Читать книгу FOX - wenn du verlierst, bist du Freiwild … - Cagliostro - Страница 12
ОглавлениеJUNGE FRAU FAST NACKT DURCH FUSSGÄNGERZONE GETRIEBEN!
»Kommen Sie mit den Bigelow-Sensoren zurecht, oder drücken die irgendwo?« wollte Hiob wissen.
Francine blinzelte ein paar Mal, kniff dann die Augen fest zusammen. »Nein, scheint alles einwandfrei zu sein.«
»Fein.« Hiob wandte sich seinem Techniker zu. »Ton und Bild werden problemlos empfangen?«
Der bärtige junge Mann, dessen Blick auf einen Monitor gerichtet war, reckte bestätigend seinen Daumen in die Höhe. »Virilioptricon einwandfrei.«
Bigelow-Sensor/Virilioptricon
Früher als erwartet kam es im ersten Jahrtausendsjahrzehnt infolge einer immensen Ausweitung der transhumanistischen Medizin (vgl. www.transhumanismus.de) zu einer cyborgartigen Erweiterung des menschlichen Körpers durch technische Implantate. Der Bigelow-Sensor stellt, auf Laienniveau heruntergebrochen, eine Art Kontaktlinse dar, die problemlos im menschlichen Auge getragen werden kann und so die wahrgenommenen Bilder über einen Mikrochip von Nanogröße an ein Virilioptricon als Empfangsgerät sendet. Dieses wiederum ist in der Lage, aus den erhaltenen Informationen ein Fernsehbild zusammenzusetzen, so dass genau das, was der Träger des Sensors sieht, auch von zahllosen anderen Menschen gesehen werden kann. Der Grundstein für diese Technologie, die auch Blinden zunehmend das Sehen ermöglicht, wurde noch im alten Jahrtausend von William Dobelle vom Presbyterian Medical Center gelegt.
»Okaaayyy.« Hiob rieb sich angespannt die Hände. »Ich darf dich noch einmal daran erinnern, dass du besser nicht versuchen solltest, die Dinger eigenhändig zu entfernen. Das wäre nicht nur gegen die Spielregeln, sondern würde ohne die Hilfe eines Profis auch unweigerlich danebengehen. Schlimmstenfalls könntest du dir einen schweren Augenschaden zuziehen. Ja, ansonsten wäre damit die technische Sache klar.« Er griff auf einen Tisch hinter sich und nahm ein dort liegendes T-Shirt auf. »Francine, wenn ich Sie dann bitten dürfte …?«
Francine spürte, wie der Kloß in ihrem Hals immer dicker wurde. Die ganze Zeit über hatte sie sich durch die technische Seite der Angelegenheit ablenken können. Das kleine Studio, in dem sie sich mit Hiob und dem jungen Techniker befand, war vollgestellt mit Gerätschaften aus dem Bereich der Neuen Medien: diversen Webcams, Computern, Übertragungsmodulen, GHD-Receivern und vieles andere. Darauf und auf die Anpassung der Kontaktlinsen wie der Ohrmikrophone hatte sie ihre Aufmerksamkeit gerichtet. Nun aber war unweigerlich der Moment gekommen, wo es zur Sache gehen würde.
»Jetzt gleich?« fragte sie, und trotz aller zur Schau gestellten kühlen Selbstbeherrschung konnte sie ein Zittern in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Hier?«
»Tja, Sie kennen ja unseren Sendeplan. Die Show beginnt in wenigen Minuten. Und bei dem, was Sie sich für die nächsten Tage vorgenommen haben, wäre das jetzt wohl der falsche Zeitpunkt, Keuschheit zu entwickeln.«
Francine starrte einen Augenblick in die Runde, dann nickte sie. Es war ihr klar, dass keiner der Männer im Raum seine Augen von ihr ließ, als sie sich mit flatternden Fingern die Bluse aufknöpfte, dann über die Schultern gleiten ließ. Ihr BH folgte. Sie stieg erst aus dem einen ihrer magentafarbenen Pumps, dann aus dem anderen, streifte schließlich ihren Rock die Beine herab. Sie hielt einen letzten Moment inne, dann fügte sie sich endgültig und schlüpfte auch aus ihrem Slip.
