Читать книгу GUARDIANS - Das Vermächtnis - Caledonia Fan - Страница 6

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Mittwoch, 00:05 Uhr


Langsam stieg Tariq die breite Treppe hinauf zu seinen Räumen im ersten Stock. Der weiche Teppich schluckte die Geräusche, die seine Schritte dabei verursachten. Er benötigte kein Licht. Ungehindert fiel das Mondlicht durch das riesige Glasfenster neben der dunklen Holztreppe. Die Schatten der dünnen Quer- und Längsstreben des Fenstergitters zeichneten ein verzerrtes Karomuster auf den hell erleuchteten Bereich der Stufen.

Seine Beine waren schwer und er hatte das Gefühl, es dauerte heute länger, bis er oben ankam. Beide Zeiger seiner teuren Armbanduhr standen nach der Zwölf, Mitternacht war vorüber.

Der Einsatz hatte ein gutes Ende genommen. Yonas befand sich wieder zu Hause. Trotzdem, sie waren nicht ungeschoren davongekommen.

Er selbst hätte dafür Sorge tragen müssen, dass seine Leute, wenn schon nicht unversehrt, dann auf jeden Fall vollzählig zurückkehrten. Er war der Chef. Das mit Ahmad hätte nicht passieren dürfen. Er war extra hinterhergefahren, um so etwas zu verhindern.

In seiner Wohnung angekommen, ging er zuerst zum Telefon, um Will anzurufen. Sein zuverlässigster Mitarbeiter würde dafür sorgen, dass die benötigten Blutkonserven für Ahmad innerhalb der nächsten zwei Stunden da waren, daran hatte er keinen Zweifel.

Beruhigt legte er kurze Zeit später den Hörer auf und ging ins Bad. Während das Wasser in die Wanne rauschte und sein Badezimmer dabei mit dem den aromatischen Duft des Lavendel​-Öls füllte, starrte er auf den immer größer werdenden Schaumberg, ohne ihn wirklich zu sehen. Plötzlich merkte er, wie erschöpft er war. Die Schlag auf Schlag auf ihn einprasselnden Ereignisse dieses Abends waren nicht leicht zu verkraften gewesen.

Begonnen hatte alles am Nachmittag, als Imara mit der Nachricht hereinplatzte, dass Yonas entführt worden war.

Der Sechzehnjährige war nach dem Unterricht noch bei einem Lehrer zur Berufsberatung gewesen und Ahmad und sie hatten ihn von der Schule in der Stadt abholen wollen. Aber sie hatten nur seinen verwaisten Rucksack neben dem Schultor gefunden mit einer rätselhaften Notiz daran.

Tariq verließ das Badezimmer, ging zurück zu seinem Schreibtisch und griff nach seinem Handy. Ahmad hatte den Zettel fotografiert und ihm das Foto geschickt. Lediglich zwei Zeilen ohne Unterschrift, nur seltsame Symbole. Zwei Patronen im Zentrum einer Spirale ...

Wie in Zeitlupe griff er danach, nahm ihn auf und las den Text noch einmal. 'Ich habe den Jungen. Komm in das Schloss im Wald', stand dort in Druckbuchstaben, aber von Hand geschrieben.

Er hatte keine Unterschrift gebraucht, um zu erraten, von wem die Botschaft in Wahrheit kam. Mato Rayans kriminelle Aktivitäten machten einen Großteil der Einsätze der Guardians aus. Man hatte ihn bislang nie in Verbindung mit diesen Verbrechen bringen können, dafür war er einfach zu clever. Sein gesellschaftlicher Status als renommierter Wissenschaftler galt als makellos und seine Weste strahlte blütenweiß. Aber sie waren ihm schon manchmal recht nahegekommen. Leider hatten sie es trotz aller Mühen bislang nicht geschafft, sein Hauptquartier aufzuspüren.

Jetzt war er also endlich aus seinem Mauseloch gekrochen und suchte die direkte Konfrontation mit ihm. Aber warum er dafür Yonas, einen seiner Internats-Schüler entführte, nur um ihn gleich darauf wieder abholen zu lassen …? Es konnte nur so sein, dass der Junge ein Lockvogel war. Der Köder, um ihn, den Schulleiter, ins Schloss zu locken.

Die Polizei einzuschalten war nicht in Frage gekommen. Es hätte Yonas in noch viel größere Gefahr gebracht. Rayan war gefährlich und unberechenbar wie eine Viper. Zwei wichtige Menschen hatte er ihm schon genommen und Trajan hätte es vor einem halben Jahr ebenfalls beinahe erwischt.

Er seufzte, denn auch mit diesen Morden ließ sich der Mann nicht in Verbindung bringen. Seine Handlanger, die unter dem Namen Hafenmafia agierten, waren gut ausgebildet und ohne jegliche Skrupel.

Bis heute.

Das Schloss im Wald.

Konnte es sein, dass sie seinen Unterschlupf endlich gefunden hatten? War es ein riesiger Fehler von Rayan gewesen, ihn, Tariq, dorthin zu bestellen? Oder hatte der schon lange vorher beschlossen, dass sein langjähriger Widersacher diesen abgelegenen Ort nicht lebend verlassen würde? Den gut gezielten Energiegeschossen nach war das tatsächlich sein Ziel gewesen.

Müde rieb sich der Chef der Guardians mit den Fingerspitzen die Nasenwurzel. Fragen über Fragen, von denen er zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht eine beantwor­ten konnte. Noch hatte er keine Ahnung, was sich aus all dem entwickeln würde. Er musste in aller Ruhe nachdenken, sortieren und planen, wie man jetzt weiter vorgehen sollte. Eines war sicher: nun, da er Mato Rayan einmal gefunden hatte, wäre es unverzeihlich, ihn wieder abtauchen zu lassen. Gleich morgen musste er zuallererst Sadik noch einmal dort hinschicken. Der Ausbilder und frühere Anführer der Guardians war ein Meister im Observieren. Und wenn Senad und Shujaa ihn begleiteten - die Dreiergruppe war von den Kameraden Triple-S getauft worden - würden sie bei seiner Rückkehr mit Sicherheit wichtige Informationen mitbringen.

Für heute Abend musste er den Schutz des Anwesens der neuen Alarmanlage überlassen. Ihr Radius umfasste das gesamte Gelände und würde ihnen beim Eindringen uner­wünschter Gäste mehr Zeit geben als die bisherige, die nur das Gebäude selbst abdeckte. Senad und Gazanfer hatten sie selbst konstruiert. Der Waffenlehrer der Guardians, den alle nur Gaz nannten, war ein begnadeter Tüftler. Sie war noch nicht voll ausgereift und sie bot nicht den gleichen Schutz wie Ahmads Barriere, doch das ließ sich momentan nicht ändern. Die Schule war schließlich öffentlich und konnte nicht in eine Festung umgewandelt werden. Aber der heutige Abend zeigte, dass er sich in einer falschen Sicherheit gewiegt hatte. Mato Rayan hatte nur auf den richtigen Moment gewartet, um zuzuschlagen.

Trotz der Blutflecke darauf hängte er Hose und Oberhemd sorgsam über den Kleiderständer, Bewegungen, die er wie jeden Abend automatisch und ohne nachzudenken verrichte.

Als er sich kurz darauf in seinem luxuriösen Bad langsam ins warme, duftende Wasser gleiten ließ, ächzte er leise. Rayan und er hatten sich nichts geschenkt. Es war extrem anstren­gend, den Einschlag von Energiegeschossen abzufangen mit einem Schutzschild, der ebenfalls aus purer Energie bestand. Die Erschütterung der Aufschläge konnte er im gesamten Körper spüren, doch sein ganzer linker Arm bis hinauf in die Schulter tat besonders weh.

Zum Glück waren alle Guardians bis auf kleine Blessuren unversehrt geblieben. Issam hatte ihm nach Kolls Behand­lung versichert, dass dessen Verletzung am Bein in ein paar Tagen verheilt sein würde und die ungewöhnliche Waffe, von der Shujaa erwischt worden war, hatte nach Meinung des Arztes mehr an dessen Selbstbewusstsein gekratzt als an seinem Arm.

Tariq hoffte inständig, dass auch Ahmad sich bald erholen würde. Den Gedanken, dass der knapp Zwanzigjährige sterben könnte, verbot er sich rigoros. Das durfte einfach nicht passieren.

Was war das vorhin nur gewesen bei Yonas, dieses gelbe Licht? Energie, die er freigesetzt hatte? Wohnte sie schon immer in ihm und war nun erstmals durch irgendetwas ... erweckt oder aktiviert worden? Warum hatte niemand etwas davon gewusst und warum schien sogar Yonas selbst davon überrascht gewesen zu sein? Zu was war diese Kraft noch fähig? Sie hatte Rayans energetische Fessel einfach aufgelöst, als wäre diese lediglich dünn wie ein Spinnennetz gewesen!

Tief durchatmend legte er den Kopf zurück auf den Wannenrand. Er war müde, einfach müde. Morgen - oder besser nachher - würde er hoffentlich herausfinden, was da eigentlich passiert war. Aber jetzt nicht.

Während er sich langsam entspannte, dachte er daran, wie Issam und Tanyel sich unten um Ahmad kümmerten. Da war so viel Blut gewesen ... so viel Blut … eine riesige Menge Blut, die sich ausbreitete, zu einem See wurde ... ein See aus Blut ...

Er schrak zusammen, weil er merkte, dass er fast einge­schlafen wäre. Schwerfällig stieg er aus der Wanne und hüllte seine schlanke, hochgewachsene Gestalt in einen weichen schwarzen Bademantel. Mit dem Ärmel wischte er über den beschlagenen Spiegel über dem Waschbecken. Ein müdes Gesicht schaute ihm daraus entgegen. Die fast schwarzen Augen lagen tief in den Höhlen und waren unter den dichten Augenbrauen kaum zu sehen.

Du wirst alt, mein Freund, murmelte er sich selbst zu, während er ins Schlafzimmer ging. Fünf Minuten später schlief er schon.


Mittwoch, 01:05 Uhr


Trajan wälzte sich unruhig herum. Der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Es lag nicht am Bett und auch nicht am Voll­mond, der auf den gepflegten Rasen hinter dem großen Gebäude schien. Die Müdigkeit war da.

Aber er war zu aufgewühlt, zu verstört. Das Bild, wie Ahmad auf dieser Lichtung lag, hatte er zwar ständig vor Augen, doch er bekam es einfach nicht in seinen Kopf hinein. Der schwarze Guardian konnte nicht schwach sein, nicht verletzt und hilflos. Er war immer stark, ruhig, besonnen, überlegen.

Der schwarze Guardian ...

Eigentlich gab es einen solchen gar nicht. Irgendjemand hatte es mal gesagt, mehr im Scherz, weil Ahmad immer schwarz gekleidet war. Und die Bezeichnung hatte sich gehalten. Sie passte ja auch gleichzeitig zu seinem fast düsteren Wesen und seinem abweisenden Blick. Sein auffälligstes Kennzeichen war der wadenlange, hinten geschlitzte Mantel. Er trug ihn immer, Tag für Tag, sommers wie winters. Genau wie sein Kampfmesser. Eine gefährliche Waffe aus einem matt schimmernden, dunklen Metall gefertigt, mit einer gezackten Klingenrückseite und einem hell funkelnden Edelstein am Heft. Hennak fragte sich ständig, ob es ein echter Diamant war, aber er würde sich eher die Zunge abbeißen, als Ahmad darauf anzusprechen.

Immer wieder versuchte Trajan den Gefährten telepathisch zu erreichen. Er verspürte bereits Kopfschmerzen durch die ständige, intensive Konzentration. Doch da war nichts, nur völlige Stille.

Erneut wälzte er sich herum. Wenn er die Augen schloss, sah er die Blutstropfen auf den hellen Bodenfliesen des kleinen Foyers, Tariqs rot verschmierte Kleidung und Hände. Hilflos presste er die Handballen auf die geschlossenen Lider, doch das Bild ließ sich dadurch nicht vertreiben.

Was, wenn Ahmad es nicht schafft, fragte er sich und sein Herz schlug schneller bei diesem Gedanken. Was wird dann werden? Er ist einer von uns, auch wenn er das selbst nicht so sieht, und es wäre wieder Rayan, der ihn auf dem Gewissen hat. Wie Orell ...

Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Tag, an dem sie Ahmad kennengelernt hatten. Ungefähr ein Jahr war es jetzt her, dass der Chef den schmächtigen und abweisend wirkenden Typen während des Abendessens in den Speisesaal geschoben und als neues Mitglied der Guardians vorgestellt hatte. Seitdem erledigte er mit ihnen zusammen die von Tariq vergebenen Aufträge. Inzwischen war er ihr Teamleader, jedoch nicht weil er das sein wollte, sondern weil er das hatte, was ein Anführer brauchte: Beherrschung, innere Ruhe und einen kühlen Kopf in jeder Situation. Tariq vertraute ihm voll und ganz.

Wieder seufzte der blaue Guardian, dann setzte er sich auf und starrte durchs Fenster hinaus in die mondhelle Aprilnacht. Gleich hinter dem Haus begann der riesige Wald. Mittendrin in westlicher Richtung lag das Schloss und irgendwo auf dem Weg dorthin war auch die kleine Lichtung mit der Hütte …

Ob Shujaa und Senad auch nicht schlafen konnten? Er lauschte, doch aus Shujaas Zimmer, das neben dem seinen lag, drang kein Laut.

Es hatte keinen Zweck. Er musste wissen, wie es Ahmad ging. Vorher konnte er nicht einschlafen.

Seine Uhr zeigte kurz nach eins. Schnell warf er einen Blick hinüber zum zweiten Bett. Nakoa, sein Zimmergenosse vom Team Gelb, lag auf dem Bauch und schnarchte seelenruhig. Die verwuschelten schwarzen Haare des Neunzehnjährigen bildeten einen auffälligen Kontrast zu dem weißen Kopfkissen.

Ob Ahmad allein war? Oder hielt sich Issam noch in der Klinik auf? Oder Tanyel? Oder beide?

Egal. Entschlossen schlug Trajan die Decke zurück und schob die Beine aus dem Bett.

Auf Zehenspitzen huschte er zur Tür und lauschte, ob etwas zu hören war. Doch im Haus herrschte Grabesstille. Die Guardians schliefen mit Sicherheit alle, auch Yonas. Issam hatte ihn nach der Heimkehr kurz untersucht und dann ins Bett geschickt. Von Tanyels strengem Blick verfolgt war der Sechzehnjährige hinauf in sein Zimmer gegangen. Das kurze Stück von dieser Halle im Schloss bis hin zum Kleinbus hatten Hennak und Tariq ihn fast tragen müssen. Keiner wusste, warum, denn Yonas war unverletzt. Aber Tariqs Anweisung war gewesen, dass sie ihn einfach in Ruhe lassen sollten. Tanyel hatte versprochen, ab und zu nach ihm zu sehen.

Trajan ging zurück zum Bett, streifte Shirt und Jeans über und schlüpfte in seine Schuhe. Dann verließ er unhörbar das Zimmer.

Durch das riesige Glasfenster in der Decke, das der Verbreiterung des Korridors den Namen Lichthof eingebracht hatte, fiel ungehindert das Licht des Vollmondes und ließ die Schatten scharf hervortreten. Alle Zimmer im zweiten Stock des Haupthauses erreichte man von hier. In der Mitte war eine große viereckige Milchglasscheibe im Boden, umgeben mit dem gleichen kunstvoll geschnitzten Holzgeländer wie dem an der Treppe. Durch sie konnte das Licht auch in die darunterliegende Etage fallen.

Er wandte sich nach rechts. Bis zu dem engen, hinteren Treppenhaus, das früher der Dienstbotenaufgang gewesen war, begegnete ihm niemand. Alles war ruhig. Wieder lauschte er und stieg schließlich langsam die Stufen hinab in den ersten Stock. Wie alle anderen, die hier oben wohnten, wusste er genau, welche Stellen der ausgetretenen Holzstufen verräterisch knarren konnten und mied sie sorgfältig.


Zur gleichen Zeit wischte sich der Arzt mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und streckte den gebeugten Rücken.

Er war fertig. Mehr konnte er momentan nicht tun.

