Читать книгу GUARDIANS - Das Vermächtnis - Caledonia Fan - Страница 5

~~~ TAG 1 ~~~

Оглавление

Dienstag, 20:00 Uhr


Er musste das Bewusstsein verloren haben, denn als er verwirrt die Augen aufschlug, fand er sich auf dem Boden liegend. Auf kaltem, nacktem Steinboden.

Während seine Fingerspitzen tastend über die Steine glitten und eine Fuge nachfuhren, fiel ihm alles wieder ein. Er war in dem alten, verlassenen Schloss. Finsternis umgab ihn, nur am Ende des Korridors schimmerte Tageslicht. Es herrschte völlige Stille.

Die rechte Schulter schmerzte höllisch, und als er hin fasste, sog er zischend die Luft ein. Er versuchte, sich aufzurichten, schaffte es in eine halb sitzende Position und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Mit geschlossenen Augen und zurückgelegtem Kopf analysierte er seine Lage.

Mato Rayan, der Feigling, den er in diesen lichtlosen Gang verfolgt hatte, war wohl inzwischen auf und davon. Uneinholbar für ihn.

Es war ein Risiko gewesen, ihm blindlings hinterher zu stolpern, ohne zu wissen, was ihn in dem schwarzen Korridor erwartete. Da er seine Rechte nicht benutzen konnte, waren ihm nur zwei Möglichkeiten geblieben. Die eine war, sich entweder mit der Pistole in der Hand in der Dunkelheit weiterzutasten, die andere, unbewaffnet und mit Handy-Taschenlampe ausgerüstet zu riskieren, dem Gegner in die Arme zu laufen. Schließlich hätte Rayan ihm auflauern oder zurückkommen können, um zu vollenden, was er vorhin begonnen hatte. Die zweite Variante war ihm deshalb sicherer erschienen und er hatte seine Waffe ins Halfter zurückgeschoben und das Telefon hervorgeholt.

Schon nach wenigen Schritten musste er wegen Schwäche und Schwindel die Verfolgung abbrechen. Seine Knie gaben nach und knickten ein. Das Handy war den kraftlosen Fingern entglitten und sein Bewusstsein von alles verschlingender Schwärze ausgelöscht worden.

In Gedanken stieß er einen Fluch aus und hieb hilflos mit der Faust auf den Boden. Er hatte Rayan fast gehabt! So nahe dran und doch war ihm der Dreckskerl entwischt.

Er seufzte. Yonas hatte den Mann unbewusst und ungewollt in die Flucht geschlagen. Aber die Hauptsache war, dass es dem Jungen gut ging. Sie hatten ihn unverletzt befreien können.

Das war das Wichtigste für ihn. Um Rayan musste er sich später kümmern, denn es gab eine offene Rechnung zwischen ihnen.

Argwöhnisch sah er sich um. Es war totenstill. Hastig griff er nach dem Handy. Die Lampe leuchtete noch, allerdings war der Akku schwach. Er wusste nicht, wie lange er hier gelegen hatte. Einen Augenblick lang musterte er die Pistole im Waffenholster an seiner Seite. Sie war nutzlos, denn mit links war er ein lausiger Schütze. Und sein furchteinflößen­des schwarzes Kampfmesser lag irgendwo in der großen Halle, dort, wo es ihm von La'ith aus der Hand geschlagen worden war.

La'ith. Er hatte ihn wiedergesehen, nach so vielen Jahren. Endlich. Doch es war, als hätte er einem Fremden gegenübergestanden. Ein Blick in seine Augen hatte genügt, um zu erkennen, auf wessen Seite sein Bruder heute stand.

Er rief sich zur Ordnung. In diesem Moment konnte er nichts daran ändern. Er musste hier raus. Aber noch immer fühlte er sich unsagbar kraftlos. Die Wunde an der Schulter blutete unvermindert weiter. Das war besorgniserregend. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Sein Körper versagte ihm den Dienst. Und das erschreckte ihn, denn das war nicht das, was Yonas' Vater ihm damals angekündigt hatte für den Fall, dass er den Jungen einmal berühren musste.

Vorhin hatte er es tun müssen. Und etwas in ihm war dadurch verändert worden. Hätte er den Kontakt mit seinem Schützling nur ein wenig länger aufrechterhalten, wäre er jetzt vielleicht tot. Es war knapp gewesen, das hatte er deutlich gemerkt. Diese lähmende Schwäche, das seltsame Kribbeln - beides konnte er immer noch in Armen und Beinen wahrnehmen.

Entschlossen stemmte er sich hoch und kam auf die Füße. Unter den Fingern der linken Hand, mit der er sich beim Gehen an der Wand abstützte, fühlte er losen Putz, der bei seiner Berührung zu Boden rieselte. Langsam ging er auf das Viereck aus Tageslicht zu, bis er wieder in die große Halle trat, aus der er gekommen war.

Die tiefstehende Abendsonne warf goldenes Licht durch die hohen, mit Spinnweben verhangenen Fenster. Einen Augenblick blieb er stehen und lauschte. Es war niemand mehr da. Trotzdem bemühte er sich, keinen Laut zu verursachen, während er quer durch den riesigen Saal auf die gegenüberliegende Doppeltür zulief. Nur noch durch den Gang und er war am oberen Ende der breiten Steintreppe angekommen, die hinab ins Foyer führte. Das zunehmende Schwindelgefühl ließ die Stufen vor seinen Augen tanzen, als er langsam hinabschritt.

Vor Anstrengung und Schmerz mit den Zähnen knirschend öffnete er einen der mächtigen Türflügel des Eingangspor­tals und musste blinzeln. Die Strahlen der untergehenden Sonne blendeten ihn.

Ein paar dürre Blätter vom letzten Herbst wehten in die Vorhalle. Vor ihm lag das verwilderte Grundstück mit dem Springbrunnen und der halb zugewachsenen Auffahrt, die sich bis zum Tor hinunterschlängelte.

Sein Auto stand draußen vor dem Tor, bis dahin musste er noch laufen. Und dabei war er nicht einmal sicher, ob er mit der verletzten Schulter fahren konnte. Jede Bewegung mit dem rechten Arm ließ ihn nach Luft schnappen. Die Schmerzen raubten ihm die Kraft und machten es ihm unmöglich, klar zu denken.

Er hatte das steinerne Geländer der Freitreppe gerade erreicht, da begannen seine Knie erneut zu zittern. Die Umgebung fing wieder an zu schwanken und sein Blickfeld engte sich ein. Vor den Augen wogten schwarze Schlieren, die ihm die Sicht trübten. In den Ohren rauschte es zunehmend, die Treppenstufen rasten auf ihn zu … und …


Ein einzelner, leiser Piepton holte ihn zurück in die Realität. Als er ihn gleich darauf ein zweites Mal hörte, schlug er die Augen auf.

Es war dunkel geworden. Dichte Wolken trieben über den Himmel und ließen den Mond nur ab und zu hindurch­scheinen.

Der Ton wiederholte sich nicht noch einmal und langsam drang die Erkenntnis in sein benebeltes Hirn, dass er das Handy gehört hatte. Nachdem die matt leuchtende Taschen­lampe es vorhin schon ankündigte, war der Akku nun wohl komplett leer.

Erst nach zwei erfolglosen Versuchen schaffte er es, sich aufzusetzen. Ein Blick zurück ließ ihn erkennen, dass er die ganze lange Treppe heruntergerollt war. Dabei musste er heftig mit dem Kopf angeschlagen sein, denn sein Schädel dröhnte fürchterlich. Das Atmen verursachte starkes Stechen im Brustkorb. Er hustete kraftlos, während er mit Mühe auf die Füße kam und sich auf dem Mauersims niederließ, der die breite Freitreppe einfasste.

Selber zu fahren schaffte er jetzt nicht mehr und das Handy war leer. Aber er brauchte Hilfe.

Die letzten Chancen, welche herbeizurufen, waren seine telepathische Gabe und Trajan. Der Siebzehnjährige konnte ihn als Einziger von den Guardians hören und den Chef informieren. Und der würde jemanden herschicken. Hoffentlich, denn die Wunde an der Schulter blutete seltsamerweise immer noch stark. Das Shirt klebte klamm auf der Haut an Brust und Rücken.

Eine Weile wartete er ungeduldig, doch Trajan antwortete nicht. Erneut rief er den Kameraden, aber es kam keine Antwort.

Also blieb jetzt bloß noch der Weg zum Auto. Wenn er das Handy an die Zündung anschloss, konnte er auch mit leerem Akku telefonieren. Doch als seine Linke in die Brusttasche des Mantels griff, stellte er bestürzt fest, dass es nicht da war. Wahrscheinlich hatte er es bei dem Sturz auf der Treppe verloren.

Ein Fluch entschlüpfte ihm. Es lag ganz in der Nähe, er hatte vorhin den Piepton gehört. Suchend schaute er sich um, doch es war zu finster. Ohne Licht sah er es nicht. Vorsichtig ließ er sich auf die Knie nieder und tastete mit der Linken blind umher, musste aber aufgeben, denn er bekam keine Luft und der Schmerz in den Rippen ließ ihn ächzen.

Resigniert brach er die Suche ab und kam mühsam wieder auf die Beine.

Er war auf sich gestellt. Niemand würde ihm helfen, er musste es zu Fuß bis nach Darach Manor schaffen. Und das schnell, denn die energetische Barriere, die er selber rund um das Anwesen errichtet hatte, war heute Abend verschwunden. Der Landsitz und damit das Hauptquartier der Guardians war schutzlos und ihr Chef hatte keine Ahnung davon. Wenn Rayan die beiden Wagen mit den Kameraden auf dem Heimweg verfolgen ließ, befand er sich mit seinen Leuten auf direktem Weg dorthin. Oder er war schon dort. Die herkömmliche Alarmanlage würde ihn nicht aufhalten. Der Mann war ein Energiewandler. Eine elektrische Anlage bildete kein Hindernis für die Fähigkeiten dieses Irren. Und was in seinem Kopf vor sich ging, konnte niemand wissen. Darach Manor war in Gefahr. Und in dem alten Gemäuer befand sich nicht nur die geheime Zentrale der Guardians, sondern auch die Schule und das Internat für Jugendliche mit besonderen Begabungen.

Erneut rief er Trajan. Noch einmal. Und ein drittes Mal. Es blieb still.

In nur zeitweise von Mondlicht erhellten Finsternis machte er sich auf den Weg. Die Auffahrt des Schlosses war lang und er kam langsam voran. Es schien, als würden Efeu und Brombeerranken nach seinen Füßen greifen, um ihn zu Fall zu bringen. Immer wieder drehte er sich nervös um in der Erwartung, einen der Gegner von vorhin oder La'ith hinter sich zu entdecken. Doch niemand behelligte ihn.

Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte das schmiedeeiserne Tor vor ihm auf, das verrostet und schief in den Angeln hing. Er schob sich hindurch und blieb unschlüssig stehen. Die ehemalige Zufahrtsstraße war der sichere Weg. Aber auch der längere, der sehr viel längere. Wenn er sich hingegen quer durch die Büsche schlug, war er in einer halben Stunde am Landsitz.

Doch obwohl ihn niemand finden würde, falls er nicht weiterkonnte, entschied er sich für den Fußmarsch durch den Wald.

Anfangs kam er gut voran. Aber immer öfter musste er stehenbleiben, sich an einem Baum festhalten und warten, bis sein Sichtfeld aufhörte sich zu bewegen.