Hiob ließ sich vielleicht ein paar Sekunden zu lange Zeit, bevor er ihr das zusammengefaltete Shirt reichte. Francine riss es ihm aus der Hand, schlug es auf und streifte es sich mit einer entschlossenen Bewegung über den Kopf. Es reichte ihr höchstens zu einem Viertel über die Oberschenkel, erkannte sie, als sie ihre Reflektion in einem der Monitore erblickte. Gerade so, dass man nicht auf den ersten Blick erkennen konnte, dass sie darunter splitternackt war. Nur vorbeugen sollte sie sich damit besser nicht. Ihr Atem war zu einer starren Eisenstange in ihrem Brustkorb geworden, und ihr Blut hämmerte ihr in den Ohren.
»Schick«, kommentierte Hiob trocken. »Mal schauen, vielleicht löst unsere Show eine neue Modewelle aus. Wäre ja auch nicht das erste Mal.« Er lachte.
Francine musste sich beherrschen, ihre plötzlich schweißnassen Hände nicht an ihrem Shirt abzuwischen.
»Okay, dann komm mit in die Garage«, forderte Hiob sie auf und war bereits unterwegs, um den Raum zu verlassen.
»I-in die Garage?« Francine folgte ihm zur Tür.
»Ja. Die Spielregeln unserer Sendung sehen vor, dass die Fuchsjagd in der Fußgängerzone beginnt, erinnerst du dich?«
Er führte sie hinüber zu einem dunkelgrauen Sedan und ließ sie vor sich in den Fond steigen. Mit sichtlich errötetem Gesicht nahm Francine neben ihm auf der Rückbank Platz. Sie spürte das Polster unter ihrer Haut. Einer der Techniker warf sich hinter das Lenkrad. Mit einer Fernbedienung ließ er das Garagentor in die Höhe gleiten. Die Fahrt begann.
»Und? Wie fühlst du dich?« wollte Hiob von ihr wissen. Er sah sehr glücklich aus.
»Ich weiß nicht, was Sie hören wollen«, erwiderte Francine etwas patzig. »Aufgeregt natürlich.«
Hiob lachte.
Mit einer beängstigenden Geschwindigkeit glitten draußen die Straßen vorbei. In diesen Sekunden konnte Francine nichts anderes hören als das Hämmern ihres Herzens.
Wie sie es geschafft hatten, die Strecke in nur wenigen Atemzügen zurückzulegen, würde sie vielleicht nie verstehen. Aber von einem Lidschlag auf den anderen waren sie angekommen. Hiob beugte sich über sie, schob sich dabei allzu dicht an ihrem Körper vorbei, und öffnete auf ihrer Seite den Wagenschlag.
»Also dann«, sagte er.
Francine starrte hinaus in die fremde, feindliche Welt, die sie so schutzlos betreten sollte. Fast in Zeitlupe glitt sie von der Rückbank herab. Auf dem Polster blieb eine feuchte Stelle zurück. Ihr linker Fuß ertastete den Asphalt.
Hiob hatte sich in der Bank zurückgelehnt und sah ihr geduldig zu.
Endlich stand Francine draußen auf dem Trottoir. Der Wind zerzauste ihr Haar.
»Also dann«, sagte Hiob noch einmal. »Wollen wir für die Fuchsjagd ins Horn stoßen. Von diesem Moment an bist du nicht länger Francine Descartes. Ab sofort bist du Fox.«
Er spitzte die Lippen, um ihr einen ironischen Abschiedskuss zuzuwerfen, und zog dann die Tür ins Schloss. *wump!*
Der Wagen brauste davon. *vroommm*
Fox blieb zurück.
Das Spiel hatte begonnen.
Jasmin hatte das Radio so laut gestellt, dass sie die einschmeichelnden Klänge von Natalie Cole noch unter dem Strahl der Dusche hören konnte *prassel*. Sie genoss es, wie das wohltemperierte Wasser ihren nackten Körper herabrann, verteilte das Duschgel auf ihrer Haut und sang leise mit. Sie war gerade dabei, sich ihre schlanken, langen Beine einzuseifen, als das Schrillen der Türglocke Wasserstrahl und Musik übertönte.
