze an ihren Schuhen erzeugten klackende Geräusche auf dem italienischen Marmorboden, die in den hohen Räumen nachhallten.

Am Ende blieb sie vor dem Gemälde stehen, welches das Hauptwerk der Ausstellung bildete und am nächsten Tag von seinem Käufer abgeholt werden sollte. Es zeigte eine beeindruckende Büffeljagd. Die lebendigen Farben ließen es fast wie eine Fotografie erscheinen. Jedes Detail war mit kunstfertiger Präzision ausgeführt. Zottige, davonstürmende Bisons, verfolgt von mit Pfeil und Bogen bewaffneten indianischen Jägern auf ihren bemalten Pferden. Valerie betrachtete die Szene einzig und allein mit dem nüchternen Blick der Kunstexpertin. Es war das Dokument einer anderen Zeit, die gewaltsam beendet worden war und niemals wiederkommen würde.

Ein leises Geräusch ließ sie aufhorchen. Urplötzlich lag ein seltsamer Geruch in der Luft. Sie fühlte sich unbehaglich, schüttelte diese Empfindung aber schnell ab. Schließlich war sie allein in der Galerie. Wahrscheinlich bekam sie Hirngespinste, weil sie den ganzen Tag noch nichts Ordentliches gegessen hatte. Sie nahm sich vor, nachher mit Jay ins nahe gelegene chinesische Restaurant zu gehen.

Sie setzte ihren Weg zum Hauptschaltschrank fort, um einen Teil der Lampen zu löschen. Das restliche Licht verlieh der Galerie einen warmen Schein. Jay Beaudine sollte seine Bilder mit ihr zusammen in einer romantischen Stimmung betrachten. Der Abend war noch lang.

Nachdem sie den Schalter umgelegt hatte, bemerkte sie wieder diesen seltsamen Geruch, diesmal begleitet von einem schlurfenden Geräusch. Valerie drehte sich um und erstarrte zu einer Salzsäule. Zwei grausame, kalte Augen blickten sie an. Der eisige Schreck, der sie durchfuhr, hielt sie wie in einer Stahlklammer gefangen und machte sie bewegungslos. Sie wollte schreien, doch kein Laut entrang sich ihrer Kehle, als sich der Schatten langsam auf sie zubewegte.

Der Junge zählte ungefähr zwölf Jahre. Sein auffälliges schwarzes Haar unterstrich die braune Gesichtsfarbe. An dem Baum, vor dem er stand, hing eine Wurfscheibe, auf die er mit kleinen Pfeilen zielte. Er schien geübt zu sein, meistens traf er in die inneren Ringe. Wenn er die Wurfgeschosse aufgebraucht hatte, begann er stets von Neuem. Langeweile stellte sich nicht ein. Er konzentrierte sich mit großem Einsatz auf seine Tätigkeit.

Der auffrischende Wind jedoch veränderte die Flugbahn der Pfeile. Der Junge richtete den Blick himmelwärts und sah bizarre Wolken, die sich zu dicken Knäueln zusammenballten. Seine dunklen Augen wirkten riesengroß in dem hageren, kleinen Gesicht. Das ausgewaschene T-Shirt hing schlaff an ihm herunter. Eine löchrige Jeans flatterte um seine mageren Beine.

Er stand im hohen Gras, um ihn herum lagen verstreut verrostete Autoteile und anderer Schrott. In einiger Entfernung stand ein alter Wohnwagen, der schon deutlich bessere Zeiten gesehen hatte. Irgendwann waren seine Räder abhandengekommen. Niemals mehr würde er auf die Landstraße zurückkehren.

Ein brummendes Geräusch zog das Interesse des Jungen auf sich. Begleitet von einer Staubwolke näherten sich gleich zwei Fahrzeuge. So viel Besuch war ungewöhnlich. Er runzelte beunruhigt die Stirn, als er in dem ersten Fahrzeug ein Polizeiauto erkannte. Achtlos fielen die Pfeile aus seiner Hand, und er rannte atemlos hinüber zum Wohnwagen.

Er riss die Tür auf und trat ein. Sofort stieg ihm abgestandene Luft in die Nase, eine Mischung aus Alkoholdunst und Tabakrauch. Seine Eltern saßen an dem kleinen Tisch. Offensichtlich waren sie bereits am frühen Nachmittag so betrunken, dass sie sein Hereinkommen nicht bemerkt hatten.

Einen Augenblick später verschafften sich zwei Polizisten und eine Frau in Zivil Zutritt zum Wohnwagen. Mit einem Mal war die klaustrophobische Enge der armseligen Behausung körperlich spürbar. Der Junge sagte kein Wort. Seine Pupillen weiteten sich, und er drückte sich ängstlich an die Wand, während er die Eindringlinge musterte.

Er sah, wie die Frau ihren Blick durch den winzigen Raum schweifen ließ. Abscheu zeichnete sich deutlich auf ihrem Gesicht ab. Die spärliche Einrichtung war abgewohnt. Alles starrte vor Schmutz, und sie wusste offenbar nicht, wohin sie ihre Füße setzen sollte. Die zum alltäglichen Leben notwendigen Gegenstände lagen in einem großen Durcheinander auf dem Boden und bedeckten ihn fast komplett.

Die Eltern des Jungen hoben erst die Köpfe, als der größere der beiden Polizisten ein Blatt Papier hervorzog. Er las vor, hiermit sei ihnen das Sorgerecht für ihren Sohn entzogen. Eine geeignete Pflegefamilie werde ab sofort die ordnungsgemäße Erziehung übernehmen.

Der Junge erstarrte. Der gepeinigte Aufschrei der Mutter und der bittere Gesichtsausdruck des Vaters würden für alle Ewigkeit in seinem Gedächtnis bleiben. Er streckte verzweifelt die Hände nach ihnen aus, doch zwei kräftige Arme ergriffen ihn und schleiften ihn aus dem Wohnwagen.

Im Polizeiauto sitzend sah er, wie seine Eltern aneinandergeklammert vor ihrer armseligen Behausung standen. Die Mutter schluchzte, die Tränen liefen ihr in Strömen über das verhärmte Gesicht. In den Augen seines Vaters stand eine eisige, unbändige Wut. Es war gängige Praxis, Indianern die Kinder unter mehr oder weniger fadenscheinigen Gründen wegzunehmen. Man ließ ihnen die Erziehung der Weißen angedeihen und zerstörte damit die indianische Kultur immer weiter.

Ein hohler Ruf erklang aus dem Baum, an dem die Wurfscheibe hing. Der Junge drehte den Kopf und erspähte auf dem obersten Ast eine Eule. Das Erscheinen dieses nächtlichen Jägers verhieß im Glauben seines Volkes großes Unglück. Er wusste, der Schrei war an ihn gerichtet. Trotz der Entfernung fühlte er, wie der Vogel tief in seine gequälte Seele blickte und ihn aufforderte, stark zu sein. Der Junge erkannte unwillkürlich, dass er seine Eltern nie wiedersehen würde. Obwohl ihm dieser Gedanke fast das Herz zerriss, blieb er äußerlich ruhig und mit versteinerter Miene sitzen.

Der Polizist am Steuer sah in den Rückspiegel und betrachtete den reglosen Jungen mit Unbehagen. Ein weißes Kind hätte an seiner Stelle geweint und gestrampelt. Wieso verhielt dieser Junge sich so still? Der Beamte ließ seinen Blick über die schäbige Umgebung wandern. Sie befanden sich im reichsten Land der Erde, doch hier gab es weder ein festes Haus, geschweige denn Strom oder fließend Wasser. Der nicht asphaltierte Weg bestand nur aus Schlaglöchern und verdiente die Bezeichnung Straße nicht. Bei der Herfahrt war er nicht über den zweiten Gang hinausgekommen. Es drängte ihn, diese unbekannte, fremde Welt schnell wieder zu verlassen.

Eine unheimliche Kraft schien sie in die Tiefe zu ziehen. Ginas Blick wanderte nach oben. Dort war das Sonnenlicht! Dort musste sie hin! Doch sie konnte nichts tun. Unaufhaltsam sank sie nach unten in ein bodenloses, unergründliches schwarzes Loch.

Ein schrilles Geräusch ertönte. Das Klingeln des Telefons riss Gina aus ihrem Albtraum. Es hatte sich so real angefühlt. Sie wunderte sich, dass sie überhaupt Atem holen konnte. Ihre Hände fuhren hoch und umfassten den Kopf. Das ständige nervtötende Läuten des Telefons machte alles noch schlimmer. Sie wollte nicht aufstehen, an nichts denken, nur liegen bleiben. Das Bimmeln ging immer weiter. Als sie schließlich abhob, ertönte die verärgerte Stimme ihres Partners Rafe Clover.

„Na endlich, hoffentlich bist du jetzt wach. Ich hole dich in fünfzehn Minuten ab. Solltest du nicht vor dem Haus stehen, kannst du sehen, wie du zum Tatort kommst.“

Sie hörte, wie er den Hörer aufknallte. Folglich benutzte er nicht das Mobiltelefon, sondern rief vom Revier aus an. Gina kannte Rafe gut genug. Er würde sein Wort halten. Eile war angesagt, schnell anziehen und etwas gegen die Kopfschmerzen einnehmen. Als sie sich im Fahrstuhl die Jacke überstreifte, bemerkte sie belustigt den furchtsamen Blick eines älteren Mannes. Er fixierte ihr umgeschnalltes Pistolenhalfter. Möglicherweise sah sie gerade nicht wie eine Polizistin aus, sondern eher wie ein übernächtigter Drogenjunkie. Als sie zur Tür hinaushastete, kam schon Clovers Chevy vor ihr zum Stehen.

