Читать книгу Theorie U - Von der Zukunft her führen - C. Otto Scharmer - Страница 39
Der Ruf und die Krise unserer Zeit
ОглавлениеDie Krise unserer Zeit ist nicht einfach die Krise einer einzelnen Führungskraft, eines Landes oder einer Weltregion. Die Krise manifestiert sich in allen Ländern in Form einer dreifachen Kluft: der ökologischen Kluft, also der Trennung zwischen Selbst und Natur; der sozialen Kluft, also der Trennung zwischen Selbst und anderen; und der spirituellen Kluft, also der Trennung zwischen Selbst und Selbst. Die Krise offenbart das Sterben einer alten zugrunde liegenden sozialen Struktur und einer bestimmten Art des Denkens, einer überkommenen Art der Institutionalisierung und des gemeinsamen Hervorbringens von sozialen Formen.
Wir alle kennen die grundlegenden Fakten und Zahlen, die diesen Punkt belegen:
•Die zehn wärmsten Jahre seit Beginn der Messungen, mit Ausnahme von 1998, liegen in diesem Jahrtausend (Horgan 2015). Die Jahre seit 2000 gehören fast sämtlich zu den wärmsten seit 1880. Das Jahr 2015 ist – zum Zeitpunkt dieser Niederschrift – das wahrscheinlich heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen (Bromwich 2015). Obwohl überwältigende wissenschaftliche und empirische Nachweise dafür vorliegen, dass unsere ökonomischen Aktivitäten den Klimawandel beschleunigen, machen wir, als Mitglieder eines globalen Systems, bis dato weiter wie bisher, als ob sich praktisch nichts verändert hätte.
•Wir haben eine florierende globale Wirtschaft geschaffen, in der gleichzeitig immer noch 850 Millionen Menschen hungern und fast 1 Milliarde Menschen in Armut leben (mit weniger als 1,90 Dollar pro Tag).10
•Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich wird in einer Oxfam-Studie belegt, die zeigt, dass die 62 reichsten Milliardäre genauso viel Vermögen besitzen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Wie die Studie außerdem berichtet, besitzt das reichste Prozent der Weltbevölkerung mehr als die restlichen 99 Prozent zusammen (2016).11
•Im Jahr 2013 war selbstschädigendes Verhalten in allen Industrieländern zur häufigsten Todesursache bei Menschen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren geworden, noch vor allen Krebsarten und Herzerkrankungen.12
•Wir setzen beträchtliche Ressourcen für unsere Landwirtschaft und unsere Nahrungssysteme ein für eine nicht nachhaltige Massenproduktion von qualitativ schlechtem Essen (Junkfood), das unseren Körper und unsere Umwelt vergiftet. Eine schlechte Ernährung trägt maßgeblich zu den Krankheiten und gesundheitlichen Problemen in unserer Gesellschaft bei.13
•Fast die Hälfte der Todesfälle (45 Prozent) bei Kindern unter 5 Jahren – 3,6 Millionen Kinder pro Jahr – hat vermeidbare Ursachen.14
•Seit 1900 sind ca. 75 Prozent der Kultur- und Nutzpflanzenvielfalt in der Landwirtschaft verloren gegangen.15
Quer durch alle Lebensbereiche produzieren wir gemeinsam Ergebnisse, die niemand will. Und dennoch sehen sich die zentralen Entscheidungsträger nicht in der Lage, den Verlauf der Dinge in eine sinnvollere Richtung zu lenken. Sie fühlen sich ebenso gefangen in dem, was zuweilen aussieht wie ein Wettrennen gegen die Wand, wie wir selbst. Das gleiche Problem betrifft das massive institutionelle Versagen: Wir haben noch nicht gelernt, wie wir unsere jahrhundertealten kollektiven Muster des Denkens, Sprechens und der Institutionalisierung so umschmelzen und umformen können, dass sie den neuen Realitäten entsprechen und angemessen sind.
Die sozialen Strukturen, die wir derzeit aufbrechen und einstürzen sehen – lokal, regional und global –, entstammen zwei Quellen: den vormodernen traditionellen und den modernen industriellen Strukturen oder Formen des Denkens und Funktionierens. Beide waren in der Vergangenheit angemessen und sinnvoll. Aber in unserer jetzigen Zeit lösen sich diese beiden Grundlagen auf und zerfallen.
Das Aufkommen fundamentalistischer Bewegungen sowohl in westlichen als auch nicht westlichen Ländern ist ein Symptom dafür, dass es eines tiefer liegenden Transformationsprozesses bedarf. Fundamentalisten sagen: »Seht her, der moderne westliche Materialismus funktioniert einfach nicht. Er beraubt uns unserer Würde, unserer Lebendigkeit und unserer Seele. Lasst uns zur alten Ordnung zurückkehren!«
Diese Reaktion ist insofern verständlich, als sie sich auf zwei Wesensmerkmale des heutigen sozialen Niedergangs bezieht, die der Friedensforscher Johan Galtung Anomie nennt, den Verlust von Normen und Werten, und Atomie, den Zusammenbruch sozialer Strukturen.16 Der hieraus resultierende Verlust an Kultur und Struktur führt zu Ausbrüchen von Gewalt, Hass, Terrorismus und Bürgerkrieg, in Kombination mit teilweise selbst produzierten Naturkatastrophen sowohl auf der Süd- als auch der Nordhalbkugel.