Einmal hatte er den Eindruck, dass er verfolgt wurde. Er glaubte, ein leises Knacken hinter sich vernommen zu haben. Alarmiert hielt er an, um zu lauschen, doch das Einzige, was er hörte, waren sein dröhnender Herzschlag und sein abgehackter, keuchender Atem. Sonst war alles still. Er musste sich getäuscht haben.

Unermüdlich versuchte er, Trajan zu erreichen. Es war umsonst. Wahrscheinlich schlief der Guardian bereits.

Das Knacken hatte sich nicht wiederholt. Trotzdem war da ein Gefühl, dass er beobachtet wurde. Immer wieder flog sein Blick zurück und hetzte nervös zwischen den schwarzen Silhouetten der Bäume hin und her, aber es war nichts zu sehen.

Mühsam zwang er sich vorwärts. Durst quälte ihn und er bekam keine Luft. Er fror und schwitzte gleichermaßen. Es gab keinen erkennbaren Weg durch das Dickicht. Die Wolken ließen das Mondlicht nur ab und zu für ein paar Sekunden durch und es reichte nicht aus, um Hindernisse rechtzeitig bemerken zu können. Er hatte zunehmend Probleme, scharf zu sehen. Immer wieder verschwamm seine Sicht kurz und die Schatten mutierten zu sich bewegenden Gestalten, die nach ihm griffen. Büsche zerrten an seinem Mantel, ließen den Schmerz in der Schulter erneut aufflammen und bis in den Nacken schießen. Ungehindert peitschten ihm Zweige ins Gesicht. Er konnte sie nicht beiseiteschieben, weil er mit der linken Hand den rechten Arm stützte.

Zum Glück war er bald da. Die Hütte am Rand der kleinen Lichtung musste jeden Moment zwischen den Bäumen auftauchen. Mechanisch wie eine Aufziehpuppe stolperte er weiter.

Endlich.

Als hätte die Kraft nur bis zu diesem Punkt gereicht, brach er an der Grundstücksgrenze von Darach Manor in die Knie und fiel ins Gras. Er war nicht in der Lage, den Sturz abzufangen, und die Erschütterung des Aufschlages peitschte neuen Schmerz durch sein getrübtes Bewusstsein. Der Griff der Pistole bohrte sich dabei in die verletzten Rippen und ließ ihn nach Luft schnappen. Unbeholfen versuchte er mit der Linken, den Verschluss zu lösen, und schaffte es mit viel Anstrengung, die Waffe aus dem Halfter zu zerren. Atemlos keuchend und mit zugekniffenen Lidern blieb er liegen.

Seine Kraft war aufgebraucht. Er kam nicht wieder auf die Füße und auch die Augen konnte er nicht mehr öffnen. Nach wenigen Momenten schon kroch die lähmende Kälte des Bodens in seine Glieder. Er würde hier erfrieren ...

Noch einmal versuchte er, Kontakt zu Trajan herzustellen, aber es kam keine Antwort. Undeutlich merkte er, wie er erneut weg driftete.

Als der blaue Guardian endlich antwortete, hörte er es nicht mehr.


Dienstag, 22:30 Uhr


"Hat sich Ahmad bei einem von euch gemeldet?"

Die Frage ließ das aufgeregte Durcheinanderreden der acht Guardians, die im Speisezimmer des alten Landsitzes trotz der späten Stunde noch am Tisch saßen, kurz verstummen. Ihr Chef stand in der offenen Tür und wartete auf eine Antwort. Aber alles, was er bekam, war Kopfschüt­teln. Besorgt furchte er die Stirn.

"Hat er denn noch nicht angerufen?"

Die Frage war von Hennak gekommen. Der blonde Teenager wollte sie normal klingen lassen, doch er konnte einen leicht gehässigen Unterton nicht unterdrücken.

Jetzt war es Tariq, der den Kopf schüttelte. "Bitte gebt mir Bescheid, wenn er sich bei einem von euch melden sollte", meinte er und drehte sich um.

Acht Augenpaare schauten ihm verwundert nach, als er zurück in das Foyer ging. Ihr Chef war der Inbegriff eines englischen Lords. Obwohl er dadurch zeitweise wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten erschien, zählte er noch keine vierzig Jahre. Seine sparsamen Bewegungen wirkten hoheitsvoll und die kerzengerade Haltung unterstrich den Eindruck noch, genauso wie die schmale Nase, die hohe Stirn und der akkurat gestutzte Vollbart. Einzig die bis in den Nacken reichenden welligen, braunen Haare passten nicht zum Gesamtbild.

"Was soll die Frage?", murmelte Hennak. "Ahmad bleibt immer zurück, wenn wir nach Hause fahren, das weiß Tariq doch." Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch. "Dafür hat er unserem ach so perfekten Spurenbeseitiger schließlich ein eigenes Auto zur Verfügung gestellt", brummte er. Entrüstung und Neid sprachen aus den ärgerlichen Worten des blonden Guardians. "Ich weiß nicht, wo der Einzelgänger ist und auch nicht, was er macht. Ist mir auch egal."

"Dieser ach so perfekte Spurenbeseitiger ist wichtig!", bemerkte Shujaa, sein breitschultriger Teamgefährte mit der tiefbraunen Hautfarbe, der neben ihm saß. "Und er ist mindestens genauso gründlich wie du bei der morgendlichen Schönheitspflege für dein Gesicht."

Besagtes Gesicht verdüsterte sich vor Ärger, als Hennak den Kopf wandte und den Sprecher anstarrte. "Ah, noch einer vom Ahmad-Fanclub? Geht doch alle und küsst ihm die Schuhe! Oder schwenkt Fähnchen, wenn er am Tor vorfährt!"

"Hört auf, ihr zwei!", brummte Trajan vorwurfsvoll. "Hennak, das Thema Auto für Ahmad haben wir schon zur Genüge durchgekaut. Ich kann's nicht mehr hören. Du bist siebzehn! Was willst du mit einem eigenen Auto?" Der durchtrainierte Guardian mit den zerzausten dunkelbraunen Haaren und den braunen Augen saß ihm gegenüber und sah nicht einmal auf, als er den Freund vom Team Rot rügte. Er trug wie alle anderen einen schwarzen Overall. Die Weste, die ein blaues Dreieck auf dem Ärmel hatte, hing auf der Stuhllehne.

Tiana, seine ein Jahr ältere Schwester, hob den Kopf und runzelte ebenfalls missbilligend die Stirn über Hennaks letzte Bemerkung. "Aber Tariq hat recht. Es ist wirklich schon ziemlich spät. So lange braucht Ahmad doch sonst nicht."

Ihr Bruder nickte sinnend.

"Aber wenn er zurückkehrt, erfahren wir es sowieso nicht", fuhr sie mit leisem Bedauern in der Stimme fort. "Er kommt ja wegen der Barriere nie aufs Grundstück, geschweige denn herein ins Haus." Ein trauriger Ausdruck schlich sich in ihre grünen Augen. Ihrer Meinung nach gehörte Ahmad mit an diesen Tisch. Nicht nur das: Sie wünschte sich, dass er mit ihnen zusammen hier auf dem Landsitz lebte. Alle Guardians wären so unter einem Dach.

Doch es war sinnlos, sich schon wieder darüber Gedanken zu machen. Es ließ sich nicht ändern. Die Barriere war zu wichtig und deshalb musste Ahmad draußen bleiben.

Bedrückt schob sie eine vorwitzige Strähne ihrer langen, kastanienbraunen Haare hinter das Ohr und überlegte, ob sie als Erste aufstehen und zu Bett gehen sollte. Sie war müde, doch sie genoss diese Runde hier im Speisezimmer.

Yonas, einer ihrer Mitschüler, war nach der Schule in der Stadt von einem Unbekannten verschleppt worden. Ahmad, sechs der acht Guardians - sie selbst eingeschlossen - und ihr Chef hatten ihn vorhin unverletzt befreien und aus dem alten Schloss im Wald zurückholen können. Jetzt schlief er oben in seinem Zimmer und sie saßen hier und redeten über das zurückliegende Ereignis.

Die Nachricht hatte am Nachmittag eingeschlagen wie eine Bombe und allen Rätsel aufgegeben. Wer war der Entführer und warum war Yonas das Ziel? Und wieso war auf der am Schulrucksack zurückgelassenen Notiz der Ort angegeben, an dem er wieder abgeholt werden sollte?

Fast ohne Vorbereitungszeit waren das rote, das blaue und das grüne Zweierteam mit Imara, ihrer Fahrerin, aufgebrochen und am Schloss zu Ahmad gestoßen, der sie dort erwartete. Sieben Guardians, um ihren jüngsten Mitbewohner zu befreien. Später war noch der Chef dazugekommen.

Jetzt, wo es vorbei war, zeigte sich bei allen die Erschöpfung. Und dass Hennak gereizt war, überraschte niemanden. Er mochte Ahmad einfach nicht.

Trotzdem zog Tiana nun die Augenbrauen zusammen wegen seiner abfälligen Äußerungen, denn jetzt übertrieb er es mit seiner unbegründeten Abneigung doch deutlich.

"Das ist wahr, er müsste mit hier bei uns sein", stimmte Trajan seiner Schwester zu, mit der er das blaue Team der Guardians bildete. "Wir erfahren ja sonst auch nicht, wann er nach den Einsätzen zurückkommt. Er ruft immer nur beim Chef an." Er wollte nach seinem Glas greifen, hielt aber unvermutet mit der Hand in der Luft inne.

Tiana warf ihm einen verwunderten Blick zu.

Trajan hatte die Stirn gefurcht und die Augen geschlossen, riss sie gleich darauf verdutzt wieder auf und schaute seine Schwester einen Augenblick irritiert an. Langsam stand er auf. Er war einen ganzen Kopf größer als sie und sie war gezwungen, zu ihm aufzublicken.

"Ich muss mal schnell zu Tariq", murmelte er.

"Was, jetzt?", wunderte sich Tiana. "Zum Chef? Warum?"

"Später." Er machte eine abwehrende Handbewegung, nickte ihr kurz zu und verließ das Speisezimmer mit raschen Schritten.

Die anderen blieben verwundert zurück.

"Was hatte das denn zu bedeuten?", murmelte Hennaks Teamgefährte verwirrt.

"Pff, keine Ahnung", antwortete dieser. "Ahmad, Ahmad, immer nur Ahmad. Der Chef ist völlig fixiert auf ihn! Er beschließt nichts mehr, ohne vorher seine Meinung einzuholen. Wenn ihr mich fragt, hat er einen Narren an dem Kerl gefressen." Sein Gesicht zeigte einen fast verbitterten Ausdruck.

"Halt endlich die Klappe, Hennak!" Tiana hatte endgültig genug und funkelte ihn erbost an. "Du kannst doch bloß nicht ertragen, dass er besser ist als du, stimmt's?", setzte sie einen Ton schärfer hinzu und durchbohrte den roten Guardian mit einem Blick, der Bände sprach.

Die anderen Anwesenden zogen die Köpfe ein. Trajans zierliche Schwester war sonst eher sanft und still, aber wenn sie für jemanden kämpfen konnte, tat sie das mit einer Kraft, die man nicht von ihr erwartete. Und Hennaks unbegründete Abneigung gegenüber Ahmad war ihr schon lange ein Dorn im Auge. Seine letzte Bemerkung hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.

Das Ziel ihres zornigen Ausbruchs ließ sich jedoch nicht beeindrucken von ihrer vorwurfsvollen Miene.