Vorsichtig rollten Tanyel und er den Behandlungstisch in das größere der beiden angrenzenden Krankenzimmer. Beide waren ausgestattet wie eine Intensivstation. Der Einfachheit halber unterschied man sie nach der Wandfarbe, denn es gab einen gelben und einen braunen Raum. Damals, beim Ein­richten der drei Klinikräume, hatte der Hausherr an nichts gespart und jeden von Issams Wünschen kommentarlos erfüllt.

Der Arzt nahm sich vor, seinem Freund morgen noch einmal dafür zu danken. Zum Glück wurde all dies bisher kaum gebraucht. Aber heute war es nötig, alle Register dieser Hightech-Ausstattung zu ziehen und er hoffte inständig, dass es reichen würde. Sein Patient war an die komplette medizinische Überwachung angeschlossen, er hatte Schmerzmittel und Sauerstoff, Infusionen und ein Antibio­tikum bekommen. Um Blutkonserven würde Tariq sich kümmern.

Alles Weitere musste Ahmad selbst schaffen.

"Ich brauche dich nicht mehr, Tanyel, vielen Dank." Issam streckte sich und gähnte verhalten.

"Soll ich nicht noch aufräumen?", fragte der Steward und ließ den Blick skeptisch über die herrschende Unordnung im Behandlungsraum schweifen, während er den sperrigen Roll­tisch wieder zurück an seinen Platz bugsierte.

Der Arzt sah sich ebenfalls kurz um und schüttelte dann den Kopf.

"Nein, lass nur. Ich mach eine kurze Pause, dann räum ich selber auf. Die Nacht wird lang, da bin ich dankbar für etwas Beschäftigung. Geh zu Bett, gute Nacht. Und", jetzt richtete er den Blick auf ihn, "vielen Dank, Tanyel. Ich bin froh, dass du hier warst."

Der Steward winkte ab und ging zur Tür, doch er blieb noch einmal stehen und drehte sich um.

"Möchtest du noch einen Kaffee, Doc?"

Issam schüttelte erneut den Kopf.

"Nein, danke. Geh zu Bett. Du musst morgen fit sein, wenn ich schlafen muss."

Tanyel nickte ihm noch einmal zu, dann schloss er die Tür hinter sich. Draußen im Foyer sah er die Blutstropfen auf den weißen Bodenfliesen und holte einen Lappen, um sie aufzuwischen, bevor er nach oben in seine kleine Wohnung unterm Dach ging.


Mittwoch, 01:10 Uhr


Jemand kam die Treppe hoch.

Trajan hörte die Schritte, noch bevor er denjenigen sah. Zögernd blieb er stehen und wartete.

Auf dem ersten Treppenabsatz ging die Person an der kleinen Lampe der Nachtbeleuchtung vorbei und er konnte am Schatten erkennen, dass es Tanyel war.

Schnell huschte er die drei Stufen wieder hinauf und wich im ersten Stock in den dunklen kleinen Korridor vor den Mäd­chenzimmern zurück. Als der Steward mit langsamen Schritten die Treppe weiter heraufkam, presste sich der blaue Guardian noch enger in die Nische.

"Deine Farbe ist ein ziemlich kräftiges Braun. Du machst dir Sorgen. Und du hast Angst."

Tanyel war stehengeblieben, als er das sagte.

Trajan brauchte einen Moment, bis er begriff, dass der Steward ja mittels seiner Gabe sehen konnte, dass da jemand im Dunkel stand. Verärgert, dass er nicht daran gedacht hatte, stieß er den unwillkürlich angehaltenen Atem aus.

"Ja", antwortete er leise und trat aus dem Schatten. "Ich kann nicht schlafen."

Tanyel nickte verstehend.

Der Guardian versuchte das Gesicht des Stewards zu erken­nen und musste dazu den Kopf anheben. Er war nicht klein, aber Tanyel überragte jeden hier, selbst Shujaa. Bei den nied­rigen Türen im Keller musste er sich bücken und wer ihm das erste Mal begegnete, war beeindruckt von seiner Erschei­nung. Dabei besaß der blonde Riese ein so sanftes Wesen, dass er keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Tariq war der scharfe Verstand von Darach Manor, Tanyel aber die Seele des Hauses.

"Es hat ihn ganz schön übel erwischt", meinte er jetzt leise. "Er zeigt mir momentan nur ein dunkles Grau, ein sehr dunkles. Ich kann keine anderen Farben bei ihm sehen, also nehme ich an, er ist weit weg."

Trajan verstand die Bedeutung dieser seltsamen Worte. Der Steward konnte das Befinden eines Menschen erkennen, das geistige wie auch das seelische. Für Tanyel offenbarte sich das in Farben, die die Gestalt des Betreffenden umhüllten, wenn er die Augen schloss. Oder wenn es - so wie eben, als er Trajan entdeckt hatte - völlig dunkel war. Jede Stimmung hatte ihre Farbe und je weniger Farbe zu sehen war, desto schlechter ging es dem Betreffenden.

Ahmads Farbe war jetzt gerade ein dunkles Grau.

Trajans Herz begann erneut schneller zu schlagen.

"Hast du ... schon einmal bei jemandem Schwarz gesehen?"

Der Steward schaute den blauen Guardian einen Augenblick an und ließ ihn so für einen winzigen Moment sein Gesicht erkennen. Schnell wandte er den Blick wieder ab, jedoch nicht schnell genug.

Trajan hatte den Schmerz in den graublauen Augen noch sehen können.

"Ja, einmal. Als wir Orell und dich damals fanden. Ich sah das Schwarz nur einen Augenblick lang, kurz bevor Orell starb. Und ich will es nie wieder sehen müssen."

Schon wieder Orell ...

Trajan hatte plötzlich einen Kloß in der Kehle. Erst vorhin hatte er an den getöteten Kameraden denken müssen. Der Mord an ihm war ein heftiger Schlag für alle gewesen. Senads ehemaliger Teampartner hatte ein liebenswertes Wesen besessen, jeder hatte ihn einfach mögen müssen. Er war mit Shujaa und Senad in einer Klasse gewesen. Seine Fähigkeit, bei der Zielperson mittels Hypnose Aggressionen abzubauen und eine Sphäre der Sympathie zu schaffen, war einzigartig und hatte bei Einsätzen nicht selten die Wende herbeige­führt.

Trajan schluckte mühsam, doch der Kloß im Hals blieb. Orell war damals als Einziger der Guardians an seiner Seite gewesen, als Rayans Handlanger von der Hafenmafia sie überrascht und sofort angegriffen hatten.

Er selbst wurde bei diesem Kampf schwer verletzt. Erst viel später, als es ihm langsam besser ging, hatte man ihm gesagt, dass Senads Teampartner nicht überlebt hatte. Er war wie gelähmt gewesen. Hatte sich schuldig gefühlt, weil er Orell nicht hatte helfen können und weil er selbst noch am Leben war.

"Willst du zu ihm?"

Tanyels Stimme riss ihn aus der Vergangenheit zurück ins Hier und Jetzt. Trajan spürte den Blick des Stewards for­schend auf sich ruhen. Mit etwas Mühe schüttelte er die Erinnerung an diesen furchtbaren Tag damals ab.

"Geh ruhig. Der Doc wird nichts dagegen haben."

Die Worte sollten ermunternd klingen, doch Trajan zuckte unentschlossen mit den Schultern. "Ich kann ihm eh nicht helfen", meinte er leise.

Tanyel hob kurz eine Augenbraue. "Wer, wenn nicht du?", fragte er mit leicht schiefgelegtem Kopf. Dann nickte er Trajan zu, drehte sich um und stieg die Treppe zum zweiten Stock hinauf.

Der sah ihm nach und überlegte, was der Steward mit dieser rätselhaften Äußerung wohl gemeint haben könnte. Doch dann huschte er geräuschlos die Treppe hinab ins Erdge­schoss und stand einen Augenblick später vor Issams Reich. Leise öffnete er die Tür zur Klinik. Der Kontrast verblüffte ihn jedes Mal aufs Neue. Man kam von einem Jahrhundert gleich ins übernächste, wenn man diesen Trakt im Ostflügel des Hauses betrat. In den großen Räumen im Haupthaus des uralten Landsitzes fand man Kronleuchter und mit dunklem Holz vertäfelte Wände, plüschbezogene Sitzmöbel und gold­gerahmte Bilder. Selbst die etwas düsteren Korridore wurden von kleinen, verschnörkelten Kristallleuchtern erhellt und die dicken Teppiche im Foyer und auf der Treppe schluckten die Geräusche der Schritte. Das Haus atmete Vergangenheit und genau dahin fühlte man sich zurückversetzt, wenn man es betrat.

Aber ging man durch diese solide, schallisolierte Tür, stand man plötzlich in einer Hightech-Welt, die der einer Univer­sitätsklinik durchaus das Wasser reichen konnte, wenn sie auch nur eine Miniaturausgabe davon war.

Der geräumige Behandlungsraum hatte keine Fenster. Dahinter konnte man durch die gläsernen Trennwände die beiden ebenfalls sehr großzügigen Krankenzimmer sehen. Die Glaswände ermöglichten es Issam, die zwei Betten darin jederzeit und von jedem Punkt aus im Blick haben zu können.

Und deshalb konnte Trajan jetzt auch sofort sehen, dass der Doc in einer wenig bequemen Haltung auf einem Stuhl im gelben Zimmer saß. Den Kopf hatte er auf seine auf dem Tisch verschränkten Arme gelegt und schlief.

Leise schloss der blaue Guardian die Tür hinter sich.

Außer leisen Pieptönen war nichts zu hören. Trajan kannte sie. Sie gehörten zu einer Monitor-Überwachung. Nach diesem Kampf im vergangenen Oktober, bei dem Orell getötet wurde, war er selbst lange orientierungslos zwischen Leben und Tod hin und her gewandert. Die Pieptöne des Monitors waren oft sein einziger Anker in der Welt der Lebenden gewesen. In seinen tagelang ständig schwankenden Wachheitszuständen hatte er sich an ihnen festgeklammert, als könne er so ein endgültiges Abdriften in die Welt des Vergessens verhindern.

Wenn Ahmad mittels Monitors überwacht wurde, ging es ihm schlecht. Issam war kein Arzt, der seine Patienten verzärtelte. Die Guardians mussten oft die Zähne zusam­menbeißen, wenn er ihre Verletzungen behandelte. In der Klinik blieb nur, wer das Bett hüten und beobachtet oder gar überwacht werden musste.

Trajan selbst war damals fast sechs Wochen hier gewesen. Kaum einer hatte noch ernsthaft damit gerechnet, dass er zurückkehren würde aus seinem Dämmerzustand. Nur Tiana, seine ältere Schwester. Sie hatte nie die Hoffnung aufgegeben. Keinen Tag war sie von seiner Seite gewichen. Er erinnerte sich nicht daran, aber Tanyel hatte es ihm erzählt.

Während dieser Gedanken war er langsam weitergegangen und hatte sich dabei umgesehen.

Im Behandlungszimmer brannte kein Licht. Lediglich der leuchtende Bildschirm des Computers tauchte den Raum in einen fahlen Schimmer. Auf dem Rolltisch lag ein verknüll­tes, blutiges Papierlaken. Aufgerissene Verpackungen von Verbandszeug und leere Plastikflaschen häuften sich auf der Ablage. Der Mülleimer quoll über und auf dem Boden neben der Tür konnte er im Halbdunkel Ahmads Mantel erkennen. Daneben lehnte noch die Trage an der Wand, so wie er sie vorhin hingestellt hatte.

In der Ecke links hinten befand sich eine Nische mit einem schmalen Notbett. In dem schlief Issam, falls ein Patient mal ständig überwacht werden und er notfalls schnell zur Stelle sein musste. Dort gab es auch eine kleine Treppe zu seinem Labor und seiner Bibliothek im Keller.

An der offenen Glastür zum gelben Zimmer blieb Trajan stehen. Trotzdem er die Klimaanlage leise summen hörte, war es drückend warm im Raum. Lediglich eine kleine Lampe am Kopfende des Bettes spendete sanftes Licht. Doch sie schien Mühe zu haben, den Bereich, den sie mit ihrem Lichtkegel erfasste, der Dunkelheit im Zimmer zu entreißen.

Kurz betrachtete er Issam. Der leise schnarchende Arzt sah erschöpft aus. Doch Trajan war sicher, dass er bei der leises­ten Veränderung der Pieptöne oder bei einem Alarm­signal des Monitors augenblicklich aufspringen würde.

Dann wandte er seinen Blick zum Bett.

Ahmad lag leicht erhöht, mit bloßem Oberkörper und nur mit einer dünnen Decke bis zur Hüfte zugedeckt. Noch immer war dieses Rasseln in seiner Brust zu hören, wenn er atmete.

Langsam glitt Trajans Blick über die einzelnen Kabel und Schläuche, das große Pflaster an seinem Kopf und die unför­mige Orthese, die die rechte Schulter und den angewinkelten Arm umschloss. Das von den kinnlangen dunklen Haaren eingerahmte Gesicht unter der Sauerstoffmaske war erschreckend blass. Jemand, sicher war es Tanyel gewesen, hatte es sauber gewaschen. Die linke Hand lag auf dem Laken. Unter den Fingernägeln war noch eingetrocknetes Blut zu sehen ...

Als er näher ans Bett trat, entdeckte er die dünnen weißen Linien auf der Brust des Gefährten. Entsetzt schnappte er nach Luft.

Ein leises Geräusch hinter ihm ließ Trajan zusammen­zucken. Wie ein ertappter Dieb fuhr er herum und starrte den Arzt an, der den Kopf etwas zur Seite schob, dann aber weiterschlief.

Trajan betrachtete den Gefährten erneut. Warum um alles in der Welt hat Ahmad nicht gleich im Schloss schon gesagt, dass er Hilfe braucht, fragte er sich. Zu stolz? Dieser Idiot!

Plötzlich schoss ihm ein Gedanke in den Kopf. Vielleicht hatte Ahmad ja schon eher nach ihm gerufen und er konnte ihn nur nicht hören, weil es im Speisezimmer so laut zuging? Alle berichteten aufgeregt von ihren Kämpfen, auch er selbst. Es war durchaus möglich, dass Ahmad schon länger versucht hatte ihn zu kontaktieren und er es nur nicht mit­bekommen hatte. Dann wäre er zu einem großen Anteil mit­schuldig daran, dass es ihm jetzt so schlecht ging.

Das mit dieser Erkenntnis schlagartig aufkommende Schuld­gefühl traf Trajan mit voller Wucht und er biss sich auf die Lippen.

Hinter ihm ruckte Issams Kopf plötzlich hoch.

"Was?", murmelte er schlaftrunken und blinzelte einen Augenblick verwirrt. Als er begriff, wo er war, sprang er auf.

"Trajan? Was machst du denn hier? Habe ich geschlafen? Was ist los?"

"Ich mache gar nichts", verteidigte sich dieser, hob abweh­rend die Hände und trat einen Schritt vom Bett zurück.

"Geh wieder ins Bett", knurrte der Arzt und rieb sich gähnend mit der Hand übers Gesicht. "Wenn Tariq erfährt, dass du hier bist, erwürgt er mich."

"Tanyel weiß es. Er hat gesagt, ich soll ruhig herkommen." Trajan hatte keineswegs vor, sich einfach wegschicken zu lassen.

"Tanyel ist nicht der Chef", wischte Issam den Einwand einfach beiseite, doch dann stutzte er. "Moment, er hat was?"

Der blaue Guardian warf dem Arzt einen unsicheren Blick zu. "Er sagte, dass Ahmad momentan nur dunkles Grau zeigt, keinerlei Farbe."

Issam verengte die Augen. Tanyels Worte sagten mehr über Ahmads Befinden, als der Monitor je preisgeben konnte, und dunkles Grau klang nicht gut.

"Ich werde hierbleiben und versuchen, ihn zu erreichen." Trajan sah wieder zu Ahmad, als er das sagte, und Issam erkannte, dass der Siebzehnjährige zum gegenwärtigen Zeit­punkt tatsächlich der Einzige zu sein schien, der die Mög­lichkeit dazu hatte. Deshalb widersprach er nicht, obwohl er sich sonst diesen Ton nicht hätte bieten lassen.

"Dann würde ich kurz mal duschen gehen", seufzte er leise. "Kommst du zehn Minuten allein klar?"

Trajan zögerte. "Ich weiß nicht ... Was, wenn hier irgendein Alarm losgeht?"

"Das glaube ich nicht. Er ist stabil. Und ich bleib nicht lang."