Wie können wir mit diesen Brüchen umgehen? Ich sehe, dass sich eine neue Form von Anwesendwerden und von Gegenwärtigkeit erhebt, die sich spontan durch kleine Gruppen und Netzwerke zu entwickeln beginnt. Es ist eine andere Qualität der Aufmerksamkeit und der Verbindung untereinander, eine neue Art des miteinander und mit dem, was entstehen will, Anwesend- und Präsentseins. Das nimmt vielerlei Formen an – wir sehen es an den Freiwilligen in Europa, die zusammenkommen, um den eintreffenden Flüchtlingsstrom zu unterstützen, oder an lokalen Basisbewegungen, die kulturübergreifend zusammenarbeiten, um zur Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen und des Pariser Klimaabkommens (COP21) beizutragen. Wenn Gruppen beginnen, von einer realen Zukunftsmöglichkeit her zu funktionieren, dann erschließen sich andere soziale Felder als diejenigen, die sie normalerweise erleben. Dies wird sichtbar durch eine veränderte Qualität des Denkens, Sprechens und des gemeinsamen Handelns. Wenn dieser Übergang geschieht, verbinden sich die Menschen mit einer tieferen Quelle der Kreativität und des Wissens und lassen die Muster der Vergangenheit hinter sich. Sie treten in ihr wirkliches Kraftzentrum ein, in die Kraft des authentischen Selbst. Ich nenne diesen Vorgang eine Verlagerung in ein anderes soziales Feld, da dieser Begriff die Gesamtheit und den Typ der Beziehungen kennzeichnet, durch den die Teilnehmenden eines gegebenen Systems sich miteinander verbinden, denken, sprechen und handeln.
Wenn eine Gruppe es schafft, sich einmal in die »Zone« gemeinsamen schöpferischen Handelns zu begeben, wird das zweite Mal gleich einfacher. Es ist, als ob eine unsichtbare, aber nachhaltige gemeinsame Verbindung oder Prägung entstanden wäre. Sie bleibt sogar meistens dann erhalten, wenn einige neue Teilnehmende in die Gruppe kommen. Die folgenden Kapitel beschreiben, was passiert, wenn eine solche Verlagerung oder Umstülpung des sozialen Feldes stattfindet, und wie diese sich manifestiert.
Die Umstülpung eines sozialen Feldes ist mehr als ein bemerkenswerter Augenblick. Wenn sie stattfindet, zieht sie in der Regel eine Reihe von Merkmalen nach sich: die Zunahme der individuellen Energie, die Steigerung der Aufmerksamkeit, die Vertiefung der Authentizität und Präsenz, ein klareres Richtungsverständnis sowie überdurchschnittliche professionelle und persönliche Ergebnisse und Errungenschaften.
Während die Krisendebatte unserer Zeit sich immer mehr verbreitet, werden die Stimmen der Protagonisten dreier unterschiedlicher Positionen hörbar:
•Die der Aktivisten der Retrobewegung oder der Ewiggestrigen: »Lasst uns zur Ordnung der Vergangenheit zurückkehren.« Einige der Rückschrittbewegungen haben eine fundamentalistische Neigung, aber nicht alle. Diese Position geht häufig mit dem Wiederbeleben alter Religionsformen oder glaubensbasierter Spiritualität einher.
•Die der Verteidiger des Status quo: »Macht weiter so.« Der Schwerpunkt liegt auf »mehr desselben«, indem man sich durchwurschtelt: alter Wein in neuen Schläuchen. Diese Position hat ihre Wurzeln im Hauptstrom des zeitgenössischen wissenschaftlichen Materialismus.
•Die der Protagonisten einer transformativen Veränderung: »Wie können wir aus den Mustern der Vergangenheit aussteigen, uns auf unsere höchste zukünftige Möglichkeit einstimmen – und anfangen, von diesem Ort aus zu handeln?«
Ich persönlich bin davon überzeugt, dass unsere aktuelle globale Situation nach einer Veränderung der dritten Position verlangt, die in vielerlei Hinsicht bereits unterwegs ist. Wir alle sind gefordert, uns von dem abgetragenen Körper institutionalisierten kollektiven Verhaltens zu lösen, um das Anwesendwerden unserer höchsten Zukunftsmöglichkeit zu erschließen.
Das Anliegen dieses Buches sowie der Forschung und der Projekte, die zu ihm geführt haben, ist es, eine soziale Technik für transformationale Veränderung zu erarbeiten, die es denen, die Veränderung vorantreiben, und den Führungskräften in allen Bereichen der Gesellschaft, einschließlich unseres persönlichen Lebens, erlaubt, tiefere Felder der gemeinsamen Wahrnehmung, der gemeinsamen Willensbildung, der gemeinsamen Gegenwärtigung und des gemeinsamen Experimentierens zu erschließen. Damit diese Art der Führungsarbeit geleistet werden kann, darf der Blick nicht nur nach außen, sondern muss auch nach innen gelenkt werden.
Übrigens, wenn ich den Begriff Führung verwende, meine ich damit alle Menschen, die sich für die Schaffung von Veränderung oder die Gestaltung der Zukunft einsetzen, unabhängig von ihrer formalen Position in institutionellen Strukturen. Dieses Buch habe ich geschrieben für Veränderungsaktivisten und Führungskräfte in Unternehmen, Regierungen, gemeinnützigen Organisationen und Gemeinden. Ich war und bin oft tief beeindruckt, wenn ich beobachte, wie Innovatoren und hervorragende Praktiker auf der Basis eines tiefer liegenden Prozesses tätig werden, eines Prozesses, den ich den U-Prozess nenne. Dieser Prozess zieht uns in eine entstehende Möglichkeit hinein – zieht uns gewissermaßen in die entstehende Zukunft – und erlaubt uns, von diesem anderen Zustand aus zu handeln, anstatt lediglich zu reflektieren und uns auf vergangene Erfahrungen zu beziehen. Aber um auf diese entstehenden Möglichkeiten zugreifen zu können, müssen wir uns zunächst eines blinden Flecks in der Führung und im Alltag bewusst werden.