Читать книгу Der Hirte Abu - Cagdas O. Sahin - Страница 6
ОглавлениеKapitel 3
Durch ein lautes Summen wacht Abu auf. Er sieht eine riesige Fliege vor ihm wegfliegen. Sein Kopf schmerzt stark. Erst als er sich an die Stirn packt, fällt ihm wieder ein, dass seine Hand verletzt ist. Der Stoff ist komplett getrocknet und klebt nun an seiner Wunde.
„Ganz toll. Wie kriege ich das jetzt ab?“
Als er vor sich hermurmelt, verschluckt er sich und fängt wieder an, stark zu husten. Nachdem er sich einigermaßen eingekriegt hat, fällt sein Blick auf den Boden. Ein großer Schreck durchfährt ihn. Der Anblick seiner zerfleischten Schafe ist bei Tageslicht viel schlimmer als er gestern in der Nacht wahrgenommen hat. Abu erinnert sich daran, wie sehr seine Herde gestern gekämpft und gelitten hat und muss sich übergeben.
Danach klettert er langsam den Baum wieder runter. Er schaut sich um. Bis auf seine leblosen Freunde ist nichts zu sehen. Hier und da sind Fliegen bereits dabei über den toten Tieren zu fliegen. Abu blickt nach oben um nicht weiter diesen traurigen Anblick zu haben und hält seine Nase zu.
Es ist strahlend blauer Himmel. Eine leichte Brise ist zu spüren. Langsam geht Abu in Richtung des kleinen Sees um dort etwas zu trinken. Sein Hals ist so trocken wie noch nie. Hier kniet er sich vorsichtig hin und befeuchtet erstmal seine linke Hand damit sich der Stoff von seiner Wunde löst. Die Wunde ist so trocken, dass es eine Weile dauert bis sich der Stoff löst. Beim Entfernen ziept die Wunde stark. Der Schnitt ist groß. Abu wäscht die Wunde erst aus und geht dann ein Stück weiter um dort etwas Wasser trinken. Nachdem er sein Durst gestillt hat, fällt ihm sofort der gestrige Tag ein, als er nichtsahnend gemeinsam mit seinen Freunden Esad und Issa hier war. Er spürt die Trauer und die Enttäuschung wieder in ihm aufkommen.
Leicht zitternd steht er auf und geht noch einmal durch das Feld um Esad zu suchen. Von ihm ist aber keine Spur. Abu sucht auch die Umgebung ab. Doch auch hier findet er seinen alten Freund nicht.
Esad, wo bist du?
Abu schaut wütend in den Himmel.
„Gott warum hast du mir das schon wieder angetan? Ich habe wieder meine Familie verloren!!“
Zurück in seinem Lager merkt er, dass sein Magen ziemlich leer ist und andauernd grummelt. Er sammelt ein paar Früchte aus der Umgebung und isst sie. Danach begutachtet er erneut die Überreste seines Zeltes und schaut, was von seinen Gegenständen noch übrig ist. Sein Zelt ist komplett zerstört. Er kann es auf keinen Fall reparieren. Doch seinen geplatzten Wasserschlauch will er flicken. Im Getümmel findet er auch sein Messer.
Verdammt! Das habe ich gestern komplett vergessen!
Ihm fällt erst jetzt ein, dass er gestern vor Schock und Angst vergessen hat, dass er ein Messer hat.
Damit hätte ich doch ein paar Wölfe erledigen können!
„Aber es waren zu viele. Ich hatte keine Chance.“
Traurig setzt er sich an sein Lagerfeuer. Oder wo sein Lagerfeuer einst brannte. Abu nimmt seine kaputte Flöte in die Hand und versucht darauf zu spielen, aber die Töne, die er ihr entlocken kann, hören sich grauenvoll an. Wie das Gejaule der Wölfe. Abu packt sich an seinen Kopf.
Alles was ich einst so liebte, ist mir genommen worden! Sogar meine Flöte! Was soll ich jetzt machen? Ich bin verloren!
Er packt die Flöte behutsam neben sich auf den Boden, schaut in den Himmel und fängt an, nachzudenken.