"Jetzt schwärmst du auch noch für ihn?", knurrte er missmutig zurück und schob entschlossen sein kantiges Kinn vor. "Heirate ihn doch, wenn er dein Held ist! Ich frag mich bloß, was du an ihm findest."

Tiana klappte den Mund zu und starrte ihn verblüfft, ja fast erschrocken an. Einen Moment sah es so aus, als würde sie entweder aufspringen und wegrennen oder ihn ohrfeigen. Doch sie tat keines von beidem und der Blondschopf wetterte unbeeindruckt weiter.

"Der Typ ist ein Sonderling. Ständig so still und zurückhaltend. Man weiß nie, was er denkt. Niemals lacht er und Späße scheint er einfach nicht zu verstehen. Und ist dir mal aufgefallen, wie er mit Tariq redet?" Zustimmung suchend blickte er Shujaa an, als er die Frage stellte. "Das würde sich keiner von uns anmaßen."

Sein Teamgefährte, dessen tiefbraune Haut im Kerzenlicht schimmerte, verzog das Gesicht. "Lass mal gut sein, Hennak," murmelte er anstelle einer Antwort. Der neunzehnjährige Physikstudent warf einen besorgten Blick auf Tiana und versuchte dem drohenden Donnerwetter zuvorzukommen. Wie die anderen registrierte auch er die aufkommende Spannung im Raum. Hennak war dabei, sich um Kopf und Kragen zu reden, und er merkte es nicht einmal. "Dass er nicht hier ist, ist allein seine Entscheidung. Du weißt genau wie wir, dass er nach diesem Gespräch mit Tariq damals die Barriere um das Grundstück und das Haus errichtet hat und es seitdem nicht mehr betreten konnte." Seine kräftigen Finger spielten mit dem Glas, auf das er versonnen schaute. "Wir können froh sein, dass er uns hilft. Auch wenn er sich immer noch nicht als richtiges Mitglied der Guardians betrachtet", meinte er eindringlich und jeder wusste, dass dies an Hennak gerichtet war, obwohl er 'wir' gesagt hatte. "Seine Kräfte sind unschätzbar wichtig für uns."

"Wir haben alle besondere Kräfte", grollte sein Team­ge­fährte. "Er ist nicht der Einzige. Und er ist nichts Besonderes."

Jetzt sprang Tiana auf. Ihr Stuhl kippte beinahe um, so rasch wurde er zurückgeschoben.

"Du bist ein solcher Idiot, Hennak!", fauchte sie erbost, marschierte zur Tür und verließ das Speisezimmer ohne ein weiteres Wort.

Shujaa verdrehte die Augen und stöhnte verhalten. "Du weißt, dass du Blödsinn redest, Hennak", hielt er seinem Teampartner vorwurfsvoll entgegen und warf ihm einen verdrossenen Blick zu. "Natürlich haben wir alle Gaben, aber er ist etwas Besonderes. Keiner von uns kann aus purer Energie Geschosse oder ein solches Wesen erschaffen wie Ahmad." Er seufzte, während er weiter gedankenverloren das Glas zwischen den Fingern drehte. "Tiana hat recht, wir haben ihm viel zu verdanken."

Das Thema schien erledigt. Die Atmosphäre entspannte sich merklich nach dieser Bemerkung, die damit ihren Zweck erfüllt hatte. Hennak musterte Shujaa kurz und zuckte mit den Schultern.

Ihre vier Gefährten atmeten auf. Die zwei grünen Guardians waren der Unterhaltung zwar aufmerksam, aber stumm gefolgt und das Team Gelb hatte sich ebenfalls nicht eingemischt.


Dienstag, 22:35 Uhr


Tariq Genera Viscount of Henley, der Leiter der Schule für Jugendliche mit außergewöhnlichen Begabungen und außerdem Chef der Organisation der Guardians, saß regungslos in seinem riesigen Arbeitszimmer im Erdgeschoss des ehrwürdigen und verwinkelten Landsitzes. Vor ihm stand sein unberührtes, kalt gewordenes Abendessen.

Ungeduldig starrte er auf die Uhr auf seinem Schreibtisch. Er wartete auf Ahmads Anruf. Eben hatte er sich in seinem Armlehnstuhl zurückgelehnt und rief sich alles noch einmal in Erinnerung, was heute Abend im Schloss geschehen war.

Da klopfte es.

Der Hausherr hob den Kopf.

"Herein!", rief er sofort in der Erwartung, dass jemand Nachricht von Ahmad brachte. Trajans besorgte Miene war das Erste, was er sah, nachdem die Tür sich geöffnet hatte.

"Was ist los?", fragte er alarmiert und kam hinter dem Schreibtisch hervor.

"Ich bin nicht ganz sicher", antwortete der blaue Guardian und trat ein. Man hörte seiner Stimme an, dass er beunruhigt war. "ich glaube, Ahmad hat versucht mich zu kontaktieren."

Tariq verengte die Augen und schaute Trajan forschend ins Gesicht. "Ahmad?" Er wunderte sich, denn das war noch nie vorgekommen. "Wieso bist du nicht sicher?"

"Ich ... Ich konnte gerade etwas hören. Ganz leise und ich habe auch nur meinen Namen verstanden. Und doch wusste ich sofort, dass er es ist, obwohl ich ihn noch nie so gehört habe. Es war fast nicht zu verstehen, irgendwie kraftlos … als ob … als ob er kaum sprechen könne."

"Er hat dich von sich aus kontaktiert?", vergewisserte sich Tariq mit gerunzelter Stirn.

Trajan nickte hastig.

"Weißt du, wo er sein könnte? Ist er am Nordtor?" Auch die Stimme des Chefs ließ jetzt einen Anflug von Besorgnis erkennen.

"Keine Ahnung." Der blaue Guardian hob hilflos die Schultern. "Wie gesagt, ich habe nur einmal leise meinen Namen gehört, danach kam nichts mehr und er antwortet mir auch nicht. Ob ihm was passiert ist?"

Tariq kniff die Augen zusammen und nahm sich einen Moment Zeit, um nachzudenken, was das bedeuten konnte. Wenn Ahmad Trajan telepathisch kontaktiert hatte, musste es einen Grund dafür geben. Einen Grund, weshalb er nicht - wie sonst - angerufen hatte. Aber warum hatte er sein Handy nicht genutzt?

"Hol Senad. Er soll mit dem Laptop kommen. Wenn Ahmad sein Handy bei sich trägt, kann Senad ihn mittels des GPS-Signals finden. Und bring Shujaa auch gleich mit!", rief er, weil Trajan schon fast wieder zu Tür hinaus war.

Der blaue Guardian nickte und beeilte sich, um die beiden noch zu erwischen, bevor alle in ihren Zimmern verschwanden und schlafen gingen. Er hatte Glück, Shujaa und Senad kamen eben aus dem Speiseraum. Hastig richtete er ihnen Tariqs Botschaft aus, während sie durch das Foyer liefen.

Senad sprintete kommentarlos die Treppe hinauf zu seinem Zimmer im zweiten Stock und der rote Guardian folgte Trajan, ohne Fragen zu stellen. Tariqs Anweisungen wurden nicht hinterfragt. Wenn man zu ihm kommen sollte, dann kam man, sofort.

Ihr Chef sah ihnen schon ungeduldig entgegen.

"Shujaa, versuche Ahmad aufzuspüren", bat er ohne Einleitung.

"Aufspüren?", fragte der rote Guardian verblüfft. "Ich kann es probieren. Aber du weißt ja, dass er von mir nicht gefunden werden kann, wenn er es nicht will. Wenn er sich mithilfe seiner Sperre vor mentalen Zugriffen anderer abschirmt, ist das auch für mich unüberwindlich. Ich kann ihn nur finden, wenn er sie deaktiviert -."

"Ich weiß", schnitt Tariq ihm das Wort ab, "und ich glaube, dass er genau das getan hat. Versuche es."

Shujaa musterte den Chef prüfend. Dann nickte er, schloss die Augen und konzentrierte sich.

Nur wenige Augenblicke später erschien Senad. Der dunkelhaarige junge Mann aus Bosnien war mit neunzehn Jahren der ältere der beiden grünen Guardians. Seine Leidenschaft gehörte allem, was mit Computern und der IT-Branche zu tun hatte. Drei Viertel seiner knappen Freizeit verbrachte der Informatik-Student vor irgendeinem Bildschirm. Er hackte sich in jede Seite, die er sehen wollte und knackte jedes Passwort, wobei ihm sein außergewöhnlich hoher IQ von großem Nutzen war. Nun stellte er seinen Laptop auf den Tisch, klappte ihn auf und sah den Chef abwartend an.

"Wir brauchen das GPS-Signal von Ahmads Handy", wies dieser an und sofort ließ Senad seine Finger über die Tastatur fliegen, während seine Augen keinen Blick vom Monitor wandten. Tariqs Bitte würde er im Handumdrehen erfüllt haben.

Jetzt furchte sich Shujaas Stirn verwundert und er öffnete die Augen wieder. "Komisch", meinte er, "ich habe ihn tatsächlich gefunden. Sein Lichtpunkt ist im Wald, westlich von hier, beim See. Direkt an der Blockhütte, die da am Ufer steht. Und er ist allein und steht ganz ruhig da. Das wundert mich jetzt wirklich, dass ich ihn so mühelos aufspüren konnte …"

"Ja, seltsam. Das hat er sonst nur selten zugelassen, oder?" Tariq sah den roten Guardian aufmerksam an und der nickte zögernd, während er sich unschlüssig mit der Hand über das raspelkurz geschorene Haar fuhr. "Stimmt. Normalerweise verschanzt er sich hinter seiner mentalen Abschirmung, aber jetzt hat er sie offenbar nicht aktiviert. Was um alles in der Welt macht er um diese Zeit allein im Wald, wenn er weiß, dass du auf ihn wartest?"

Tariq antwortete nicht auf die Frage. Ihn beschäftigte etwas anderes. "Und du bist sicher, dass er ganz allein ist?", vergewisserte er sich.

"Ich sehe niemanden sonst", versicherte Shujaa ihm.

Sie mussten noch einen Moment warten, bis auch Senad so weit war.

"Sein GPS kommt vom Schloss", erklärte dieser nun.

Trajan schüttelte den Kopf. "Kann nicht sein. Shujaa sagt, er ist im Wald."

"Aber sein Signal kommt aus dem Schloss", beharrte der grüne Guardian schulterzuckend und klappte den Laptop zu. "Vielleicht ist er nicht die Person im Wald und Shujaa irrt sich?"

"Du weißt, dass ich mich nie irre", entgegnete dieser unwirsch.

"Dann hat er das Handy nicht bei sich", schlussfolgerte Senad. Einen Augenblick sah er den Chef an, dann wurde sein Blick wachsam. "Was ist hier los, Tariq?"

"Wir wissen es noch nicht. Erst einmal vielen Dank euch." Tariq nickte ihnen zu und die beiden ältesten Guardians erkannten, dass sie nicht mehr gebraucht wurden. Nach kurzem Zögern verließen sie das Zimmer, nicht ohne einen verwunderten Blick auf Trajan zu werfen, denn der wurde von Tariq nicht zum Gehen aufgefordert. Man konnte sehen, dass beide auch lieber geblieben wären.

Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, konnte Trajan seine Unruhe nicht länger bezähmen.

"Tariq, lass mich dort nachschauen. Ich glaube, er steckt in Schwierigkeiten! Ahmad klang so …" Trajan fiel kein treffendes Wort ein.