Das Auto war wie immer sauber geputzt. Rafe trug einen makellosen dunkelgrauen Anzug mit blauem Hemd und passender Krawatte. Ginas Kleidung dagegen bestand aus saloppen Jeans, T-Shirt und einer schwarzen Lederjacke. Damit unterstützte sie aufs Neue Rafes These, dass Schwarze, ob Mann oder Frau, mehr Wert auf elegante Kleidung legten als viele Weiße. Rafe und seine Frau besaßen einen wohlsortierten Kleiderschrank. Clover war Mitte fünfzig. Die vereinzelten grauen Haarsträhnen und das faltenfreie Gesicht verliehen ihm ein distinguiertes Aussehen und eine gewisse Ähnlichkeit mit Sidney Poitier.

Er warf Gina einen leicht mitleidigen, abschätzenden Blick zu. Ihrem Äußeren nach war es gestern spät geworden. Der derzeitige Lebenswandel seiner Partnerin gefiel ihm nicht besonders. Als er sie darauf ansprach, antwortete sie nicht, sondern stellte die Gegenfrage, wo die Fahrt hinginge.

„Wir fahren zu einer Galerie“, antwortete Rafe. „Die Inhaberin wurde tot aufgefunden.“ Er bemerkte Ginas Augenringe, das fehlende Make-up und die verwuschelten Haare. Seit der Trennung von ihrem Mann war aus der fröhlichen Kollegin von einst eine verbitterte Frau geworden. Sie legte jedes Wort auf die Goldwaage und ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Beim kleinsten Anlass rastete sie aus.

Er dachte an die Festnahme eines Drogendealers in der letzten Woche. Sie war mit einer solchen Brutalität gegen den jungen Mann vorgegangen, dass sich Rafe zum Einschreiten gezwungen sah. Als er ihr Verhalten infrage stellte, meinte sie mürrisch, ein solcher Dreckskerl habe nichts anderes verdient. Immer häufiger ließ sie ihren Frust und die Aggressionen während der Arbeit ab. Er wusste nicht, wie lange er sie noch decken konnte. Auf seine Frage, ob denn alles in Ordnung sei, hatte die Antwort nur in einem flüchtigen Kopfnicken bestanden. Rafe war Vater von zwei fast erwachsenen Töchtern, Mann mit über fünfundzwanzig Jahren Eheerfahrung und somit an weibliche Gefühlsausbrüche gewöhnt. Ginas persönliche Emotionen in der letzten Zeit bestanden nur aus Zorn und Frust. Er war ihr Kollege, einige Jahre älter und verstand, dass sie sich ihm nicht anvertrauen wollte. Sein Vorschlag zum Besuch beim Polizeipsychologen war auf wütende Ablehnung gestoßen. Einen erneuten Hinweis darauf unterließ er wohlweislich. Ein Gespräch mit ihr kam auf der Fahrt nicht zustande. So konzentrierte er sich lieber auf den chaotischen Verkehr, der ihm den letzten Nerv raubte.

Bei der Ankunft an der Galerie sahen sie einen großen Menschenauflauf. Polizisten bemühten sich, die Menge im Zaum zu halten. Besonders penetrant verhielten sich einige Journalisten mit großen Filmkameras. Rafe Clover war jedes Mal angewidert von der unbändigen Neugierde. Kein Tatort, der nicht von dreisten Gaffern mit dem Mobiltelefon gefilmt wurde. Als gäbe es nicht genug Katastrophen und schlimme Nachrichten, um die Sensationsgier zu befriedigen. Mühsam bahnte er sich mit Gina einen Weg durch die Wartenden. Sie ernteten neidische Blicke, weil die uniformierten Beamten sie anstandslos durchwinkten.

Im Eingangsbereich der Galerie fiel Ginas Blick flüchtig auf ein Foto der Besitzerin Valerie Morgan. Rafe erkannte in einem der beiden daneben stehenden Polizisten seinen Freund Declan McGillicuddy. Dessen Vorfahren stammten unübersehbar von der grünen Insel. Ab und zu trafen sie sich im Irish Pub. Sie tranken ein Bier zusammen und unterhielten sich über alte Zeiten, als sie zusammen im Dienst die Straßen sicherer machten.

Cuddy war von untersetzter Statur und hatte die Mütze tief in die Stirn gezogen. Sein Gesichtsausdruck zeigte eine ungewöhnliche Besorgnis. Sobald er Rafe erblickte, hob er die Hand zur Begrüßung. Neben ihm stand ein leichenblasser junger Polizist, der sich offensichtlich sehr unwohl fühlte.

„Gut, dass du da bist, Rafe“, sagte Cuddy leise. „Ich bin schon lange dabei, aber so etwas habe ich noch nicht gesehen.“

Gina, die neben Clover stand, sah den Mann verblüfft an. Normalerweise gab es nicht viel, was lang gediente Polizisten erschüttern konnte. Sie wandte sich an den jungen Kollegen von McGillicuddy. Er war sichtlich froh, als sie ihm einen Schein in die Hand drückte und meinte, er solle nach draußen gehen und sich einen Kaffee genehmigen. Er drehte sich ohne Erwiderung auf dem Absatz um und hastete zum Ausgang.

„Kommt mit und seht mit eigenen Augen, was hier passiert ist.“ Cuddy warf Rafe einen bedeutsamen Blick zu und ging voraus.

Die Räume der Galerie waren hoch und großzügig. Der Fußboden bestand aus edlem Marmor. Neben einer gedrehten Säule lag das Opfer unter einer schwarzen Plastikplane in einem Meer von Blut. Gina wunderte sich über die riesige rote Lache. Ein Mann mit blutigen Handschuhen wischte sich über die Stirn. Er sah erschöpft aus.

“Ich dachte, eigentlich alles zu kennen. Heute hat sich mir trotzdem fast der Magen umgedreht“, sagte er und wandte sich direkt an Gina. Sie solle sich die Leiche lieber auf den Bildern des Polizeifotografen ansehen und keinen Blick unter die Plane werfen. Bei der Toten handele es sich um die Galeristin Valerie Morgan.

Die Polizistin schlug den Rat in den Wind und hob das Plastik an. Der neben ihr stehende Rafe Clover sog die Luft scharf durch die Nase ein. Sie selbst hielt den Atem an und spürte ein flaues Gefühl im Bauch.

Die Leiche bot in der Tat einen grauenvollen Anblick. Der Hals war fürchterlich zerfetzt und die zerrissene Kleidung blutdurchtränkt. Nur noch einige Muskelstränge hielten den Kopf am Körper. Aber das Schlimmste waren die weit aufgerissenen Augen des Opfers, in denen das Entsetzen deutlich geschrieben stand. Was mochte Valerie Morgan wohl in den letzten Sekunden ihres Lebens gesehen haben, das ihr eine so große Angst einjagte? Ihr schulterlanges haselnussbraunes Haar lag in wirren Strähnen über dem wächsernen Gesicht.

Die Tote war völlig ausgeblutet. Gina lief die Gänsehaut auf und sie schluckte schwer. Sie erinnerte sich an das Porträt von Mrs. Morgan am Eingang. Es zeigte eine schöne Frau, die mit diesem zerfleischten Körper nichts mehr gemein hatte. Welcher Mensch war zu einer solch grausamen Tat fähig? Angewidert schüttelte sie den Kopf. Die Handlungen, die manchen kranken Gehirnen entsprangen, waren unbegreiflich. Der Drehbuchautor eines Science-Fiction-Streifens konnte sie nicht besser ersinnen.

Clover bemerkte die starre Haltung seiner Kollegin und zog sie zurück, weg von der Toten. Auch er atmete schwer. Der Ekel drohte ihn zu überwältigen. Sie durften sich diesen Gefühlen nicht hingeben, sondern mussten mit den Ermittlungen beginnen. Schließlich waren sie Profis, und ihr Vorgesetzter würde Ergebnisse verlangen. Der Rechtsmediziner musste den Todeszeitpunkt bestimmen. Die eingetretene Leichenstarre wies jedoch darauf hin, dass der Mord bereits einige Stunden zurücklag.

Ein Sicherheitsmann und eine weibliche Angestellte waren inzwischen zur Arbeit erschienen. Sie konnten leider keine Hinweise geben, da sie die Galerie am Vorabend bereits gegen neunzehn Uhr verlassen hatten. Alle an den Vorbereitungen beteiligten Personen waren schon vorher gegangen. Bei der Abendveranstaltung mit dem ausstellenden Künstler wurden hochkarätige Gäste aus der High Society erwartet.

Die junge Angestellte, ein hübsches dunkelhäutiges Mädchen von Mitte zwanzig, schlug die Hände vor das Gesicht. Sie trug ein kleines Namensschild am Revers ihres blaugrauen Kostüms.