Jasmin runzelte die Stirn. Um diese Uhrzeit hatte sie eigentlich mit keinem Besuch gerechnet, und sie konnte sich auch nicht denken, wer das sein würde. Ihr Verlobter Dirk war noch bis Ende des Monats auf Geschäftsreise in München, die meisten anderen Bekannten hätten sich vorher angemeldet.
Es schrillte erneut. *rrrrrrrriiinnngg* Wer immer es war, er ließ seinen Finger ziemlich lange auf dem Klingelknopf. Natürlich: Er konnte die Musik auch draußen hören und war so sicher, dass sie zu Hause war.
Leise vor sich hinschimpfend, drehte Jasmin die Brause ab und trat aus der Kabine. Sie griff nach einem Handtuch, um sich hektisch wenigstens oberflächlich trockenzurubbeln.
Das Schrillen der Klingel wurde immer fordernder.
»Ich komme ja!« rief Jasmin und schlüpfte in ihren Bademantel, noch während sie durch den Flur eilte. Nasse Haarsträhnen hingen ihr im Gesicht.
Sie öffnete die Tür ihrer Wohnung. Im Treppenhaus stand Dirk.
»Hoppla!« rief sie aus. Freudige Überraschung trat auf ihr Gesicht. »Wo kommst du denn schon her? Ich dachte, du bist …«
Dann sah sie den entschlossenen Ausdruck in seinem Blick und die auf sie gerichtete Pistole in seiner Hand. Ihre Überraschung verwandelte sich in Entsetzen.
»Dirk?«
Er stieß sie heftig gegen die Brust, so dass sie zurück in die Wohnung taumelte. Ihre noch nassen Füße machten es ihr ohnehin nicht leicht, nach diesem Stoß auf den Beinen zu bleiben. Der Bademantel klaffte auf.
»Du verdammtes Flittchen!« Dirk folgte ihr in die Wohnung und ließ hinter sich die Tür zufallen *wham!*. »Du mieses kleines Hurenstück!«
»Dirk, was soll das? Ich …« Er schlug zu. Sie wurde herumgeschleudert, glitschte aus und stürzte zu Boden. Halbnackt lag sie jetzt vor seinen Füßen. Verächtlich blickte er auf sie herab, noch immer die Mündung der Waffe zwischen ihre Brüste gerichtet.
»Du Dreckstück! Macht dir das Spaß, ja? Einerseits meine treue Verlobte zu spielen und dich andererseits im Internet von allen möglichen Cyber-Perversen elektronisch ***** und quälen zu lassen? Ich hab gedacht, ich werd nicht mehr, als ich dich auf meinem Bildschirm gesehen habe, geil, mit weit offenen Beinen und schreiend vor Lust.«
»Dirk, ich bitte dich, wir können doch darüber …« Er trat sie in die Seite, mit voller Wucht. Jasmin schrie auf. Tränen schossen ihr in die Augen.
»Hast du dir mal überlegt, wie das ist, wenn dich einer meiner Freunde so im Netz sieht? Einer, der dich kennt? Der denkt, wir gehören zusammen, und dann lässt du dich da life vor aller Welt durchknallen? Was soll der denn von mir halten? Dass ich mich von einer Nutte verarschen lasse?«
»Dirk, hör zu, das ist doch nicht … das ist doch …« Von heftigem Schluchzen geschüttelt, bekam sie keinen klaren Satz zusammen. Furcht, Scham und Schmerz hatten sie überwältigt. Sie versuchte davonzukriechen, aber Dirk blieb über ihr. Er trat ihr ein weiteres Mal so heftig wie möglich in die Seite. Wieder schrie sie auf.
Dann ließ er sich auf sie fallen, mit all seinem Gewicht. Jasmin blieb für einen Moment die Luft weg. Er nagelte sie am Boden fest, ein Bein rechts, eines links von ihr, so hockte er auf ihr. Die Pistole war nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Jasmin wimmerte.
