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Kapitel 2

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Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichten Jake Nighthorse und Sam Larrimore die Rangerstation. Der Sheriff war froh, endlich absteigen zu können, und freute sich über den in der Luft liegenden Duft nach frisch gebrühtem Kaffee. Am Ende des anstrengenden Tages galt es, zuerst die ermüdeten Pferde mit Futter und Wasser zu versorgen und an einem geschützten Platz unterzubringen. Es folgte eine herzliche Begrüßung zwischen dem Ranger Jerry Walters und Sam. Die beiden hatten sich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.

Jerry hielt im Moment allein die Stellung auf der Station. Sein Kollege befand sich wegen dringender Familienangelegenheiten im Urlaub. Er wunderte sich, Nighthorse zusammen mit dem Sheriff anstatt in Begleitung einer Touristengruppe zu sehen. Sein Erstaunen vergrößerte sich, als die beiden von ihrem grausigen Fund erzählten.

„Ich sehe hier ab und zu Wölfe. An einen großen schwarzen kann ich mich aber nicht erinnern. Meistens höre ich sie heulen und sehe ihre Spuren. Richtig zu Gesicht bekommt man sie eher selten. Vielleicht ist es ein Einzelgänger aus dem Yellowstone. Dort gibt es größere Rudel.“

Jerrys leckerer Eintopf brodelte schon auf dem Herd und verbreitete einen appetitlichen Duft. Die beiden Männer waren hungrig und griffen ordentlich zu. Der Ranger freute sich, dass ihnen das Essen so gut schmeckte. Es war Ehrensache, danach beim Aufräumen zu helfen.

„Einen großen Krieger bei der Hausarbeit zu beobachten ist schon ein ganz besonderes Erlebnis“, neckte Walters den Indianer.

Er erntete einen belustigten Seitenblick. Nighthorse erklärte, von alters her sei die Frau der Chef im Tipi. Sie führte das Regiment, der Mann spielte eine untergeordnete Rolle.

Der Ranger lachte und erwiderte, bei den Weißen sei das auch seit Ewigkeiten so. Nur hier übernahmen die Frauen zudem außerhalb des Hauses die Führung. Allerdings verhielten sie sich dabei sehr geschickt und ließen die Männer glauben, sie seien der Boss.

„Sam, was meinst du denn dazu? Immerhin bist du hier der einzige verheiratete Mann!“

„Ich enthalte mich der Stimme“, erwiderte der trocken. „Fragt lieber meine Frau.“

Ein allgemeines Gelächter war die Folge. Jerry Walters war mit Leib und Seele Parkranger. Die Arbeit war seine Familie. Sam erinnerte sich nicht, ihn je mit einem weiblichen Wesen gesehen zu haben.

Anders lag die Sache bei Jake, dessen Frau – ihrerseits chinesischer Abstammung – vor einigen Jahren gestorben war. Er war immer noch ein attraktiver Mann mit einer jugendlichen Ausstrahlung. Manche Touristin warf ihm sicherlich eindeutige Blicke zu. Selbst Sams Frau Shari fand, Jake Nighthorse habe das gewisse Etwas. Es gab jedoch keine neue Partnerin an seiner Seite. In Montana herrschte allerdings auch Frauenmangel. Hier waren die Männer in der Überzahl.

Sam griff zum Bier und stieß mit beiden Männern an. Eine Bemerkung konnte er sich nicht verkneifen. „Mit allen Möglichkeiten, die das Internet in der heutigen Zeit bietet, müsstet doch selbst ihr eine Frau finden!“

Die Antwort von Jake und Jerry kam wie aus einem Munde. „Kein Empfang!“

Der Sheriff lachte herzhaft. Es war ein großes Problem in dieser menschenleeren Einöde. Oft waren Notrufe über Mobiltelefone eine überlebenswichtige Notwendigkeit. Leider stand häufig kein Netz zur Verfügung.