Aber Tariq verstand. "Keinesfalls gehst du allein!", erklärte er entschieden. Während er seine Jacke vom Haken neben der Tür zerrte, überlegte er fieberhaft, was das bedeuten konnte. Auf jeden Fall mussten sie erstmal mit Ahmad reden. Trajan würde er mitnehmen. Und Tanyel. Er wusste, dass sein Steward bereits zu Bett gegangen war. Es würde wertvolle Zeit kosten, auf ihn zu warten. Trotzdem, er hatte ihn lieber dabei.

"Ich lauf schon mal vor. Du geh hoch und hol Tanyel aus dem Bett, dann kommt mir nach. Tanyel weiß, wo die Hütte ist. Wir treffen uns dort mit Ahmad."

Der flauschige Teppich im Korridor schluckte jedes Geräusch ihrer Schritte. Während Trajan die Treppe hinauf hastete, hörte er, wie im Foyer das schwere eichene Eingangsportal hinter dem Chef dumpf ins Schloss fiel. Oben im zweiten Stock hämmerte er mit der Faust an die Wohnungstür des Stewards. Ungeduldig wartete er, bis Schritte dahinter hörbar wurden.

Tanyel, die rechte Hand des Chefs und Mädchen für alles im Landsitz, schaute den späten Störenfried verwundert an, nachdem er geöffnet hatte. Doch er reagierte sofort, nachdem Trajan atemlos erklärt hatte, worum es ging. In wenigen Augenblicken hatte er seine Jacke, eine Taschenlampe und den Schlüsselbund ergriffen und folgte Trajan die Treppe hinunter.

Ihre schnellen Schritte knirschten auf dem Kies vom Vorplatz. Es war eine windstille Nacht und am inzwischen fast wolkenlosen Himmel breitete sich ein Meer von Sternen aus. Sie liefen am westlichen Giebel des Hauses vorbei und hetzten dann über die Wiese auf den Wald zu. Der Mond schien so hell, dass er den gepflegten englischen Rasen hinter dem Landsitz beleuchtete.

Doch Tanyel hatte kein Auge für die Schönheit der Nacht. "Konntest du Ahmad nochmal hören?", keuchte er, während er vor Trajan herrannte.

"Nein, alles still jetzt. Und ich kann ihn nicht erreichen. Ich mach mir wirklich Sorgen. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm."

Tanyel zog das Tempo noch ein wenig an. Darach Manor war ein riesiges Anwesen und selbst er hatte noch nicht jeden Winkel betreten, obwohl er jetzt schon so viele Jahre hier lebte. Im westlichen Areal lagen ein fast unberührter Forst und der See, unzugängliches Gelände, zu dem kein Weg führte. Doch an die kleine Hütte am Ufer dieses Sees konnte er sich erinnern. Seines Wissens nach war sie leer und ungenutzt. Was um alles in der Welt machte Ahmad dort?

Der Wald nahm sie auf und schluckte fast das gesamte Mondlicht. "Ich hätte mir auch eine Taschenlampe mitnehmen sollen!", schnaufte Trajan, nachdem ihn das dritte Mal ein Zweig ins Gesicht gepeitscht hatte, während er hinter Tanyel durch die Nacht stolperte. "Hoffentlich finden wir ihn schnell. Eine Hütte im Wald westlich des Hauses ist eine ziemliche vage Ortsangabe."

"Keine Sorge, ich weiß, wo sie ist", versicherte Tanyel.


Dienstag, 22:50 Uhr


Rhea, die achtzehnjährige weibliche Hälfte von Team Gelb, klopfte an die Tür von Tianas Zimmer, das direkt neben ihrem im ersten Stock des alten Gebäudes lag.

"Mach schon auf", bat sie zum wiederholten Male. "Ich bin's doch bloß."

Sie hatte den erbosten Abgang ihrer Freundin nach der bescheuerten Bemerkung von Hennak beobachtet und wollte eigentlich nur mal schauen, ob mit ihr alles in Ordnung war. Da sie die einzigen Mädchen unter den Guardians waren, hatte Tiana sie vor einiger Zeit schon in ihr Geheimnis eingeweiht. Niemand sonst wusste davon und Rhea konnte sich vorstellen, dass die Freundin mit sich selbst haderte, weil sie sich vorhin im Speisezimmer fast verraten hatte.

Die Tür öffnete sich einen Spalt.

"Komm rein", ließ sich eine resignierte Stimme von drinnen vernehmen.

Rhea trat ein und schloss die Tür hinter sich.

"Ich denke, du solltest vorsichtiger sein", mahnte sie. "Noch so eine Reaktion und jeder weiß es."

"Das brauchst du mir nicht zu sagen", knurrte Tiana, die sich bäuchlings aufs Bett geworfen und den Kopf unter das Kissen geschoben hatte.

"Du machst dir Sorgen, hm?" Rhea setzte sich neben sie und stützte einen Arm auf die Matratze. Die langen schwarzen Haare, die ihr dabei wie ein dunkler Vorhang über die Schulter nach vorn glitten, strich sie mit der freien Hand wieder zurück. Ihre ebenso dunklen Augen musterten ihre Freundin besorgt und mitfühlend.

Unter dem Kissen drang ein unwilliger Seufzer hervor, dann wurde es weggeschoben und Tiana setzte sich auf.

"Ich weiß, es ist albern. Man muss sich um ihn nicht sorgen. Sicher ist alles in Ordnung und ich mache mich hier verrückt."

Rhea streifte die Schuhe ab, zog die Beine hoch und setzte sich im Schneidersitz aufs Bett. Das Lächeln, das diese Worte hervorriefen, machte ihr hübsches Gesicht noch weicher, als es so schon wirkte.

"Das sagst du jedes Mal, wenn er zu einem Einsatz unterwegs ist."

"Ja, hast recht. Wie eine Glucke." Tianas grüne Augen trafen sich mit den fast schwarzen ihrer Freundin und dann prusteten die beiden los. Doch sie wurden schnell wieder ernst. Eine Weile schwiegen sie und hingen ihren Gedanken nach.

"Wann willst du es Ahmad endlich sagen?", wollte Rhea jetzt wissen und sah ihre Freundin gespannt an.

Tiana senkte den Kopf und lachte kurz. Es klang bitter.

"Wahrscheinlich wenn ich eine alte Frau bin. Oder nie. Ja, ich denke, ich werde wohl eher nie den Mut dazu finden."

Ihre Freundin presste mitfühlend die Lippen zusammen. "Und von seiner Seite ist gar nichts zu merken?"

Der Blick, den ihr Tiana jetzt zuwarf, zeigte nichts als Resignation. "Eher friert die Sahara zu. Ich weiß nicht mal, ob er sowas wie Liebe überhaupt kennt. Wahrscheinlich hat er da, wo andere ein Herz haben, nur einen Stein in der Brust. Er sieht mich gar nicht." Die Achtzehnjährige seufzte und ihre Lippen zuckten verräterisch. "Aber das ist mir egal", fügte sie flüsternd hinzu. Sie griff nach einem der Kissen, schlang die Arme darum und presste es an die Brust, um ihr Gesicht darin zu vergraben.

Rhea war so klug nichts darauf zu sagen. Sie hatten das Thema schon oft genug gehabt. Tiana kam keinen Schritt weiter bei Ahmad. Und sie hatte recht: er war blind für das, was sie so bewegte. Es schien hoffnungslos zu sein für ihre Freundin.

Was diese allerdings nicht wusste - sie selbst verbarg auch etwas, sorgfältig und tief in sich drin. Noch hatte sie nicht den Mut gefunden, mit Tiana darüber zu sprechen. Doch sie konnte die Freundin so gut verstehen, viel besser als diese ahnte ...

"Wir könnten zusammen mal zu den Garagen gehen und schauen, ob sein Auto da ist", meinte sie hastig, weil sie spürte, wie sich ihre Wangen röteten. "Aber selbst wenn nicht, muss das nichts heißen. Es steht ja nicht jede Nacht in der Garage. Wenn keiner Zeit hat, ihn einzuparken, oder Ahmad mitten in der Nacht eintrudelt, dann bleibt er draußen vor dem Nordtor stehen."

Tiana nickte erst und schüttelte dann missbilligend den Kopf.

"Ich wünschte, diese blöde und umständliche Sache mit der Barriere ließe sich irgendwie ändern. Jedes Mal braucht er einen, der sein Auto reinbringt. Am Tor ist Schluss für ihn. Und keiner hat bislang rausbekommen, wo er wohnt. Nicht mal Shujaa, weil er ihn nicht aufspüren kann. Ich vermute ja, dass er ein Zimmer hat in einem der Häuser in der neuen Siedlung vorn am Waldrand. Das wäre zu Fuß problemlos zu schaffen."

"Jetzt fang du nicht auch noch an. Es reicht schon, dass die Jungs fast vor Neugier vergehen. Außer Senad. Und der weigert sich hartnäckig, sein Handy zu orten. Weißt du eigentlich, dass Hennak Ahmad einmal verfolgt hat, um rauszubekommen, wo er lebt?"

"Nein", entfuhr es Tiana verblüfft. "Echt? Das hat mir niemand erzählt. Und hat er es rausbekommen?"

Rhea verdrehte die Augen und lachte.

"Die Antwort kannst du dir selbst geben. Versuche mal Ahmad unbemerkt zu folgen." Sie wurde wieder ernst. "Er hat schon irgendwas, dieser dunkle Krieger. Riesengeheimnis um seine Herkunft, seine Familie, sein ganzes Vorleben."

Tiana zuckte die Schultern. "Wenn er meint, dass wir etwas darüber wissen sollen, wird er es uns schon sagen." Sie schob die Beine vom Bett und angelte nach ihren Schuhen, während sie halbherzig versuchte ihre zerzausten Haare zu richten. "Na los, gehen wir noch ein Stück. Mal schauen, ob sein Auto da ist."

Rhea erhob sich ebenfalls und warf einen Blick in den Wandspiegel mit dem kitschig verschnörkelten Rahmen neben der Tür. Das ebenmäßige Gesicht mit dem goldfarbenen Teint, den weichen Lippen und den großen schwarzen Augen verriet ihre Herkunft aus südlicheren Gefilden.

"Und selbst wenn nicht", gab sie zurück und machte Tiana Platz, die sie beiseiteschob, um sich kämmen zu können. "Dann waren wir wenigstens nochmal an der frischen Luft. Nach dem guten Essen brauche ich sowieso noch dringend einen kleinen Verdauungsspaziergang, bevor ich zu Bett gehe." Lächelnd klopfte sie auf ihren makellos flachen Bauch und legte den Kopf schief.

"Ja, ja, ich weiß. Gleich sagst du wieder, du wirst fett." Tiana winkte ab. "Ich hole meine Jacke, Moment."


Sie wussten, dass Tanyel, der Steward, bereits zu Bett gegangen war. Deshalb hatten sie keine andere Möglichkeit, nach draußen zu kommen, als durch eines der großen und fast bodentiefen Fenster im Besprechungsraum zu steigen. Um zweiundzwanzig Uhr wurde das schwere, eichene Portal am Haupteingang von Darach Manor immer verschlossen, ebenso wie der Gartenausgang hinten. Wer dann noch rauswollte, musste sich bei Tanyel einen Hausschlüssel holen - oder eben durchs Fenster klettern.

Nebeneinander gingen sie an der Südseite des Hauses entlang in Richtung des Wirtschaftstraktes. Hinter dem gepflegten Rasen zu ihrer Rechten ragte der zum Grundstück gehörende Wald wie eine schwarze drohende Mauer auf.