„Wendy“, begann Rafe und setzte seinen nettesten Tonfall auf, um das junge Mädchen zu beruhigen. „Was können Sie uns denn über ihre Chefin erzählen? Hatte sie Feinde, oder gab es besondere Vorkommnisse in der letzten Zeit?“

Die freundliche und vertrauenerweckende Art von Clover verfehlte ihre Wirkung nicht. Wendy Farnham schaute zu ihm auf und begann zu erzählen. Gina warf ihrem Kollegen einen bewundernden Blick zu. Er war ein alter Fuchs, der alle Tricks beherrschte, um jemanden zum Reden zu bringen.

Sicher, Mrs. Morgan war eine knallharte Geschäftsfrau. Da machte man sich nicht immer Freunde. Manche Personen vertrugen Absagen schlecht. Dann gab es noch einen Ehemann, dem es sicherlich nicht verborgen blieb, wenn seine Frau auf nähere Tuchfühlung mit einem der Künstler ging.

„Ist der Ehemann finanziell von ihr abhängig?“ fragte Gina nach. Es klang profan, aber das liebe Geld stellte das häufigste Motiv für einen Mord dar.

Wendy Farnham äußerte sich dazu nicht. Sie wisse es nicht und wolle niemanden unnötig in Verdacht bringen. „Auf alle Fälle verdient sie mehr Geld als er“, bestätigte sie schließlich. Eric Morgan war Musiker und schwamm nicht unbedingt auf einer Erfolgswelle.

Während des Gespräches machte Gina sich Notizen und trat zur Seite, um besseres Licht zu haben. Dabei fiel ihr Blick auf ein riesiges Bild an der Wand. Die Sonne schien in einem besonderen Winkel durch das Fenster direkt auf das Gemälde und ließ die Farben erstrahlen. Es wirkte, als ob die darauf abgebildete Büffeljagd durch den Lichteinfall zum Leben erweckt wurde. Fast hörte sie das donnernde Geräusch der Hufe und die gellenden Schreie der Indianer. Es war ein großartiges Kunstwerk mit der Darstellung einer beeindruckend lebensechten Szene. Ganz unten in der Ecke stand eine Jahreszahl und die Signatur des Malers, J. Beaudine.

Die Befragung des Mädchens war damit abgeschlossen. Gina notierte sich die Namen der Angestellten der Firma, die gestern bei den Vorbereitungen geholfen hatten.

Auch die Vernehmung des Sicherheitsbeamten brachte keine weiteren Ergebnisse. Er sagte aus, dass Mrs. Morgan ihn gegen neunzehn Uhr nach Hause geschickt hatte. Sie hatten zusammen das Gitter heruntergelassen und den Haupteingang verriegelt. Die einzige Möglichkeit zum Verlassen der Galerie bestand danach in einer Fluchttür auf der Seite, die sich nur von innen öffnen ließ. Er wusste nicht, wie lange Mrs. Morgan danach in der Galerie geblieben war. Natürlich machte er sich jetzt Vorwürfe, seine Chefin allein gelassen zu haben. Clover beruhigte ihn. Schließlich hatte er nur die gegebenen Anweisungen befolgt und sich nichts vorzuwerfen.

Die Spurensicherung war im Moment am Werk. Erst nach Auswertung aller Indizien konnten genauere Aussagen getroffen werden. Rafe meinte, man müsse auf jeden Fall einen Spezialisten für Türen befragen. Seiner Erfahrung nach gab es Leute mit den entsprechenden Fähigkeiten, alles zu knacken. Zudem lohne es sich, den Ehemann unter die Lupe zu nehmen. In den meisten Fällen stammte der Täter aus dem unmittelbaren Umfeld des Opfers. Weitere Zeugen gab es im Augenblick nicht zu befragen.

Inzwischen war es fast Mittag geworden. Bisher war kein Besucher in der Galerie erschienen. Neuigkeiten verbreiteten sich schnell in der Stadt. Es schien eine Art Geheimpolizei am Werk zu sein. Gina bat Rafe, Wendy nach einer Gästeliste für die geplante Abendveranstaltung zu fragen. Vielleicht ließen sich daraus neue Erkenntnisse gewinnen.

Gina schlenderte durch die Galerie und betrachtete die ausgestellten Bilder. Zum größten Teil waren es Landschaftsgemälde, die in kühnen Pinselstrichen die Schönheit des amerikanischen Westens auf die Leinwand brachten. Das Zusammenspiel der Farben wirkte wie eine perfekte Komposition. Gina fühlte sich von den Bildern in einen seltsamen Bann gezogen. Dabei war sie durch und durch Großstadtmensch und konnte mit dem Landleben nichts anfangen.

Die Szenerie veränderte sich mit der Zeit. Sie zeigte Indianer – Männer, Frauen und Kinder in bunten Gewändern, teils mit bemalten Gesichtern. Es waren friedvolle Szenen aus einem glücklichen Leben in Freiheit und im Einklang mit der Natur. Dann vollzog sich jedoch ein schroffer Wechsel. Auf den Bildern sah man die gegenwärtige Lage der Ureinwohner in einer erschreckenden Deutlichkeit. Indianer vor ärmlichen, heruntergekommenen Häusern, in deren Vorgärten jeder mögliche Schrott herumlag. Männer mit Baseballmützen, verspiegelten Sonnenbrillen und einer Whiskeyflasche in der Hand. Hoffnungslos vor sich hin blickende Frauen und Kinder in ärmlicher Bekleidung, die in einer trostlos wirkenden Umgebung ihren Spielen nachgingen.

Ein Bild beeindruckte Gina besonders. Sie verweilte davor und betrachtete es genau. Ein indianischer Junge, vielleicht zwölf Jahre alt, kauerte nackt in der Ecke eines dunklen Zimmers. Sein Kopf war zwischen die Knie gebeugt, die Hände vor das Gesicht geschlagen. Offensichtlich weinte das Kind. Ein großer Mann drehte ihm den Rücken zu und ging in Richtung Ausgangstür. In der Hand hielt er einen Ledergürtel. Im Türrahmen stand eine Frau, warnend die Hand erhoben, als wolle sie den Jungen schelten. Der Mann und die Frau waren eindeutig als Weiße zu erkennen. Neben dem Bild war eine kleine Tafel mit der Aufschrift Adopted Life angebracht. Das Bild strahlte eine stille Verzweiflung aus. Gina fühlte die Schmerzen des Jungen fast am eigenen Körper. Versunken in die Betrachtung, schreckte sie plötzlich durch ein Geräusch hinter ihrem Rücken auf.

Sie drehte sich um und sah in zwei dunkle Augen.

Shari Larrimore stand in der Küche und packte Kartoffeln in Folie ein. Ihr Sohn Tim hatte sich zum Abendessen sein Leibgericht gewünscht: Steaks, Ofenkartoffeln und grüne Bohnen. Sie seufzte, Gott sei Dank war Tim erst zwölf. Ein richtiger Junge, der mit seinen Freunden spielte und sich über ein gutes Essen freute. Ihre halbwüchsige Tochter hingegen bereitete ihr Probleme. Für die sechzehnjährige Sandra war in der letzten Zeit nichts mehr gut genug. An allem fand sie etwas auszusetzen. Sie warf ihren Eltern vor, ihr nicht das bieten zu können, was die Kinder der wohlhabenden Rancher bekamen, die mit ihr die Schulklasse besuchten. Diese flogen in den Urlaub nach Hawaii oder zum Vergnügungswochenende nach Las Vegas. Bei den Larrimores reichte es gerade zu einem Besuch bei Sharis Familie in Boston. Sandra verstand nicht, warum ihre Mutter die Großstadt gegen einen langweiligen kleinen Ort in Montana eingetauscht hatte und die Frau eines Sheriffs geworden war. In Boston hätte sie eine ganz andere Partie machen können. Das Gehalt eines Polizisten genügte Sandras hohen Ansprüchen nicht.

Auch das Familienglück litt unter den dauernden Streitereien, die ihren Mann zermürbten. Dabei hatte er genug Stress im Beruf. Dauernd war er gefordert, sogar mitten in der Nacht klingelte das Telefon und rief zum Einsatz. Er liebte seine Arbeit trotzdem und fühlte sich glücklich und anerkannt in der Kleinstadt. Shari wusste, dass sie diese Lebensweise akzeptieren musste, wenn sie sich für ihn entschied. Bisher gab es für sie nichts zu bereuen. Sie führten ein zufriedenes Leben, mit guten und schlechten Zeiten, wie in jeder Beziehung. Ein festes Band schweißte sie zusammen. Sie konnte sich jederzeit auf ihn verlassen.

Tim kam in die Küche und brach in ein Jubelgeschrei aus, als er sah, was seine Mutter zubereitete.

Liebevoll strich sie ihm über den Kopf. „Ich habe es dir doch versprochen, und was man verspricht, das muss man auch halten.“

„Oh Mom, du bist einfach die Beste“, rief Tim und drückte sich dabei an sie.