„Spaß beiseite, ihr zwei Junggesellen genießt lieber eure Freiheit. Dabei fällt mir ein, ich möchte meine Frau anrufen, damit sie sich keine Sorgen macht.“ Er wandte sich an Jerry. „Kann ich das Telefon benutzen oder muss ich Rauchsignale senden?“

Während Sam seinen Anruf tätigte, setzten sich Jerry und Jake vor den offenen Kamin, in dem ein wärmendes Feuer prasselte. Die Hütte war geräumig, rustikal und gemütlich eingerichtet. Ein paar Felle zur Verzierung an den Wänden und ein dicker Teppich sorgten für eine heimelige Atmosphäre.

Für Jerry Walters war es das Paradies. Er fühlte sich wohl und wollte nirgendwo anders sein. Sein Blick richtete sich ins Feuer. Es knisterte munter vor sich hin und verschlang gierig die großen Holzscheite. „Die Sache mit dem Wolf ist seltsam, oder?“

Ein Brummen von Nighthorse war die Antwort. Selbst ein alter Einzelgänger fand in der winterlichen Jahreszeit leicht zu erlegendes, von der anstrengenden Futtersuche geschwächtes Wild. Warum sollte er einen Mann töten? Wölfe mieden den Menschen normalerweise wie die Pest. Sie schienen instinktiv zu wissen, wer das gefährlichere Raubtier war.

„Selbst ein alter Wolf sucht sich eine lohnendere Beute“, ergänzte der Indianer. „Wer weiß, was wirklich dahintersteckt.“ Er unterrichtete Jerry über ihre anderen Vermutungen. Der Mann war wahrscheinlich ein Kurier, der verbotene Waren ins Reservat schmuggelte.

„Ihr denkt an Drogen?“

Jake nickte. Diese wogen weit weniger als Alkohol und waren damit viel einfacher zu transportieren. „Ein kräftiger Mann kann problemlos zehn bis fünfzehn Kilo tragen. Das ist eine ordentliche Menge, um sich die Friedenspfeife zu stopfen oder die Nase zu pudern.“

Sam kam zurück und bestellte schöne Grüße von Shari. Den letzten Fetzen des Gespräches aufschnappend, meinte er, Jake solle seine Beziehungen ins Reservat ausspielen, um Näheres herauszufinden.

„Leider ist das nicht so einfach. Da ich nicht in der Reservation lebe, bin ich ein Außenseiter, dem man nicht alles auf die Nase bindet.“ Viele Indianer betrachteten die in der Welt der Weißen lebenden Stammesbrüder als Abtrünnige und bezeichneten sie verächtlich als weiße Indianer. Jake glaubte nicht, dort irgendwelche Informationen zu bekommen.

„Im Reservat übt doch das Büro für indianische Angelegenheiten die Polizeigewalt aus. Kennst du den zuständigen Mann?“, fragte der Sheriff.

Vor einigen Jahren sei das ein Alibi-Indianer aus Washington gewesen.

„Aber dieser Typ muss doch daran interessiert sein, Drogenhandel in der Reservation zu unterbinden.“

„Du hast recht. Aber auch diese Leute sind bestechlich. Denke an die Tribal Police. Sie wurde abgeschafft, weil sie zum Teil selbst in den Schmuggel verwickelt war. Von den damaligen Drahtziehern leben sicherlich noch einige im Reservat.“

„Für diese Personen wäre es aber gefährlich, wieder mit dem Handel anzufangen“, warf Jerry ein. „Vielleicht möchte sich hier jemand ganz Neues eine goldene Nase verdienen.“

Sam meinte, man müsse die Identifizierung der Leiche abwarten. Eventuell führte das zu neuen Rückschlüssen. Alles andere waren nur reine Vermutungen.

Auf der Polizeiwache ging es zu wie im Taubenschlag. Der Lärmpegel war fast unerträglich. Die telefonierenden Personen versuchten, die um sich herum stattfindenden Gespräche lautstark zu übertönen.