»Na?« sagte er. Seine freie Hand hatte eine ihrer Brüste gepackt und machte sich grob daran zu schaffen, presste und drehte. Aus Jasmins Mund drangen Geräusche, die sich nach einer Mischung aus Jammern, Stöhnen und Würgen anhörten. In seinen Augen lag nur Hass. »Du mieses kleines Luder! Du willst gequält werden? Den Gefallen kann ich dir gerne tun, meine Liebe. Aber nein … du widerst mich viel zu sehr an dafür.« Er spuckte ihr ins Gesicht. »Bringen wir es am besten so schnell wie möglich hinter uns.«
Jasmin versuchte noch einmal etwas zu sagen, aber da hatte sie bereits den Lauf der Waffe zwischen ihren Zähnen.
»Die Show ist vorbei«, erklärte ihr Dirk. »Standbild. Ausblende.«
Dann drückte er ab. *wumpf!*
Zwischen seinen Schenkeln explodierte Jasmins Kopf. Blut, Gewebe, Knochen und Hirnmasse spritzten in alle Richtungen davon.
Währenddessen schritt Fox durch die Fußgängerzone.
Ihr Herz schlug immer noch bis zum Hals. Jeden Windhauch, jedes Lüftchen spürte sie zwischen ihren Beinen und an ihrer so offen liegenden Muschi. Sie hatte das sie bis ins Innerste durchdringende Gefühl, dass jeder der anderen Passanten sie kaum verhohlen anstarrte und auf den ersten Blick erkannte, dass sie unter ihrem Shirt nichts anderes mehr trug. Schon nach wenigen Sekunden kam sie sich wie eine geistesgestörte, notgeile Schlampe vor, und der Puls hämmerte in ihren Schläfen.
Wieder und wieder musste sie sich ins Bewusstsein rufen, dass ihr Anblick für Uneingeweihte zwar etwas ungewöhnlich sein mochte, aber doch längst nicht offen obszön. Viele Frauen waren in ähnlicher Aufmachung am Strand und in Schwimmbädern zu sehen. Dass Fox unter ihrem Shirt splitternackt war, wusste ja niemand. Niemand außer ihr selbst.
Und das war genau der Punkt: Sie selbst wusste es. Ihr war klar, dass nur ein plötzlicher Windstoß ihr Shirt hochwirbeln, dass sie sich nur vorzubeugen oder umzuknicken brauchte, und schon würde es auch für jeden anderen offensichtlich sein. Außerdem war sie eben nicht am Strand, sondern mitten in der Fußgängerzone, und sie trug auch keinen kurzen Rock, sondern lediglich ein etwas längeres Hemd. Sie konnte sich einfach nicht beherrschen und zerrte wie unwillkürlich wieder und wieder daran, versuchte verzweifelt, es nur ein wenig mehr in die Länge zu dehnen. Aber recht schnell wurde ihr klar, dass sie damit erst recht die Blicke auf sich zog.
Es war früher Nachmittag, und in der Fußgängerzone tummelte sich bereits die Bevölkerung der Stadt. Fox gab ihr Bestes, um mit hocherhobenem Kopf, leerem Gesicht und nach vorne gerichteten Blick voranzuschreiten und so wenig wie möglich um sich herum wahrzunehmen. Und vor allem mit niemandem einen Blickkontakt einzugehen! Aber gleichzeitig war sie für alles, was um sie herum vorging, hypersensiblisiert. Vor einem Straßencafé saßen ein paar marxistische Maskulisten mit ihren unverkennbaren roten Halstüchern um einen Tisch und lachten schallend – worüber? Über sie? Der alte Mann mit der Einkaufstüte dort drüben: Starrte er sie wirklich so intensiv an? Zog diese übergewichtige Mutter, die ihr entgegenkam, ihr Kind ihretwegen in eine andere Richtung oder hatte sie lediglich in einem der Schaufenster etwas Interessantes erspäht? Fox stellte fest, dass ihr der Schweiß zwischen den Brüsten herabrann.