Die Fenster von Bibliothek und Speisezimmer im Erdgeschoss waren dunkel und auch die in den beiden Stockwerken darüber. Aber als sie um die Ecke des Hauptgebäudes kamen, stoppten sie kurz. In der Wohnung von Issam, der im Anbau des verwinkelten Gebäudes wohnte, brannte Licht. Der Arzt war also noch wach.

Geduckt huschten die Mädchen unter den Fenstern vorbei, ließen die Mauer von dem kleinen Hof mit dem Gartenausgang hinter sich und verschwanden unter den hohen Eschen, die zwischen dem Landsitz und den Wirtschaftsgebäuden im Osten des Grundstücks standen.

Hier hielten sich die Schüler des Internats so gut wie nie auf. Den ehemaligen Wirtschaftstrakt bildete ein Karree aus vier Gebäuden, die einen kleinen Hof umgaben. Direkt vor ihnen lag der L-förmige Klotz des leerstehenden, langsam verfal­lenden Gesindehauses. Neben diesem und den Garagen gab es noch das ehemalige Kutscherhaus, in dem ihre beiden Ausbilder wohnten, und ein altes Taubenhaus, das heute ein Geräteschuppen war.

Die Mädchen liefen an der Rückseite des Gesindehauses ent­lang, an die sich die umgebauten früheren Ställe anschlossen. In ihnen waren heute die fünf Autos untergebracht, die zum Landsitz gehörten.

Zwei Minuten später spähte Tiana auf Zehenspitzen stehend mit vorgehaltenen Händen durch das Fenster der Garage, in der sonst Ahmads schwarzes Auto neben dem SUV ihres Ausbilders parkte. Doch es war nicht da.

Schulterzuckend drehte sie sich zu Rhea um. "Lass uns wieder reingehen", meinte sie und es klang ein bisschen verzagt. "Vielleicht hat er ihn ja wieder vorn am Nordtor stehengelassen und ist längst im Bett." Fröstelnd rieb sie ihre Oberarme, hakte sich dann bei der Freundin ein und schmiegte sich an sie. Mit raschen Schritten gingen sie unter den Bäumen hindurch und dann quer über die Wiese zurück zum Haus. Gleich darauf waren sie wieder an dem Fenster angekommen, durch das sie herausgeklettert waren.

Tiana spähte um die Hausecke. "In Tariqs Arbeitszimmer brennt Licht. Wahrscheinlich wartet er immer noch auf Ahmads Anruf", vermutete sie.

Rhea nickte. "Los, rein mit dir", meinte sie energisch und hauchte in ihre klammen Hände. "Mir ist kalt." Sie öffnete den vorhin nur angelehnten Fensterflügel weit und bildete eine Räuberleiter, damit die kleinere Tiana zuerst hineinstei­gen konnte. Dann kletterte sie selbst hinterher und schloss das Fenster sorgfältig.


Dienstag, 22:50 Uhr


Tariq war sicher, dass er die Grundstücksgrenze noch nicht überquert hatte, denn bisher war nichts zu spüren gewesen von der kaum wahrnehmbaren elektrisierenden Spannung in der Luft. Und genau die hätte er beim Passieren von Ahmads unsichtbarer Schutz-Barriere sofort registrieren müssen. Sie konnte aber nicht mehr weit entfernt sein, weil dort vorn schon die Hütte war. Und von der wusste er genau, dass sie außerhalb des Grundstücks lag.

Wider Erwarten hatte er sie gleich gefunden, obwohl er vor Ewigkeiten das letzte Mal hier gewesen sein musste. Das Mondlicht fiel auf die kleine Lichtung davor und noch bevor er es genau erkennen konnte, wusste er, was das dunkle Bündel im Gras war.

"Ahmad!"

Er fiel neben ihm auf die Knie und wollte ihn an der Schulter fassen. Erschrocken hörte er den rasselnden Atem, das Ringen nach Luft, sah das unkontrollierte Zittern, was das Bündel beben ließ. Seine ausgestreckten Hände verharrten reglos in der Luft. "Ahmad, kannst du mich hören?", fragte er drängend.

Keine Reaktion.

Ungeduldig schaute er sich um, doch von Trajan und Tanyel war noch nichts zu sehen. Dann huschte sein Blick über den dunklen Wald, der die Wiese umgab. Doch er entdeckte und hörte nichts Verdächtiges. Shujaa hatte beteuert, dass Ahmad allein war, aber wer hatte ihn dann so zugerichtet? War derjenige vielleicht doch noch hier und konnte sich mental genauso abschirmen, wie Ahmad selbst es konnte? Oder waren Rayan und dessen Leute ihm gefolgt, hatten ihn bis hierher gejagt und lauerten nun irgendwo, sich die Hände reibend, dass er, Tariq, ihnen endlich in die Falle gegangen war?

Sofort öffnete er seine Linke und ließ mit hellem Knistern ein silbernes Licht in der Handfläche entstehen. Nur zur Beruhigung, denn auch mit seinen Energiegeschossen würde er allein gegen mehrere Angreifer gleichzeitig nichts ausrichten können. Jetzt ärgerte er sich, dass er nur Tanyel und Trajan mitgenommen hatte. Wie leichtsinnig von mir, dachte er, während er besorgt seinen Blick wieder auf den vor ihm Liegenden richtete. Er konnte sich nicht erklären, was sich seinen Augen hier bot. Der schwarze Guardian war eine perfekte Kampfmaschine. Und wurde er wirklich einmal verwundet, dann waren es mehr oder weniger Kratzer, die mit unglaublicher Geschwindigkeit verheilten. Es war eine seiner vielen außergewöhnlichen Fähigkeiten. Doch der Kampf lag jetzt schon Stunden zurück. Also was war hier los?

Vorsichtig fasste er ihn mit der freien Hand an der Schulter, um ihn auf den Rücken zu drehen, doch sofort zog er sie erschrocken zurück und sah im Mondlicht das Blut daran. Ahmad hustete erstickt und das rasselnde Atemgeräusch verstärkte sich.

Der Chef der Guardians presste kurz die Lippen zusammen. "Halt durch, Hilfe ist unterwegs. Das wird schon wieder, keine Sorge. Issam bringt dich wieder auf die Beine." Ihm war klar, dass der Verletzte ihn nicht hören konnte, aber die Worte dienten ja auch in erster Linie dazu, ihn selbst zu beruhigen.

Er ließ das Energiegeschoss in seiner Handfläche erlöschen und zog das Handy hervor. Senad meldete sich nach dem ersten Rufzeichen.

"Geh zu Shujaa!", wies er den grünen Guardian knapp an. "Er soll mich im Wald aufspüren und dann kommt ihr beide mit der Trage direkt zu mir! Beeilt euch!"

"Alles klar." Senad fragte nicht, was passiert war. Der Neun­zehnjährige war Profi. Die Anweisung war klar und deutlich gewesen und er würde den Grund erfahren, wann Tariq es für richtig hielt.

Der wählte inzwischen Issams Nummer. Sein langjähriger Freund, der ebenfalls auf Darach Manor lebte, war der Schularzt und damit auch Arzt der Guardians. Er regierte uneingeschränkt über eine kleine, aber hochmodern ausge­stattete Klinik im ruhigen Ostflügel des Landsitzes.

Hastig erklärte er dem Doc mit wenigen Worten die Situa­tion. Kaum hatte er Zeit, noch anzufügen, dass sie den Verletzten über den Garteneingang ins Haus bringen würden, da legte Issam auch schon auf.

Beruhigt steckte Tariq das Handy wieder weg. Sein Freund würde wissen, was zu tun war und sie gut vorbereitet erwarten, dessen war er sich sicher.

Gerade als er sich fragte, ob sein Steward und Trajan die Stelle nicht finden konnten, sah er den unruhigen Lichtkegel einer starken Taschenlampe durch den Wald näherkommen. Nach ein paar Sekunden standen die Erwarteten neben ihm. Etwas außer Atem reichte Tanyel die Lampe an den Guardian weiter und kniete sich ebenfalls neben Ahmad ins feuchte Gras.

"Was hat er?"

"Keine Ahnung. Er ist bewusstlos und er blutet hier an der rechten Schulter und auch am Kopf."

Trajan klemmte die Lampe zwischen die Zähne, zog hastig seine Jacke aus und legte sie behutsam über den zitternden Teamgefährten.

"Wir schaffen ihn nach drinnen." Tariq stand auf. "Shujaa und Senad kommen gleich mit der Trage. Issam weiß auch schon Bescheid."

Er drehte sich um und ging langsam noch ein Stück weiter bis an den Rand der Lichtung, wo der Wald wieder begann. Es war nichts zu spüren von der Barriere, die außer ihm niemand wahrnehmen konnte. Doch sie musste hier sein. Das Grundstück endete an der Lichtung und damit noch vor der Hütte.

Grimmig ballte er die Fäuste. Also war sie verschwunden. Ahmad hatte die Grenze überschritten und sie damit zerstört. Und in seinem Zustand hatte er es wahrscheinlich nicht einmal bemerkt.

Mit einem Seufzer wandte Tariq sich um und ging zurück.

Auch Tanyel hatte inzwischen seine Jacke ausgezogen und über Ahmads Oberkörper gebreitet.

"Wir brauchen die Trage nicht, ich schaff das schon", erklärte er. "Also ins Haus mit ihm?", fragte er noch einmal nach. "Und die Barriere?" Als Tariqs Steward wusste er, was passieren würde.

"Sie ist nicht mehr da." Tariq sah keinen Sinn darin, ihn zu belügen.

Tanyel schaute erst ihn und dann Ahmad überrascht an, erwiderte aber nichts darauf. Wenn der Chef meinte, dass eine Erklärung nötig war, würde er sie geben.

Vorsichtig schob er jetzt den linken Arm unter den Ober­körper des verletzten Guardians. Seine Hand spürte Feuchte am Rücken. Und Kälte. Der ganze Körper war eiskalt, registrierte er besorgt. "Trajan, geh voraus und beleuchte mir den Weg", wies er den blauen Guardian an.

"Schaffst du das allein?", fragte Tariq zweifelnd.

"Natürlich. Los, Trajan, auf geht's!" Behutsam hob er Ahmad hoch. "Wird Issam schon auf uns warten?", fragte er, als sie sich in Bewegung setzten. Der Lichtkegel von Trajans Taschenlampe wies ihnen den Weg zurück durch den Wald.

Tariq hatte noch genickt auf die Frage. Nun ging er als Letzter und starrte dabei auf den breiten Rücken vor sich.

Der blonde Steward wirkte nicht nur wie einer, er war auch wie ein Bär. Ein breitschultriger und fast zwei Meter großer, aber sanfter und fürsorglicher Bär. Der schlanke, fast schmächtige Ahmad war keine Last für ihn.

Tariq konnte hören, wie Tanyel ihm ab und zu leise und beruhigend zusprach. Während er hinter den anderen beiden durch die Dunkelheit stolperte, realisierte er beschämt, dass er sich nie gefragt hatte, wo Ahmad wohnte und was er tat, wenn er nicht mit den anderen zusammen war. Ein ganzes Jahr lang! Wie hatte ihm das passieren können? Als Chef der Guardians war es seine Aufgabe, für alle Teammitglieder zu sorgen. Auch für Ahmad! Doch irgendwie hatte er ihn aus den Augen verloren. Oder ... wollte er es gar nicht wissen?