Einige Beamte hätte man bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße für Landstreicher halten können. Informationen sammeln ging erheblich leichter, wenn man nicht gleich als Polizist erkannt wurde. Undercover-Einsätze stellten teilweise oscarreife Anforderungen an die Schauspielkunst der Officers. Es war mitunter ein sehr schmutziges Geschäft. Die Beamten bewegten sich oft am Rande der Legalität. So mancher erlag den Verlockungen des Geldes und rutschte in die Kriminalität ab. Das teure Leben in der Großstadt finanzierte sich schwierig mit einem niedrigen Polizistengehalt. Wenn man eine Familie ernähren oder das College für die Kinder bezahlen musste, kamen ein paar schnell nebenbei verdiente Dollars nicht ungelegen. Das Geld saß bei den Kriminellen locker. Sie spürten förmlich, welcher Cop bestechlich war. Eine interne Abteilung untersuchte diese Vergehen. Die Dunkelziffer der ungeklärten Korruptionsfälle war hoch. Gelangten spektakuläre Fälle an die Öffentlichkeit, sorgte das für großen Wirbel und schadete dem Ansehen der Polizei. Aber Cops waren letzten Endes auch nur normale Menschen.

Gina Deluca saß an ihrem Schreibtisch, den Kopf in beide Hände gestützt. Es pochte wie wild darin und sie hatte rasende Kopfschmerzen.

Karen van Horn, die Assistentin von Ginas Chef Stuart Neville, bog um die Ecke und hielt ein Glas in der Hand. „Es sieht aus, als könntest du eine Kopfschmerztablette vertragen“, sagte sie mitleidig lächelnd.

Gina sah dankbar zu ihr auf. Karen wusste stets, was gerade gebraucht wurde.

Rafe hatte sich einen großen Kaffee geholt, den er soeben genüsslich austrank. Wie immer sah er frisch und wie aus dem Ei gepellt aus. Ein entsprechendes Kompliment von Karen kommentierte er mit einem breiten Grinsen.

„Wenn ihr beiden ausgetrunken habt, lässt der Chef in sein Büro bitten“, meinte die Assistentin. „Er möchte euch wegen des Mordfalles an der Galeriebesitzerin sprechen.“ Sie fügte hinzu, Mr. Neville habe schon Anrufe von einigen Honoratioren der Stadt erhalten. „Offensichtlich hatte Valerie Morgan Freunde in höchsten Kreisen.“

„Das nützt ihr jetzt auch nichts mehr“, brummte Rafe missmutig. Wenn Neville unter Druck gesetzt wurde, war er noch unausstehlicher als sonst. Er bestand auf sofortigen Ergebnissen. Sie hatten aber gerade erst mit den Ermittlungen begonnen und praktisch noch nichts herausgefunden. Rafe blickte zu Gina hinüber. Sie sah übernächtigt aus, wahrscheinlich hatte sie zu viel über die Scheidung gegrübelt. In Karen van Horns Augen stand die gleiche Besorgnis. Rafe rückte seine Krawatte zurecht, bevor er aufstand. „Es hilft nichts, lass uns in die Höhle des Löwen gehen“, meinte er sarkastisch.

Karen van Horn musste lachen. Kleine Grübchen zeichneten sich dabei auf ihren Wangen ab. „Ich drücke euch die Daumen. Es wird schon nicht so schlimm werden.“

Clovers Befürchtungen trafen jedoch voll ins Schwarze. Neville war äußerst übel gelaunt und legte mit einem Schwall an Vorwürfen los. Warum gab es keine Ergebnisse? Was sollte er der Presse sagen? Sein Telefon klingele unaufhörlich.