"Okay", willigte Trajan ein, "aber behalt dein Handy bei dir."

Issam blieb noch einen Moment stehen und musterte das Display des Monitors, dann drehte er sich um, nickte Trajan zu und ging.


Der blaue Guardian zog sich den Stuhl ans Bett, auf dem Issam eben noch gesessen hatte. Während er Ahmad betrachtete, fiel ihm auf, wie wenig er über den Kameraden wusste, weil der Einblicke in sein Privatleben so gut wie nie erlaubte. Aber ein Ereignis gab es, welches ihm im Gedächt­nis geblieben war. Er wusste nicht mehr den genauen Zeit­punkt und ein paar Wochen lag es mit Sicherheit zurück. Ahmad war damals in der Stadt mit einem Mädchen aneinandergeraten. Von dieser Begegnung oder von der beeindruckenden Person selbst hatte der schwarze Guardian niemandem erzählt. Aber Trajan und Tiana waren an diesem Abend zufällig im Kino gewesen und auf dem Weg zum Taxistand unbemerkt dazugekommen, als sich die beiden gegenüberstanden.


"Wer ist die denn?", flüsterte Tiana neben ihm, wobei sie dem Wört­chen 'die' einen abfälligen Klang verlieh.

Trajan schüttelte den Kopf. "Keine Ahnung", gab er ebenso leise zurück. "Ich habe sie noch nie gesehen. Aber ich kann mich ja mal etwas in ihrem Kopf umzuschauen."

Die Gedanken anderer Menschen zu lesen war seine zweite Gabe neben der Telepathie. Es funktionierte nicht bei jedem. Warum das so war, hatten bisher weder er noch seine Lehrerin Tamira herausfinden können. Es gab einfach Personen, zu denen er nicht durchdrang. So hatte er zum Beispiel noch keinen Weg gefunden, um hinter Ahmads mentale Sperre zu kommen, genauso wenig wie es Shujaa gelingen konnte, ihn aufzuspüren. Doch bei den meisten schaffte er es problemlos.

"Und?" Tiana gab ihm einen ungeduldigen Stoß mit dem Ellenbogen und sah ihn auffordernd an.

"Sie hat ihn verfolgt und dann hier abgepasst", knurrte er als Antwort und rieb sich die Rippen.

"Also kennen sie sich?" Tiana starrte das fremde Mädchen mit neuem Interesse an. "Wieso verfolgt?"

"Sie hatte den Auftrag dazu. Und sie soll ihn 'zurückbringen'. Aber keine Ahnung wohin."

"Wieso weißt du das nicht?" Tiana schien ihm nicht zu glauben.

Er verdrehte die Augen. "Weil sie nicht an ihren Auftraggeber oder den betreffenden Ort gedacht hat", versetzte er zischend und bedeutete ihr gleichzeitig leise zu sein.

Plötzlich sog er scharf die Luft ein und hörte auch von seiner Schwester ein erschrockenes Keuchen. Ahmad hatte mit einer fließenden Bewegung das schwarze Kampfmesser gezogen.

Das fremde Mädchen bemerkte, was Ahmad tat, lächelte aber nur geringschätzig. Als Antwort auf die offensichtliche Kampfansage entrollte sie mit der Rechten eine lange schwarze Peitsche, die sie am Gürtel getragen hatte und nun mit einem lockeren Schwung des Hand­gelenks laut knallen ließ.

Tiana sah sich verstohlen um und aus ihrem Blick sprach Sorge. "Die werden doch nicht etwa ernsthaft hier in der Öffentlichkeit ihre Streitig­keiten mit Waffen klären wollen!"

Und in dem Moment gingen Ahmad und das Mädchen, die sich bis dahin nur feindselig und wortlos angestarrt hatten, aufeinander los.

Die Geschwister vergaßen zu atmen, als sie den nun folgenden Kampf beobachteten. Noch nie hatten sie Ahmad so erlebt. Mit seinem Kampf­messer war er gegenüber dem Mädchen im Nachteil. Mühelos schaffte es ihre Peitsche, ihn auf Distanz zu halten. Doch weil Ahmad es ebenso geschickt verstand, der unberechenbaren Waffe auszuweichen, konnte keiner den anderen ernsthaft in Bedrängnis bringen.

Die versteckten Zuschauer erkannten, dass sie diese zwei in eine höhere Liga einordnen mussten. Beide waren in der Lage, Energie zu nutzen, denn sowohl Ahmad als auch das Mädchen hatten fast spielerisch ein Energiegeschoss in der Hand entstehen lassen, wie zur Warnung des Gegners. Wahrscheinlich hatte nur die Gefahr, Aufsehen zu erregen, sie davon abgehalten, diese Waffen in ihrer Fehde anzuwenden. Aber auch so war das Niveau ihrer Technik unglaublich hoch.

"Das ist ja eine Furie …", krächzte Tiana beklommen und packte ihren Bruder aufgeregt am Arm, um ihn vorsichtshalber zwei Schritte zurückzuziehen.

Eine Polizeisirene durchschnitt die Stille der Nacht.

Trajan befreite sich von ihrem Griff und starrte erneut zu den Kämpfenden hinüber. Die beiden legten eine Pause ein und lauschten keuchend, ob das Geräusch näherkam. Sie waren außer Atem von den unermüdlichen Angriffen und Kontern.

Erneut versuchte er die Gedanken des fremden Mädchens zu lesen. Doch sie sprach sie selbst aus, nein, sie zischte sie Ahmad hasserfüllt zu.

"Du bist noch genauso gut wie früher", konnte er hören. "Ich hätte wissen müssen, dass ich dich nicht besiegen kann. Trotzdem - du hast verloren, und nicht nur diesen Kampf."

Trajan runzelte verwirrt die Stirn. Irrte er sich oder war da ein höh­nischer Unterton in den Worten?

Ahmad jedoch blieb völlig unbeeindruckt. Seine ruhige, gelassene Antwort konnten die beiden versteckten Lauscher nicht verstehen. Stattdessen beobachteten die Geschwister verblüfft, dass die von Tiana als Furie Bezeichnete die Peitsche einrollte und sich zum Gehen wandte. "Gut", meinte sie scheinbar ergeben, "dann sorge ich auf anderem Weg dafür, dass du freiwillig zurückkehrst." Über die Schulter zurück­blickend warf sie Ahmad einen triumphierenden Blick zu. "Ich werde mir einfach den Jungen holen."

Ahmad starrte sie mit zusammengezogenen Brauen an.

Das Mädchen lächelte noch einmal boshaft, hob die zusammengerollte Peitsche zum Gruß und ging.

Verblüfft schüttelte Trajan den Kopf. War sie denn verrückt, dass sie Ahmad den Rücken zuwandte?

Als die Fremde verschwunden war, verließen die Geschwister ihr Versteck und gingen zu ihm. Ihr Teamkamerad stand noch immer wie erstarrt an demselben Platz.

"Du blutest ja!", stieß Tiana erschrockenen hervor und deutete auf seine rechte Seite. Durch das zerfetzte T-Shirt konnte man tatsächlich Blut sehen. Es war seiner Gegnerin also doch gelungen, ihn zu verletzen.

Wie aus einer Trance erwachend, starrte Ahmad Trajan und Tiana überrascht, ja fast erschrocken an.

"Was macht ihr hier? Was habt ihr gesehen?" Die Fragen klangen barsch und Tiana zog unwillkürlich ein wenig den Kopf ein.

"Eine fremde Energienutzerin, die dich angegriffen hat." Trajan hatte das Gefühl, dass es nicht klug war, Ahmad zu verraten, dass er den Grund des eben miterlebten Kampfes kannte. "Wer war das?"

Es kam keine Antwort. Trajan konnte sehen, dass die Botschaft des Mädchens bei Ahmad angekommen war und ihre Wirkung nicht verfehlt hatte. Die Anspannung stand dem Kameraden ins Gesicht geschrieben. Offensichtlich hatte sie ihn schon eine ganze Weile beobach­tet und so herausgefunden, dass Yonas sein besonderer Schützling war.

Zu erfahren, dass er observiert wurde und es nicht bemerkt hatte, musste Ahmad unsagbar ärgern und zusätzlich in Alarmbereitschaft versetzen.

"Issam sollte sich das ansehen!", meinte Tiana und deutete auf die Verletzung.

Doch Ahmad wich zwei Schritte zurück und schob mit einer fließenden Bewegung den Kampfdolch in die Scheide am Oberschenkel. "Ist nur ein Kratzer", murmelte er abweisend. "Ich muss los."

Rasch drehte er sich um, eilte davon und ließ sie einfach stehen.

Sie blieben zurück und schauten ihm nach. Besorgt registrierte Trajan, dass Ahmad dieselbe Richtung wie das Mädchen nahm. Offensichtlich um sie zu verfolgen.

"Er kann doch so nicht gehen!", stieß Tiana hervor. "Wir müssen ihm helfen!" Wie ihr Bruder sah sie, dass ihr Teamkamerad sich nach ein paar Schritten an einer Mauer abstützen musste. Er wirkte benommen. Fast schien es, als würde er umfallen, aber gerade als Tiana ihm nach­laufen wollte, ging er weiter.

Trajan hielt seine Schwester am Arm zurück und schüttelte auf ihren fragenden Blick hin den Kopf. Ahmad hatte entschieden, trotz der Wunde die Verfolgung seiner Gegnerin aufzunehmen. Es war seine Sache.


Am nächsten Tag war er nicht aufgetaucht. Ebenso wenig am Tag darauf. Erst eine knappe Woche nach dieser seltsa­men Begegnung hatte Ahmad sich wieder blicken lassen.

Wenn Trajan sich richtig erinnerte, dann war dies das einzige Mal gewesen, dass man dem Kameraden eine Reaktion auf eine Verletzung hatte anmerken können. Sonst ignorierte er sie für gewöhnlich, als wären es wirklich bloß kleine Kratzer. Aber damals hatte er Schwäche gezeigt und sich offensicht­lich Ruhe gönnen müssen.

"Warst du überrascht, dem Mädchen, mit dem du damals gekämpft hast, gestern Abend im Schloss zu begegnen?", murmelte er jetzt völlig unvermittelt. "Oder hast du gewusst, dass sie dort ist?"

Im ersten Moment fühlte es sich seltsam an, mit jemandem zu reden, der nicht antworten konnte. Aber da er keine Ahnung hatte, wie man mit einem Bewusstlosen umging, beschloss Trajan einfach mit Ahmad zu sprechen, als sei dieser wach. "Tiana und ich haben eure Begegnung von damals nicht vergessen und uns sofort an sie erinnert, als wir sie sahen", fuhr er fort. "Sie hat uns das Leben ganz schön schwergemacht mit ihrer Peitsche. Ich weiß nicht, ob wir sie hätten besiegen können, wenn sie nicht mitten im Kampf plötzlich davongerannt wäre."

Seine Schwester und er waren wirklich überrascht gewesen, als sie im Schloss auf Ahmads Gegnerin von damals gestoßen waren. Zum Angreifen waren weder Tiana noch er selbst gekommen. Der Kampf hatte hauptsächlich darin bestanden, den roten Energiegeschossen und den unbere­chenbaren Peitschenhieben auszuweichen, da am Ende der Waffe scharfe Metallteile klimperten. Beide hatten die Verletzung nicht vergessen, die Ahmad damals davongetragen hatte.

"Ich wusste, womit sie dir gedroht hat." Trajan sah unsicher zum Bett und biss sich auf die Unterlippe. "Und gestern, da hat sie ihre Ankündigung wahrgemacht, stimmt's? Sie hat Yonas entführt. Er war der Junge, den sie sich holen wollte. Und damit hat sie den besten Köder gewählt, das einzige Mittel, was dich dazu bringen konnte, ihrer Forderung nachzukommen. Wusstest du, von wem die Notiz mit Yonas' Aufenthaltsort war und dass du sie dort wiedersehen würdest?"

Es blieb still.

Trajan stand auf und trat an das verspiegelte Fenster. Er lächelte bitter.

"Du konntest Yonas nicht im Stich lassen. Und du wärst sogar allein da reingegangen, wenn Tariq uns nicht hinterhergeschickt hätte. Wahrscheinlich hättest du sie wohin auch immer begleitet, wenn Yonas dafür unbehelligt freigekommen wäre. Ja", meinte er jetzt mit entschiedenem Nicken, "ich glaube, das hättest du getan."

In der Spiegelung des Fensters konnte er das Bett sehen.

"Ich denke, du wusstest genau, was dich erwartet. Du hast dieses Mädchen gekannt, das wurde mir bereits klar, als ich damals euer Gespräch mithörte. Ich wüsste gern, wohin sie dich zurückholen wollte, oder sollte? Wo warst du, bevor du zu uns kamst? In diesem Schloss? Woher hast du diese furchtbaren Narben?"

Wieder kam keine Antwort.

Aber Trajan hatte auch nicht damit gerechnet. Er starrte hinaus in die pechschwarze Nacht und seufzte. So viele Fragen. Je länger er nachdachte, desto mehr Rätsel taten sich auf und desto mehr Zusammenhänge schien es zu geben. Aber ihm fehlten die Fäden, um alles zu verknüpfen.

Ob Ahmad ihn hörte und nur nicht antworten konnte? Diese Welt zwischen Wachsein und ewigem Schlaf, zwischen Leben und Tod kannte er. Auch er hatte manchmal Stimmen gehört, die ein vertrautes Gefühl in ihm geweckt hatten. Doch er war zu weit weg gewesen. Ob es Ahmad ebenso ging? Vielleicht. Bestimmt sogar. Und deshalb würde er auch nicht damit aufhören, sich zu bemühen den Teamkameraden von dort zurückzurufen.

Die Tür vom Behandlungsraum öffnete sich. Trajan hörte Schritte und kurz darauf stand Issam am Bett. "War etwas?", fragte er.

"Alles ruhig." Trajan kam vom Fenster herüber. Eine Weile standen sie wortlos nebeneinander. Keiner der beiden hatte etwas zu sagen und doch war das Schweigen nicht unangenehm.

"Ich werde wieder zu Bett gehen", murmelte der Guardian schließlich und nickte Issam zu.

"Hm? Ja, natürlich, geh schlafen. Gute Nacht, Trajan, und danke fürs Aufpassen."

Der Arzt sah ihm nach, bis sich die Tür hinter dem jungen Mann geschlossen hatte. Dann kontrollierte er noch einmal die Werte am Monitor. Nicht alle Zahlen waren grün. Doch die wenigen roten zeigten nichts Bedrohliches. Es sah gut aus. Momentan.


Mittwoch, 07:00 Uhr


Als der Hausherr am Morgen erwachte, überfiel ihn sofort die Erinnerung an die Ereignisse der vergangenen Nacht. Er setzte sich auf und schaute auf die Uhr.

Es war sieben. Ihm entfuhr ein ärgerliches Knurren, denn eigentlich wollte er eher aufstehen. Doch trotz des aufregen­den Abends hatte er traumlos bis jetzt durchgeschlafen.

Barfuß ging er zum Fenster und sah eine Weile hinaus in den nebligen Aprilmorgen. Dass die Blutkonserven angekom­men waren und dass Ahmad die Nacht überstanden hatte bezweifelte er nicht, sonst hätte Issam ihn geweckt.

Ahmad. Verdammt. Sein Herz klopfte schneller bei dem Gedanken, in die Klinik hinunterzugehen, und widerwillig musste er sich eingestehen, dass er sich davor fürchtete.

Seufzend rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen, während er ins Badezimmer schlurfte. Die Hände auf das Waschbecken gestützt und seine müden Augen im Spiegel musternd versuchte er sich zu erinnern, ob gestern irgendetwas an dem schwarzen Guardian anders gewesen war. Konzentriert schloss er die Augen und rief sich die Szene in Erinnerung. Er sah Ahmad, wie er an der Wand lehnte und sein Ebenbild anstarrte, das ihm gegenüberstand und mit der Waffe in Schach hielt. Und wie er dann neben Yonas in der Mitte dieses seltsamen Energiewirbels kniete. Er war einfach hineingegangen. Und dann? Ahmad hatte keine Energie angewendet, weder Blitze noch blaue Geschosse, nichts. Er hatte einfach gar nichts getan.

Tariq hieb frustriert mit der Faust auf den Waschbecken­rand. Er wusste, dass er etwas übersah, aber er kam nicht darauf, was es war. Er hatte nichts Ungewöhnliches bemerkt.