marxistische Maskulisten
Zu Beginn des dritten Jahrtausends begann sich zunächst im Internet und vereinzelten Druckwerken eine neue Männerbewegung herauszubilden, die jetzt von ihrer Seite soziale und politische Gleichstellung für das männliche Geschlecht forderte. Lange Zeit wurde diese Strömung von den Medien ignoriert, die sich nicht dem Vorwurf der Frauenfeindlichkeit durch Propagierung dieser Positionen aussetzen wollten. Allerdings wurde die maskulistische Bewegung bald von einer so großen Menge weiblicher Anhänger unterstützt, dass auch dieses Tabu gebrochen werden und Männerpolitik ein Thema werden konnte. Leider führten bereits die ersten Erfolge auch zu ersten Grabenkämpfen innerhalb des Maskulismus, so dass es zu Erodierungen und Spaltungen in Konservative, Liberale und andere Strömungen kam. Einer der neu entstandenen Untergruppen, den marxistischen Maskulisten, zufolge kann Kritik an der Frauenherrschaft immer nur in Verbindung mit Kapitalismuskritik gedacht werden. Das weibliche Geschlecht könne seine Wünsche nicht etwa deshalb durchsetzen, weil es die meisten Wähler stelle und den größten Einfluss auf die Medien nehme, wie es der bürgerliche Maskulismus noch behauptet hatte, sondern weil es zumindest in der westlichen Welt die größte Kundengruppe darstelle und über den größten Teil sämtlicher privaten Vermögen verfüge. Wenn männliche Körper also etwa durch Kriegsdienst oder gesundheitlich ruinöse Berufe sich selbst entfremdet, ausgebeutet und letztlich vernichtet würden, dann sei das auf gleichermaßen kapitalistischen wie sexistischen Ursachen begründet. Obwohl sich hier eine gewisse Logik nicht leugnen lässt, wird der marxistische Maskulismus selbst unter dem linken Flügel der Männerbewegung mit dem Argument abgelehnt, die Aufspaltung und das Gegeneinander-Hetzen von Männern und Frauen sei ja gerade der Trick, mit dem die reaktionären Machthaber in dieser Gesellschaft von einer Debatte über die wahren Probleme im Zusammenhang mit Unterdrückung und Ausbeutung ablenken wollten.
Sie versuchte, ihre Gedanken in andere Bahnen zu zwingen. Schließlich musste sie sich ohnehin mit der Frage beschäftigen, wie sie bis zum Ende des Spiels mit nicht mehr als einem Shirt mitten in der Stadt überleben sollte. Natürlich hatte sie kurz vor Beginn der Jagd ausgiebigst gespeist, so dass sie zumindest die nächsten Stunden über erst einmal nicht von Hunger geplagt sein würde. Bis dahin hatte sie sich hoffentlich an ihre Situation gewöhnt und würde genügend Mut und Nervenstärke aufbringen können, um in einer Bäckerei oder auf dem Markt die Verkäufer darum zu bitten, dass sie ihr kostenlos die Reste überließen, die sonst weggeworfen worden wären. Ob sie in ihrer Aufmachung als Bettlerin besonders überzeugend wirkte, wusste sie nicht zu sagen. Aber ihre Attraktivität hatte ihr schon oft geholfen, von anderen Leuten Hilfe zu erhalten. Ihre Notdurft würde sie im Kurpark und in anderen versteckten Winkeln verrichten können. Schließlich verfügten zum Beispiel auch die Kaufhäuser über kostenlose öffentliche Toiletten. Die Nächte würde sie vermutlich unter freiem Himmel verbringen müssen, aber es war August, und bei diesen Temperaturen bestand zumindest keine gesundheitliche Gefahr. Ein Obdachlosenasyl aufzusuchen, hielt sie in ihrer Aufmachung für eine weniger gute Idee. Zudem hatte sie sich immer schon vor diesen Quartieren geekelt und war trotz gelegentlicher Überredungsversuche ihrer Clique nicht einmal zum City-Rafting bereit gewesen, eines von ihnen aufzusuchen.
City-Rafting
Ultrahipper Abenteuerurlaub der neuen Oberschicht, also der Dotcoms etc., welcher nicht mehr in möglichst unzugänglichen Regionen fremder Länder stattfindet, sondern im Moloch der eigenen Stadt. In den Metropolen gibt es zunehmend mehr und immer größere Regionen, in denen ein Aufenthalt für Uneingeweihte hochspannend oder auf andere Weise reizvoll sein kann. Typische Angebote sind etwa, im Ghetto den unter Entzugserscheinungen stehenden Fixern beim nächtlichen Aufbrechen von Mauern und Pflastern auf der Suche nach versteckten Drogen zuzusehen oder sich als Penner verkleidet in den Unterkünften oder an anderen Aufenthaltsorten von Obdachlosen herumzutreiben.
