Читать книгу Der Hirte Abu - Cagdas O. Sahin - Страница 4

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Kapitel 1

Schluchzend wischt er sich die Tränen aus den Augen. Er blickt noch ein letztes Mal hinunter auf das Feld, das jetzt blutdurchtränkt ist, bevor er sich Ast um Ast den Baum runterhangelt. Dabei schneidet er sich seine linke Hand im inneren.

„Ahh! Verdammt!“

Voller Schmerzen kommt er unten an und riecht das Blut seiner Schafe, die jetzt leblos vor ihm liegen. Gestern Abend waren sie noch voller Seelenruhe vor ihm am Grasen. Er selbst saß unter dem großen Baum am Feld und spielte seine Flöte. Es war herrlich. Die Schafe hörten ihm bis in die Nacht hinein zu, sein Hund Esad lag vor seinen Füßen und beobachtete die Schafe. Die Sterne funkelten wie Diamanten im Himmel.

„Wie konnte das passieren?“

Abu schaut sich ängstlich um.

Kommen die Wölfe vielleicht nochmal wieder um den Rest der Schafe zu holen?

Niemand zu sehen, niemand zu hören. Nur hier und da nimmt er ein Rascheln wahr und zuckt jedes Mal zusammen. Langsam und unsicher geht er durch das Feld und hofft zumindest ein paar lebende Schafe zu finden.

„Alle tot! Wie geht das?“, fragt er sich leise und merkt, dass seine Augen wieder Tränen bilden.

Links, rechts, vor ihm, hinter ihm, überall seine lieben Schafe. Tot. Reglos. Vor ihm erkennt er Issa an dem schwarzen Fleck in Form eines Halbmondes auf ihrem Hinterkopf, bückt sich runter und streichelt sie unter Tränen.

„Meine schöne Issa, was haben sie nur mit dir gemacht?“

Er wischt sich die Tränen weg.

„Ruhe in Frieden meine Retterin.“

Abu würde jetzt am liebsten schreien, brüllen, weinen, aber seine Angst vor weiteren Wölfen ist zu groß.

Was ist, wenn sie zurückkommen?

Er zittert und steht langsam wieder auf.

„Gott, warum hast du mir das angetan? Womit habe ich das verdient? Womit haben meine armen Schafe das verdient?“

Er schaut voller Wut und Enttäuschung in den Himmel. Die Sterne funkeln wieder als wäre gar nichts geschehen und als würden sie ihm sagen wollen, es wäre alles gut, er solle wieder schlafen gehen.

Für einen ganz kurzen Augenblick verliert er sich in den Sternen und kommt wieder zu sich, als er das Flügelschlagen eines großen Vogels wahrnimmt. Er sieht weit hinten einen Geier sich auf einen seiner Schafe stürzen. Weitere Geier folgen. Es bricht ihm das Herz. Seitdem er zwölf Jahre ist, ist er mit diesen Schafen zusammen gewesen. Er kennt jedes Schaf persönlich und hat jedem einen eigenen Namen gegeben.

Soll ich diese dummen Vögel verscheuchen? Die sollen meine Schafe in Ruhe lassen!

Er spürt seine Halsadern wild pochen und atmet ein paar Mal tief durch.

Was soll’s… Wie soll ich denn alle alleine verteidigen? Früher oder später werden sie sowieso von anderen Tieren geholt.

Er wischt sich weitere Tränen weg.

„Warte!“

Erst jetzt merkt er, dass Esad auch nicht da ist.

„ESADDD!!“

Er schaut sich um. Läuft durch die zerfetzten, toten Schafe.

„Esad!! Wo bist du mein Junge?!“

Langsam verfällt er in Panik. Kalter Schweiß tropft von seiner Stirn.

„Bitte Esad, du kannst mich jetzt nicht verlassen! ESAAAD!“

Er fällt auf die Knie und vergießt weitere Tränen.

Esad, mein Freund!