Mit einem erneuten Seufzen zog er sich an, um hinunter zu gehen.

In der Klinik fand er nur seinen Steward vor. Der Arzt war nicht da.

"Wie geht's ihm?", fragte er mit leiser Stimme.

Tanyel, der gerade den Behandlungstisch reinigte, hielt inne und richtete sich auf.

"Nicht gut", antwortete er und warf einen schnellen Blick zum gelben Zimmer. "Dunkelgrau. Vielleicht noch eine Spur dunkler als gestern Abend."

Tariq konnte die Botschaft verstehen. Wie alle anderen wusste er um die besondere Fähigkeit seines Stewards. Nach Dunkelgrau kam Schwarz.

Er erinnerte sich noch gut an diesen furchtbaren Tag und daran, wie verstört Tanyel danach gewesen war. Der Tag, an dem er das erste und bis heute einzige Mal Schwarz bei einem Menschen sehen musste: als er Orell auf seine Arme gehoben und versucht hatte, ihn schnellstmöglich zum Auto zu tragen, um ihn nach Darach Manor zu Issam bringen zu können. Und als er merken musste, dass es zu spät war.

Plötzlich war er stehengeblieben, als sei er gegen eine Wand gelaufen. Dann hatten seine Beine nachgegeben und nach­dem er mitten auf der Straße auf die Knie gefallen war, hatte er den Achtzehnjährigen ganz behutsam an seine Brust gedrückt, als fürchtete er ihm wehzutun. Tariq und die anderen hatten gesehen, wie sich seine Lippen dabei beweg­ten, aber niemand konnte verstehen, was er dem toten Guardian in seinen Armen zuflüsterte, während er sein Gesicht in dessen Haaren vergrub.

Trajan hatte nicht weit entfernt von Orell gelegen, reglos, als wäre auch er tot. Ahmad war damals als erster bei ihm gewesen. Mit einem einzigen kräftigen Ruck hatte er Trajan das T-Shirt entzweigerissen und dann auf die stark blutende Wunde am Kopf gepresst. Man hatte sehen können, dass er dabei auf den Bewusstlosen eingeredet hatte. Mit der anderen Hand auf Trajans Schulter war er an dessen Seite geblieben, bis Imara, die Fahrerin, das Auto so nahe wie möglich herangebracht hatte. Dann hatte er ihn mit Shujaa zusammen aufgehoben und vorsichtig auf den Rücksitz gebettet. Imara war freiwillig auf die Rückbank gewechselt, ohne dass er etwas hätte sagen müssen. Ein Blick von ihm war ausreichend gewesen.

Tariq hatte ihr über diese Fahrt zurück nach Darach Manor kein Wort entlocken können, aber dank Ahmad war Trajan damals rechtzeitig bei Issam angekommen und gerettet worden.

Ironie des Schicksals? Gestern Abend hatte sich Trajan endlich bei ihm revanchieren können, indem er aufgrund seiner besonderen Fähigkeit der Einzige war, der seinen Ruf hören und für Hilfe sorgen konnte.

"Das Blut für Ahmad ist gekommen?" Er warf einen Blick zum Bett und sah den roten Beutel an einem Haken daneben hängen.

"Alles in Ordnung, die Transfusion läuft schon."

Erleichtert nickte er. "Wo ist Issam?", fragte er jetzt und schaute sich suchend um.

"Er war den Rest der Nacht hier. Vor einer Stunde habe ich ihn abgelöst. Ich hoffe, er kann ein bisschen schlafen, aber wie ich ihn kenne, ist er spätestens um neun wieder hier. Ahmad hat während der Nacht Fieber bekommen und die Kopfverletzung bereitet dem Doc auch Sorge."

"Koma?"

"Issam ist sich nicht sicher. Aber wenn der Junge nicht bald aufwacht, wird es wohl so sein", seufzte er und machte sich wieder an die Reinigung des Tisches.

Eine Weile herrschte Stille.

Tariq merkte, dass die Situation Tanyel zu schaffen machte. Orells Tod hatte damals wohl doch eine tiefere Wunde hinterlassen, als er vermutet hatte, und Tanyel befürchtete wohl auch Ahmad zu verlieren. Die Vorstellung, wieder hilflos mit ansehen zu müssen, wie einer der ihm Anvertrauten starb, schien seine Unerschütterlichkeit merk­lich ins Wanken zu bringen. Als Steward von Darach Manor und damit quasi Mädchen für alles hatte er ein enges Verhältnis zu allen Bewohnern des Hauses. Und zu denen zählte er auch den schwarzen Guardian, selbst wenn dieser nie im Haus war. Dessen war Tariq sich sicher, denn er wusste, dass Tanyel Ahmad jeden Morgen am Nordtor traf, wo er ihm sein Lebensmittelpaket für den Tag übergab.

Auch er spürte jetzt ein Engegefühl in der Brust. Er räusperte sich, weil er seiner Stimme nicht traute. Mit einem Nicken bedankte er sich bei seinem Steward und verließ den Raum. Eigentlich sollte er jetzt beruhigt sein, doch das Gefühl wollte sich nicht einstellen.


Mittwoch, 07:30 Uhr


In dem holzvertäfelten, rustikal eingerichteten großen Besprechungsraum im Erdgeschoss von Darach Manor waren alle Guardians vollzählig versammelt. Sie wussten, dass Tariq den vergangenen Einsatz wie immer mit ihnen auswerten würde und waren gespannt auf das, was er ihnen zu sagen hatte. Eigentlich tat er das sonst immer am Abend. Aber nach der Heimkehr war der Chef mit Yonas und den leicht Verletzten Koll und Shujaa in Issams Klinik verschwunden. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Yonas Issams Anweisung befolgt hatte, kam er zu ihnen ins Speisezimmer, verkündete, dass die Auswertung am nächsten Tag stattfinden würde und wünschte ihnen eine gute Nacht.

Heute aber war außer dem ungewöhnlichen Zeitpunkt noch irgendetwas anders. Spannung schien in der Luft zu liegen wie der Vorbote von etwas Schlechtem, Bedrückendem. Es gab keine Gespräche, alle schwiegen und waren in Gedanken. Senad, Trajan und Shujaa, die an den vergangenen Abend im Wald dachten, warteten besonders ungeduldig auf Tariq. Gemäß seiner Anweisung hatten sie niemandem etwas erzählt.

Tiana tauschte einen verzagten Blick mit Rhea und seufzte leise. Gestern war der Chef sicher nicht zufrieden mit ihnen gewesen, grübelte sie. Das Ganze hatte sich doch ziemlich chaotisch abgespielt und der Ausgang konnte - wenn man es recht betrachtete - eigentlich nicht anders als pures Glück genannt werden.

Unauffällig musterte sie Trajan. Ihr Bruder war ungewöhn­lich schweigsam heute Morgen. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Auf ihre Frage, was los wäre, hatte er vorhin nur abgewinkt und erklärt, dass seine Nacht miserabel gewesen sei. Er sieht wirklich übernächtigt aus, dachte sie und die gewohnte schwesterliche Sorge stellte sich ein, als sie ihn so schweigsam in einer Ecke des großen Ledersofas hockend vor sich hinstarren sah.

Als Tariq eintrat, richteten sich automatisch alle Blicke auf ihn. Er blieb einen Augenblick unschlüssig stehen und musterte die jungen Leute vor sich. Tiana konnte sehen, wie sich ein harter Zug um seine Mundwinkel bildete. Sie kannten das. Tariq machte sich um etwas Sorgen.

Jetzt trat er an eines der großen Westfenster und sah einen Augenblick hinaus in den Garten. "Es gibt schlechte Neuig­keiten", begann er schließlich und drehte sich wieder um. "Ahmad wurde gestern Abend bei dem Kampf im Schloss verwundet und schaffte es nicht, allein zurückkehren. Aus irgendeinem Grund heilen seine Verletzungen nicht so rasant wie sonst."

Hier machte er eine winzige Pause und fuhr dann fort. "Aber er hat Trajan kontaktiert und dank Shujaas Fähigkeit konnten wir ihn an der westlichen Grundstücksgrenze finden. Senad und Trajan haben ihn ins Haus gebracht. Issam hat ihn unten bei sich in der Klinik behalten." Erneut hielt er kurz inne, dann hob er den Kopf und schaute in die Runde. Atemlose Stille und gespannte Mienen zeigten ihm, dass alle zuhörten. "Er ist schwer verletzt, aber der Doc meint, dass er durchkommen wird", beeilte er sich hinzuzu­fügen.

"Was … welche …" Tiana war die Erste, die ihre Stimme wiedergefunden hatte nach der Nachricht, doch sie brachte ihren Satz nicht zu Ende.

Doch Tariq verstand, was sie fragen wollte. "Eine ausge­renkte Schulter, ein doppelt gebrochenes Schlüsselbein, gebrochene Rippen, die die Lunge verletzt haben, eine Wunde an der rechten Schulter und eine Kopfverletzung."

Der Ausdruck der Erwartung auf den Gesichtern um ihn herum wandelte sich während dieser Aufzählung mehr und mehr in Bestürzung. Keiner sagte ein Wort.

Trajan spähte unauffällig zu Shujaa hinüber und der hob im selben Moment den Kopf und sah ihn an.

Der Chef schwieg. Er ließ seine Worte wirken, gab ihnen Zeit, sie zu begreifen.

"Aber …" Rhea flüsterte fast, als sie das Wörtchen hervor­stieß, "wie kann das sein? Warum kann er das alles nicht wie immer im Handumdrehen heilen?"

"Das … Ehrlich gesagt wissen wir es nicht. Doch wir hoffen inständig, dass es nur vorübergehend ist", gestand Tariq.

"Was sagt der Schwarze denn selbst, wie das passieren konnte?", wollte Hennak wissen und verschränkte die Arme vor der Brust.

Der Hausherr schüttelte bedauernd den Kopf. "Wir konnten ihn noch nicht fragen. Er war bewusstlos, als wir ihn fanden, und er ist noch nicht zu sich gekommen."

Tiana hatte bei Tariqs Worten gespürt, wie ihr Herz ein paar schmerzhafte Sätze machte und jetzt wie zum Zerspringen hämmerte. "Wer hat ihn so zugerichtet? War sein Gegner so stark? Oder hatte er gleich mehrere?" Ihren Worten war ihre Fassungslosigkeit anzumerken. Ahmad war verletzt ...

"Ich habe keine Ahnung, doch ich vermute, dass er sich nicht so erholt wie sonst, hängt auf jeden Fall mit den gestrigen Ereignissen im Schloss zusammen."

"Wie kommst du darauf?"

Die Frage war von Sadik gekommen. Wie immer komplett in Schwarz gekleidet saß der sechsundzwanzigjährige Nah­kampftrainer der Guardians mit dem militärisch kurzen Haarschnitt verkehrt herum auf einem Stuhl am Kamin und hatte die muskelbepackten Arme auf die Lehne gelegt.

Tariq warf ihm einen kurzen Blick zu und holte tief Luft.

"Mato Rayan war dort, oben in der großen Halle. Wahr­scheinlich hat er Yonas entführen lassen, um endlich an mich heranzukommen. Bis zu einem gewissen Grad ging sein Plan ja auch auf."

"Rayan war selbst da?" Shujaas Stimme war das Erstaunen anzumerken.

Automatisch richteten sich die Blicke aller auf Yonas, der ihn ja dann auch gesehen haben musste.

Der eher schmächtige Blondschopf, der es mit Unbehagen bemerkte, wurde etwas kleiner auf seinem Sitzplatz.

Keiner von ihnen hatte diesem Mann bisher von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden. Doch jeder kannte ihn, zumindest dem Namen nach. Seine Leute führten seine Befehle rücksichtlos und konsequent aus, während er selbst dabei immer im Hintergrund blieb.

"Ja", bestätigte Tariq, "das war er. Aber zurück zu Ahmad. Meine Frage an die drei Teams, die ich ihm zur Unterstüt­zung geschickt habe, ist: War etwas ungewöhnlich an ihm, bevor ihr da reingegangen seid? Ist euch etwas aufgefallen, wirkte er verändert?" Hier ließ er den Blick über die betref­fenden sechs Guardians schweifen und holte sich ihr Kopf­schütteln als Bestätigung seiner Vermutung. "Gut, wenn vorher mit ihm alles in Ordnung war, muss irgendetwas im Schloss vorgefallen sein, das diese Veränderung bei ihm bewirkt hat. Und keiner von uns hat etwas bemerkt. Deshalb sind wir auch nach dem Ende der Aktion ohne ihn heimge­fahren, wie gewohnt."

In der Pause, die Tariq jetzt machte, rasten Trajans Gedanken. Wann hatte Ahmad realisiert, dass seine Verletzungen diesmal nicht heilten? Schon im Schloss? Aber warum hatte er dann nicht gleich etwas gesagt?

Nein. Es musste später geschehen sein, als er auf dem Heimweg war. Zu Fuß. Wo war sein Wagen? Warum war er nicht zurückgefahren? Konnte er nicht? Dann hätte er doch stattdessen Hilfe rufen können! Dieser Mister "ich-brauch-keine-Hilfe-von-niemandem" war so ein sturer Idiot ...

Wieder nein, Senad hatte ja gesagt, dass Ahmads Handy irgendwo im Schloss war. Sicher hatte er es dort verloren. Also konnte er niemanden herbeirufen und musste auf die Telepathie zurückgreifen, was er sonst so gut wie nie tat.

"Was danach mit ihm geschah oder wohin er gegangen ist, weiß keiner. Auch nicht, wo sein Auto ist und wieso er zu Fuß unterwegs war." Tariq hatte weitergesprochen und seine Grübeleien unterbrochen. Der Chef ging vom Fenster zur Sitzgruppe und setzte sich dort in den letzten freien Sessel am Kamin, direkt unter dem großen Ölgemälde, das seine Eltern zeigte. Eindringlich richtete er den Blick seiner dunklen Augen auf seine Zuhörer.

"Das ist auch der Grund, warum ich euch zusammengerufen habe. Den Einsatz werten wir heute Abend aus. Jetzt denkt bitte nach: hat jemand auf ihn geachtet, nachdem ihr in die Halle gekommen seid? Ist euch irgendetwas anderes aufgefallen, das nach eurer Ankunft dort ungewöhnlich war? Konzentriert euch. Jede Kleinigkeit könnte wichtig sein."

Sie nahmen sich Zeit, um zu überlegen. Die Stille war drückend.

Während er geduldig wartete, musterte Tariq die jungen Leute der Reihe nach, bis sein Blick an dem Teenager hängenblieb, der gar nicht zu den Guardians gehörte und trotzdem der Grund für die Aufregung gestern Abend gewesen war.

"Yonas", unterbrach er das Schweigen, "hast du etwas bei ihm bemerkt, als er in die Halle kam? Ist irgendetwas vorgefallen in der Zeit, bevor ich auftauchte?"

Der Blondschopf mit den dunkelgrünen Augen schüttelte den Kopf. Es war ihm sichtlich unangenehm, so ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt zu werden und nicht umsonst hatte er einen Sitzplatz außerhalb des Kreises der schweren Ledermöbel gewählt. Er fühlte sich schuldig. Jetzt, nach dieser Hiobsbotschaft, umso mehr.

Auch er rief sich den gestrigen Abend noch einmal ins Gedächtnis. Ahmad war in die Halle gekommen und hatte fast sofort mit dem Mann, der oben auf der Treppe gestanden hatte, einen Kampf mit Energiegeschossen begonnen. Seine blauen und die schwarzen des Fremden waren durch die Luft gerauscht und krachend in die Wände geschlagen. Und Ahmad hatte sogar einen Schild aus Energie gebildet, um sich vor ihnen zu schützen. Doch der war nach ein paar Treffern zerplatzt.

Irgendwann hatte plötzlich dieser Doppelgänger von Ahmad dagestanden und ihn angegriffen.

Und dann war das geschehen, woran er selbst nur mit Unbehagen zurückdachte. Er hatte die Kontrolle über sich verloren ... Für eine Zeitspanne, von der er nicht genau wusste, was darin passierte und wie lange sie angedauert hatte. Als alles vorüber war, war er selbst einfach zu erschöpft gewesen, um auf irgendetwas zu achten, was um ihn herum geschah. Nur dass Ahmad zu ihm kam, daran erinnerte er sich.

Die anderen Guardians blickten ratlos zu Tariq.

