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Kapitel 1

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Die schwarze Lederjacke umspannte seine Schultern. Mit geschmeidigen Schritten kam er direkt auf mich zu. Ich fühlte mich wie seine Beute, die er erlegen wollte. Luke hatte Spaß bei der Jagd und spielte mit seinem Opfer. Seine braunen Augen bohrten sich tief in meine, fast gewaltsam nahm er meinen Blick gefangen und ich konnte meine mich nicht von ihm abwenden. Ich saß in der Falle, war das buchstäblich das Kaninchen vor der Schlange. Luke war jetzt zum Greifen nah. Er stand vor mir, ohne mich zu berühren. Ich spürte seinen heißen Atem auf meinem Gesicht und sein Blick wanderte von meinen Augen zu meinen Lippen und wieder zurück. Dann beugte er sich vor. Seine Nähe war beinahe zu viel für mich. Ich konnte seine Lippen schon fast auf meinen spüren, als er kurz davor war, mich zu küssen…

„Samuel, das Frühstück ist fertig!“

Die unbarmherzige Stimme meiner Mutter riss mich aus dem Schlaf und brachte mich somit mal wieder um den Kuss des atemberaubenden Mannes, der meine Träume schon seit einiger Zeit heimsuchte. Sie ging sogar so weit und hämmerte gegen die Tür, als ich leise fluchend die Decke beiseite schlug.

„Samuel, steh auf, wir müssen in die Kirche! Du willst vorher sicher noch etwas essen. Sonst blamierst du uns wieder vor der gesamten Gemeinde damit, dass dein Magen knurrt.“

„Ich komme sofort, Mum!“, antwortete ich und stieg aus dem Bett. Diese verfluchte Geschichte war passiert, als ich acht gewesen war, also vor mittlerweile zwölf Jahren. Aber das würde meine Mutter mich nie vergessen lassen. Warum war ich überhaupt über die Weihnachtsfeiertage nach Hause gekommen? Während meines Studiums hatte ich die Kirchgänge nicht vermisst. Weihnachten in meiner eigenen Wohnung wäre auch nicht schlecht gewesen. Zum Glück konnte ich heute Abend wieder nach Hause, also nur noch einmal die Kirche hinter mich bringen, zweimal Tischgebete sprechen und mir wahrscheinlich zehnmal vorhalten lassen, warum ich nichts Vernünftiges studierte. Kunst und Philosophie, was sollte ich damit schon anfangen?

Ich knöpfte gerade den letzten Knopf meines Hemdes zu, als sie erneut nach mir rief:

„Samuel!“

Sie klopfte noch energischer gegen die Tür. Ich seufzte und trat hinaus auf den Flur. Meine Mutter beäugte mich skeptisch, obwohl ich immerhin ein Hemd und eine schwarze Hose trug. Beides war sogar gebügelt.

„Wir müssen unbedingt etwas mit deinen Haaren machen, die kannst du nicht so lang tragen. Das ist Mädchensache, Samuel!“

Ah, da hatte sie ihren Punkt zum Meckern gefunden, doch ich ging nicht weiter darauf ein und band mir die Strähnen im Nacken zusammen.

„Wenn du das sagst, Mum.“

Dann lief ich an ihr vorbei die Treppe runter und in die Küche. Dort saßen bereits meine Schwester Gwendolyn und mein Vater, der mir nur einen kurzen Blick zuwarf, ehe er sich wieder seiner Zeitung widmete.

„Du musst endlich zum Friseur, Junge!“, sagte er über den Sportteil gebeugt.

„Dad, ich bin volljährig und entscheide selbst, wann ich zum Friseur gehe und wann nicht.“ Ich seufzte. „Und können wir jetzt bitte frühstücken und danach ohne Streit in die Kirche?“

Dazu konnte mein Vater nichts mehr sagen und Gwen zwinkerte mir zu.