Trampelnde Schritte vor ihnen kündigten die Ankunft von Senad und Shujaa an. Trajan stoppte sie und erklärte kurz die Lage. Dann reichte er Shujaa die Taschenlampe und half Tanyel dabei, Ahmad auf die Trage zu legen. Da der rote Guardian eine Verletzung am Arm hatte und deshalb nicht mittragen konnte, packte er selbst das zweite Ende. Auf Senads Kommando hoben sie sie an und liefen hinter Shujaa her, der ihnen jetzt den Weg beleuchtete. Nach wenigen Minuten hatten sie das Haus erreicht. Als erstes waren zwei helle Fenster im Erdgeschoss des wuchtigen Landsitzes zwischen den Bäumen auszumachen, die zu Issams kleiner Wohnung gehörten. Dann tauchte das helle Viereck der offenen Gartentür vor ihnen auf.

Der Arzt trat eben ins Freie und verdunkelte das Viereck für einen Moment. Mit ein paar schnellen Schritten war er bei ihnen, beugte sich kurz über den Bewusstlosen und nickte den beiden Trägern ernst zu, während er ihnen wortlos die Tür zu seinen Klinikräumen aufhielt.

"Was ist mit der Barriere?", fragte er seinen Freund leise, nachdem auch der Steward an ihm vorbeigegangen war.

"Verschwunden", gab Tariq knapp zurück.

Der Arzt blinzelte überrascht, doch als keine weitere Erklärung folgte, nickte er und folgte den beiden Guardians in die Klinik.

Shujaa war mit Tariq im kleinen Foyer zurückgeblieben. Der Neunzehnjährige starrte wie gebannt auf das Blut, das bei dem kurzen Stopp von Ahmads rechter Hand auf den Boden neben Tariqs Füßen getropft war.

"Verdammt, Tariq", stieß er hervor, ohne den Blick zu heben, "er kommt doch durch, oder?" Es war nur geflüstert, als würde er befürchten, mit seiner Stimme das Unfassbare erst möglich zu machen.

Der Chef seufzte ratlos. "Ich weiß es nicht. Er sah nicht gut aus, aber ich hoffe, dass der Doc es verhindern kann."

Gerade wollte er sich mit den Fingern durch die Haare fahren, da bemerkte er im letzten Moment das Blut an seiner Hand und ließ sie sinken.

Stumm warteten sie. Nach wenigen Augenblicken verließen Senad und Trajan die Klinik und standen mit betretenen Gesichtern vor ihnen.

"Senad, du musst die neue Alarmanlage sofort in Betrieb nehmen", ordnete Tariq an. "Mir egal, ob sie geprüft wurde oder nicht."

Der dunkelhaarige Guardian mit den ungewöhnlich hellgrünen Augen nickte, ohne zu fragen. Er hatte die Dringlichkeit in der Anweisung deutlich hören können.

"Und - vorerst zu niemandem ein Wort über diese Sache hier", fuhr Tariq ernst fort. "Das mache ich morgen früh selbst. Besprechung um halb acht, sorgt dafür, dass alle da sind! Ich werde nochmal bei Issam reinschauen. Gute Nacht und vielen Dank."

Die drei jungen Männer, die im Augenblick eher wie verstörte Kinder wirkten, nickten gehorsam. Einen Moment zögerten sie noch, als wollten sie nicht weggehen. Doch dann drehten sie sich um und verschwanden in dem schmalen Korridor, der zum Haupthaus führte. Ihre Schritte hallten erst auf den blanken Bodenfliesen, dann änderte sich ihr Klang, als sie die Holztreppe hinaufstiegen.

Tariq lauschte ihnen noch einen Augenblick nach, dann wandte er sich der Tür zur Klinik zu.


Dienstag, 23:20 Uhr


"Wie sieht es aus?"

Obwohl Issam seine Frage verstanden hatte, antwortete der zweiundvierzigjährige Arzt nicht sofort. Gerade hatte er Tanyel vorsichtig dabei geholfen, Ahmad auf den fahrbaren Behandlungstisch in der Mitte des Raumes zu legen. Jetzt schaltete er eine grelle Lampe darüber an und musterte kritisch die Kopfverletzung. "Er hat viel Blut verloren", knurrte er gleich darauf, während er seine Finger behutsam tastend neben der Wunde über Ahmads Kopf gleiten ließ.

"Sauerstoff", wies er Tanyel knapp an.

Der Steward hatte den Regler schon aufgedreht und legte eben die Maske auf das wachsbleiche, blutverschmierte Gesicht.

Issam selbst befestigte einen Clip an Ahmads Finger. Als gleich darauf gleichmäßige, aber hastig aufeinanderfolgende Pieptöne erklangen, nickte er grimmig. "Mach eine Infusion fertig, Tanyel! Tariq, da unten im Schrank sind die Flaschen, die mit der blauen Schrift. Und nimm gleich zwei. Obwohl, bei der Menge Blut, die er verloren hat …"

Tariq fand die Flaschen und reichte sie Tanyel.

Issam hatte bereits einen Zugang gelegt und schloss eine Infusion an. Dann zog er ein Medikament in einer Spritze auf. Es sollte seinen Patienten in Tiefschlaf versetzen und schmerzfrei machen. "Komm schon, Ahmad, was ist los mit dir? Wo sind deine sagenhaften Heilfähigkeiten abgeblie­ben?", raunte er besorgt, während er es langsam injizierte.

Die Wunde an der Schulter, die er dabei flüchtig musterte, entlockte ihm einen unterdrückten Fluch. Er griff sich eine Schere und schnitt den Ärmel des schwarzen Mantels kurzerhand auf. Sekunden später flog das Kleidungsstück beiseite, gefolgt von dem gleichfarbigen Shirt, dem es nicht anders erging.

Als Ahmads Oberkörper endlich frei lag, trat schlagartig Stille ein.

Tanyel hörte, wie der Doc scharf die Luft einzog. Auch er selbst starrte entsetzt auf das Flechtwerk dünner weißer Narben, das sich über Ahmads Brust zog wie ein feines Spitzengewebe.

Issam besann sich. Er holte ein Stethoskop und hörte konzentriert den Brustkorb ab, während er beobachtete, wie Tariq einen Schritt näher kam und mit gefurchter Stirn die unzähligen wirren Linien musterte. Obwohl er kein Wort sagte, wusste Tanyel, dass der Chef genau wie der Arzt und er selbst dieses Bild kannte. Keiner von ihnen dreien sah das filigrane Narbengeflecht zum ersten Male.

"Okay, die Lunge ist verletzt", verkündete Issam, "wahr­scheinlich gebrochene Rippen. Er blutet innerlich." Sein Finger deutete auf eine ebenfalls violett verfärbte Stelle auf Ahmads linker Brust. Mit raschen Handgriffen brachte er das Röntgengerät, das direkt über dem Behandlungstisch hing, in Position.

Als er dann kurz darauf - auf seinen Schreibtisch gestützt - die fertige Aufnahme am Computerbildschirm betrachtete, verfinsterte sich sein Gesicht.

"Was ist?", fragte Tariq.

Sein Freund nahm sich Zeit mit der Antwort. Eine Weile starrte er noch auf das schwarzweiße Bild und kratzte sich mit der Rechten an seinem gepflegten Dreitagebart, dann richtete er sich auf. "Tariq, drück eine große Kompresse auf die Wunde an der Schulter", kommandierte er, "und Tanyel, du musst mir mal assistieren."

"Was hast du vor?" Der Steward schaute ihn skeptisch an. Er hatte keinerlei medizinische Ausbildung und war dem Arzt bisher nur ein paar Mal bei Kleinigkeiten zur Hand gegangen.

"Ich werde hier einen Eingriff vornehmen." Issams Zeige­finger tippte auf eine Stelle auf dem Bildschirm. "Und zwar sofort." Mit wenigen Worten erklärte er, was nötig war.

Tariq runzelte die Stirn und schluckte. Auch Tanyel schien sich nicht sicher, ob er sich für das, was er laut Issams Erklärung zu tun hatte, eignete.

Doch der ließ keine Diskussion zu. Und er gab ihm auch keine Gelegenheit, sich Gedanken zu machen. Die Zeit drängte.

Nach zehn Minuten schon waren sie fertig. Erleichtert zog sich der Arzt den Mundschutz unters Kinn und streifte die Handschuhe ab. Sie hatten es geschafft. Die Verletzung an der Lunge war versorgt und Ahmad atmete ruhiger. Noch einmal lauschte er mit dem Stethoskop lange und konzentriert an verschiedenen Stellen von Ahmads Brust, bis er schließlich zufrieden nickte.

"Das hört sich viel besser an. Hoffentlich bleibt es so. Leg ihm das Wärmevlies über, er ist völlig unterkühlt", wies er seinen Helfer an und wartete, bis Tanyel behutsam und sorg­fältig die dünne, beheizbare Decke über Ahmad gebreitet und an den Seiten festgestopft hatte.

Dann nahm er Tariq die Kompresse ab und reinigte vorsichtig die rechte Schulter. Unterhalb des Schlüsselbeins kam eine tiefe, fast zehn Zentimeter lange Wunde zum Vorschein, aus der noch immer Blut quoll. Ihre Umgebung war blauviolett verfärbt.

"Was war das denn?", knurrte der Steward.

Der Arzt kniff die Augen zusammen. "Für einen Streifschuss sind die Kanten zu glatt." Er beugte sich vor und untersuchte die Verletzung, musste immer wieder neu hervordringendes Blut wegwischen.

"Du riskierst viel, wenn du die Barriere aufhebst, Tariq", meinte er zwischendurch und begann die Wunden an der Schulter und am Kopf zu nähen.

Der schüttelte den Kopf. "Ich habe sie nicht aufgehoben. Sie war schon vorher verschwunden."

Verwundert zog der Doc eine Braue hoch, während er routiniert einen neuen Stich setzte. "Ach so? Hat er sie selbst …? Wo habt ihr ihn eigentlich gefunden?"

"Im Wald an der westlichen Grundstücksgrenze. Er war auf dem Rückweg von dem Einsatz heute Abend, zu Fuß. Vermutlich hat er in seiner Verfassung gar nicht bemerkt, dass er sie durchschritten hat."

Jetzt hob Issam den Kopf und warf Tariq einen schnellen Blick zu. "Und er war sicher wieder allein, wie ich vermute." Mit zusammengekniffenen Augen musterte er seinen Freund, nachdem er die erste Naht beendet und sein kleines Tischchen mit den Instrumenten mit einer fast wütenden Bewegung beiseitegeschoben hatte, so dass es scheppernd gegen die Wand stieß.

Das Schweigen nach seiner Frage war ihm Antwort genug. "Ich verstehe", meinte er vorwurfsvoll. "Erfahr ich, was ihm dort im Schloss passiert ist? Habt ihr ihn da so zurückge­lassen?" Mit einer anklagenden Geste deutete er auf seinen Patienten. "Das ist vielleicht sogar für einen mit seinen Fähigkeiten zu viel! Er hätte dort verbluten können! Denkt ihr, er ist unsterblich!?" Er war zornig und er machte keinen Hehl daraus. Aus seinen blauen Augen unter den dunklen buschigen Brauen schossen förmlich Blitze.

Tariq hob hilflos die Hände. Er wusste, dass sein Freund zu recht aufgebracht war.

"Sonst sind Verletzungen doch kein Problem für ihn", verteidigte er sich und sein Handeln, doch man konnte hören, dass seine Worte nicht mal für ihn selbst als Entschul­digung reichten. "Niemand konnte ahnen, dass ausgerechnet heute irgendetwas anders ist."