"Er war bei Yonas, als ich hereinkam", brummte Hennak schulterzuckend, "es sah aus, als wolle er ihm beim Aufstehen helfen."

"Ja, er hat ihm auf die Schulter geklopft, das habe ich auch gesehen." Senad nickte bestätigend. "Und so ein seltsames gelbes Licht war da um die beiden. Aber was er danach getan hat ... keine Ahnung."

"Er ist die breite Treppe am anderen Ende der Halle hinaufgerannt", verkündete Koll, Senads Teamgefährte und mit sechzehn der jüngste Guardian. Der ruhige, fast wortkarge Junge aus Irland war dafür bekannt, dass er erst gründlich nachdachte und dann sprach.

"Also hat keiner von uns wirklich auf ihn geachtet. Wir haben unseren Leader im Stich gelassen." Tiana fasste ihrer aller Gedanken zusammen, indem sie das beschämt feststellte.

"Aber es war doch alles wie immer." Hennaks Stimme klang trotzig. "Er fährt nie mit uns zurück. Manchmal sucht er noch nach irgendwelchen Hinweisen, manchmal räumt er nur hinter uns auf oder beseitigt Spuren, die zu uns führen könnten. Und wenn er damit fertig ist, dann ruft er den Chef an, um Bescheid zu geben, dass er alles erledigt hat. Wie hätten wir ahnen sollen, dass diesmal irgendetwas anders war? Ihm war nichts anzumerken." Er ärgerte sich, dass er nicht Zorn, sondern unerklärlicherweise eher Mitgefühl für den schwarzen Guardian empfand, obwohl er ihn nicht mochte. "Und selbst wenn er verletzt war - keiner von uns hätte sich da doch ernsthaft Gedanken gemacht", fügte er noch hinzu. "Wir wissen alle, wozu er fähig ist."

"Das stimmt. Deshalb ist es ungewöhnlich, dass sein Gegner ihn so ernsthaft verletzen konnte." Tariq schüttelte den Kopf.

"Wer war denn sein Gegner? Mato Rayan selbst? Oder war außer diesem noch jemand in der Halle?" Es war das erste Mal, dass Rheas Teampartner Nakoa sich zu Wort meldete.

Richtig, rief sich Tariq ins Gedächtnis. Die Guardians hatten nicht nur Rayan, sondern auch den anderen gar nicht zu Gesicht bekommen. Als sie in der Halle auftauchten, waren beide schon verschwunden. Also hatten nur er selbst und Yonas ausreichend Zeit gehabt, ihn zu sehen.

"Ja, es war noch einer dort."

"Kannte Ahmad ihn?", fragte Sadik.

"Hundertprozentig." Tariq war sich sicher. Als er selbst in die Halle getreten war, hatte der schwarze Guardian sein Gegenüber angestarrt wie das Kaninchen die Schlange. Kein Wunder, dachte er bitter, nach so langer Zeit ist das wahrhaft kein Wunder ...

"Es war sein Bruder."

Yonas' leiser Einwurf schlug ein wie eine Bombe.

"Sein Bruder?"

"Er hat einen Bruder?"

"Was sagst du da?"

"Woher weißt du das?"

Alle redeten plötzlich durcheinander und bestürmten ihn mit Fragen.

Der Junge runzelte einen Moment grübelnd die Stirn. Es war alles so schnell gegangen.

"Er heißt La... La'ith. Ahmad und er scheinen sich etliche Jahre nicht gesehen zu haben, denn er sagte zu Ahmad: 'Es ist lange her, Bruder, sehr lange'. Dann hat er Ahmad angegriffen, aber er hat ihn nicht verletzt, sondern nur das Messer aus der Hand geschlagen. Ich habe dann nicht mehr alles so genau mitgekriegt. Keine Ahnung, was mit mir los war. Ich wollte nur, dass alle aufhören zu kämpfen, dass nicht noch mehr verletzt werden, keiner von euch. Und da brach etwas aus mir heraus und es breitete sich aus, so ... eine Art Sturm … und ich konnte es nicht unterdrücken."

Einen Moment atmete er tief durch, als er an das unerklärli­che Ereignis zurückdachte. "Ich war vollkommen fix und fertig. Und dann seid ihr ja alle hereingekommen."

Neue Fragen sprudelten hervor.

Yonas versuchte zu erklären was er gemeint hatte mit seiner Äußerung, dass etwas aus ihm herausgebrochen sei. Er war selbst verblüfft über das Phänomen, das er da hervorge­bracht hatte.

Tariq gewährte den Guardians noch eine kurze Weile, dann sah er auf die Uhr. Es war schon nach acht.

"Wir beenden das jetzt erst einmal an der Stelle. Ihr müsst zur Schule, Imara und Tamira warten sicher schon mit den Autos. Vorsichtshalber wird euer Ausbilder euch heute begleiten", hier nickte er Sadik zu, "obwohl ich denke, dass Rayan nach der gestrigen Aktion erstmal gründlich darüber nachdenken dürfte, ob er einen neuen Versuch startet, sich mit mir anzulegen. Denkt daran, heute Abend nach dem Essen Auswertung. Also dann." Er stand auf, nickte ihnen zu und verließ den Raum.

Wieder in seinem Arbeitszimmer angekommen, lehnte er sich kurz mit dem Rücken an die gerade zugeklappte Tür und schloss die Augen.

Es war sein Bruder, hatte Yonas gesagt.

La'ith.

Der Bruder, den Ahmad damals zurückgelassen hatte.


Mittwoch, 11:00 Uhr


Schmerzen ...

Sie waren vertraut und gehörten zu seinem Dasein, solange er zurückdachte. Er konnte sonst mit ihnen umgehen, wusste sie zu nehmen und sich ihnen anzupassen.

Doch diesmal wurde er von ihnen überrollt, noch bevor sich sein Verstand ganz ins Wachsein gekämpft hatte. Sie nahmen ihm buchstäblich die Luft. Wie ein glühendes Messer stachen sie bei jedem einzelnen Atemzug in seine linke Brustseite. Er versuchte flacher zu atmen, konnte es aber nicht lange durchhalten. Seine Lunge schrie schon nach wenigen Sekunden nach mehr Sauerstoff. Ihm war heiß, unerträglich heiß, und gleichzeitig fror er, dass er zitterte. Kalter Schweiß rann über seine Schläfen und er hatte Kopfschmerzen, die im Rhythmus seines Herzschlages in der linken Schläfe hämmerten.

Verzweifelt bemühte er sich seine Augen zu öffnen, doch die Lider waren schwer wie Blei. Aber nicht nur sie, sein ganzer Körper gehorchte ihm nicht. Die Arme lagen wie festgeschmiedet, der rechte auf seinem Bauch, der linke an seiner Seite. Schon der Gedanke, sie zu bewegen, verursachte Pein. Seine rechte Schulter schien in glühendes Eisen gehüllt.

Eine große Hand legte sich behutsam auf seine linke Hand. "Ruhig, ganz ruhig", hörte er eine tiefe Stimme leise mahnen.

Er bemühte sich den Worten zu folgen. Je ruhiger er wurde, desto besser konnte er sich konzentrieren, um den Nebel, der sein Denken umhüllte, zu durchdringen. Jetzt begann er auch seine Umwelt wahrzunehmen und seine tastenden Finger erspürten, dass er auf einer weichen Unterlage lag.

Wieso fiel es ihm so schwer, sich zu orientieren?

Etwas Kühles wurde auf seine Stirn gelegt und wieder war da diese Stimme, eine tiefe Stimme, die zu ihm sprach.

"Nicht bewegen, Ahmad. Bleib ganz ruhig liegen. Es ist alles gut, du bist in Sicherheit."

Tanyel.

Ja, es war Tanyel, der mit ihm sprach. Die unverwechselbar große, warme Hand, die sich erneut behutsam auf seine Linke legte, gehörte ihm.

Es erleichterte und beruhigte ihn ungemein, den Steward in der Nähe zu wissen.

Noch immer zu kraftlos, um die Augen zu öffnen, beschränkte er sich auf das Hören. Regelmäßiges Piepsen drang an seine Ohren und seine eigenen flachen, stoßweisen Atemzüge. Etwas weiter entfernt das Schließgeräusch einer Schublade, das Klappen einer Schranktür. Glas klirrte und für einen Moment rauschte Wasser. Tanyel ist noch in der Nähe, schloss er aus den Geräuschen.

Mit Mühe versuchte er, sich zu orientieren. Was war bloß los mit ihm? Seine Gedanken waren zäh wie Kleister. Erinnerungsfetzen tauchten in seinem Geist auf, doch es war anstrengend, sich zu konzentrieren. Lichtblitze, Einschläge, Kampfszenen ... Das Schloss, richtig. Sie waren dort gewesen, um Yonas zurückzuholen.

Den Jungen hatten sie befreien können, nur für ihn selbst war irgendetwas mächtig schiefgegangen. Yonas' Vater hatte also recht gehabt mit seiner Vermutung, dass ein Kontakt mit dem Jungen seinem Körper schaden würde. Diese kurze Berührung hatte etwas in ihm verändert, ihn geschwächt.

Mit ungeheurer Anstrengung gelang es ihm, die Augen zu öffnen. Heller Tag, registrierte er. Als er das Schloss verließ, hatte gerade erst die Nacht begonnen. Stunden waren seitdem vergangen. Trotzdem fühlte er sich noch immer genauso zerschlagen wie am Abend. Schmerzen, Schwäche … Es hätte ihm längst bessergehen müssen.

Verzweifelt versuchte er, die zurückliegenden Ereignisse zu rekapitulieren. Schon beim Lesen des Zettels auf dem blauen Schulrucksack war ihm klargeworden, auf wessen Konto diese Entführung ging. Die Symbole, die anstelle einer Unterschrift unter den wenigen Worten prangten, kannte er zu gut. Elyssa. Unfassbar, dass es Elyssa gelungen war, ihren Plan in die Tat umzusetzen, obwohl er von ihr gewarnt worden war.

Dann diese Begegnung in der Halle mit dem Mann, der seine, nein, der ihre Kindheit zerstört hatte ... Sein Entsetzen bei dem Wiedersehen, das ihn völlig lähmte, obwohl er damit gerechnet hatte, dass dieser Mensch auftauchen würde.

Einen Augenblick lang war ihm seine Ruhe abhandengekommen. Er wusste nur eines: er würde nicht zu ihm zurückkehren, das war ihm nie klarer gewesen, und sein Angriff erfolgte ohne jegliche Vorwarnung.

Rayans Antwort kam sofort. Die schwarzen Energiege­schosse waren schnell, präzise und gefährlich gewesen wie seine eigenen. Eines von ihnen hatte ihm seinen Energie­schild zerschmettert. Er erinnerte sich an den scharfen Schmerz, als sich ein greller Blitz davon buchstäblich in seine Schulter grub. Die Wucht des Treffers hatte ihn nach hinten geschleudert. Sein Kopf war so heftig gegen die Mauer geknallt, dass er Sterne sah, und beim Aufprall der bereits verletzten Schulter hatte es hörbar darin geknirscht.

Und dann war plötzlich La'ith da gewesen ...

Er hatte ihn angestarrt, als wäre er ein Gespenst, während seine Gedanken rasten und er sich von dem Schock zu erholen versuchte. Einen verrückten Moment lang wollte er ihn umarmen in seiner überschwänglichen Freude, ihn zu sehen. Doch das Gesicht vor ihm, das dem Seinen so verblüffend glich, war vor Hass verzerrt und mit Schrecken sah er, dass La'ith seine Waffe zog.

Er hörte, wie sein Bruder mit Rayan sprach. Und aus seinen Worten wurde ihm schmerzlich bewusst, dass sie nicht auf derselben Seite standen. La'ith war der Feind. Er hatte zu lange warten müssen. Es war zu spät ...

Dann war mit einem Mal Tariq aufgetaucht und hatte Rayans Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Und im selben Augen­blick, in dem die beiden begonnen hatten einander mit Ener­giegeschossen ...

Jetzt riss er in jähem Begreifen die Augen auf.

Tariq!

Der Chef hatte Energiegeschosse verwendet und einen Schild gebildet! Er war also auch ein Wandler!

Das hatte er nicht gewusst. Einen Moment lang entglitt ihm der Faden. Die Kopfschmerzen setzten ihm zu. Denk nach, mahnte er sich, was ist dann geschehen?

Er hatte sich ablenken lassen durch die beiden Männer. Für einen winzigen Moment nur und beinahe wäre es ihm deshalb nicht möglich gewesen, den Angriff seines Bruders zu parieren. Doch nicht nur die Ablenkung war schuld daran ... es war auch, weil er nicht wirklich damit gerechnet hatte, dass La'ith ihn attackieren würde.

Er wollte nach seiner Waffe greifen und spürte erst da den brennenden Schmerz in der Schulter. Zähneknirschend hatte er den Dolch mit der Linken herausgerissen. Schon nach ein, zwei halbherzigen Abwehrversuchen wurde er ihm aus der kraftlosen Hand geschlagen und landete klappernd auf dem Steinboden. Eine schwache Leistung ...

Wehrlos und schwer atmend hatte er vor seinem Ebenbild gestanden. La'ith hätte die Sache sofort beenden können. Aber der hatte ihn lediglich angestarrt, sekundenlang, wie hypnotisiert, bis zu dem Augenblick, in dem er auf den Warnruf des Meisters hin plötzlich wegrannte und diese starke Energie spürbar wurde ...

Yonas.

Es war also tatsächlich geschehen. Das in dem Jungen schlummernde Geheimnis hatte gestern Abend sein Gefängnis gesprengt. Nach fast sechzehn Jahren hatte das Warten endlich ein Ende.

Er lauschte in sich hinein, versuchte zu analysieren, was er fühlte bei dieser Erkenntnis. Und er fand neben der Erleichterung darüber eine bohrende Angst, dass es wieder geschehen würde.


Mittwoch, 11:25 Uhr


"Trajan?"

Ihm fiel der Stift aus der Hand, so sehr war er verblüfft über die leise Stimme in seinem Kopf. Doch er erkannte sie sofort. Ahmad war endlich aufgewacht.

Betroffen realisierte der blaue Guardian, dass die telepathische Fähigkeit des Kameraden seine eigene um ein Vielfaches übertraf. Bei seiner im Vergleich dazu kümmerlichen Reichweite war ihm sofort klar, dass seine Antwort den Absender nicht erreichen konnte.

"Bist du in der Nähe? Kannst du zu mir kommen?"

Er zögerte nur eine Sekunde, dann stand er so plötzlich auf, dass sein Stuhl umkippte. Die Mitschüler reckten grinsend die Hälse. Einige Mädchen kicherten, während sein Lehrer ihn missbilligend und stirnrunzelnd ansah.

Hennak, der vor ihm saß, drehte sich verwundert um. "Was ist los?", fragte der Freund alarmiert, als er seinen angespannten Gesichtsausdruck bemerkte. "Einsatz?"

Er schüttelte nur den Kopf, dann raffte er hastig seine Sachen zusammen und stopfte sie in den Rucksack. "Ahmad will irgendwas von mir, ich muss weg", gab er leise zurück, nickte Hennak zu und griff nach seiner Jacke.

Grußlos ging er mit schnellen Schritten am verblüfften Lehrer vorbei und erreichte die Tür, bevor dieser etwas sagen konnte. Dort drehte er sich noch einmal kurz um, murmelte ein hastiges "Entschuldigen Sie" und verließ das Klassenzimmer.

Draußen zog er das Handy aus der Tasche und wählte Imaras Nummer, während er durch den menschenleeren Korridor in Richtung Ausgang eilte.


Imara, eine große, schlanke Frau von siebenunddreißig Jahren, war die technische Leiterin von Darach Manor. Ihr unterstand unter anderem der gesamte Fuhrpark mit seinen immerhin acht Fahrzeugen. Es gehörte zu ihren Aufgaben, gemeinsam mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Tamira die Schüler zur Schule in die Stadt zu fahren und auch dort wieder abzuholen. Diese Fahrten waren sorgfältig organisiert und gerade jetzt war sie mehr als verwundert über diese Tour außerhalb des Plans.

Eine Viertelstunde später stand sie am Schultor und ließ Trajan hinter sich in den unauffälligen silbernen Kleinbus mit den verdunkelten Scheiben steigen. "Na? Eher Schluss heute? Wo hast du Hennak gelassen?", wollte sie wissen, nachdem die Schiebetür ins Schloss gefallen war, "oder bist du allein eher gegangen? Geht es dir nicht gut?"