Drei oder vier Jugendliche schossen auf Inlinern an ihr vorbei. Fox wich erschreckt zur Seite. Einer stieß einen anerkennenden Pfiff aus, ein anderer machte eine anerkennende Bemerkung wegen ihrem »Arsch«. Sie verstand in diesem kurzen Moment nicht genau, was er gesagt hatte.
Aber schon dieses sekundenschnelle Zusammentreffen erschütterte sie zutiefst. Für einen Moment hatte sie sogar fast das Gefühl, aus der Welt zu kippen. Wie viel sah man wirklich von ihrem Körper? Und wie nahm man das wahr, was man sah? Immerhin: Sie war eine leichtbekleidete Frau mit einer ansprechenden Figur. Auch wenn sie Schuhe und Unterwäsche getragen hätte, hätte sie mit ihren Beinen und ihrem Outfit die Blicke auf sich gelenkt. Vermutlich war es gerade andersherum, als sie zunächst vermutet hatte: Sie redete sich nicht ein, dass jeder zu ihr hinsah, während ihr die meisten Menschen in Wahrheit überhaupt keine Beachtung schenkten, nein, tatsächlich war es so, dass sie die Aufmerksamkeit sehr vieler auf sich zog, die meisten aber versuchten, sich ihr Interesse nicht direkt anmerken zu lassen.
Sie musste hier weg. Fort von diesem allzu öffentlichen Ort. Aber wohin, in diesem Aufzug? Wenn sie früher Zeit totschlagen, sich aber gleichzeitig nicht einem Kaufrausch ausliefern wollte, hatte sie oft einige Stunden in der Stadtbibliothek verbracht. Aber so, wie sie gekleidet war, würde sie dort wie ein Fremdkörper wirken und noch mehr im Mittelpunkt des Interesses stehen. Außerdem musste sie immer in Bewegung bleiben, um es den Jägern dann doch nicht allzu einfach zu machen. Aus demselben Grund schied der Stadtpark aus. Lediglich nachts war sie den Spielregeln zufolge vor dem Zugriff ihrer Häscher geschützt, weil sie sonst überhaupt keine Chance gehabt hätte zu schlafen. Theoretisch konnte sie die Kaufhäuser und Einkaufspassagen durchforsten, aber sie hatte ein wenig Angst, mit der Rolltreppe zu fahren: War es nicht sehr gut möglich, dass ihr jemand von unten aus dem richtigen Winkel direkt zwischen die Beine sehen konnte? Ihr kam der Gedanke, einfach ein paar Stunden mit den Bussen oder der Stadtbahn hin- und herzufahren. Wenn sie sich dort in die letzte Reihe setzte, würde sie dort sogar sämtlichen schrägen Blicken entgehen können. Allerdings hatte sie natürlich weder Geld, noch ihr Studenten-Ticket dabei. Wenn sie ein Kontrolleur erwischte, würde sie nicht nur erst recht die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sie würde sich auch nicht ausweisen können. Also würde die Polizei eingeschaltet werden müssen, und die würde sie festnehmen. Auf der Polizeiwache würden sie dann die Häscher des Senders problemlos stellen können. Andererseits konnte sie dem Risiko einer Fahrt mit Bus, Stadt-, oder U-Bahn nicht völlig ausweichen …
Natürlich hatte Fox sich auch schon vor Beginn des Spiels Gedanken über ihre Strategie gemacht und sich genau überlegt, was sie tun sollte. Sie hatte lediglich nicht damit gerechnet, dass sie sich in ihrer Aufmachung doch dermaßen verschämt und befangen fühlen würde. Aber sie musste sich einfach im Klaren darüber sein, dass es ihr Hauptinteresse war, die Jäger abzuschütteln. Wenn sie einfach zu Fuß weitermarschierte, würden sie sie sofort in die Fänge bekommen. Alles, was sie sah, so auch die Namen sämtlicher Kaufhäuser und Geschäfte um sie herum, würde im Internet zu sehen sein. Jetzt im Augenblick etwa musste den Jägern vollkommen klar sein, dass sie sich nur wenige Meter vom CULTURE SHOCK entfernt befand, einem angesagten Buchladen der City, der sich momentan auf transgene Literatur spezialisiert hatte. Sie würden nur zuzugreifen brauchen.