Er setzte sich auf den anderen Hocker und betrachtete seine Hände. Trotzdem er sie vorhin gewaschen hatte, konnte er noch immer Blut daran entdecken.

"Du weißt, dass wir Yonas aus dem Schloss zurückholen wollten", begann er und verschränkte die Finger ineinander. "Und vorhin, während du Shujaa und Koll verarztet hast, habe ich dir erzählt, dass wir dort auf Mato Rayan trafen."

Unsicher sah er zu Issam, als müsse er sich vergewissern, dass sein Freund ihm folgen konnte, dann sprach er weiter.


Er war nur zehn Minuten nach den Guardians aufgebrochen und hatte das Gaspedal bis zum Bodenblech durchgetreten. Während der Fahrt rasten seine Gedanken genauso wie der Wagen. Drei Teams hatte er Ahmad schicken können. Das gelbe war mit seinem Observierer und Ausbilder Sadik in der Stadt unterwegs. Sieben Guardians, um den Jungen zurückzuholen.

Fast den gesamten Wald musste er in einem weiten Bogen umfahren. Die Straße war eine Katastrophe und zähneknirschend drosselte er das Tempo ein wenig, obwohl es ihm so schon viel zu langsam ging. Nach zehn Minuten mit diesem waghalsigen Fahrstil tauchte der Umriss des alten Schlosses zwischen den Bäumen auf. Das ungute Gefühl in der Magengrube hatte sich inzwischen noch verstärkt.

Während er ausstieg und die Autotür zuknallte, rief er der am Klein­bus wartenden Imara zu, dass er mit reingehen würde. Die Reaktion der verdatterten Fahrerin wartete er nicht ab und rannte los. Was würde er vorfinden?

Als Erstes erreichte das trockene Knallen von Schüssen sein Ohr. Besorgt erhöhte er sein Tempo noch, hastete die zugewachsene Auffahrt hinauf, stolperte über Brombeerranken und hörte weitere Schüsse.

An der breiten Freitreppe vor dem Portal traf er auf das rote Team, das sich hinter der niedrigen Brüstung duckte. Hennak schoss auf zwei Gestalten, die am oberen Ende der Stufen Deckung gesucht hatten und das Feuer erwiderten. Das trockene Bellen seiner Pistole wechselte sich ab mit dem kaum hörbaren Geräusch, mit dem Shujaas kleine Pfeile blitzschnell von der Sehne seines Klappbogens zischten.

Tariq war gezwungen einen Bogen laufen, um unbemerkt von den Gegnern der beiden das Eingangsportal erreichen und ins Innere des Gebäudes verschwinden zu können.

Als er drin war, mussten sich seine Augen erst an das dämmerige Licht gewöhnen. Doch ein knallrotes, knisterndes Energiegeschoss, das quer durch den großen Raum raste, beleuchtete die Szenerie für einen Augenblick, so dass er sich besser orientieren konnte.

Er erkannte das blaue Team, das hinter großen Gesteinsbrocken in Deckung gegangen war. Trajans schwere Waffe hatte einen anderen Klang als die Glocks der restlichen Guardians. Der dumpfe Knall seiner Schüsse wechselte mit dem helleren von Tianas Pistole.

Ihr Gegner war eine Frau, die sich geschickt hinter einer dicken Säule verbarg. Eher noch ein Mädchen. Nicht älter als die Geschwister selbst. Und eine Energienutzerin, wie er verblüfft feststellte. Gerade flog wieder ein rotes Energiegeschoss auf Tiana zu und verfehlte sie knapp, weil sie rechtzeitig hinter einer Säule abtauchte.

Ahmad und das grüne Team konnte er nirgends entdecken. Doch in dem Moment rauschte ein grünes Licht vom oberen Ende einer geschwungenen Treppe herunter. Tariqs Kopf fuhr herum, weil er aus dem Augenwinkel eine Bewegung neben sich wahrgenommen hatte. Und da entdeckte er Senad und auf der anderen Seite den etwas kleineren Koll, die sich am Fuß der Treppe ebenfalls hinter Säulen verborgen hielten.

Jetzt stürmte ein Mann die Stufen herab, der es in Größe und Statur durchaus mit Tanyel aufnehmen konnte. Die massige Gestalt des Riesen bewegte sich verblüffend schnell. Senad und Koll mussten sich zurückziehen. Tariq konnte zwar das Zischen von Kolls tödlichen Wurfmessern hören, doch nicht einen einzigen Schmerzenslaut des Gegners.

Als dieser im Foyer angekommen war und sich ein paar Schritte vom Fuß der Treppe entfernte, sah Tariq seine Chance, unbemerkt nach oben zu gelangen. Er hatte keine Zweifel, dass die Teams zurechtkom­men würden. Ahmad und Yonas jedoch waren immer noch nirgends zu sehen und der Riese war von dort gekommen.

Er huschte die Stufen hinauf in der Hoffnung, dass weder das fremde Mädchen noch der Hüne ihn bemerkten. Oben angekommen trat er in einen dunklen Korridor, an dessen Ende er Licht sah. Vorsichtig pirschte er sich näher heran, bis er eine offene Doppeltür erreichte. Helles Tageslicht flutete durch die hohen Fenster in einen großen Saal, der sich vor ihm auftat. Die Galerie, die - ähnlich der unten im Foyer - in Form eines großen U die Wände des Saales umlief, war auf der rechten Seite eingestürzt. Der einzige Gegenstand in dem riesigen Raum war ein großer, mit Spinnweben behangener Messingkronleuchter, der an einer Kette von der hohen Decke herabhing.

Ihm gegenüber, am anderen Ende des Saales, erhob sich eine breite Treppe mit steinernem Geländer, die sich nach oben verjüngte und zu der Galerie hinaufführte. Gemusterte Bodenfliesen, verschnörkelte Brüstungen und Stuck an der Decke und den Säulen, die die Galerie trugen, zeugten von einstiger Pracht. Offensichtlich war das in früheren, glanzvollen Zeiten der Festsaal des Schlosses gewesen.

Das Sonnenlicht fiel auf einen Mann, der mit verschränkten Armen am oberen Ende der Treppe stand.

Tariq, der noch immer in der offenen Tür stand, blinzelte angestrengt. War es Ahmad? Doch bevor er es erkennen konnte, ließ ihn eine Bewegung direkt links von ihm herumfahren.

Da stand Ahmad. Er hatte seinen beeindruckenden Dolch gezogen und hielt ihn auf jemanden gerichtet, der vor ihm mit dem Rücken an der Wand lehnte und sich offensichtlich nur mühsam auf den Beinen hielt. Der schwarze Guardian beherrschte die Situation, das zeigte die kalte Ruhe, die er ausstrahlte.

Jetzt entdeckte Tariq auch Yonas. Der Junge stand - offensichtlich unversehrt - an der linken Wand des Saales. Aber gerade als er zu ihm hingehen wollte, erkannte er entsetzt seinen Irrtum. Der Mann mit dem Dolch war nicht Ahmad. Ahmad war der, der schwer atmend an der Wand lehnte. Und doch sah einer aus wie der andere. So verblüffend ähnlich ...

"Tariq!", erklang es in dem Moment von der Galerie herab. "Welch schöne Überraschung, dass du auch gekommen bist."

Die Stimme ließ ihn einmal tief durchatmen. Er kannte sie. Und er hatte damit gerechnet, ihren Besitzer heute hier zu treffen.


"Und das war Rayan?"

Issams Stimme holte Tariq zurück in die Wirklichkeit der kleinen Klinik. Der Doc war fertig mit der zweiten Naht und kam zu ihm an den Schreibtisch herüber. Er zog die Hand­schuhe aus, angelte mit dem Fuß seinen kleinen Rollhocker heran und setzte sich neben seinen Freund.

Tariq nickte langsam.

"Hat er sich nicht gewundert, was du dort zu suchen hast?"

"Nein." Der Chef der Guardians knetete unschlüssig seine schlanken Finger. "Er verhielt sich eher, als ob er … irgend­wie damit gerechnet hätte."

Issam kniff besorgt die Augen zusammen. Er verstand, was sein Freund meinte. "Was passierte dann?", fragte er, während er sich mit beiden Händen durch das an den Schläfen bereits ergrauende Haar fuhr und danach erneut die Röntgenaufnahme betrachtete.

Tariq runzelte einen Augenblick konzentriert die Stirn, dann setzte er seinen Bericht fort.


Mato Rayan ...

Ihm blieb keine Zeit, sich von der Überraschung zu erholen. In der Handfläche des Mannes auf der Galerie erschien ein knisterndes, schwarz schillerndes Licht. Wenn er sich bis dahin nicht sicher gewesen war - jetzt musste er es sein. Die Farbe von Rayans Energie war schwarz, so düster wie das Wesen ihres Wandlers.

Gleich würde das Geschoss auf ihn zu rasen. Blitzschnell erschuf er einen großen, silbern schimmernden Energieschild an seinem linken Arm. Ein eigenes Energiegeschoss zu bilden, das knisternd in seiner Handfläche wuchs, geschah automatisch.

Keine Sekunde zu früh, denn in dem Augenblick griff der Mann auf der Galerie an. Zischend raste das Energiegeschoss auf ihn zu und er zog den Kopf ein. Der Einschlag an der Wand über seinem Kopf ließ Putz und Steinstückchen auf ihn herabprasseln, gleich nachdem er ein eigenes als Antwort losgeschickt hatte. Im selben Augenblick hörte er links von sich das Klirren von Metall und gleich darauf das Kreischen von aneinander entlang schrammenden Klingen. Auch Ahmad und sein Gegner hatten also einen Zweikampf begonnen.

Ein neues schwarzes Geschoss zwang ihn den Blick von den beiden Kontrahenten abzuwenden und wieder in Deckung zu gehen. Diesmal hatte Rayan besser gezielt. Die schwarze Lichtkugel pfiff so nahe an ihm vorbei, dass sich sein Haar elektrisiert aufrichtete. Trotzdem antwortete er auf die gleiche Art wie vorhin. Doch ob er getroffen hatte, konnte er nicht sehen. Das dritte gegnerische Geschoss traf krachend auf seinen Schild und der Einschlag ließ Schmerz von den Fingerspitzen bis zur Schulter schießen. Aber das silbern schimmernde Gebilde hielt stand, obwohl die Wucht Tariq einen Schritt zurücktaumeln ließ. Auch einen zweiten Treffer steckte der Schild weg. Kein Zweifel, der Mann wollte ihn töten! All die Jahre hatte er es nicht gewagt, aber hier würde ihm niemand dazwischenfunken, denn hier war sein Terrain! Der Tag war also endlich gekommen ...

"Neiiin!!"

Yonas!

Unverkennbar, das war seine Stimme gewesen. War er etwa getroffen worden?

Vorsichtig schob Tariq den Kopf aus der Deckung und spähte zu dem Jungen hinüber, der noch immer auf der linken Seite des Saales nahe der Wand stand.

Jetzt erst bemerkte er das Flimmern um ihn herum. Was war das? Das Bild erschien merkwürdig verzerrt, wie bei einem ... Kraftfeld? War der Junge etwa darin eingesperrt?

"Nein! Hört auf!", schrie dieser nun erneut und ballte die Fäuste, "Hört auf damit! Alle!"