"Doch, doch, alles in Ordnung. Ahmad hat mich kontaktiert, ich soll zu ihm kommen", erklärte er ihr, während er sich anschnallte.

"Ist er aufgewacht? Das sind gute Nachrichten." Sie freute sich und Trajan konnte ihr Lächeln im Rückspiegel sehen. Langsam lenkte sie den Bus vom Schulhof. Am Tor stoppte sie kurz, um sich gleich darauf in den fließenden Verkehr einzuordnen.

"Es ... wäre schön, wenn Tariq nicht erfährt, dass ich die Schule eher verlassen habe."

Sie wusste, dass Trajan im Rückspiegel das amüsierte Zucken um ihre Mundwinkel sehen konnte, nachdem er seine versteckte Bitte ausgesprochen hatte. Und sie wusste auch, dass er ahnte, was sie davon hielt. Als ob Tariq so etwas verborgen bleiben würde. Sein Arbeitszimmer war neben dem Eingangsportal.

Doch sie nickte verstehend und anstatt durchs Haupttor zum Torhaus zu fahren, rollte der Kleinbus die Osteinfahrt von Darach Manor hinab und hielt am Garteneingang. So konnte Tariq sie nicht ankommen sehen.

Ein hastig gemurmeltes Dankeschön war alles, was sie von dem Jungen bekam, und schon verschwand er im Haus. Kopfschüttelnd sah sie ihm nach, dann wendete sie und fuhr zurück zur Schule. In einer halben Stunde war die nächste Fahrt fällig.


Mittwoch, 11:40 Uhr


Eine Viertelstunde später drückte Trajan behutsam die Klinke der Tür zur Klinik herunter und öffnete sie. Er hoffte niemanden bei Ahmad vorzufinden. Aber Issam würde bestimmt dafür sorgen, dass sein Patient nicht allein war. Und er hatte sich nicht geirrt. Tanyel stand im Behandlungsraum und räumte Päckchen aus einem Karton in den Schrank.

"Was machst du denn hier? Müsstest du nicht in der Schule sein?" Vielsagend wanderte der Blick des Stewards zur Uhr und dann zurück zu ihm.

Der blaue Guardian winkte ab. "Er hat mich gerufen." Sein Kopf ruckte zum Krankenzimmer hin.

Tanyel hob eine Augenbraue. "Stimmt, er war vorhin mal wach. Aber er hat nichts gesagt."

"Muss er bei mir auch nicht." Trajan war weitergegangen und trat jetzt ans Bett. Kurz berührte er die heiße Hand, die auf der Bettdecke lag. Er hat Fieber, stellte er fest.

"Ahmad? Ich bin jetzt da", sagte er leise. "Hat ein bisschen länger gedauert, ich war in der Schule."

Doch es kam keine Antwort. Anscheinend war er schon wieder weggedämmert, obwohl Imara es mit dem Tempolimit nicht so genau genommen hatte.

Was er wohl von ihm wollte? Es musste etwas Wichtiges gewesen sein ...

Tanyel war hinter ihn getreten.

"Ich bin offenbar zu langsam gewesen", mutmaßte Trajan und zuckte mit den Schultern.

Der Steward schüttelte den Kopf. "Du wärest in jedem Fall zu spät gekommen. Er war nicht lange wach."

Der blaue Guardian nickte abwesend und ließ sich wieder in den Stuhl fallen, in dem er schon gestern Abend gesessen hatte.

"Wenn du jetzt hier bist, würde ich mal in die Küche verschwinden und mich um das Mittagessen kümmern. Wäre das okay?"

"Geh nur, ich bleibe."

"Es dauert nicht lang. Ach so: Issam hat Besuch verboten, also niemand außer dir, verstanden?"

Die Tür klappte hinter Tanyel.

Trajan beobachtete den Schlafenden und wartete, dass er wieder wach wurde. Doch die Zeit verging, ohne dass sich etwas änderte, und er holte sein Physikbuch aus dem Rucksack, um sich die Wartezeit zu vertreiben.

Als er irgendwann Schritte hinter sich hörte, glaubte er, Tanyel sei zurückgekommen und wandte sich um. Doch es war Yonas, der hinter ihm stand.

"Besuchsverbot", meinte er und deutete vielsagend zur Schlafnische hinüber. "Issam kann jeden Moment wachwerden."

"Und wenn schon." Der Eindringling grinste nur und zuckte mit den Schultern. "Ich dachte mir, dass du hier bist. Hennak meinte, du hast den Unterricht eher verlassen, weil Ahmad was von dir wollte. Er platzt fast vor Neugier, traut sich aber nicht rein." Leise holte er den zweiten Stuhl ans Bett und setzte sich. Dann streckte er die Beine aus und stützte die Hände auf die Knie, während er sich verstohlen im Raum umsah. Die medizinischen Geräte und ungewohnten Geräusche verursachten bei ihm ein beklemmendes Gefühl. Es war genau wie damals, als er hier gestanden hatte, um Trajan zu besuchen. Doch schließlich konnte er seine Neu­gier nicht länger bezähmen. "Und?", fragte er leise. "War er wach? Habt ihr reden können?"

"Nein. Ich kam zu spät." Trajan schüttelte den Kopf. "Wieder mal. Ich glaube, ich bin auch schuld, dass es ihm so schlecht geht", fügte er dann leise hinzu. "Ich hab ihn gestern wahrscheinlich viel zu spät gehört. Wir waren so laut im Speisezimmer ..." Er seufzte. "Vielleicht wäre alles nicht so schlimm, wenn ich eher ..."

"Quatsch." Yonas schaute ihn fast entrüstet an und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. "Selbst wenn es so war: hättest du ihn nicht gehört, wäre er dort, wo ihr ihn gefunden habt, gestorben. Wen hätte er denn sonst rufen können?" Er legte den Kopf ein wenig schief, während er den Freund musterte.

Der entgegnete nichts darauf. Die Antwort half ihm nicht wirklich.

"Was wohl mit ihm passiert ist?", meinte Yonas nun und sein Blick wanderte zu Ahmad zurück. "Ob ich mal …" Er streckte die Hand aus und hielt sie über dessen Linke, die reglos auf der Bettdecke lag, während er einen fragenden Blick auf seinen Sitznachbarn warf.

Der zögerte. Dann schüttelte er energisch den Kopf. "Ich denke, das wäre ihm nicht recht. Er hat es dir nie erlaubt, ihn anzufassen."

Yonas zog die Hand zurück, als wäre er ein beim Bonbondiebstahl ertapptes Kind. "Seit ich sieben war. Da habe ich mal was aus seiner Erinnerung gesehen. Danach hat er immer peinlich drauf geachtet, dass ich ihm nicht zu nahe kam. Er selbst hat mich aber noch nie berührt. Als ob ich die Pest hätte." Es klang bitter, wie er das sagte.

"Das ist doch Blödsinn." Trajan schüttelte erneut den Kopf. "Er weiß, dass du Erinnerungen nacherleben kannst, und will wohl nur verhindern, dass du in seiner Vergangenheit herumkramst."

"Ja, vielleicht", räumte der Jüngere ein, "aber gestern Abend hat er mich berührt."

"Echt? Wann denn?"

"Na dort im Schloss. Als ich ... austickte. Da legte er mir die Hand auf die Schulter. Obwohl ...", er lachte freudlos, "da bestand ja auch keine Gefahr, dass ich das ausnutze und in seinen Erinnerungen herumgrabe. In dem Moment hatte ich wirklich andere Sorgen." Sein Blick wanderte erneut zu Ahmad hinüber. Plötzlich gab er einen überraschten Laut von sich. "Hast du diese Narben gesehen?", raunte er, beugte sich vor und starrte erschrocken auf das Muster auf Ahmads Brust.

"Ja." Trajan nickte.

"Was kann das gewesen sein?"

"Keine Ahnung." Trajan hatte die dünnen weißen Linien schon in der Nacht kritisch gemustert und sich die gleiche Frage gestellt.

"Das sieht irgendwie aus wie … absichtlich verletzt", mutmaßte der Jüngere. "Es ist so symmetrisch."

Trajan nickte abwesend. Seine Gedanken waren längst ganz woanders. "Was ist eigentlich genau passiert in dieser Halle im Schloss?", fragte er übergangslos. "Ich meine, bevor wir alle dazu gekommen sind? Tariq hat ja nicht wirklich viel erzählt, aber du warst doch von Anfang an dabei."

"Da ist nicht viel zu erzählen." Yonas lehnte sich zurück und zog eine Grimasse. "Ging alles ziemlich schnell. Aufwachen in einem riesigen leeren Saal, eingesperrt in diesem ..." hier suchte er einen Moment nach dem passenden Wort "diesem Käfig aus Energie. Schon ihn zu berühren, brannte wie Feuer auf der Haut." Frust schwang in seiner Stimme mit, während er stirnrunzelnd die geröteten Fingerkuppen seiner rechten Hand betrachtete. Ein schmerzhaftes Andenken an seinen Versuch, sich zu befreien.

"Hast du sehen können, wer dich entführt hat?"

Verlegen senkte der Jüngere den Kopf. "Keine Chance. Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, dass ich an der Säule vom Schultor lehnte und auf Ahmad wartete. Mann, ich hatte einen ganz schönen Brummschädel, als ich aufwachte."

Es klang beschämt. Er hatte sich so leicht überwältigen lassen wie ein kleines Kind.

Trajans Finger umklammerten das Physikbuch. Sollte er Yonas von seiner Vermutung erzählen? Von Ahmads Begegnung mit dem Mädchen und ihrer Drohung? Den Jungen holen ...

Unschlüssig presste er einen Augenblick die Lippen zusammen. "Was, wenn Ahmad das eigentliche Ziel von Rayan war und du nur der Köder, um ihn dorthin zu locken?", meinte er dann leise.

Yonas sah Trajan mit gefurchter Stirn an. "Ich weiß zwar nicht, wieso du das denkst, aber - ja, möglich", meinte er schulterzuckend. "Rayan kennt Ahmad. Das heißt, er kannte ihn schon vorher."

"Er kannte ihn? Woher weißt du das?"

Yonas nickte entschieden. "Weil er auf ihn gewartet hat. Als Ahmad nämlich in den Saal kam, sagte er zur Begrüßung: 'Ah, unser Ehrengast ist endlich da.'" Er überlegte kurz. "Ich frage mich nur, was Ahmads Bruder bei dem Kerl zu schaffen hat. Durch ihn habe ich übrigens erst erfahren, wer eigentlich mein Gastgeber war, denn er hat ihn mit Namen angesprochen. Ich hatte euren Lieblingsfeind bis dahin ja noch nie gesehen und kenne ihn nur von euren Berichten."

Trajan versuchte verzweifelt die Fakten zu sortieren. Rayan war der Entführer gewesen. Tariq hatte ihn dort im Schloss gesehen und erkannt. Aber woran eigentlich? Waren die beiden sich etwa schon einmal begegnet? Wenn ja - wann? Und dieses Peitschen-Mädchen gehörte auch irgendwie dazu. War also Rayan derjenige, zu dem sie Ahmad zurückbringen sollte? Wieso zurück?

Es gab nur eine Möglichkeit. Eine haarsträubende, doch es passte alles perfekt zusammen: ihr Teamkamerad hatte früher einmal zu Rayans Männern gehört. Dass Rayan Teenager beschäftigte, hatten sie gestern sehen können, denn die Leute, die sich ihnen im Schloss in den Weg gestellt hatte, waren alle in ihrem Alter oder nur wenig älter gewesen. Falls es sich also doch so verhielt, ergab sich die Frage, warum Ahmad heute nicht mehr bei Rayan war.

Er seufzte. Es hatte keinen Zweck. Er fand keine Antworten. Da war so vieles, was sie nicht wussten über ihren Teamka­meraden. Nur Ahmad selber konnte Licht in dieses Dunkel bringen, oder Rayan, oder dieser La'ith. Und Letzteren wollte Trajan niemals begegnen.

"Ich werde mal verschwinden, bevor Issam mich hier entdeckt", meinte Yonas nun, nachdem sie eine Weile einträchtig geschwiegen hatten. "Das will ich nicht riskieren." Er schnitt eine gespielt furchtsame Grimasse und lachte. Dann stand er auf und hieb Trajan die Hand auf die Schulter. "Du bleibst noch, oder? Dann schau' ich mal in der Küche vorbei. Ich wette, unser Junior-Chefkoch hat wieder was Leckeres vorgekocht, was nur aufgewärmt werden muss. Soll ich dir was bringen?"

"Ich geh dann selbst mal rüber", murmelte Trajan abwehrend. "Aber danke."

Der Jüngere nickte, hob plötzlich lauschend den Kopf und huschte lautlos zur Tür.

Keinen Moment zu früh. Schritte auf der Treppe verkündeten, dass Issam aus seinem Labor hochkam.

"Was machst du denn hier?", knurrte er misstrauisch und blinzelte Trajan müde an.

"Ich passe auf, bis Tanyel zurück ist", gab der schlagfertig zurück.

Der Arzt nickte stirnrunzelnd. "Gut dann bin ich deine Ablösung. Geh zum Mittagessen", wies er den blauen Guardian an.

Trajan erkannte, dass Widerspruch zwecklos war. Nach einem letzten zögerlichen Blick zum Bett verließ er die Klinik.


Mittwoch, 13:00 Uhr


Es klopfte.

Tariq sah verwundert von seiner Arbeit auf. Eine Störung um diese Zeit war eher selten.

"Herein", rief er zögernd.

Die Tür öffnete sich. Trajan erschien auf der Schwelle und hinter ihm schob sich Yonas in den Raum.

"Hast du ein paar Minuten Zeit, Tariq?"

Der Frage war anzuhören, dass die beiden etwas auf dem Herzen hatten. Mit einer einladenden Geste wies der Hausherr auf das Sofa, stand auf und kam um den wuchtigen Schreibtisch zu ihnen herum.

"Es ist wegen Ahmad", begann Trajan, während er sich setzte und einen kurzen Blick zu Yonas warf. "Wir haben eine Menge Fragen und wir finden keine Antworten."

"Dann heraus damit."

Tariq wusste, dass er sich auf dünnes Eis begab, wenn er sich auf dieses Frage-Antwort-Spiel einließ. Es gab sehr viele Dinge, welche die Guardians nicht wussten. Ahmad, Yonas und auch er selbst hatten eine Vergangenheit, die für die meisten hier im Dunkeln lag. Doch er beschloss sich erstmal anzuhören, wie weit die Jungen beim Grübeln gekommen waren. Vielleicht war es ja an der Zeit, gewisse Dinge aufzu­decken.

"Zuerst: Ist Ahmads Heilfähigkeit wieder ... intakt?" Trajan platzte förmlich damit heraus, denn es war seine wichtigste Frage.

"Nein. Issam untersucht zwar sein Blut, hat aber noch keine Ergebnisse." Tariq schüttelte bedauernd den Kopf. "Ich denke, uns bleibt nichts anderes übrig, als zu warten, bis Ahmad uns selber erklären kann, woran das liegt. Wenn er das kann."

Trajan nickte. Man sah ihm an, dass er sich eine andere Antwort erhofft hatte. "Woher kennst du Mato Rayan?", fuhr er gleich darauf fort. "Ihr müsst euch ja schon einmal getroffen haben, denn du wusstest als Einziger von uns, wie er aussieht. Und wieso glaubst du, dass er Yonas entführt hat, um an dich heranzukommen?"

Die letzte Frage hatte Trajan bereits seit heute Morgen im Kopf. Tariq hatte in der Besprechung erwähnt, dass er vermutete, dass Rayan eigentlich ihm auf der Spur war. Seitdem grübelte der blaue Guardian über den Sinn dieser Bemerkung nach.

"Und woher kennen sich Ahmad und Rayan? Was spielt Ahmads Bruder dabei für eine Rolle? Er ist einer von Rayans Leuten, oder? Hat er deshalb Ahmad angegriffen, obwohl der doch sein Bruder ist?"

Yonas' Fragen prasselten auf Tariq herab wie ein Wasserfall. Längst hatte der seinen Organizer hervorgeholt und notierte die Fragen, obwohl er Mühe hatte, so schnell zu schreiben. Viele davon waren ihm nicht neu, denn sie rotierten bereits seit Stunden in seinem eigenen Kopf.