„Dann lasst uns das Tischgebet sprechen und anschließend essen. Der Gottesdienst beginnt schon in einer Stunde.“

Meine Mutter ließ sich auf ihrem Platz am Kopf des Tisches nieder, griff nach meiner Hand und nach der meiner Schwester. Danach sah sie meinen Vater auffordernd an. Dieser seufzte, legte seinen geliebten Sportteil weg und griff ebenfalls nach unseren Händen. Ich starrte wie immer betreten auf den leeren Teller vor mir und versuchte verzweifelt, das Knurren meines Magens zu unterdrücken. Als es endlich vorbei war, griff ich schnell zum Brot. Es herrschte Schweigen beim Essen, nur das Klappern des Bestecks war zu hören. Als wir schließlich aus dem Haus in die kalte Dezemberluft traten, um zur Kirche zu gehen, hielt meine Schwester mich kurz zurück.

„Ich mag es, dass du dir die Haare endlich wachsen lässt. Es passt zu dir. So siehst du endlich aus wie der Künstler, der du bist.“

Sie lächelte ihr bezauberndes Lächeln und ich legte ihr den Arm um die Schultern.

„Danke, Schwesterherz, das freut mich zu hören.“

„Ich beneide dich etwas, dass du heute Abend schon wieder nach Needle fährst. Ich möchte auch endlich raus aus diesem christlichen Irrenhaus“, murmelte sie.

„Keine Sorge, in einem halben Jahr ist es schon so weit. Dann kannst du ebenfalls ausziehen.“

Aufmunternd drückte ich ihre Schulter und sie sah mit einem halben Lächeln zu mir auf. Die Kirchenglocken begannen zu läuten und meine Mutter drehte sich zu uns um.

„Jetzt beeilt euch, wir kommen noch zu spät!“

„Ja, Mum!“, antworteten wir im Chor und kicherten, was uns einen verärgerten Blick einbrachte. Doch das hielt uns nicht davon ab, uns wie kleine Kinder zu benehmen. Wir alberten den restlichen Weg bis zur Kirche herum, und erst als wir durch das Kirchentor schritten und meine Mutter uns wortlos mit dem Gesangbuch drohte, verstummten meine Schwester und ich. Jeder von uns nahm sich sein eigenes Exemplar und wir ließen uns auf den glatten Holzbänken neben unseren Eltern nieder.

In der Kirche war es ziemlich kühl, weshalb ich meinen schwarzen Mantel fester um mich zog. Ich hatte das hier wirklich nicht vermisst, aber immerhin musste ich nur noch eine Woche im Jahr hierdurch. Ansonsten konnte ich endlich tun und lassen, was ich wollte. In meiner Unistadt ging ich nicht zur Kirche, sprach keine Tischgebete oder betete abends vor dem Schlafengehen. Gott existierte für mich nicht, aber ich respektierte den Glauben meiner Eltern. Sie waren gute Menschen, vielleicht etwas prüde, aber sie liebten mich und meine Schwester. Und sie finanzierten meine Wohnung, weswegen ich den Teufel tun würde, ihnen auch noch in der seltenen Zeit, in der ich da war, die Kirche madig zu machen und einen Streit anzufangen.

Die Orgel ertönte und ich zuckte merklich zusammen, woraufhin mir Gwendolyn ihren Ellbogen in die Rippen rammte.

„Nur noch einmal, dann hast du es geschafft!“, wisperte sie und ich nickte.

Der Pastor schritt durch die spärlich besetzten Reihen und trat nach vorne an die Kanzel. Seine kleinen, wässrigen Augen glitten über jeden Einzelnen der Kirchgänger. Meinen Eltern nickte er kurz zu, ehe er schließlich mit dem Gottesdienst begann. Meine Gedanken drifteten ab und ich war froh über jede verstrichene Minute. Selbst in den langweiligsten Vorlesungen konnte man sich besser wachhalten. Ich war mir nicht sicher, wie ich das achtzehn Jahre jeden Sonntag durchgestanden hatte.