Gina Deluca ergriff das Wort und setzte zu ihrer Verteidigung an. Es war wichtig, absolut sachlich zu bleiben, um ihren Chef nicht noch mehr in Rage zu bringen. „Nach Begutachtung des Tatortes und Befragung der anwesenden Personen haben sich leider keine konkreten Verdachtsmomente ergeben. Allerdings war der Maler, dessen Bilder ausgestellt wurden, nach der Ermordung des Opfers in der Galerie. Jedoch versicherte er uns glaubhaft, nichts mit der Tat zu tun zu haben. Er rief die Polizei nicht, weil er befürchtete, seine Affäre mit Mrs. Morgan könnte dadurch bekannt werden.“

„Der Ehemann ist selbstverständlich der Nächste auf unserer Liste“, meldete sich Clover zu Wort.

„Er ist Musiker“, ergänzte Gina. „Bisher haben wir noch nicht mit ihm gesprochen. Aber wir wissen, wo er heute Abend auftritt. Clover und ich werden ihn dort befragen.“

Die diplomatische Vorgehensweise hatte ihrem Chef den Wind aus den Segeln genommen und ihn vorläufig zufrieden gestellt. Ein eifersüchtiger Ehemann als Täter, das erschien ihm sehr plausibel. „Ich möchte sofort unterrichtet werden, sobald der Obduktionsbericht vorliegt. Vielleicht lassen sich daraus neue Erkenntnisse gewinnen.“

Gina und Rafe warfen sich einen kurzen Blick zu. Das war die normale Vorgehensweise. Neville tat so, als habe er das Rad neu erfunden.

„Ein sehr guter Hinweis“, meinte Rafe mit gespielt ernster Stimme.

Ihr Vorgesetzter fasste das als anerkennende Zustimmung auf und verabschiedete seine Untergebenen.

Sobald er die Tür geschlossen hatte, pfiff Rafe anerkennend durch die Zähne. „Wie hast du nur so schnell herausgefunden, wo der Ehemann heute auftritt?“

„Habe ich gar nicht, aber das mache ich halt noch. Ich muss unserem Chef ja nicht alles haarklein erzählen, oder?“

Rafe freute sich darüber. Das war die alte Gina, immer für eine Überraschung gut.

Karen van Horn hörte die Unterhaltung der beiden an ihrem Schreibtisch im Vorzimmer von Neville. Scherzhaft erhob sie den Zeigefinger. „Mein Schweigen kostet mindestens eine Jumbo-Margarita.“

„Kein Problem“, erwiderte Rafe lachend. „Das ist mir auch zwei Drinks wert.“

Den Rest des Vormittags verbrachte Gina mit Nachforschungen darüber, wo Eric Morgan am Abend spielte. Das gestaltete sich schwierig. Außer seinem Namen wusste sie nichts über ihn. Sie hatte keine Ahnung, welche Art Musik er machte. War er Solokünstler oder spielte er in einer Band? Das Internet verriet ihr schließlich, er war Pianist in einer Gruppe, die Social Life hieß. Für heute Abend stand ein Auftritt in einem Club in der zweiunddreißigsten Straße auf dem Plan.

„Schauen wir nach, was Mr. Morgan spielt“, meinte Rafe. „Jeder Club hat heutzutage eine Website mit den Veranstaltungen.“ Er stellte erfreut fest, dass es sich um Jazzmusik handelte. „Eigentlich müsste er schwarz sein. Wir haben nämlich den richtigen Rhythmus.“

Gina fand, das sei ein rassistisches Vorurteil gegenüber den Weißen. Rafe konterte, es liege einfach in den Genen und habe nichts mit Rassismus zu tun.

„Was können Weiße deiner Meinung nach besser?“

„Ihr Weißbrote seid in nichts besser als wir“, sagte Rafe mit einem breiten Grinsen.

„Ein schlechter Versuch, mich auf den Arm zu nehmen.“ Sie wusste, ihr Kollege machte Scherze. Manchmal gab es im Revier Vorurteile gegenüber anderen Hautfarben. New York war eine richtige Multikultigesellschaft. Dieser Umgang war ganz normal. Gina wurde ab und zu wegen ihrer italienischen Abstammung geneckt. Das südländische Aussehen mit dunklen Haaren, bronzefarbenem Teint und kastanienbraunen Augen war das Erbe ihrer Mutter.