Als er alles aufgeschrieben hatte, sah er Yonas aufmerksam an. "Woher ich Rayan kenne, werde ich euch zu einem späteren Zeitpunkt einmal beantworten", wich er aus und seine Miene wurde verschlossen. "Und über das Leben, das Ahmad geführt hat, bevor er zu uns kam, weiß ich nur, was er mir selbst erzählt hat. Er war ein Angestellter deines Vaters, der dich nach dessen Tod sofort hierhergebracht hat. Eigentlich hat er nur über dich, deinen Vater und seine Arbeit bei ihm gesprochen. Wenn er überhaupt mal etwas von seiner Vergangenheit preisgab. Er ist ja kein großer Redner."

"Aber dieses Mädchen? Woher kennt er sie?"

"Welches Mädchen?" Trajans Frage ließ Tariq stutzen. Mit erhobenem Stift schaute er fragend auf.

Der blaue Guardian schilderte Ahmads Begegnung mit der Fremden und warf einen verstohlenen Blick zu Yonas, während er die Drohung des Mädchens wiederholte.

Der Chef der Guardians runzelte verärgert die Stirn. "Wann war dieser Zwischenfall? Du hättest mir sofort danach davon berichten müssen. Mit deinem Schweigen hast du nicht nur Yonas und Ahmad, sondern uns alle in Gefahr gebracht. Vielleicht wäre dann der gestrige Abend völlig anders verlaufen." Dass das Wort 'zurückholen' für ihn ein weiteres Puzzleteil zu Ahmads Vergangenheit war, behielt er für sich. Die beiden hier vor ihm waren sowieso schon sehr weit gekommen im Knüpfen von Zusammenhängen.

Trajan blickte ihn betroffen an nach diesen Worten. Offensichtlich hatte er erkannt, dass er einen Fehler begangen hatte, denn der junge Mann senkte beschämt den Kopf. "Daran habe ich damals nicht gedacht. Tut mir leid. Ich weiß nicht mehr genau, wann das war. Es ist schon eine Weile her. Vielleicht drei, vier Wochen." Er dachte kurz nach und wiegte den Kopf dabei. "Ich frage mich, ob Ahmad sofort gewusst hat, dass Yonas' Entführung das war, was das Mädchen ihm damals angedroht hatte."

"Woher wollt ihr denn wissen, dass es ihr Werk war?"

"Ich vermute es. Sie war doch dort, eine von denen, die sich uns in den Weg stellten."

Der Chef nickte langsam. "Die mit der seltsamen Frisur und den Tarnhosen, gegen die du mit Tiana gekämpft hast? Ich habe sie gesehen. Eine Energienutzerin." Wieder machte er sich Notizen. "Wer waren die Gegner von Team Rot?"

Trajan, der wegen der seltsamen Frisur kurz hatte grinsen müssen, überlegte und sah dann unschlüssig zu seinem Begleiter. "Keine Ahnung. Hennak und Shujaa meinten, dass sie sich um die beiden kümmern würden. Alle vier sind gar nicht erst mit ins Schloss gekommen, sie blieben draußen vor dem Portal. Tiana und ich hatten ja diese Amazone als Gegnerin. Gegen wen Koll und Senad gekämpft haben, weiß ich auch nicht, sie sind mit Ahmad weitergelaufen."

"Ich habe sie auf der Treppe gesehen", erklärte Tariq. "Ihr Gegner war ein riesiger rothaariger Kerl, auch ein Energie­nutzer."

Einen Augenblick herrschte Stille, während Yonas und Trajan über weitere Fragen nachdachten und der Chef schrieb. Es waren doch etliche neue Informationen für ihn.

"Aber wenn Rayan eigentlich Ahmad wollte - warum hat er Yonas dann erst in dieses Schloss gebracht? Es war doch total riskant, das Bauwerk stürzt bald zusammen. Wäre doch klüger gewesen, ihn in sein Hauptquartier zu verschleppen und Ahmad dorthin zu bestellen."

"Wahrscheinlich, weil das Schloss so abgelegen und außerdem neutrales Territorium ist. Oder weil er den Ort seines Hauptquartiers nicht offenbaren wollte." Tariq hob die Schultern. "Das werden wir vielleicht nie erfahren. Gibt es sonst noch irgendwelche Dinge oder Vorkommnisse, von denen ich wissen sollte?" Eine leichte Schärfe lag in seiner Stimme. Er war immer noch verärgert und er wollte, dass besonders Trajan das merkte.

"Warum haben wir den Eindruck, dass du uns etwas verschweigst?" Yonas formulierte den Vorwurf sehr vorsichtig, aber Tariq hörte ihn sehr wohl. Er nahm sich vor, sich in Zukunft vor seinem jüngsten Internatsbewohner mehr in Acht zu nehmen. Wenn er ihm Gelegenheit gab, mittels seiner Fähigkeit in seine Erinnerungen zu sehen, würden einige unangenehme Dinge offenbar werden, Dinge, die er lieber selbst erklären als rechtfertigen wollte.

"Ich denke, es wird Zeit, dass ihr ein paar Sachen über mich erfahrt", räumte er leise ein. "Deshalb werde ich die Besprechung heute Abend dafür nutzen. Vorher muss ich mir ein bisschen was zurechtlegen. Es soll keine Geheimnisse mehr geben." Er klappte den Organizer zu, steckte den Stift weg und richtete den Blick auf seine Gäste.

Sie erkannten, dass die Unterhaltung beendet war. Es hatte keinen Zweck, weitere Fragen zu stellen. Stumm sahen sie sich an und erhoben sich zeitgleich.

"Tut mir leid, dass ich dich nicht informiert habe, Chef. Es kommt nicht wieder vor, versprochen." Trajan plagte immer noch ein schlechtes Gewissen.

"Ja, das hoffe ich. Wir sehen uns dann heute Abend." Tariq setzte sich an den Schreibtisch und wandte sich seinem Computer zu.

Yonas war schon an der Tür und wartete. Er hatte im Gegensatz zu Trajan bemerkt, dass der Chef keine einzige ihrer Fragen wirklich beantwortet hatte und dass er selbst genauso viele Fragen zu haben schien wie sie.

Kaum hatte sich die Tür hinter den Jungen geschlossen, stützte der Hausherr die Ellenbogen auf die Schreibtisch­platte und legte die Fingerspitzen aneinander. Was für eine verzwickte Situation. Er hatte das Gefühl, dass ihm seine bisher so mühelos aufrechterhaltene Kontrolle über alles, was die Organisation der Guardians betraf, im Augenblick irgendwie entglitt. Mato Rayan war in ihre heile Welt eingedrungen.

Vorher war es andersherum gewesen. Sie hatten ihn gestört. Seine kriminellen Aktivitäten hatten im Laufe der Jahre sichtlich zugenommen. Doch seit es die Guardians gab, waren sie nicht mehr so reibungslos abgelaufen, wie er es gewohnt war. Während der letzten siebeneinhalb Jahre konnte er von Glück reden, wenn wenigstens einige seiner Pläne unentdeckt blieben und sich ein paar seiner undurchsichtigen Geschäfte durchführen ließen. Die Schutzgelderpressungen waren deutlich weniger geworden und Geldwäsche beinahe unmöglich. Und es war immer um viel Geld gegangen. Mehrfach hatten sie auch schon Entführungen vereitelt und damit Lösegeldforderungen verhindern können.

Das Telefon klingelte.

Tariq warf einen Blick auf das Display. Die Nummer kannte er. Nach dem dritten Klingeln hob er ab und meldete sich.

Gordon Felton, der Polizeichefs des Distrikts und ein guter Freund von ihm, hatte einen Auftrag für die Guardians. Mit einer Hand angelte Tariq nach dem Organizer und machte sich Notizen, während er lauschte, ohne den Sprecher zu unterbrechen. Als dieser fertig war, stellte er ein, zwei kurze Fragen zu dem, was er gehört hatte. Dann versicherte er seinem Freund am anderen Ende der Leitung, dass sie sich um die Angelegenheit kümmern würden und beendete das Gespräch.

Als er den Hörer zurückgelegt hatte, überlegte er. Es war nicht der erste Anruf dieser Art gewesen. Gordon hatte schon oft diesen Weg gewählt, wenn er am Ende seiner Möglichkeiten war. Die Polizei wusste von den Guardians. Und wenn es für die Ordnungshüter aufgrund von Gesetzen oder reichlich geflossenen Bestechungsgeldern keinen Handlungsspielraum mehr gab und Inhaftierte wieder auf freien Fuß gesetzt werden mussten, dann kam ein Hilferuf von ihrem Chef bei Tariq an. Meist ließ man dessen Leuten bei ihren Missionen dann freie Hand und hielt sich heraus. Selbstverständlich ohne jemals dabei in Verdacht zu geraten, mit dieser Selbstjustiz ausübenden Organisation gemeinsame Sache zu machen. Und wenn die Guardians sich einmal einer Angelegenheit angenommen hatten, dann konnte Gordon sicher sein, dass danach niemand mehr auf freien Fuß gesetzt werden musste.

All diese Missionen wurden stets akribisch genau vorbereitet. Tariqs Schlüsselfigur dabei war sein Observierer Sadik, der Nahkampftrainer der Guardians. Und genau dessen Nummer wählte er jetzt.

"Was gibt's?", drang die ruhige Stimme aus dem Hörer. Im Hintergrund waren vorbeifahrende Autos zu hören und kreischende Möwen.

"Gordon hat was Neues für uns", antwortete sein Chef. "Kannst du vorbeikommen?"

"Nicht jetzt, ich bin in der Stadt. Eilt es?"

"Nein."

"Sobald ich zurück bin, melde ich mich."

"In Ordnung."

Sadik befand sich gerade in der Nähe vom Hafen, das hatte das Möwengeschrei im Hintergrund verraten. Der gebürtige Türke war in den weniger angesehen Gesellschaftsschichten der Stadt bestens bekannt und dieses Viertel gehörte praktisch der am wenigsten angesehenen. Die Menschen, die sich dort aufhielten, waren zwielichtige Charaktere und nicht wenige von ihnen schuldeten ihm etwas, auch wenn es nur ein Gefallen war. Man ließ ihm bereitwillig Informationen zukommen, manchmal sogar ohne dass er nachfragen musste. Weil er seine Informanten nie preisgab, galt er als absolut vertrauenswürdig in diesen Kreisen. Und aufgrund der schier unerschöpflichen Geldquelle seines Chefs fanden sich immer einige, die sich für ihre Auskünfte großzügig entlohnen ließen, obwohl die Hafenmafia nicht zimperlich war, wenn ihnen einer dieser Informanten in die Finger geriet.

Es war eine gut funktionierende Zweckgemeinschaft, welche die Guardians immer öfter in die Lage versetzte, punktgenau und zum perfekten Zeitpunkt zuzuschlagen. Mato Rayan war nicht der Einzige, dem sie dabei mitunter empfindlich auf die Finger klopften.

Dass er selbst in den Verdacht geraten könnte, mit diesen Guardians irgendwie in Verbindung zu stehen, daran verschwendete er nur selten einen Gedanken. Die Identität von Tariq Genera als Person und Angehöriger des englischen Adels war kein Geheimnis. Sein Name stand für Genera Medical Developments, den weltweit bekannten Pharma-Konzern, den sein Vater gegründet hatte. Darach Manor war bekannt als der Familiensitz der Viscounts of Henley. Seine Mutter war die Henley-Erbin gewesen und dass er hier lebte und eine Schule betrieb, war auch nicht geheim.

Doch seine zweite Identität als Chef der Guardians kannten außer dem Polizeichef nur die, die hier auf Darach Manor lebten. Sorgfältig wurde darauf geachtet, dass keine Spur zu ihm oder zum Internat führte. Darum hatte sich Ahmad bisher nach jeder Mission immer zuverlässig gekümmert. Keine Fingerabdrücke oder Patronenhülsen, keine heimlichen Verfolger nach einem Einsatz, keine Peilsender, keine Kennzeichen, die den Halter des Mannschaftsbusses verraten konnten.

Aber manchmal konnte sich Tariq des unguten Gefühls nicht erwehren, dass Rayan doch schon von der Organisation und ihrem Hauptquartier hier auf dem Landsitz erfahren hatte. Dass er das Schloss als Ort für die Übergabe von Yonas gewählt hatte, deutete zumindest darauf hin. Allerdings war es ein Rätsel, warum bislang weder er selbst noch seine Leute hier aufgetaucht waren.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass Tamira jeden Moment die letzten Schüler von der Schule zurückbringen musste. Dabei fiel ihm auf, dass Trajan ja auch erst jetzt zurückkommen durfte. Wieso war er schon da? Hatte er ohne Erlaubnis den Unterricht verlassen? Das würde wieder eine Erklärung beim Direktor des Gymnasiums nötig machen.

Seufzend erhob er sich, um ans Fenster zu gehen. Gerade als er dort ankam, sah er, dass der silberfarbene Kleinbus bereits die Nordallee herabkam.

Nachdem alle im Torhaus ausgestiegen waren und er sich überzeugt hatte, dass keiner fehlte, wandte er sich um und verließ sein Arbeitszimmer, um noch einmal hinüber zur Klinik zu gehen. Er hatte seit der Besprechung heute Morgen schon zweimal dort vorbeigeschaut, aber es hatte nie eine Veränderung gegeben.


Mittwoch, 13:45 Uhr


Schon vom Korridor aus konnte er Tiana und Rhea sehen, die im kleinen Foyer vor der Klinik standen. Die Mädchen hatten ihre Schulrucksäcke abgelegt und schauten sich eben unschlüssig an, als sie ihn entdeckten.

"Wir wollten Ahmad besuchen", meinte Tiana, "aber Issam hat es nicht erlaubt." Vorwurfsvoll richtete sie ihren Blick dann wieder auf den Chef des Hauses, als wäre er der Schuldige.

Doch ihre Hoffnung auf seine Unterstützung wurde enttäuscht. Er schüttelte bedauernd den Kopf.

"Ihr wisst genau, dass das sein Reich ist. Regeln, die er hier aufstellt, setze ich nicht außer Kraft. Vielleicht später am Nachmittag, habt noch ein bisschen Geduld", versuchte er sie zu trösten.

Es war nicht die Antwort, die die beiden von ihm hören wollten, das konnte er deutlich an ihren Gesichtern erkennen. Doch es stimmte, der Doc entschied, was in der Klinik geschah. Niemand stellte seine Anordnungen in Frage, nicht einmal der Hausherr selbst. So war es schon immer gewesen. Enttäuscht wandten sie sich zum Gehen.

Tariq hatte die Hand bereits auf der Klinke, als ihn Tianas Stimme innehalten ließ.

"Er wird nicht sterben, Tariq, oder?"

Es war die gleiche Frage, die Shujaa ihm gestern Abend gestellt hatte. Hier, an genau derselben Stelle.

Der Blick, den er zurückwarf, ließ sich nicht deuten und er blieb ihr eine klare Antwort schuldig. "Issam gibt sein Bestes", meinte er lediglich, "und er ist ein guter Arzt." Dann öffnete er die Tür und betrat die Klinik, um sich eine Antwort auf diese Frage zu holen. Aber er traf wieder nur Tanyel an.

"Wo ist der Doc?", fragte er, während er kurz hinüber zum gelben Zimmer schaute.

Der Steward, der gerade Plastikflaschen mit einer klaren Flüssigkeit in ein Schrankfach räumte, hielt inne und drehte sich um. "Im Labor unten. Seit Mittag macht er nichts anderes, als Ahmads Blut zu untersuchen."

"Wieso? Gibt's Probleme mit den Konserven?"

"Nein, nein, das ist okay", beeilte sich Tanyel zu versichern. "Er sucht was anderes."

Der Hausherr nickte zögernd. "Ist er aufgewacht?", fragte er und deutete mit dem Kopf in Richtung des Krankenzim­mers.

"Vorhin, aber nur ganz kurz." Tanyel nahm die restlichen Flaschen aus dem Karton, um sie in den Schrank zu sortieren. "Er hat Trajan in der Schule erreicht und ihn gebeten herzukommen. Doch als der ankam, war Ahmad schon wieder eingeschlafen."

Jetzt wurde Tariq klar, warum der Guardian schon so zeitig wieder zu Hause war. Aber etwas anderes beschäftigte ihn mehr und er überlegte, wie er seine Vermutung in Worte packen konnte.