“Wo ist denn deine Schwester?“

„Sie ist nach der Schule in den Pick-up von Larry Cooper eingestiegen.“

„Sie wird hoffentlich bald kommen.“

Ihre Beunruhigung wollte sie vor Tim nicht zeigen. Larry Cooper, dem Sohn eines betuchten Ranchers, eilte der Ruf eines Schürzenjägers voraus. Außerdem hatte Sam erst vor Kurzem beruflich mit den Coopers zu tun gehabt. Cooper Senior war in Verruf geraten, seine Rinder mit verbotenen Medikamenten zu behandeln. Diese Verdächtigungen stellten für ihn eine Majestätsbeleidigung dar, aber als Polizist musste Sam die Anzeige verfolgen. Bei der nächsten Wahl zum Sheriff wolle er auf jeden Fall für den Gegenkandidaten stimmen, hatte Cooper lauthals in der ganzen Stadt verkündet. Er versuchte, Sam das Leben schwer zu machen, wo er nur konnte. Ihr Mann war sicher nicht erfreut über Sandras Umgang mit Larry Cooper. Als Sheriff bemühte er sich, den Menschen seiner Stadt unvoreingenommen zu begegnen. Dan Cooper jedoch war arrogant, rechthaberisch und protzte mit seinem Reichtum. Alles Dinge, die Sam von Herzen zuwider waren. Es war leicht, sich auf den Lorbeeren einer gut gehenden geerbten Ranch auszuruhen. Die Arbeit übernahm ein fähiger Verwalter. Larry, der einzige Sohn, wurde von den Eltern vergöttert und war zu einem hochnäsigen jungen Mann geworden. Sein gutes Aussehen verschaffte ihm Erfolg bei den Mädchen.

Sam würde über diese Nachricht sicherlich nicht begeistert sein. Das Telefon war den ganzen Tag verdächtig still geblieben. Er hatte gemurmelt, er müsse hoch in den Park und es könne länger dauern. Das Mobiltelefon funktionierte dort oben meistens nicht, da es selten Empfang gab. Dann blieb noch das Funkgerät im Auto. Abgelegene Gebiete im Park waren leider nur mit dem Pferd erreichbar. Shari schaute auf die Uhr. Es war nicht zu spät, vielleicht konnte sie Sams Deputy auf der Polizeiwache erreichen. Nach einigem Klingeln hob Mitch Fleetwood endlich den Hörer ab.

„Hallo, Mitch, störe ich dich etwa beim Essen?“

Am anderen Ende der Leitung waren eindeutig Kaugeräusche zu hören, dann ein verlegenes Schweigen. Anscheinend musste er erst hinunterschlucken. Fleetwood war ein Urgestein. Eigentlich hätte er bereits die wohlverdiente Rente antreten können. Die Arbeit war aber sein Leben. Sam schätzte die Unterstützung durch seinen verlässlichen und loyalen Mitarbeiter. Es gab kein besseres Auskunftsbüro. Mitch war in Cut River geboren, aufgewachsen und hatte sein ganzes Leben hier verbracht. Urlaub beantragte er nie. Seine Stadt stellte für ihn den schönsten Ort auf der ganzen Welt dar. Er kannte jeden Bewohner und alle wichtigen Ereignisse der letzten dreißig Jahre. Sam scherzte oft, er benötige kein Internet. Mitch war immer bestens informiert.

So auch in diesem Fall. Mitch erzählte Shari, dass Sam zu Jake Nighthorse unterwegs sei, nachdem dieser angerufen habe. Es könne länger dauern. Das besagte Gebiet war unzugänglich und nur mit dem Pferd erreichbar. „Mehr weiß ich leider nicht. Vielleicht meldet er sich von der Rangerstation bei dir. Dort muss er das Auto parken, bevor er mit Nighthorse losreiten kann. Wie du weißt, ist er kein Mann der großen Worte.“

Shari seufzte, das stimmte nur zu gut. Sam erzählte nie viel. Wenn es um seine Arbeit ging, verhielt er sich besonders schweigsam. Sie bedankte sich bei dem Deputy und wünschte ihm einen schönen Tag. Es beruhigte sie, dass Sam nicht alleine unterwegs war. Zu gegebener Zeit würde er sich bei ihr melden.

Sie deckte gerade den Tisch, als vor dem Haus ein Wagen hielt, aus dem Sandra ausstieg. Shari erhaschte einen flüchtigen Blick auf den Fahrer. Es war tatsächlich Larry Cooper. Sie überlegte kurz und kam zu dem Schluss, im Moment nichts zu sagen. Es war ihr nicht danach, sich mit ihrer Tochter zu streiten. Sandra erschien mit einem trotzigen Gesichtsausdruck in der Türschwelle. Offenbar erwartet sie eine Strafpredigt. Shari stellte sich jedoch völlig unwissend. Sie forderte Sandra auf, ihre Sachen schnell wegzuräumen, weil das Essen fertig war. „Dein Bruder kann schon nicht mehr warten. Er hat einen Bärenhunger.“

Sandra blickte Shari verblüfft an. Ihre Mutter musste doch bestimmt gesehen haben, wer sie nach Hause gebracht hatte. Machte sie ihr denn keine Vorwürfe? Glück gehabt, sie war noch einmal davongekommen. Sogar ihr Bruder schien nicht gepetzt zu haben.

Tim interessierte sich im Moment nur für sein Lieblingsgericht. Er setzte sich auf den Stuhl, ohne seiner Schwester weitere Beachtung zu schenken. Mit leuchtenden Augen machte er sich über die leckere Mahlzeit her.

Während er zwei volle Teller verputzte, stocherte Sandra nur herum. Zusammen mit Larry hatte sie im Diner von Cut River einen Hamburger gegessen. Sie dachte an die neugierigen Blicke der anderen Besucher. Alle wussten von den Spannungen zwischen dem Sheriff und Larrys Vater. Es war ihr egal, sie würde dieses Nest bald verlassen. Sollten die Leute doch reden.

“Was hat dir das arme Steak getan, dass du so auf es einstichst?“

Die Frage ihrer Mutter brachte Sandra völlig aus dem Konzept und riss sie aus ihren Gedanken.

„Ach, ich habe keinen Hunger. Ich glaube, ich gehe lieber auf mein Zimmer.“

Shari nickte. Für ein klärendes Gespräch blieb später immer noch Zeit. Außerdem wollte sie das gerne zusammen mit ihrem Mann führen.

„Wo ist eigentlich Dad?“ fragte Tim und legte zwischen dem Kauen kurz eine Pause ein.

„Er ist bei der Arbeit“, antwortete Shari. „Heute Abend wird er wohl nicht nach Hause kommen.“

Tim gab sich damit zufrieden und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Mahlzeit zu.

Beim Aufräumen in der Küche dachte Shari über ihre Tochter nach. Sie brachte Verständnis für das Verhalten des Mädchens auf. Montana war ein raues Land, das nur wenig Abwechslung versprach. Die Kleinstadt Cut River bot jungen Leuten nicht viel Zerstreuung. Für Menschen auf der Suche nach Einsamkeit und einer ursprünglichen Natur war die Gegend ein Paradies. Sam liebte seine Heimat mit jeder Faser seines Herzens. Aber Sandra war sechzehn. Sie fand alles langweilig. Sogar die nächste größere Stadt lag über eine Autostunde entfernt. Touristen verirrten sich nur selten nach Cut River. Sie bevorzugten Unterkünfte, die nah am Glacier-Nationalpark lagen. Wie sollte man hier neue Leute kennenlernen?

Obwohl Shari es Sam gegenüber nie erwähnte, überkam sie oft die Sehnsucht nach Boston. Wie schön wäre manchmal ein Theaterbesuch oder ein feines Abendessen in einem schicken Restaurant. Ihre eleganten Kleider blieben jedoch im Schrank hängen. Es gab kaum passende Anlässe, um sie zu tragen. Die Alltagskleidung bestand aus Stetson, Jeanshosen und Stiefeln. Als Frau des Sheriffs musste sie zudem sehr auf ihr Image achten. Ihre Herkunft aus der Großstadt Boston an der Ostküste hatte ihr den Anfang in Montana nicht leicht gemacht. Die Menschen im Westen hatten das Gefühl, von den Bewohnern der Neuenglandstaaten als Hinterwäldler betrachtet zu werden.

Vor einigen Jahren hatte sie Sam auf eine Veranstaltung nach Washington begleitet. Als er erwähnte, dass er aus Montana kam, fragte man ihn tatsächlich, ob es dort noch Planwagen und Kämpfe gegen Indianer gäbe. Ihrem Mann entlockte das ein herzhaftes Lachen. Er fasste es als Scherz auf. Es brachte jedoch die manchmal herablassende Art der Menschen im Osten zum Ausdruck. Viele von ihnen hielten sich für etwas Besseres, weil sie meinten, mehr Kultur zu besitzen. Shari fühlte sich weit mehr getroffen als Sam. Er nahm diese Aussagen als dummes Geschwätz von Ignoranten zur Kenntnis. Wer einmal die Schönheit Montanas kennengelernt hatte, kam zu einem anderen Urteil.

Bevor die Kinder kamen, fuhren sie beide an den Wochenenden oft in den Glacier Park. Ein guter Bekannter von Sam war dort Ranger. Sie wohnten für ein paar Dollar in einer Hütte am See. Zu jeder Jahreszeit sah es dort anders aus. Bei Sonnenschein spiegelten sich die majestätischen Berge im tiefblauen See, den sie wie ein Ring aus Steinen umgaben. Im Sommer machten sie herrliche Wanderungen in der unberührten Natur mit ihrer vielfältigen Tierwelt. Im Winter war es fast noch schöner. Das Glitzern des Schnees verwandelte den Park in eine Traumlandschaft wie aus dem Märchen. Nach einer ausgedehnten Schneeschuhwanderung wärmten sie sich vor dem knisternden Kaminfeuer auf und genossen die Zweisamkeit. Die Erinnerung an diese wunderbare Zeit zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht.