Clover kratzte sich nachdenklich am Kinn. Er würde seiner Frau auch heute sagen müssen, dass er nicht zum Abendessen heimkam.

Gina erriet seinen Gedanken. „Du kannst dafür den Müll wegbringen, um Pluspunkte zu sammeln.“

„Da kennst du meine Frau aber schlecht. Mindestens ein Paar neue Schuhe müssen dafür schon herausspringen.“

„Du tust mir wirklich leid, du armer geplagter Ehemann“, sagte Gina lachend. „Beeilen wir uns, damit du rechtzeitig zu Hause bist und dir den Ärger sparen kannst.“

Der Club sah schon von außen heruntergekommen aus. Nach dem Betreten verstärkte sich der Eindruck, dass dieser Ort eindeutig bessere Tage gesehen hatte. Die Einrichtung wirkte abgenutzt. Alles war schmuddelig, und selbst der Barkeeper hätte eine Dusche vertragen können. Die wenigen anwesenden Gäste waren schnell gezählt. Von den Musikern fehlte allerdings jede Spur.

„Was darf ich Ihnen für Drinks anbieten?“, fragte der Mann hinter dem Tresen mürrisch. Er wurde noch unfreundlicher, als Gina und ihr Kollege die Ausweise zückten. Mit Polizisten war kein Geld zu verdienen. Sie tranken nichts und stellten zu viele Fragen.

Eric Morgan und seine Band seien schon da und würden gleich auftreten, brummelte der Barkeeper grantig. Dabei öffnete er den Mund nur so weit, dass man ihn gerade verstehen konnte.

Gina bestellte sich lieber nichts zu trinken. Das Glas hätte man vorher desinfizieren müssen. Ihr Partner schien die gleichen Gedanken zu hegen.

Rafe sah sich um. Langsam füllte sich der Club mit ein paar Menschen. Für einen Musiker musste es sehr frustrierend sein, wenn kein Publikum zum Auftritt kam. Es gab sogar richtigen Applaus, als die vier Bandmitglieder die Bühne betraten. Rafe schürzte die Lippen. Alles Weiße, da würde wohl keine richtige Jazzmusik dabei herauskommen.

Die Musiker nahmen ihre Instrumente zur Hand. Der Klavierspieler setzte sich auf den Stuhl und machte ein paar Fingerübungen. Eric Morgan war höchstens Ende dreißig, mit dunklen Locken und modischem Vollbart. Sein Aussehen erinnerte ein bisschen an die Folksänger aus den Siebzigern. Alles in allem ein sehr gut aussehender Mann. Er hob demonstrativ die Arme, dann glitten seine schlanken Hände über die Tasten. Der Rest der Band setzte ein, und das Publikum bewegte sich im Rhythmus der Musik.

Gina sah zu Rafe hinüber. Sein verdutzter Gesichtsausdruck amüsierte sie. Es schien ihn sehr zu überraschen, wie gut diese Band Jazz spielte. Er fing sogar an, den Takt mit dem Fuß mitzuwippen. Möglicherweise konnte sie ihm später das Geständnis entlocken, dass er sich gründlich geirrt hatte. Sie selbst schwärmte zwar nicht besonders für diesen Musikstil, aber die vier beherrschten ihre Instrumente technisch perfekt. Es war wirklich ein Genuss, ihnen zuzuhören. Eric Morgan war ein ausgezeichneter Pianist. Er spielte mit Hingabe, und schon nach einer kurzen Weile standen kleine Schweißperlen auf seiner Stirn. Das Publikum lag vom Alter her bei fünfzig aufwärts. Dieser Club stand bei jüngeren Leuten wohl nicht allzu hoch im Kurs. Auch Rafe schien es richtig leidzutun, als der Saxophonist eine halbstündige Pause ankündigte.

Als sich Morgan der Bartheke näherte, gingen Gina und Rafe auf ihn zu und präsentierten ihre Ausweise. Das Auftauchen der Polizei schien den Musiker nicht besonders in Erstaunen zu versetzen.