Nach einer Weile steht er auf, nimmt sein Messer in die Hand und beginnt so viel gutes Fleisch er finden kann von seinen Schafen zu holen und sie an die Äste der Bäume zu hängen um sie zu trocknen. Diese Arbeit bricht ihm das Herz. Aber mit Tränen in den Augen bringt er diese Arbeit zu Ende.
Am Ende des Tages läuft er zu Issa, gräbt mit seinen puren Händen ein Loch und bestattet sie. Er entscheidet sich, weitere zwei Tage hier zu warten. Mit dem Gedanken, dass Esad vielleicht doch auftauchen kann.
Am Morgen des dritten Tages wickelt er so viel getrocknetes Fleisch wie möglich in Stoff ein, der noch einigermaßen gebrauchbar ist und verstaut sie in Säcken, die noch erhalten sind. Dann sucht er seine Münzen zusammen, schnappt sich sein Wasserschlauch, sein Messer und macht sich auf den dreitägigen Weg zur nächsten Hafenstadt um dort das Fleisch zu verkaufen.
Bevor er losgeht, verabschiedet er sich von seinen Freunden und stattet Issa nochmal einen Besuch ab. Abu entscheidet sich für die Strandroute, weil ihm das Meer guttut.
Nach einer halben Stunde erreicht er den Strand. Die Sonne ist bereits aufgegangen und strahlt voller Energie. Das Meer ist sehr ruhig. Abu setzt sich für eine kurze Zeit auf den Sand und lauscht den Wellengeräuschen. Er erinnert sich an die Tage als er gemeinsam mit Esad hier war. Eine angenehme Wärme nimmt sein Herz ein.
„Esad, du hast mein Leben gerettet, alter Freund. Aber wo bist du? Lebst du noch?“
Seine Gedanken sind noch bei Esad, als er merkt, wie warm es ihm geworden ist.
Wann war ich das letzte Mal im Wasser?
Er kann sich nicht erinnern. Er schaut sich um.
Es ist sowieso niemand hier.
Also zieht er langsam seine Sachen aus, legt sie behutsam auf den Sand und marschiert ins Wasser. Hier schwimmt er seelenruhig. Die Abkühlung tut ihm gut. Er taucht immer wieder ins Wasser um sein Kopf zu kühlen. Er spürt eine innere Freude in sich aufkommen und grinst. Als ihm das auffällt, schämt er sich dafür und geht sofort aus dem Wasser. Erst jetzt merkt er, wie seine Wunde brennt. Das Salzwasser hat es richtig gereinigt.
Bis die Sonne ihn komplett trocknet, bleibt er stehen und schaut dem Meer zu. Dann zieht er seine Sachen an und macht sich wieder auf den Weg.
Als die Sonne dabei ist unterzugehen, sieht Abu in der Ferne ein kleines Boot und zwei Menschengestalten.
Winken die mir zu?!
Als er sie erreicht hat, erfährt er, dass die beiden Männer zu der Crew eines Handelsschiffes gehören, das nah am Ufer gegen den Meeresboden gefahren ist und jetzt repariert werden muss. Sie wurden mit dem kleinen Rettungsboot losgeschickt um was zu essen zu holen, aber haben nichts gefunden.
Abu bietet ihnen sein Fleisch an und fragt, ob er ihnen beim Reparieren helfen kann. Die Männer nehmen dankend an und fahren gemeinsam mit ihm zum Schiff.
Hier wird er von der ganzen Crew herzlich begrüßt. Der Kapitän dankt ihm für seine Hilfe.
„Sie sind ein guter Mann, Abu!“
Er haut Abu auf die Schultern. Der lächelt verlegen. Er ist mittlerweile ziemlich kaputt. Alle essen gemeinsam von seinem Fleisch. Danach wird ihm eine Hängematte auf dem Deck zugeteilt. Er legt sich hundemüde in die Matte und zieht die Decke über sich.
Mann ist das kalt auf dem Meer!
Über ihm sieht er den klaren Sternenhimmel. Er seufzt.
Euch geht’s da oben echt gut! Hier unten erlebe ich ein Drama nach dem anderen, aber bei euch ändert sich nichts. Was für eine Gerechtigkeit!
Dann fällt ihm wieder Esad ein und Abu seufzt ein weiteres Mal. Langsam schließt er seine Augen und versucht zu schlafen.