Mit der Zeit litt die Romantik unter dem Familienalltag und der Arbeit. Sorgenvoll dachte Shari an das Gespräch, das sie mit ihrem Mann wegen Sandra führen musste. Er war ziemlich streng und fand, eine Sechzehnjährige brauche noch keine engen Jungenbekanntschaften zu pflegen. Sandra hielt ihren Vater für altmodisch und spießig. In diesem Punkt jedoch kannte er kein Pardon.

Es stand also Ärger ins Haus.

Jake Nighthorse zügelte sein Pferd und richtete den Blick gen Himmel. Er gefiel ihm überhaupt nicht. Die Wolken bewegten sich langsam und bildeten einen dicken grauen Teppich. Selbst Anfang April konnte es in den höheren Lagen noch schneien. Die Luft war empfindlich kalt und roch nach Schnee. Diesen konnte er im Moment nicht brauchen. Er würde die letzten Spuren auslöschen.

Jake war ein erfahrener Wanderführer indianischer Abstammung. Er verdiente sein Geld damit, Touristen den Glacier-Nationalpark zu zeigen. Im Sommer bot er Wandern, Bergsteigen, Reiten und Kanufahrten, im Winter Ski- und Schneeschuhtouren an. Seine Big Sky Tours stellten sich auf alle möglichen Anforderungen ein. Als ausgezeichneter Spurenleser stand er ab und an auch im Dienst des Sheriffs.

Sam brachte sein Pferd neben dem von Nighthorse zum Stehen. Er warf ihm einen bewundernden Seitenblick zu. Sie waren seit Stunden unterwegs, trotzdem zeigte Jake kein Zeichen der Erschöpfung. Er wirkte außerordentlich frisch und munter. Sein volles, kurz geschnittenes Haar unter dem Westernhut wurde an den Seiten grau. Sam kannte Jakes genaues Alter nicht. Die Sechzig hatte er sicherlich überschritten. Auf alle Fälle machte er zwanzig Jahre Jüngeren etwas vor. Sam selbst war eigentlich ein ausdauernder Reiter. In letzter Zeit bot sich jedoch wenig Gelegenheit für längere Ausritte, deshalb spürte er die ungewohnte Anstrengung. Gewisse Körperteile fingen langsam an zu schmerzen. Die dicken Wolken am Himmel veranlassten ihn zu der Frage, ob es wohl schneien würde.

„Kann sein“, erwiderte Nighthorse. Es war ihm nicht verborgen geblieben, dass der Sheriff langsam müde wurde. Die Fundstelle, zu der sie unterwegs waren, lag eine halbe Stunde entfernt. Auf seiner letzten Wandertour vor drei Tagen hatte er während einer Pause die grausige Entdeckung gemacht. Die Touristengruppe bemerkte zum Glück nichts davon. Unnötige Aufregung beeinträchtigte sein Geschäft. Es war wichtig, den Leuten eine gute Zeit zu bereiten. Eine positive Mundpropaganda brachte oft neue Kunden. Seine Gäste sollten die abenteuerliche Natur genießen und Freude an ihrem Aufenthalt haben. Eine halb verweste Leiche stand nicht auf dem Programm.

Sie gaben den Pferden die Sporen und ritten weiter. Nur im Schritt ging es durch das unwegsame Gelände. Alles andere war viel zu gefährlich. Hier und da lagen noch ein paar Schneereste, aber die warmen Sonnenstrahlen leckten schon gierig daran. Einige Pflanzen streckten vorsichtig ihre Triebe aus dem Boden. Der Frühling zeigte sich mit aller Macht auf dem Vormarsch. Selbst wenn es erneut schneite, hatte der Schnee keine Chance mehr. Nach einem kurzen Gastspiel würde ihn die Wärme endgültig dahinschmelzen lassen.

Sam Larrimore wurde aus seinen Gedanken herausgerissen. Jake zügelte sein Pferd, stieg ab und schlang die Zügel um einen dicken Ast. Er blickte sich erwartungsvoll zum Sheriff um. Dieser tat es ihm gleich und sah Jakes Entdeckung mit gemischten Gefühlen entgegen.

Nighthorse hatte die Überreste der Leiche mit Zweigen zugedeckt, um die Aasfresser weiter abzuhalten. Viel war nicht mehr übrig, ein Skelett, einige Kleiderfetzen, Stöcke und Reste von Schneeschuhen. Nur das feste Schuhwerk war noch in einem guten Zustand. Es handelte sich dabei eindeutig um robuste Männerstiefel.

„Der Schädel ist gut erhalten“, meinte Sam fachmännisch. „Mit einer Gesichtsrekonstruktion lässt sich vielleicht die Identität ermitteln. Irgendwelche Papiere liegen hier mit Sicherheit nicht herum. Wir müssen leider die Knochen einsammeln. Die Rechtsmedizin wird nach einer Untersuchung die Ursache und den Zeitpunkt des Todes feststellen.“

Die Stille des Waldes war fast mit Händen greifbar. Sam sah auffordernd zu Jake Nighthorse hinüber. Er wartete vergeblich auf dessen Zustimmung.

„Der Mann ist seit einer Woche tot“, antwortete der Indianer schließlich. „Er wurde ohne Zweifel von einem Wolf angefallen.“

Der Sheriff sah Jake an und runzelte die Stirn. „Ein Wolf, wieso ein Wolf? Was ist mit einem Bären?“

“Kein Bär.“

„Was macht dich so sicher? Es könnte auch ein tödlicher Herzinfarkt gewesen sein.“

Der Indianer warf Sam einen belehrenden Blick zu. Er bückte sich und zupfte etwas von der Rinde des Baumes ab, neben dem das Skelett lag. Dann hielt er es dem Sheriff unter die Nase. „Siehst du das? Es sind Haare eines Wolfes und nicht die eines Bären. Eines ungewöhnlich großen schwarzgrauen Wolfes, um genau zu sein. In der Nähe des Schuhs befindet sich der Abdruck der großen Vorderpfote.“

In der Stimme von Nighthorse schwang absolute Sicherheit. In Bezug auf Spuren irrte er sich nie. Sam klopfte ihm jovial auf die Schulter und bat augenzwinkernd um Entschuldigung für seinen kleinen Scherz.

„Ich habe noch etwas bei dem Toten gefunden“, fuhr Jake fort. „In einiger Entfernung lag ein Messer, das ihm wohl nichts mehr genützt hat. Wahrscheinlich wurde es ihm durch die Wucht des Aufpralls aus der Hand geschleudert. Ich habe es mitgenommen.“ Er ging zu seinem Pferd und zog einen in Plastik gewickelten Gegenstand aus der Satteltasche.

Sam betrachtete das Messer im Plastikbeutel genau. Es besaß ein schlankes Heft, das gut in der Hand lag. Ungewöhnlich war die große, zweischneidige Klinge mit scharfen Zacken. Ein solches Messer war ihm in seiner ganzen Laufbahn nicht untergekommen.

„Es ist eine besondere Waffe, die nicht von jedermann benutzt wird“, erklärte Nighthorse. „Du musst herausfinden, wo diese Messer zum Einsatz kommen. Vielleicht gibt das einen Hinweis auf die Identität des Toten.“

Sam gab ihm recht. Nighthorse war einer der besten Spurenleser und traf meistens ins Schwarze. Der Sheriff schätzte den untrüglichen Instinkt der Ureinwohner. Ihre Verbundenheit mit der Natur, die Spiritualität und das Verständnis für Tiere besaßen Weiße nicht in einem solchen Maß. Die Indianer kommunizierten völlig anders miteinander und brauchten nicht viele Worte, um sich zu verständigen. Man setzte sich zusammen, rauchte und aß, und danach war alles geklärt. Niemand erwähnte es, aber die Behandlung der Indianer in den vergangenen Jahrhunderten glich einer gezielten Ausrottung. Sie standen dem Expansionsstreben der damals jungen Nation im Wege. Es ließ sich mit ihnen kein Geld verdienen, da sie keinen Wirtschaftsfaktor darstellten. Sam fand es viel schlimmer, dass dieser Umstand sich auch in der heutigen Zeit nicht geändert hatte. In den meisten Reservaten herrschte eine Armut, die zum Himmel schrie. Das trostlose Leben dort war geprägt von Arbeitslosigkeit, Alkohol- und Drogensucht. Die amerikanische Regierung interessierte sich im Grunde nicht für die Indianer. Schließlich gab es nichts mehr, was man ihnen noch hätte nehmen können. Das hatte man im letzten Jahrhundert zur Genüge praktiziert. Gutes Land mit Bodenschätzen oder anderen Reichtümern verleibte sich der Staat ein. Geschlossene Verträge waren hinfällig, wenn sich herausstellte, dass das überlassene Gebiet doch einen Wert besaß. Es gab entlegenere und ärmere Landstriche, die für die Ureinwohner gut genug waren. Keine Lobby setzte sich für sie ein. Die Proteste des American Indian Movement in den Siebzigern wurden unterdrückt, einige Anführer zu Haftstrafen verurteilt. Dass dabei alles mit rechten Dingen zugegangen war, wagte Sam stark zu bezweifeln. Ungerechtigkeiten wurden gerne unter den Tisch gekehrt. Man war Weltpolizei, Beschützer der Freiheit und ergriff Partei für die Unterdrückten, solange dabei etwas zu verdienen war. Das Sprichwort, welches in diesem Land am meisten zutraf, war „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“. Es konnten jedoch nicht alle Menschen stark, gesund und erfolgreich sein. Die Schwachen fielen durch die Maschen und waren auf sich allein gestellt.