Gina musterte den Pianisten. Aus der Nähe war er noch attraktiver. Das hellblaue Hemd und die enge Jeans unterstrichen seine sportliche Figur. So sah jemand aus, der regelmäßig ein Fitnessstudio besuchte. Die dunklen Wimpern betonten seine auffällig grünen Augen. Sie erinnerte sich an die Legende, grünäugige Menschen seien besonders eifersüchtig.

„Mein Name ist Detective Deluca. Das ist mein Kollege Clover.“ Sie spulte routinemäßig ihren Standardsatz herunter. „Wir haben einige Fragen zum Tod Ihrer Frau.“

„Das habe ich mir schon gedacht“, antwortete Morgan lakonisch. „Sie fragen sich sicher, warum ich heute hier spiele, obwohl Valerie gerade erst ermordet wurde.“ Dabei blickte er die beiden Beamten herausfordernd an.

„Sagen Sie es uns“, forderte Gina ihn auf.

Ein abgesagter Auftritt mache seine Frau auch nicht wieder lebendig. Außerdem sei die Musik eine gute Ablenkung von dieser fürchterlichen Geschichte.

„Wo haben Sie sich am Abend des Mordes aufgehalten?“, fragte Rafe.

Er sei in der gemeinsamen Wohnung gewesen und habe ferngesehen. Später sei er dann müde geworden und gegen dreiundzwanzig Uhr zu Bett gegangen.

„Haben Sie sich denn nicht gewundert, dass Ihre Frau nicht nach Hause gekommen ist?“

Eric Morgan zögerte kurz mit der Antwort. „Wenn Valerie eine wichtige Ausstellung vorbereitete, kam sie oft sehr spät. Es war nichts Außergewöhnliches, deshalb habe ich mir keine Gedanken gemacht.“

Aber als seine Frau am nächsten Morgen immer noch nicht da gewesen sei, hätte er nicht spätestens da einen Grund zur Beunruhigung gehabt?

„Nun, ich wusste, dass dieser…dieser indianische Pinselkleckser in der Stadt ist, den meine Frau so ins Herz geschlossen hat.“

Gina war erstaunt. Morgan kam gleich richtig auf den Punkt und lenkte dadurch den Verdacht wissentlich auf sich selbst.

„Ich habe Valerie nicht umgebracht. Ich habe meine Frau geliebt, trotz des Altersunterschieds und ihrer Affäre mit Beaudine. Wahrscheinlich hat er sich an sie herangemacht, damit sie ihm zu einer Ausstellung verhilft. Wenn ich jemanden hätte umbringen wollen, dann wohl eher den Indianer und nicht meine Frau.“

„Sie sind nicht gut auf ihn zu sprechen“, sagte Gina verständnisvoll.

„Fragen Sie doch lieber diesen Ureinwohner. Vielleicht hat er sich mit Valerie gestritten und konnte sein hitziges Temperament nicht im Zaum halten.“ Seine Frau habe ihm von mehreren Wutausbrüchen von Beaudine erzählt. In Montana sei er sogar wegen verschiedener Delikte polizeilich aktenkundig. Die Einzelheiten müssten bei den dortigen Behörden herauszufinden sein, vorausgesetzt es existierten schriftliche Aufzeichnungen. Auch die Cowboys sollten inzwischen Lesen und Schreiben gelernt haben.

„Danke für den Hinweis“, antwortete Gina sachlich. „Wir werden das auf jeden Fall überprüfen. Bitte halten Sie sich für ein weiteres Gespräch zur Verfügung. Im Moment haben wir jedoch keine Fragen mehr.“ Zum Abschied fügte sie noch hinzu: „Ich bin übrigens kein Jazzfan, aber Sie und Ihre Band sind wirklich gut.“

Morgans grüne Augen leuchteten, und er schenkte Gina ein Lächeln.