Als der Pastor endlich seinen Segen über die Gemeinde sprach, seufzte ich erleichtert auf und erhob mich als Erster. Dem empörten Blick meiner Mutter spürte ich im Rücken durch meinen Wintermantel hindurch, als würde sie mich erdolchen wollen. Doch weder sie noch ihr Blick konnten mich davon abhalten, eilig nach draußen zu gehen. Erleichtert atmete ich aus, als ich in der kühlen Winterluft stand und mich streckte. Von der harten Kirchenbank tat mir alles weh, vor allem meine Beine schmerzten. Diese Bänke waren einfach nicht für große Leute ausgelegt. Gwendolyn trat kurz nach mir aus der Kirche, zog ihre Haarspange aus den Haaren und schüttelte ihre langen Locken. Unsere Mutter mochte es nicht, wenn meine Schwester oder ich mit offenen Haaren in die Kirche gingen. Sie hatten die gleiche lockige Struktur aber Gwendolyns waren ein ganzes Stück länger als meine und glänzten in einem sanften Dunkelbraun, das sie von unserem Vater hatte. Meine hingegen waren hellblond, beinahe weiß und glichen der Haarfarbe meiner Mutter.

Wir lehnten uns an die Mauer vor der Kirche und warteten darauf, dass unsere Eltern ihr Gespräch mit dem Pastor beendeten. Jetzt war es tatsächlich nicht mehr lange, bis ich mich endlich in mein Auto setzen und allem hier den Rücken zudrehen konnte.

„Mum plant, dich bald zu besuchen. Im Januar wahrscheinlich“, meinte Gwen plötzlich.

„Mit dir und Dad?“

Sie lächelte. „Jep, mit Dad und mir. Wir wollen uns ein Hotel nehmen. Mum möchte endlich deine Unistadt kennenlernen. Und die Kirchen in der näheren Umgebung.“

„Das sagt sie schon seit ich vor anderthalb Jahren umgezogen bin und es hat noch nie geklappt, Gwen. Wahrscheinlich wirst du deine zukünftige Unistadt nicht sehen, bevor du dann tatsächlich auch studierst.“

Gwen lachte bitter. „Ich hoffe, dieses Mal klappt es. Du hast mir so viel von Jessy und Simon erzählt, ich würde sie gerne mal treffen.“

„Das bekommen wir bestimmt noch hin“, sagte ich und lächelte aufmunternd, als unsere Eltern aus der Kirche traten.

„Wir könnten dann auch mal shoppen gehen und deine Garderobe etwas auffrischen“, schlug sie vor und ich zog die Augenbraue hoch. So ein typischer Mädchenvorschlag konnte nur von meiner siebzehn-jährigen Schwester stammen.

„Kommt, wir gehen nach Hause, dann gibt es noch Mittagessen, bevor du deine Heimfahrt antrittst, Samuel“, unterbrach meine Mutter unser Gespräch und ich stieß mich von der Mauer ab. Eines war mir klar, während wir nach Hause gingen: So schnell würde meine Familie sicher nicht bei mir auftauchen.

Zwei Stunden später saß ich endlich im Auto, die Reisetasche auf dem Rücksitz, und winkte meiner Familie aus dem fahrenden Wagen zu, ehe ich um die Ecke bog und Richtung Freiheit fuhr. Die Musik stellte ich erst lauter, als ich die Ortschaft verlassen hatte und durch die grünen Hügel Englands brauste. Ich liebte die Heimfahrten. Sie gaben mir jedes Mal das Gefühl, vollkommen unabhängig zu sein und wieder in mein eigenes Leben eintauchen zu können. Meine Eltern wohnten etwa fünf Stunden von Needle entfernt. Die Zeit vertrieb ich mir mit all der Musik, die ich in der Woche zuhause nicht gehört hatte, um den Frieden im Haus zu wahren. Laute Metalmusik hallte aus den Lautsprechern und begleitete mich, bis ich in Needle ankam und den Motor abstellte. Mein Handy piepte und ich griff danach. Jessy hatte mir eine SMS geschickt.

„Heute Abend Reunion! Keine Widerrede. 20 Uhr. Wohnheimparty!“

Ich schrieb eine Zusage. Jessy sagte man nur mit gutem Grund ab, sonst wurde sie biestig. Im Anschluss schrieb ich meinen Eltern, dass ich angekommen war, griff nach meiner Reisetasche und stieg aus dem Wagen. Der Straßenlärm in Needle war in meiner Gegend zum Glück nicht sonderlich laut, aber doch deutlich präsenter als in meinem Heimatdorf. Wenn ich noch duschen wollte, musste ich mich ein bisschen beeilen, also sog ich nur kurz die gewohnten Eindrücke auf, ehe ich mich auf den Weg in meine Wohnung machte.

Measure of Happiness

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