Transgene Literatur
Diese Bezeichnung wurde 2005 von dem belgischen Schriftsteller Gilbert Semois für jene von ihm mitbegründete Literaturform geprägt, deren Ziel die künstlerische Umsetzung aktueller wissenschaftlicher Entwicklungen ist. So wie Biogenetiker und andere Wissenschaftler in existierende Körper beispielsweise durch therapeutisches Klonen, aber auch andere Maßnahmen (etwa das Injizieren embryonaler Zellen in das Gehirn von Parkinson-Patienten) fremde Organe oder zumindest fremdes Gewebe eindringen lassen, so inkorporiert die transgene Literatur in bestehende Texte von anderen Autoren vorgenommene Veränderungen. Beispielsweise kann Autor A eine Erzählung schreiben, Autor B ersetzt daraufhin die darin enthaltenen Dialoge durch seine eigenen, Autor C tauscht die Landschaftsschilderungen aus, Autor D setzt einen anderen Schluss ein und so weiter. Nachdem der Geniegedanke der Klassik und die Autorentheorie ohnehin schon von eher rezipientenorientierten Interpretationstechniken wie dem radikalen Konstruktivismus verdrängt wurden, verabschiedete sich durch die transgene Literatur nun auch die Vorstellung vom individuell geprägten Kunstwerk. Wiewohl Kritiker befürchteten, dass durch diese Literaturform der Schriftsteller zum Fließbandarbeiter verkomme, gelang es transgenen Autorenkollektiven, beispielsweise mit »Die Massenermordung von Jean Jaurès«, beeindruckende Werke zu schaffen.
Also suchte sie die nächste Bushaltestelle auf. In den wenigen Minuten, die sie warten musste, stieg ihre Nervosität noch einmal an. Fox hoffte, dass sich ihre Unruhe nach einer gewissen Zeit endlich legen würde, sonst würde sie zum Schluss der Jagd von einem hysterischen Huhn nicht mehr zu unterscheiden sein. Endlich nahte der erste Bus. Fox trat mit gesenktem Kopf hinein, achtete darauf, keineswegs ins Auge zu fassen, um welche Linie es sich handelte. Auch die Blicke der anderen Fahrgäste, an denen sie sich vorbeischieben musste, ignorierte sie. Hinter ihr glitt die Tür zu. *shoosh* Sie fand einen Sitzplatz, schloss die Augen und versenkte den Kopf in den Händen. So wartete sie eine bestimmte Zeitspanne, von der sie annahm, dass es sich dabei um etwa fünfzehn Minuten handelte. Dann stieg sie aus, immer noch den Blick zu Boden gerichtet, um nicht versehentlich den Namen der Haltestelle zu lesen.
Sie fand sich in einem Viertel wieder, das sie nicht kannte: offenkundig ein Wohn- und Geschäftsviertel, das nicht mehr zur City, aber auch noch nicht zur Vorstadt gehörte. Die schmutzigen Hauswände waren mit Graffiti besprüht. »DAS LEBEN: EIN PORNO« stand dort etwa in fetten, schwarzen Lettern treffend zu lesen. Fox schlug willkürlich den Weg in irgendeine Richtung ein.
Sie rechnete nicht damit, es auf Dauer vermeiden zu können, ein Straßenschild oder etwa den Namen eines Kinos oder eines bekannten Lokals wahrzunehmen. Vielleicht hatte sie auch Pech, und sie landete genau in einem Ortsteil, in dem sich einer ihrer Jäger auskannte. Aber das war die einzige Methode, die ihr einfiel, um ihre Verfolger abzuschütteln. Den Spielregeln zufolge hatte auch jeder Jäger, der ihr auf fünfzig Meter nahegekommen war, sie zunächst durch einen Zuruf auf sich aufmerksam machen. Im Zweifelsfall musste sie dann eben rennen.