In Europa hatte man bereits im neunzehnten Jahrhundert die Notwendigkeit eines Sozialsystems zur Unterstützung der Bedürftigen erkannt. Im modernen Amerika herrschte immer noch die Meinung vor, jeder könne sich in einer Notlage selbst helfen. Gerade in Montana war diese Einstellung weit verbreitet. Sam war dieser Ignoranz gegenüber oft sprachlos. Er organisierte deshalb zusammen mit seiner Frau Veranstaltungen für Hilfsbedürftige, bei denen gebrauchte Gegenstände verschenkt wurden, oder gemeinsame Essen in der örtlichen Turnhalle.

Jake Nighthorse hatte sich in der Zwischenzeit nicht bewegt. Er stand nur da, stumm wie eine Salzsäule. Die meisten Indianer waren von Natur aus nicht sehr gesprächig. Sam wartete geduldig, schob sich den schwarzen Stetson in den Nacken und schaute erwartungsvoll zu seinem Begleiter hinüber. Jake würde nach einer Weile damit herausrücken, was ihm auf dem Herzen lag.

“Was siehst du, wenn du den Toten betrachtest?“, fragte dieser schließlich.

Sam war sich nicht im Klaren darüber, worauf die Frage abzielte. Außerdem wurde ihm langsam kalt. Er fühlte sich müde und verspürte Hunger. Sie sollten die Skelettreste einpacken und diesen ungastlichen Ort verlassen. „Ich sehe Knochen und andere Reste. Mehr ist nicht mehr da. Na ja“, fügte er schließlich hinzu, „die Schuhe sind noch ganz gut erhalten.“

Nighthorse gab ein mürrisches Brummen von sich. Offenbar stellte ihn diese Antwort nicht zufrieden.

Sam musste etwas entgangen sein, aber was? Er schnaufte hörbar und sah sich erneut genau um. Es stach ihm nichts Ungewöhnliches ins Auge.

„Ein Mann läuft durch die Wildnis, im Winter, es ist kalt, er ist allein.“

Sam starrte Jake verständnislos an. Worauf wollte er hinaus?

„Wo hat er seine Sachen?“, fragte der Indianer. „Einen Rucksack mit Essen und Trinken, Schlafsack, persönliche Kleinigkeiten, ein Feuerzeug, um sich an einem geschützten Ort aufwärmen zu können. Wieso hat er nur ein Messer und keine Feuerwaffe?“ Jake machte eine bedeutsame Pause. “Es gibt hier wilde Tiere, Bären zum Beispiel. Ein Gewehr zur Verteidigung ist sehr nützlich.“ Das Wort „Bären“ betonte er dabei besonders.

Sam verstand die Retourkutsche und grinste grimmig. Auf diese Idee war er nicht gekommen. Jeder, der im Winter in dieser abgelegenen Gegend unterwegs war, benötigte einen Rucksack für die überlebenswichtigen Dinge und ein Gewehr. Von alldem gab es hier jedoch keine Spur.

„Warum war er ganz allein unterwegs?“, fuhr Jake fort. „Wo sind seine restlichen Sachen hingekommen?“

Jake erwartete mit Sicherheit keine Antwort von ihm, trotzdem Sam kam eine Idee. „Wahrscheinlich wollte er nicht gesehen werden und jedes Aufsehen vermeiden.“

Sein Gegenüber nickte zustimmend und meinte, Sam habe nicht umsonst den Posten des Sheriffs inne.

Sam lachte laut auf. „Warum waren ihm Begegnungen unangenehm?“

Jake antwortete auch gleich. „Natürlich weil er etwas zu verbergen hatte.“

Sam räusperte sich und nickte zustimmend mit dem Kopf.

„Die kanadische Grenze ist nicht weit. Wenn man im Geiste die Richtung nimmt, in die der Mann ging, wohin kommt man?“

Sam brauchte nur kurz zu überlegen. Seine Schlussfolgerung kam wie aus der Pistole geschossen. „In das Reservat der Blackfeet-Indianer.“ Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. Diese Möglichkeit war auf alle Fälle in Betracht zu ziehen. Kein Tourist lief in der kalten Jahreszeit aus Vergnügen in diesem einsamen Gebiet herum. Der Tote musste einen Grund und ein Ziel gehabt haben. Bei solchen Dingen war meistens Geld im Spiel. Mit was konnte man im Reservat Dollars machen? Darauf gab es nur eine Antwort. Sam öffnete schon den Mund. Jake Nighthorse war jedoch schneller.

„Drogen oder Alkohol“, sagte er leise und verzog dabei bitter das Gesicht.

Ein ewiges Problem, für das es keine Lösung zu geben schien. Die Berührung der Indianer mit dem Feuerwasser hatte zu einem Strudel aus Gewalt und Armut geführt. Das Drogenproblem zog sich auch bei der weißen Bevölkerung durch alle Schichten. In den meisten Reservaten waren die Zustände erbärmlich. Die Menschen befanden sich im Würgegriff des Alkohols oder anderer Rauschmittel, um den trostlosen Alltag zu vergessen, der ohne jede Perspektive war. Nur wenige Indianer verließen die Reservate und integrierten sich in die Gesellschaft. Im Reservat bekamen sie eine geringe finanzielle Unterstützung vom Staat, welche jedoch im Falle eines Weggangs entfiel. Somit waren sie völlig auf sich allein gestellt. Viele gaben sich daher mit dem wenigen Geld zufrieden, von dem man weder recht leben noch sterben konnte. Hier kam dann die indianische Mentalität ins Spiel. Man plante nicht für die Zukunft, sondern lebte im Hier und Heute, und morgen geschah, was geschah. Die Gesellschaft forderte Leistung, Engagement und Karrierestreben. Wer sich nicht anpasste und die allgemeinen Standards nicht erfüllte, fiel durch das Raster.

Vor einigen Jahren hatte es massive Probleme mit der Indianerpolizei im Blackfeet-Reservat gegeben. Einige der Beamten betrieben offenbar einen schwunghaften Schmuggel mit Alkohol und Drogen. Sie umgingen das Verbot der Verbreitung dieser Rauschmittel in der Reservation. Ein aussagewilliger Mittäter wurde von seinen Kollegen ermordet. Das Ganze endete in einem riesigen Skandal und führte zur Auflösung der Tribal Police, der Stammespolizei. Daraufhin übernahm das Büro für indianische Angelegenheiten die Polizeiarbeit, was bis zum heutigen Tag so geblieben war.

Verbrechen im Reservat wurden dort direkt verfolgt und fielen nach wie vor nicht in Sams Zuständigkeitsbereich. Er kümmerte sich nur um Delikte, die außerhalb begangen wurden. In der letzten Zeit hatte es nur ein paar kleinere Diebstähle und harmlose Schlägereien gegeben.

Bei Vorfällen mit Indianern holte er sich im Notfall Unterstützung von Jake Nighthorse. Neulich hatte man in Cut River einen alten Indianer aufgegriffen, der auf nichts reagierte und nur vor sich hin starrte. Sam nahm ihn mit auf die Polizeiwache, versorgte ihn mit Essen und ließ ihn in einer offenen Zelle schlafen. Als Jake am nächsten Tag erschien, stellte sich heraus, dass der Mann ein Blackfeet aus dem Reservat war und kein Wort Englisch sprach. Für Sam war das unvorstellbar. Nighthorse erklärte ihm, dass es viele Indianer gab, die nur ihre eigene Sprache beherrschten. Sie war viele Jahre verboten gewesen, aber die Kontrolle darüber gestaltete sich schwierig. Als Konsequenz daraus weigerten sich manche Indianer einfach, die aufgezwungene englische Sprache zu verwenden.

Der alte Mann war nur dehydriert und hungrig. Er erholte sich schnell, und Jake brachte ihn ins Reservat zurück. Sam würde nie den dankbaren Blick des Alten beim Abschied vergessen. Nighthorse übersetzte für ihn die leise vor sich hin gemurmelten Worte:

„Der Mann mit dem Stern ist ein guter Mensch und hat nun einen Freund bei den Blackfeet.“

Es würde schwer sein, im Reservat etwas herauszufinden. Offizielle Ermittlungen durfte Sam nicht anstellen. Und warum auch? Schließlich handelte es sich nur um jemanden, der offensichtlich von einem wilden Tier getötet worden war. Alles andere waren Vermutungen von Jake Nighthorse.

Sam schlug fröstelnd die Arme zusammen. Sehnsüchtig dachte er an eine warme Unterkunft und ein gutes Essen. Er fotografierte die Fundstücke und den Abdruck der Pfote, bevor er sich mit Jake zusammen an die unangenehme Arbeit machte, die sterblichen Überreste in den mitgebrachten Plastiksack zu verpacken. Das ungewöhnliche Messer verstaute er separat.