Ein sanftes gelbes Licht begann um ihn aufzuglimmen. Es schien aus dem Teenager selbst heraus zu drängen und hüllte ihn ein wie ein Kokon. Dann wurde es kräftiger und begann zu rotieren, erst träge, doch es drehte immer schneller. Dazu erklang ein Summen, das sich mehr und mehr verstärkte. Es wurde zu einem Brausen und schließlich zu einem ohrenbetäubenden Tosen, als der Wirbel sich zu einem Sturm entwickelte, der wie ein Tornado um Yonas kreiste. Der Junge befand sich genau im Zentrum und über seinem Kopf entluden sich zuckende Blitze. Seine blonden Haare hatten sich elektrisiert aufgerichtet, während sich das gelbe Licht langsam im Raum auszubreiten begann. Verwundert bemerkte Tariq, dass das Flimmern um Yonas verschwunden war.

"Raus hier!", brüllte in dem Moment Mato Rayan von der Galerie herab. "Verschwinde!"

Der Kopf von Ahmads Gegner fuhr herum und jetzt sah Tariq den Unterschied. Das schwarze Haar des anderen war länger als das von Ahmad. Einen winzigen Augenblick schien er zu überlegen, dann stürzte er in den Korridor hinein, aus dem Tariq gekommen war. Am anderen Ende angelangt schrie er dieselben Worte zu den Gegnern der Guardians hinab ins Foyer. Dann kam er zurück in den Saal. Sein Blick streifte Tariq flüchtig, während er quer durch den Raum zu der Treppe rannte, an deren oberen Ende sein Boss schon ungeduldig auf ihn wartete. Sekunden später waren beide verschwunden.

Noch immer tobte der Energiewirbel um Yonas und das Tosen dröhnte in den Ohren.

"Hör auf!", brüllte Tariq gegen den Lärm an, "Yonas, beruhige dich!" Er wollte hingehen zu dem Jungen, der wie erstarrt dastand und nichts um sich herum wahrzunehmen schien, doch in dem Moment fasste ihn eine Hand am Arm.

"Nicht!" Ahmad war neben ihn getreten. Er blutete am Kopf. Noch immer schwer atmend schob er sich vor Tariq und hielt diesen mit der Hand zurück. "Ich mach das."

Er ging langsam auf Yonas zu, der in dem Augenblick zusammen­zuckte und aus seiner merkwürdigen Starre zu erwachen schien. Sein Blick irrte kurz umher, dann richtete er sich flackernd auf Ahmad, der näherkam. Entsetzt riss der blonde Junge die Augen auf und streckte ihm abwehrend die Hände entgegen. "Bleib stehen!", keuchte er. "Komm nicht näher! Ich weiß nicht, was das ist und ich kann es nicht kontrollieren." Inzwischen war fast der ganze Saal von dem strahlend gelben Licht erfüllt und Tariq, der sich sicherheitshalber ein paar Schritte zurückzog, sah, wie Yonas jetzt auf die Knie fiel und sich mit den Händen abstützte.

Ahmad ignorierte die warnenden Worte. Als er direkt vor dem brüllenden Wirbel stand, atmete er einmal tief durch und trat dann hinein. Sofort riss die Gewalt des Luftwirbels an ihm und ließ seine Haare und den schwarzen Mantel wild flattern. Mit Mühe schaffte er es, auf den Beinen zu bleiben und den geringen Abstand zu dem Jungen zu überwinden. Als er ihn erreicht hatte, kniete er sich neben ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter.

Atemlos merkte Tariq, dass das Tosen nach und nach leiser wurde und der Sturm abflaute. Die Blitze hörten auf und das gelbe Leuchten wurde schwächer, bis es schließlich ganz verschwand. Es kroch förmlich wieder in Yonas hinein, so, wie es aus ihm herausgekommen war.

Ahmad wartete noch ein paar Sekunden. Dann kam er auf die Füße. Ein kurzes Nicken zu Tariq signalisierte, dass alles wieder in Ordnung war.

Das Geräusch hastiger Schritte erklang im Korridor und gleich darauf schob sich Senad vorsichtig und nach allen Seiten sichernd herein. Ihm folgten Koll und dann die anderen Guardians, nachdem er ihnen ein Zeichen gegeben hatte, dass keine Gefahr bestand. Die Überraschung stand jedem ins Gesicht geschrieben. Ihre Gegner waren nach dem Warnruf ihres Gefährten sofort aus dem Schloss geflohen. So hatte noch kein Kampf geendet, dass der Feind geschlossen Fersengeld gab.


"Tja, das war es", beendete Tariq seinen Bericht. "Wir machten eine kurze Bestandsaufnahme. Yonas war völlig fertig. Du hast ihn ja vorhin selbst gesehen. Koll hatte einen Streifschuss am Oberschenkel abbekommen, Shujaa blutete am Arm. Und Ahmad ... Da erst merkte ich, dass er weg war. Wiedermal einfach verschwunden, ohne ein Wort zu sagen. Keiner hatte gesehen, wohin er gegangen war. Wir warteten ein paar Minuten auf ihn, aber er kam nicht zurück. Ich rief ihn an, aber er ging nicht ran. Kolls und Shujaas Verletzungen mussten versorgt werden, also haben wir das Schloss verlassen in der Annahme, dass er sich später wie immer telefonisch bei mir melden würde. Ich habe wirklich nur gesehen, dass er am Kopf blutete. Und wenn er nicht irgendwann später auf dem Heimweg von jemandem angegriffen und so zugerichtet wurde, dann hast du recht ...", er seufzte zerknirscht, "wir haben ihn so zurückgelassen." Eine Weile schwieg er und starrte auf seine schmutzigen Schuhe. "Was meinst du", fragte er Issam jetzt leise, während er aufstand, "bekommst du ihn wieder hin?"

Der saß noch immer am Computer und hatte während Tariqs Bericht mit gerunzelter Stirn die stark vergrößerte Röntgenaufnahme der verletzten Schulter betrachtet. Nun drehte er sich langsam mitsamt dem Hocker herum und sah zu ihm hinauf. Seine Augen hatte er zu Schlitzen verengt.

"Wieder hinbekommen? Das ist kein kaputtes Auto. Wenn du meinst, ob ich ihn retten kann - ja, ich denke schon, wenn keine Komplikationen eintreten. Aber es wird eine ganze Weile dauern, bis er wieder auf den Beinen ist. Er hat viel Blut verloren und bräuchte wirklich dringend Blutkonser­ven. Doch ich habe keine Ahnung, ob er mit Fremdblut überhaupt klarkommt."

Er hieb sich mit der Faust auf den Oberschenkel. Man konnte sehen, dass ihm die Situation zu schaffen machte. "Ich weiß nicht, durch was diese Veränderung bei ihm aus­gelöst wurde und warum seine Wunden diesmal nicht so schnell wie sonst heilen. Und ich weiß auch nicht, was bei ihm anders ist als bei normalen Menschen, nur dass etwas anders ist", fuhr er fort und bemühte sich, den aufkommenden Zorn im Zaum zu halten. "Ich weiß nichts über seinen Organismus, nicht einmal ob Medikamente bei ihm genauso wirken wie bei jedem beliebigen Menschen! Ich weiß eigentlich überhaupt nichts über ihn!! Verd… !!!"

Der Arzt war aufgesprungen und würgte den Rest des letzten Wortes hinunter. Er sah aus, als wolle er gleich auf irgen­detwas einschlagen. Heftig atmend schloss er die Augen und versuchte seine Ruhe wiederzufinden, während er hilflos die Fäuste ballte.

"Kann ich etwas tun?", fragte Tariq ruhig.

Sein Freund ließ die Schultern sinken, sank förmlich in sich zusammen.

"Es wäre gut, wenn du Blutkonserven organisieren könntest. Wenn es geht, heute Nacht noch", meinte er leise und setzte sich wieder. "Dürfte doch bei deinen Verbindungen nicht schwierig sein, oder?"

Tariq nickte. "Kein Problem", versicherte er. "​Ich rufe jemanden an, der auch nachts ins Institut rein kann, und ich gebe ihm deine Nummer. Sag ihm einfach, was du brauchst."

"Gut, ich warte auf seinen Anruf und teste inzwischen Ahmads Blut." Issams Stimme ließ zwar Erleichterung erkennen, aber trotzdem war er noch sehr besorgt. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass Ahmad diese Verletzungen auch ohne seine Heilfähigkeit selbst in den Griff bekommen würde, wenn auch später als sonst.

Einen kurzen Augenblick erwog er, den schwarzen Guardian in ein Krankenhaus bringen zu lassen. Doch alles, was dort getan werden würde, konnte er hier ebenso gut erledigen. Und das Risiko, dass man in der Klinik auf die Besonderhei­ten in Ahmads Organismus aufmerksam wurde, war groß. Keiner konnte sagen, was sich daraus entwickeln würde. Deshalb entschied er, ihn hierzubehalten. Vorerst zumindest.

"Ich wünschte, er hätte es mir irgendwann einmal erlaubt, ihn zu untersuchen", sprach er leise weiter. "So kann ich jetzt erst damit beginnen. Und das ist schlecht, denn die Zeit drängt. Wir werden sehen, was die Nacht bringt. Morgen früh wissen wir mehr." Er warf noch einen letzten Blick auf den Computerbildschirm, dann ging er wieder hinüber zum Behandlungstisch.

Tariq schluckte trocken. Es fühlte sich an, als wäre sein Mund voller Sand. "Bleibst du heute Nacht bei ihm?"

Der Blick, den Issam ihm über den gerade wieder hochgezogenen Mundschutz hinweg zuschleuderte, zeigte dessen Frust über die eigene Hilflosigkeit. Aber jetzt zusätzlich auch noch Zorn darüber, dass sein Freund ihm offensichtlich zutraute Ahmad allein zu lassen.

"Das fragst du ernsthaft? Ich bin der Arzt hier! Natürlich bleibe ich."

Tariq stand einen Moment unschlüssig. Er spürte Issams Ärger und dass seine unbedachten Worte den Freund verletzt hatten. Dabei bereute er sie schon, kurz nachdem er sie ausgesprochen hatte. Resigniert seufzte er.

"Natürlich. Es tut mir leid, das war eine dumme Frage. Entschuldige bitte." Er zögerte kurz. "Brauchst du mich noch?", fragte er dann leise.

"Nein, danke."

Die Stimme des Arztes hatte ihre Schärfe bereits wieder verloren. Auch er bereute seinen heftigen Ausbruch. Klappernd sammelte er seine Instrumente auf dem kleinen Rolltisch zusammen und legte sie ins Spülbecken. Dann stützte er die Hände auf den Rand, atmete tief durch und drehte sich um.

"Geh ruhig. Ich komme klar hier. Tanyel hilft mir." Er vergewisserte sich mit einem Seitenblick auf den Steward, dass dieser bereitwillig nickte.

"In Ordnung. Dann danke ich euch beiden. Ich weiß Ahmad in guten Händen. Gute Nacht."

Tariq drehte sich um und verließ die kleine Klinik.

Tanyel sah ihm nach und bemerkte stirnrunzelnd, wie Müdigkeit und Erschöpfung seine Schritte schleppend machten.

Er wusste, dass sein Chef nicht gesund war. Doch der sprach nie darüber. Und deshalb hatte er keine Ahnung, was ihm fehlte, obwohl er als Steward sonst mehr über ihn wusste als jeder andere hier im Haus. Ja, er vermutete gar, dass er mehr wusste als Issam, weil er den leisen Verdacht hatte, dass Tariqs Zustand und das, was seine Gesundheit angriff, bei den regelmäßigen Checks des Arztes nicht entdeckt werden konnten.

GUARDIANS - Das Vermächtnis

Подняться наверх