Er war ein schöner Mann mit einer sympathischen Ausstrahlung. Gina fragte sich, was Valerie Morgan bloß in diesem finster blickenden Indianer gesehen hatte. Frauen waren wirklich schwer zu verstehen. Manchmal schien es unbegreiflich, nach welchen Regeln die gegenseitige Anziehung funktionierte.

Draußen vor dem Club blieben Gina und Rafe noch eine Weile stehen. Rafe fand Eric Morgans Musik gut, und er hielt ihn für einen offenen Menschen, der allerdings kein Alibi für die Mordnacht hatte. Ihr Chef würde den Finger in diese Wunde legen, denn er brauchte so schnell wie möglich einen Schuldigen.

„Wir müssen unbedingt die finanzielle Situation von Morgan prüfen“, ließ Clover verlauten. „Nämlich ob und wie viel er erbt. Geld ist immer ein guter Grund für einen Mord.“

Gina konterte, sie müssten Jay Beaudine aber auch noch einmal genauer unter die Lupe nehmen.

„Diesen Künstler magst du überhaupt nicht, oder?“, neckte Rafe sie. „Ich habe schon bemerkt, dass der traurige Ehemann mit den grünen Augen bessere Karten bei dir hat.“

Gina seufzte. Es war wirklich unmöglich, vor Rafe etwas zu verbergen. Deshalb war er auch ein so guter Polizist. „Wenn du das Neville erzählst, wird er mich suspendieren.“

Clover hob abwehrend die Hände und meinte grinsend, so etwas würde er nie tun. Sie mussten sich sowieso noch eine Strategie für das nächste Gespräch mit ihrem Chef zurechtlegen.

Langsam war es Zeit, den Arbeitstag ausklingen zu lassen. Gina überließ Rafe den Dienstwagen und winkte sich ein Taxi heran. Als sie losfuhren, folgte ihnen ein roter Wagen von der gegenüberliegenden Seite.

Auf der Fahrt grübelte Gina über den Fall nach. Gab es doch einen Grund für Beaudine, Valerie Morgan zu ermorden? Sie hatte in ihrem Beruf schon die Erfahrung gemacht, dass Menschen aus einer Laune heraus umgebracht wurden. Es gab einfach zu viel Verrückte und Psychopathen.

Sie wurde aus ihren Gedanken herausgerissen, als das Taxi vor ihrem Apartmenthaus zum Stehen kam. Sie ließ sich noch einen Beleg ausstellen, um die Fahrt am nächsten Tag abzurechnen. Beim Aussteigen fiel ihr der leere Kühlschrank ein. Der kleine Supermarkt an der Ecke war vierundzwanzig Stunden geöffnet und bot alles, was sie brauchte. Sie kaufte zwei Flaschen Rotwein, frisches Brot, Schinken und eine Tüte Milch. Der freundliche Verkäufer verstaute die Sachen in einer braunen Papiertüte. Gina klemmte sich die Einkäufe unter den Arm und verließ das Geschäft. Im Augenblick war sie todmüde, aber wenn sie später im Bett lag, konnte sie nicht schlafen. In der Nacht kamen immer die Dämonen.

An der Fußgängerampel stand das Signal auf Rot. Es war kein Auto in Sicht, deshalb schickte sie sich an, die Straße zu überqueren. Wie aus dem Nichts schoss plötzlich ein roter Wagen heran. Gina gelang es gerade noch, zur Seite zu springen. Sie schlug hart auf dem Boden auf. Die Tüte fiel auf den Asphalt und es ertönte ein klirrendes Geräusch.

„Verdammter Idiot“, schrie sie laut.

Sie war selbst schuld, da sie die Straße nicht hätte überqueren dürfen. Der Fahrer des roten Wagens war trotzdem erheblich zu schnell gefahren. Stöhnend rappelte sie sich hoch und spürte einen stechenden Schmerz im linken Knie. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie sammelte humpelnd die Tüte auf. Eine Flasche war zu Bruch gegangen, die andere wie durch ein Wunder heil geblieben.

Wolfchild

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