„Wie lange brauchen wir von hier bis zur Rangerstation?“, fragte er schließlich.

Nighthorse richtete einen prüfenden Blick in den Himmel. Dann sah er den Sheriff bedeutungsvoll an. „Da hinten ist ein guter Platz, um das Zelt aufzustellen.“

Verdammt, dachte Sam, das kann doch nicht wahr sein! Die Aussichten auf eine kalte Nacht, zusammengepfercht mit seinem Begleiter, ließen seine Stimmung auf den Tiefpunkt sinken. Als er jedoch das breite Grinsen in Jakes Gesicht sah, wurde ihm klar, dass ihn dieser auf den Arm genommen hatte.

„Keine Sorge“, sagte der Fährtenleser lachend. „In weniger als zwei Stunden sind wir in Jerrys warmer Hütte. Er ist über unser Kommen informiert. Ich hoffe, dein Pferd schafft die restliche Strecke. Es scheint ein bisschen aus der Übung zu sein.“

Sam verstand die Anspielung und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

Immer noch lächelnd lief Nighthorse am Sheriff vorbei und versetzte ihm einen freundschaftlichen Klapps auf den Rücken. „Jetzt musst du nur noch herausfinden, wer die Sachen des Toten mitgenommen hat und was das genau war. Schließlich bist du der Kriminalist von uns beiden.“

Der kleine Junge drückte sich dicht an den Baum. Über sein braunes Gesicht rollten Tränen. Er gab keinen Laut von sich, um nicht entdeckt zu werden. Sein Körper brannte immer noch von den Schlägen, die ihm der Mann verabreicht hatte. Die Frau war nicht dabei gewesen, aber sie hatte ihm bisher auch nicht geholfen. Diese Menschen sollte er Vater und Mutter nennen? Nein, niemals würde er das tun. Seine Eltern befanden sich an einem anderen Ort. Obwohl oft betrunken, hatten sie ihn nie geschlagen. Er schloss die Augen und versuchte, sich an sie zu erinnern. Sie waren keine außergewöhnlich glückliche Familie gewesen, doch jetzt fühlte er sich wie in der Hölle.

Auf einem Baum sah er einen großen Bussard sitzen. Wie er den Vogel um seine Freiheit beneidete! Er schloss er die Augen, ein wohliges Gefühl durchströmte seinen Körper. Im Geiste verwandelte er sich in den Greifvogel, breitete die Schwingen aus und erhob sich elegant in die Lüfte. Hoch, immer höher hinauf ging es, bis die Häuser wie Spielzeuge aussahen. Es war wundervoll, am blauen Himmel zu schweben und die Wärme der Sonnenstrahlen zu spüren. Unter ihm veränderte sich die Landschaft. Der dichte Wald gab den Blick auf eine tiefe Schlucht frei, auf deren Grund sich das Wasser wie ein blaues Band schlängelte. Er folgte eine Weile dem Verlauf des Flusses, bis das Wasser sich in einer schäumenden Masse über die Felsen stürzte. Die brodelnde Gischt ließ ihn nach oben steigen. Immer weiter ging es hinauf, in die weißen Wolken, die sich dicht am Himmel zusammenballten. Eine Herde Antilopen jagte über die grüne Prärie. Er begleitete sie ein Stück, bis sie unter Bäumen Schutz suchten. Die Landung auf einem großen Felsen bot Zeit zum Ausruhen und einen majestätischen Rundblick. Das stahlblaue Firmament bildete einen eindrucksvollen Kontrast zu den sich auftürmenden roten Bergen.

Plötzlich spürte er den eisenharten Griff zweier großer Hände. Der Schmerz riss ihn unvermittelt aus seinem Tagtraum. Nur widerwillig öffnete er die Augen. Der Mann schrie laut und schüttelte ihn brutal. Der Junge blickte suchend zum Baum. Kein Bussard mehr zu sehen, nur ein leerer Ast. Der Vogel war verschwunden, und er selbst befand sich wieder in der grausamen Realität. Wie schön war es gewesen, schwerelos durch die Luft zu schweben und dabei alle Sorgen zu vergessen. Er spürte, wie ihn der Mann grob packte und in Richtung auf das Haus hinter sich her schleifte. Die Zeit verging, bald würde sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung gehen. Irgendwann war er alt genug, um weggehen zu können. Bis dahin musste er versuchen, auf den Schwingen des Bussards die Gegenwart hinter sich zu lassen.

Das Augenpaar, in das Gina blickte, gehörte einem Mann in einem dunklen Anzug mit schwarzem Hemd und grauer Krawatte. Er wirke distinguiert und fremdartig zugleich. Seine Hautfarbe war ein erdiges Braun. Die hohen Wangenknochen und eine markant geschwungene Nase verliehen ihm ein ungewöhnliches Aussehen. Das Haar trug er straff nach hinten zu einem Zopf gebunden. Dadurch wurde die auffällige Narbe betont, die sich von der Schläfe bis hinunter zur Wange zog. Auf seinem Kopf saß eine dunkle Sonnenbrille.

„Guten Tag“, begrüßte ihn Gina. „Ich bin Detective Deluca. Wer sind Sie?“

„Jay Beaudine, meine Bilder werden hier ausgestellt.“ Er erwiderte die Begrüßung nicht.

In Gina sammelte sich sofort eine Woge der Verärgerung. Sie hasste es, als Polizistin herablassend behandelt zu werden. Er glaubte wohl, sein Erfolg mache ihn besonders interessant. Auf solche arroganten Snobs, von denen es in New York genug gab, reagierte sie allergisch. Zivilisierte Menschen stellten sich einander höflich vor. Es spielte keine Rolle, unter welchen Umständen man sich kennenlernte. Nun denn, die Sonnenbrille würde er nicht benötigen. Es gab keinen Großauflauf der Presse mit Blitzlichtgewitter, sondern nur einen ganz gewöhnlichen Mord. „Mrs. Morgan ist umgebracht worden“, sagte sie knapp und betrachtete ihn dabei ganz genau.

Sein Gesicht zeigte keine Regung. Er senkte kurz den Kopf und sah zu Boden. Dann ließ er den Blick scheinbar ziellos durch die Galerie schweifen.

Als auch nach längerer Zeit keine Erwiderung kam, zückte Gina schließlich ihren Block. Es war nun an der Zeit, mit dem offiziellen Teil zu beginnen. „Ich führe die Befragung hier durch. Sollten Sie jedoch verhindert sein, kann ich Sie gerne auf die Wache vorladen.“

Sie winkte Rafe Clover zu sich her. In der Nähe stand eine Sitzecke. Beaudine folgte ihnen langsam und setzte sich in einen Sessel. Gina und ihr Kollege nahmen auf der Couch gegenüber Platz.

„Möchten Sie einen Anwalt anrufen?“, fragte Gina.

„Wieso? Brauche ich denn einen?“ In seiner Stimme schwang ein sarkastischer Unterton.

„Kommt darauf an, was Sie aussagen“, feuerte Gina zurück.

Clover warf seiner Kollegin einen kritischen Seitenblick zu. Warum gebärdete sie sich dermaßen bissig? Der Künstler schien auf jeden Fall keine guten Karten bei ihr zu haben. „Ich muss dich kurz unter vier Augen sprechen“, flüsterte er ihr zu.

Sie entfernten sich aus Beaudines Hörweite, und Rafe gab Gina die Informationen, die er in der Zwischenzeit gesammelt hatte. Dabei sahen sie ab und zu bedeutsam zu dem Maler hinüber. Es war ihre Taktik, die Befragenden nervös zu machen, damit sie unvorsichtig wurden.

Gina genoss das Katz- und Mausspiel heute besonders. Beaudines Aussehen erinnerte sie an einen kolumbianischen Drogendealer. Im Kino trugen die Bösewichter gerne Zopffrisuren und dunkle Anzüge. Vielleicht sollte sie ihn einfach festnehmen und hätte damit schon den Täter gefunden.

Nach einer Weile kehrten die beiden Polizisten zurück. Gina kam eine Idee, wie sie die von Rafe erhaltenen Hinweise einsetzen konnte, und so setzte sie die Befragung des Malers fort.

Er sei seit ein paar Tagen in der Stadt und wohne in einem Hotel ein paar Blocks von der Galerie entfernt, beantwortete Beaudine die Fragen der Polizistin. Valerie Morgan kenne er seit dem vergangenen Jahr. Damals habe sie einige Bilder von ihm in Denver gesehen, danach Kontakt aufgenommen und ihm diese Ausstellung ermöglicht.

„Wie war Ihr Verhältnis zu der Ermordeten?“, fragte Rafe, während er seine Notizen umblätterte.

Beaudine zögerte mit der Antwort, was Gina misstrauisch werden ließ.

„Sie hat die Ausstellung für mich arrangiert, aber wir kannten uns nur flüchtig“, sagte er schließlich.