Von weitem hört er ein Wolf heulen und bleibt reglos auf seinen Knien sitzen. Sie haben seine Schreie gehört. Abu hält seinen Atem an und hört wie sein Herz fast seinen Brustkorb zertümmert.

Ihr verfluchten Ungeheuer!! Ihr habt mein Leben zerstört!

Er versucht ganz langsam zu atmen und schaut sich um.

Nachdem er sich vergewissert hat, dass keine Wölfe unterwegs zu ihm sind, steht er ganz langsam auf und geht durch das Feld wieder Richtung großem Baum, unter dem er auch bis vor kurzem immer sein Lager hatte.

Das Lagerfeuer brennt mittlerweile nicht mehr und sein Zelt ist komplett zerstört. Er schluckt und merkt, dass er am Verdursten ist. Abu hebt zitternd sein Zelt hoch und versucht den Eingang zu finden um zu schauen, ob noch Wasser in seinem Wasserschlauch ist. Nach langem Suchen stellt er empört fest, dass der Schlauch geplatzt ist. Alle seine Sachen sind kaputt. Sein Hirtenstock, seine Flöte, seine Essensschale… Alles. Seine Kleider sind komplett zerfetzt, genauso wie sein Zelt. Enttäuscht lässt er sich auf das Gras fallen.

Ich habe nichts mehr. Nichts!

„Was mache ich jetzt?“

Er versucht zu schlucken, aber verschluckt sich dabei stark, weil sein Hals zu trocken ist und fängt an, laut zu husten. Von der Ferne hört er weitere Wölfe heulen. Abu hält sich schnell seinen Mund zu und versucht sein Hustenanfall zu unterdrücken.

Ihr verfluchten Geschöpfe!

Als er weiteres Rascheln hört, entscheidet er sich dazu, den Baum wieder hochzuklettern um in Sicherheit zu sein. Erst beim Hochhangeln merkt er wieder den Schnitt in seiner linken Hand. Jetzt schmerzt es so richtig. Er fühlt beim Klettern eine warme Flüssigkeit seinen linken Arm runtertropfen.

Na toll, jetzt ist der Schnitt größer geworden. Hoffentlich verblute ich nicht…

Als er denkt, dass er hoch genug ist um vor Angreifern geschützt zu sein, macht er es sich auf einem dicken und stabilen Ast bequem. Wenn man dies als bequem bezeichnen kann. Hoffnungsvoll blickt er nochmal runter um ein Lebenszeichen zu sehen. Doch es regt sich nichts. Auch die Geier sind verschwunden.

Langsam spürt er wieder seine linke Handinnenfläche pochen. Es blutet weiter. Abu flucht leise vor sich hin und reißt einen Teil seines linken Hosenbeines ab. Dabei fällt er fast vom Baum. Mit letzter Kraft wickelt er den verschmutzten Stoff um seine linke Hand. Es hält nicht gut und der Stoff ist binnen Minuten voller Blut.

„Verdammt!“

Abu öffnet seine beiden Hände, zeigt mit seinen Handinnenflächen Richtung Himmel und flüstert.

„Gott, wenn du da bist und mich hörst, bitte hilf mir! Ich weiß nicht, was ich tun soll!“

Danach presst er den Stoff weiterhin auf seine Wunde und muss kurz zucken, weil der Schmerz zu stark ist.

Esad, wo bist du?

„Bitte Gott, bitte sag mir, dass zumindest Esad noch lebt!“

Abu schaut nach oben in den Himmel. Die Sterne sind noch heller als gestern. Es ist sehr ruhig. Kein Wind. Aber Abu friert. Er zittert. Er traut sich nicht mehr nach unten zu schauen, weil der Anblick ihm immer wieder Schmerzen bereitet. Also blickt er hoch zu den Sternen, die immer an derselben Stelle sind und ihn ebenfalls beobachten. Frierend und zitternd gehen irgendwann seine Augen zu.

Der Hirte Abu

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