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Der archimedische Punkt
ОглавлениеWo liegt der strategische Hebelpunkt, der es ermöglicht, die Struktur eines sozialen Feldes umzuschmelzen, umzustülpen? Wo liegt der archimedische Punkt – die Bedingung der Möglichkeit –, durch den sich das globale soziale Feld verändern ließe?
Für meinen Vater war das sonnenklar. Wo setzt man seinen »Hebel« an? An der Erde. Man konzentriert sich darauf, kontinuierlich die Qualität der Humusschicht zu verbessern. Jeden Tag. Der fruchtbare Humus ist eine dünne Schicht lebender Substanzen, die sich durch die ineinander verschlungene Verwebung zweier Welten entwickelt: des sichtbaren Reichs an der Erdoberfläche und des unsichtbaren Terrains darunter. Die Begriffe Kultur und Kultivierung haben ihren Ursprung in der Ausübung genau dieser Tätigkeit. Landwirte kultivieren den Humus, indem sie die Verbindung zwischen den beiden Welten vertiefen.
Wo liegt der Hebelpunkt im Falle des sozialen Feldes? An genau der gleichen Stelle: an der Schnittstelle und der Verbindung zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Schicht des sozialen Feldes. Der fruchtbare »Humus« der Organisation entsteht dann, wenn diese beiden Welten sich begegnen, verbinden und miteinander verflechten.
Was entspricht dann, im Falle der sozialen Felder, der sichtbaren Welt? Das ist, was wir tun, sagen, spüren und sehen. Das soziale Handeln, wie es von einer Kamera eingefangen und dokumentiert werden kann. Und was ist die unsichtbare Schicht des sozialen Werdens? Es ist die innere Verfassung, von der aus die Teilnehmenden einer Situation handeln. Es ist die entspringende Quelle all dessen, was wir tun, sagen, spüren und sehen. Nach Bill O’Brien ist dies der entscheidende Punkt, auf den es für jede Initiative, jede Führungskraft am meisten ankommt. Vorausgesetzt, man will eine Zukunft gestalten, die sich von der Vergangenheit unterscheidet. Das ist der blinde Fleck oder innere Ort, an dem unsere Aufmerksamkeit und unsere Intention generiert werden und in die Welt kommen.
In Teil I dieses Buches, »Begegnung mit dem blinden Fleck«, werde ich argumentieren, dass wir über die Ebenen, Systeme und Sektoren hinweg letztlich alle mit dem gleichen Problem konfrontiert werden: Die Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen, erfordern es, uns des inneren Standortes, von dem aus wir agieren, bewusst zu werden und ihn zu verändern. Konsequenterweise müssen wir lernen, gegenüber beiden Dimensionen gleichzeitig aufmerksam zu werden:
•gegenüber dem, was wir sagen, sehen, spüren und tun (unserer sichtbaren Dimension), und
•gegenüber dem inneren Ort, von dem aus wir wirken (unserem unsichtbaren Terrain, von dem her unsere Aufmerksamkeit und unsere Intention in die Welt kommen).
Ich nenne den vermittelnden Bereich, der diese beiden Dimensionen miteinander verbindet, die Feldstruktur der Aufmerksamkeit. Sie ist das funktionale Äquivalent des Humus in der Landwirtschaft, indem sie beide Dimensionen des Feldes verknüpft.
Die gemeinsame Gegenwärtigung unserer Feldstruktur der Aufmerksamkeit – das heißt, das gemeinsame Gewahrwerden des inneren Ortes, von dem aus wir agieren – könnte der zentrale Hebelpunkt sein, durch den das soziale Feld in unserem Jahrhundert verwandelt werden kann, da es den einzigen Punkt unseres gemeinsamen Bewusstseins darstellt, über den wir vollständige Kontrolle haben. Denn die gemeinsam hervorgebrachte Struktur der Aufmerksamkeit ist ganz klar von uns fabriziert, d. h., wir können die Urheberschaft auf keinen anderen abschieben. Sobald wir diesen Punkt zu sehen in der Lage sind, können wir ihn als Hebel für praktische Veränderung nutzen. Er ermöglicht uns, anders zu handeln. In dem Ausmaß, in dem es uns gelingt, unsere Aufmerksamkeitsstruktur und ihre Quelle zu sehen, können wir das System verändern. Doch dafür müssen wir den inneren Ort, von dem aus wir handeln, verändern.