„Aus dem Verzeichnis geht hervor, dass hier hundertfünfzig Ihrer Bilder ausgestellt werden“, hakte Gina nach. „Hat Mrs. Morgan diese Gemälde alle in Colorado gesehen?“

„Sie war vor einigen Wochen in Montana, um die Exponate für die Ausstellung auszusuchen“, erwiderte der Maler. „Die Bilder befinden sich sonst alle auf meiner Ranch.“

Er besaß also ein Anwesen in Montana. Es war bei den Schönen und Reichen in Mode gekommen, sich so etwas zuzulegen. Gina dachte kurz nach. „Wie weit liegt Ihre Ranch von der nächsten Stadt entfernt?“

„Es sind ungefähr siebzig Meilen“, antwortete Beaudine langsam. Er wusste nicht, worauf sie hinauswollte. Sie ließ ihn jedoch nicht lange im Unklaren.

„Dorthin führt doch bestimmt eine gut ausgebaute und asphaltierte Zufahrt?“

„Nein, es handelt sich um eine nicht geteerte Straße.“

„Wie lange war Mrs. Morgan in Montana?“

Beaudine überlegte einen Moment und meinte, es könne eine Woche gewesen sein.

„Ist sie jeden Tag die siebzig Meilen hin- und hergefahren?“

„Nein“, gab er zu. „Sie hat auf der Ranch gewohnt.“

„Sind sie verheiratet, Mr. Beaudine?“

„Wieso spielt das eine Rolle?“

Clover schaltete sich ein. „Sind Sie es oder sind Sie es nicht, nun antworten Sie schon.“

Er habe keine Ehefrau, antwortete der Maler. Auf der Ranch wohnten außer ihm der Verwalter, die Haushälterin und zwei Angestellte, die sich um die Tiere und die restlichen anfallenden Arbeiten kümmerten.

„Sie waren eine Woche mit Valerie Morgan praktisch allein und kannten sie nur flüchtig?“ In Clovers Stimme lag ein offensichtlicher Zweifel. Er beherrschte diese Verstellung par excellence und brachte sein Gegenüber damit oft aus dem Konzept.

Bei Beaudine verfehlte das zunächst die Wirkung. Sein Gesichtsausdruck blieb unbewegt und er schien sich auf die Schweigetaktik zu verlegen.

Der Polizist sah ihn forschend an. Seine Stimme klang unwirsch. „Ich warte.“

„Wie ich bereits sagte, kannte ich sie nicht näher.“

„Sie war ihre Mentorin“, hakte Gina nach. „Ihr gewaltsamer Tod erschüttert Sie nicht sonderlich.“

Der Maler sah ihr ins Gesicht, seine dunklen Augen waren kalt. „Wir müssen alle einmal sterben. Der Tod ist das einzig Gerechte im Leben.“

Diese Antwort ging Gina durch Mark und Bein. Was war das für ein selbstgerechter Chauvinist. Da hinten lag eine Frau in ihrem Blut, der er diese Ausstellung und damit den Erfolg verdankte. Aber das bedeutete ihm nichts. Stattdessen erging er sich in philosophischen Andeutungen.

Sie beschrieb ihm die völlig zerfetzte Leiche von Valerie Morgan und fragte, ob er sich vorstellen könne, wer das getan habe. Die Antwort bestand in einem leichten Kopfschütteln. Gina blickte zu ihrem Partner hinüber. Wenn dessen dunkle Haut sich eine Spur blasser färbte, stellte das ein untrügliches Zeichen für eine maßlose Verärgerung dar. Sie arbeiteten schon einige Jahre zusammen. Jeder kannte den anderen genau. Meist genügte ein kurzes Augenzwinkern zur Verständigung. Es war langsam Zeit, ihre Trümpfe auszuspielen.

Clover blätterte seinen Block um und gab vor, die Notizen eifrig zu studieren. Gina sah von der Seite nur ein leeres Blatt. Beaudine saß ihnen gegenüber. Aus seiner Position war das nicht erkennbar.

Clover hob den Blick und sah dem Maler direkt ins Gesicht. „Wir haben Fußabdrücke von Schuhen gefunden. Anscheinend ist der Täter in das Blut des Opfers getreten. Kein Wunder bei der Schweinerei.“

Rafe machte eine Pause, um seinen nachfolgenden Satz besser zur Geltung zu bringen.

„Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn unsere Spurensicherung Ihre Schuhe untersucht?“

Gina triumphierte still, ihr entging nicht das nervöse Flackern in Beaudines Augen. Er verlor zum ersten Mal die Fassung.

„Dazu haben Sie kein Recht“, stieß der Maler schroff hervor. „Ich habe mit dem Mord nichts zu tun.“

Mit einem Mal wirkte er unsicher, weit weniger herablassend und abweisend.

„Wir fangen einfach wieder von vorne an“, meinte Gina und warf ihrem Kollegen einen zufriedenen Seitenblick zu. Als eingespieltes Team würde sie ihre bewährte Taktik auch heute zum Erfolg führen. „Und jetzt erzählen Sie uns die Wahrheit.“

Beaudine seufzte und begann seine Ausführung. Bei Valeries Aufenthalt in Montana verbrachten sie sehr viel Zeit miteinander. Als Vorlage für seine Bilder fotografierte er reale Szenen aus dem Leben und der Landschaft. Sie ritten stundenlang zusammen aus. Ihr Interesse für ihn fand er sehr schmeichelhaft. Sie war eine erfolgreiche und selbstbewusste Frau, die ihr Leben in vollen Zügen genoss und für die Affären nichts Ungewöhnliches darstellten. Die Tatsache, einen Ehemann zu haben, hielt sie nicht davon ab. Sie waren zwei erwachsene Menschen, die neben ihrer beruflichen Zusammenarbeit eine gute Zeit zusammen hatten.

Sein Flug aus Montana war mit ziemlicher Verspätung angekommen, da die Zwischenlandung in Minneapolis unverhältnismäßig lange dauerte. Die geplante Maschine musste wegen eines Reifenschadens erst repariert werden.

Nach seiner Ankunft im Hotel rief er Valerie in der Galerie an. Wütend warf sie ihm vor, dass er sie mit Absicht versetzt habe. Deshalb gab es einen heftigen Wortwechsel am Telefon. Sie tue alles für ihn und seinen Erfolg. Er dagegen zeige ihr gegenüber wenig Wertschätzung, von Liebe gar nicht zu reden. Trotzdem vereinbarte er mit ihr, mit dem Taxi zu einer Aussprache hinüberzufahren. Schließlich fand am nächsten Tag die Abendvorstellung statt, ein Ereignis, das für sie beide große Bedeutung hatte. Es war wichtig, einen Eklat zu vermeiden.

Gina unterbrach seine Ausführungen. „Wie sind Sie denn in die Galerie hineingekommen? Der Haupteingang war doch schon vergittert.“

„Ich wusste von dem Ausgang auf der Nebenseite des Gebäudes.“ Von dort aus sollte er sie anrufen, damit sie die Fluchttür von innen öffnete. Als er dort ankam, sah er jedoch, dass diese Türe aufgebrochen war.

Es war die ewige Geschichte. Die Frauen suchten die große Liebe und den Männern genügte der Sex. Gina ließ diese Tatsache nicht ruhen, sie bohrte nach. „Warum waren Ihnen Mrs. Morgans Gefühle zuwider?“

Beaudine stand die Verärgerung über diese Frage deutlich ins Gesicht geschrieben. Er antwortete mit schneidender Stimme: „Ein indianisches Sprichwort lautet, der Tag und die Nacht können nicht zusammenleben. Unsere Welten sind zu verschieden.“

„Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Heute sind solche Vorteile längst überholt“, stieß Gina ungläubig hervor.

„Das ist vielleicht in der multikulturellen Gesellschaft in New York so, in der Sie leben. Aber in Montana hat man eine andere Vorstellung. Wer dagegen verstößt, wird massiv unter Druck gesetzt.“ Eine tiefe Verbitterung sprach aus seinen Worten. Er bestritt weiterhin vehement, mit Valerie Morgans Tod etwas zu tun zu haben. Sie sei schon tot gewesen, als er die Galerie betreten habe. Jede Hilfe kam zu spät.

„Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen? Das wäre Ihre Pflicht gewesen.“

„Ich wollte keinen Anlass zu irgendwelchen Skandalgeschichten geben. Schließlich war sie eine verheiratete Frau.“

„Das hätten Sie sich früher überlegen müssen“, meinte Gina sarkastisch. „Jetzt ist es ein bisschen spät für Reue. Hat Mr. Morgan von der Affäre zwischen Ihnen und seiner Frau gewusst?“

„Das entzieht sich meiner Kenntnis. Befragen Sie doch einfach Eric Morgan selbst.“ Beaudine schien langsam der Geduldsfaden zu reißen.

Gina entschloss sich, den Bogen nicht zu überspannen. Es gab im Moment keine konkreten Verdachtsmomente gegen ihn.

Rafe Clover nickte, er dachte genauso. Nach der Obduktion der Leiche und den kompletten Ergebnissen der Spurensicherung blieb immer noch Zeit für ein weiteres Gespräch.

„Verlassen Sie die Stadt bitte nicht, bis die Untersuchung abgeschlossen ist und die endgültigen Resultate vorliegen. Vielleicht benötigen wir eine weitere Aussage von Ihnen.“

Gina klappte ihren Block zu und erhob sich. Rafe tat es ihr gleich.

„Was ist mit den Schuhen wegen der Fußabdrücke?“, fragte Beaudine.

Detective Deluca setzte ihr bestes Pokerface auf. „Von welchen Abdrücken sprechen Sie?“

Wolfchild

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