"Tanyel … Was ich dir jetzt sage, behalte bitte vorerst für dich." Erst nachdem der Steward ihn ansah und genickt hatte, atmete Tariq tief durch und sprach dann weiter. "Ahmad war als Kind in einem Labor."

Tanyel ließ die Hände sinken. Eine der Plastikflaschen, die er unter den Arm geklemmt hatte, polterte dumpf zu Boden.

"Ich wusste es", stieß er tonlos hervor und sein Blick flog hinüber zum gelben Zimmer. "Diese Narben …"

Issam, der eben die Treppe hoch und in das Behandlungs­zimmer gekommen war, hatte Tanyels Reaktion bemerkt. "Was ist los? Worüber redet ihr?"

Tariq deutete mit dem Kopf zu der offenstehenden Glastür zum Krankenzimmer und übernahm es, mit leiser Stimme zu antworten. "Über ihn. Darüber, dass er früher einmal ein Laborkind war."

"Woher weißt du das?" Sein Freund kniff leicht die Augen zusammen. "Ich meine - ja, das war auch meine Vermutung, als ich die Narben auf der Brust sah. … die sind unverwech­selbar. Und das mit der beschleunigten Heilung passt ebenfalls dazu. Aber es klang nicht, als würdest du es vermuten. Also - woher weißt du das? Und seit wann?"

Tariq wischte die Frage mit einer Handbewegung weg. "Ich erkläre es heute Abend in der Besprechung und ich möchte, dass ihr beide mit den Schwestern dabei seid."

Issam tauschte einen verwunderten Blick mit Tanyel, der ratlos die Schultern hob. Vorsichtig stellte er das Tablett, das er in der Hand gehalten hatte, auf dem Schrank ab. "Weil wir einmal bei schlechten Neuigkeiten sind ..." Er warf ebenfalls einen Blick auf Ahmad, dann ging er hinüber zum gelben Zimmer und schloss die Glastür. "Ich bin gerade dabei, sein Blut zu untersuchen. Es sieht nicht gut aus. Seine Verletzun­gen heilen nicht, weil er keine neuen Zellen bildet. Kein neues Gewebe. Es ist alles noch genauso wie heute Nacht."

Tanyel sah erst Issam mit verständnislosem Blick an und wartete darauf, dass der Arzt erklärte, was das für Ahmad bedeutete. Er hatte keine medizinische Ausbildung und konnte sich nicht vorstellen, was dieser Verlust bewirkte.

"Wenn ich recht habe und nicht schnellstmöglich eine Möglichkeit finde, um das zu ändern oder Ahmad das nicht selbst schafft, dann …"

Issam beendete seinen Satz nicht, doch Tanyel gab sich damit nicht zufrieden. "Dann …?", hakte er nach.

"Dann wird er in spätestens vierundzwanzig Stunden nicht mehr am Leben sein."

Der Blick, mit dem Tariq den Arzt jetzt anstarrte, wandelte sich von entsetzt zu schuldbewusst und schließlich gequält.

"Bist du sicher?", krächzte er.

Hoffnung lag in dieser Frage, Hoffnung, dass Issams Antwort ein Nein wäre.

Doch der Arzt nickte erbarmungslos.

"Absolut sicher. Ich habe die Tests dreimal durchgeführt. Bleibt alles so, wie es gerade ist, kann er nicht überleben."

Die Endgültigkeit dieser Worte verschlug dem Chef der Guardians die Sprache. Seine Hände begannen zu zittern und er öffnete den Mund, um zu antworten. Doch erst nach dem zweiten Versuch schaffte er es, Worte aus seiner Kehle zu zwingen.

"Wir müssen ihn in eine Klinik schaffen …", stammelte er. "Es gibt da Spezialisten. Ich kenne viele Ärzte, manche schulden mir noch einen Gefallen …"

"Tariq."

"Es ist mir egal, was es kostet. Und was dafür benötigt wird. Ich bringe ihn unter, wo auch immer du es für gut hältst. Oder ich schaffe dir alles herbei, was du brauchst, wenn du ihn hierbehalten willst, auch … "

"Tariq!"

Der Redestrom brach ab.

Issam wartete, bis sein Freund die Augen auf ihn richtete. Es dauerte eine Weile, denn dieser schien sich davor zu scheuen, ihn direkt anzusehen. Doch als er es endlich tat, hielt der Arzt seinen Blick fest.

"Was sollte das bringen?", meinte er leise. "Wie könnte eine Klinik ihm helfen? Wenn diese Verletzungen nach meiner Behandlung nicht heilen, kann ihn niemand retten. Man kann nichts tun, glaub mir." Er drückte ihm kurz den Arm, dann ließ er ihn los.

Tariq starrte ihn weitere zwei, drei Sekunden wortlos an. "Was ist die Ursache?", fragte er schließlich mühsam. "Woran liegt es?"

Der Arzt kratzte sich am Kopf. "Tja, das ist schwer zu sagen. Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen. Irgendetwas hat bewirkt, dass seine Zellen sich nicht mehr regenerieren. Bisher taten sie das problemlos, sogar mit atemberaubender Schnelligkeit, was bei ihm für diese rasche Heilung sorgte. Bisher. Nach dem, was ich jetzt sehe, heilt gar nichts. Die Verletzung an der Lunge wird ihn umbringen. Er stirbt, während wir hier reden."

Tariq spürte jedes einzelne seiner Worte wie einen Schlag, der auf ihn niedersauste. Sie klangen so nüchtern und völlig unbeteiligt. Doch er kannte Issam lange genug, um zu wissen, wie es in dem Arzt aussah. "Wie lange hat er noch?" Zögernd war diese Frage gekommen, denn er fürchtete die Antwort.

Sein Freund seufzte erneut. "Ich denke, er erlebt den Morgen nicht mehr."

"Nein …" Es war mehr Ächzen als Sprechen.

"Grob geschätzt", versuchte Issam die schwer im Raum lastende Behauptung zu mildern. "Wenn ich herausfinden könnte, was der Trigger für diese Veränderung war, könnte ich vielleicht etwas tun, aber so ..." Er beendete den Satz nicht.

"Ein Trigger?" Tanyels Tonfall verriet, dass er genauso betroffen war von der Nachricht.

Ratloses Schulterzucken war alles, was der Arzt als Antwort geben konnte. "Irgendein Auslöser, ein chemischer oder physikalischer Vorgang, ein Gift oder Strahlung, ich weiß auch nicht …"

"Was können wir tun, Issam?", stöhnte Tariq und es klang unendlich hoffnungslos.

"Nichts, mein Freund." Der Arzt ließ das Kinn auf die Brust sinken und schüttelte den Kopf. "Wir können ihm die Schmerzen nehmen und an seiner Seite sein. Aber mehr liegt nicht in unserer Macht. Er kann sich nur selbst retten."

Tariq schloss die Augen atmete einmal tief durch. "Das werden wir sehen." Ein entschlossener Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. "Solange Zeit ist, tue ich, was ich tun kann." Mit diesen Worten zog er sein Jackett aus und warf es über den neben ihm stehenden Hocker. "Darf ich dein Labor nutzen?" Und nach Issams Nicken krempelte er die Hemdsärmel auf und marschierte in Richtung Treppe.

Der Arzt folgte ihm und Tanyel - noch immer die Plastikflaschen umklammernd - sah den beiden nach.


Mittwoch, 15:30 Uhr


Mit einem Schmerzenslaut rieb sich Trajan die geprellte Hand und unterdrückte einen Fluch, während er irgendwo hinter sich seinen Übungsrevolver außerhalb der Matte auf den Boden der Trainingshalle scheppern hörte. Senads gut gezielter Tritt hatte ihm die Waffe aus der Hand geschmettert und sie in hohem Bogen davonfliegen lassen.

Was war bloß los mit ihm? Wo hatte er seine Augen, wo war seine Konzentration? Er hatte Senads Fuß einfach nicht kommen sehen. Wie konnte der so schnell sein?

Ein Blick auf Sadik, der wie immer mit vor der Brust verschränkten Armen ihren Kampf beobachtet hatte, zeigte, dass der Ausbilder missbilligend die Stirn runzelte.

"Du bist entwaffnet, Trajan. Setz dich auf die Bank. Gut gemacht, Senad."

Der Nahkampftrainer nickte dem Älteren zufrieden zu und winkte als nächstes Trainingspaar Hennak und - nach einem prüfenden Blick auf Shujaa - Rhea herbei. "Zwei Nahkämp­fer jetzt. Rhea, du musst unbedingt besser darauf achten, dass dich deine Waffe im Nahkampf nicht behindert. Wenn du sie aus Platzgründen nicht einsetzen kannst, dann leg sie auf den Boden, aber entferne dich niemals zu weit von ihr. Das war dir beim letzten Mal zum Verhängnis geworden."

Während Trajan verärgert nach hinten ging, um seine eigene Waffe aufzusammeln, stand Rhea auf und fasste ihren Kampfstab entschlossen mit beiden Händen. Tief durchat­mend richtete sie ihren Blick auf Hennak, der ihr nun gegen­überstand und mit einem lässigen Grinsen seinen Übungsschlagstock einige Male in die offene Handfläche klatschen ließ.

Trajan sah es. Doch er war sicher, dass sich Rhea von dem überlegen wirkenden Gebaren nicht beeindrucken lassen würde. Der Trainer kannte seine Leute, hatte deren Eigen­heiten und Stärken in den unzähligen Trainingsstunden genauestens analysiert. Und Rhea mit ihrer ungewöhnlichen Waffe konnte es Hennak, der auf die Kraft seiner Hiebe setzte, durchaus schwermachen, weil sie ruhiger und konzen­trierter, schneller und wendiger war als er. Die beiden bildeten ein gutes Trainingspaar. Während dieser Gedanken war Trajan zurück an seinen Platz gekommen und setzte sich wieder.

"Trajan?"

Er erstarrte förmlich und lauschte. Die Stimme in seinem Kopf war so deutlich, als würde Ahmad direkt neben ihm stehen.

"Ich höre dich. Was ist los?"

"Ist Yonas bei dir?"

Er schaute unwillkürlich kurz zu dem Jungen hinüber, der nur zwei Plätze weiter auf der Bank saß.

"Er ist hier."

"Pass auf ihn auf."

"Auf ihn ... Was meinst du? Hier beim Training? Wer sollte denn …"

Ahmad ließ ihn nicht ausreden. Seine ungleich stärkeren telepathischen Kräfte fegten Trajans Worte einfach zur Seite und verursachten einen unangenehmen Druck in dessen Schädel. "Es ist wichtig", unterbrach er den Satz. "Lass ihn möglichst nicht aus den Augen."

Yonas, der seinen Blick aufgefangen hatte, beobachtete ihn aufmerksam. Trajans angespannter Gesichtsausdruck und die geschlossenen Augen ließen den Jüngeren ahnen, dass dieser entweder gerade in jemandes Gedanken eintauchte oder telepathisch kommunizierte. Viele andere Möglichkeiten gab es dafür nicht.

Schnell tauschte er mit Shujaa den Platz. "Ist Ahmad wieder wach?", flüsterte er nun seinem Nebenmann zu. "Was will er denn?"

Trajan schüttelte nur den Kopf und bedeutete Yonas mit der Hand sich zu gedulden.

"Keine Sorge, ich bleib in seiner Nähe. Aber ich kann ihn nicht rund um die Uhr beobachten. Das wird doch auffallen. Wie stellst du dir das vor?"

"Dann such dir Helfer."

"Okay, ich schau mal, was ich machen kann. Aber nur bis du wieder auf dem Damm bist, das sage ich dir. Also sieh zu, dass du schnell auf die Beine kommst." Es sollte scherzhaft klingen, doch seine Gedanken-Stimme gehorchte Trajan nicht. Ahmads Bitte verursachte ein beklemmendes Gefühl. Das klang wirklich ernst.

Was konnte das sein, was der Kamerad befürchtete? War Yonas etwa immer noch in Gefahr? Glaubte er, die Entfüh­rung könnte noch einmal passieren?

"Sag mir, worauf ich achten muss!", verlangte er deshalb und musterte dabei verstohlen den Blondschopf an seiner Seite. Er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendetwas an ihm in der Lage war, dem schwarzen Guardian Sorge zu bereiten.

"Was ist denn los?", flüsterte es neben ihm jetzt drängend.

Trajan hob noch einmal beschwichtigend die Hand. "Gleich, warte kurz", antwortete er leise.

"Er ist in Gefahr und er ist selbst eine Gefahr", hörte er Ahmads Stimme nun erneut, leiser und matter als vorhin, "und er weiß nichts davon."

"Wieso?", entgegnete Trajan verblüfft. "Erklär es mir."

Keine Antwort.

"Ahmad?"

Es blieb still in seinem Kopf. Ein wenig unbehaglich schaute Trajan seinen Sitznachbarn erneut an. Yonas sollte gefährlich sein? Niemand wirkte so unschuldig wie dieser sechzehnjäh­rige Junge.

Doch Ahmad würde ihm nicht ohne Grund auftragen ihn nicht aus den Augen zu lassen. Dummerweise war er nicht mehr dazu gekommen, es zu erklären. Und deshalb wusste Trajan immer noch nicht, warum ihm das so wichtig war.


Eine Stunde später saß er wieder an Ahmads Bett und musterte den schlafenden Kameraden. Dunkle Schatten lagen unter den geschlossenen Augen, die das Gesicht noch blasser wirken ließen, und auf seiner Stirn waren winzige Schweißperlen.

Erschrocken fuhr Trajan zusammen, als sich Yonas wieder neben ihm auf den zweiten Stuhl schob. Ein verhaltenes Grinsen huschte über sein Gesicht. Er hätte es wissen müssen, dass der Jüngere zurückkommen würde. Alle anderen hatten das Besuchsverbot widerspruchslos hingenommen.

Doch der erwiderte das Grinsen nicht. "Ist er wach?", formten seine Lippen stattdessen die lautlose Frage, während er mit dem Finger auf Ahmad deutete.

Trajan schüttelte den Kopf.

Für eine Weile hing jeder von ihnen seinen eigenen Gedanken nach. Trajan fragte sich, wann er nun erfahren würde, warum er Yonas beobachten sollte.

"Hast du gewusst, dass der Chef genau wie Ahmad Energiegeschosse bilden kann?", flüsterte der jetzt leise, um das bedrückende Schweigen zu beenden.

Trajan starrte ihn entgeistert an. "Was, Tariq?!", entfuhr es ihm verblüfft.

Yonas nickte bestätigend. "Und dass Ahmad und er einen Schild entstehen lassen können, um Energiegeschosse abzuwehren?"

"Echt?" Jetzt schüttelte Trajan ungläubig den Kopf. "Hast du es gesehen?"

Der Jüngere nickte. "Beide machten mit dem linken Arm einfach nur eine fließende Bewegung und paff - war er da. Etwa so." Yonas schwang den ausgestreckten Arm in einer lässigen Kreisbewegung vor sich, während er sich mit einem Seitenblick vergewisserte, dass Trajan zusah. "Und dann die Energiegeschosse!", fuhr er fort. "Erst blaue von Ahmad und schwarze von dem ... von Rayan, dann silberne von Tariq. Beim Aufprallen an der Wand hinterlassen die solche großen Löcher und spritzende Steinsplitter."

Er hielt Trajan die geballte Faust vor die Nase, um die Größe zu verdeutlichen. "Ich möchte wirklich nicht wissen, was sie anrichten, wenn sie auf einen menschlichen Körper treffen." Schaudernd zog er die Schultern hoch. "Der Lärm war unbeschreiblich und die Luft war mit Energie so aufgeladen, dass mir buchstäblich die Haare zu Berge standen."

Er griff mit beiden Händen in seinen dichten, blonden Schopf, als wäre der Effekt jetzt noch spürbar.

"Warum hat Ahmad Rayan nicht einfach erschossen?", fragte Trajan grübelnd.

"Keine Ahnung. Zu große Entfernung?" Yonas hob unsicher die Schultern. "Du hast ja selbst mal gesagt, dass er eher ein Nahkämpfer ist. "

Trajan nickte. "Ja, wäre möglich. Oder vielleicht kann Rayan ja auch so einen Schild bilden? Obwohl - ob der Kugeln aufhalten könnte? Er besteht ja eigentlich nur aus Energie ..." Dann fiel ihm etwas ein. "Warte mal kurz." Er zog sein Handy hervor. "Tanyel", meinte er leise, nachdem sich der Steward gemeldet hatte, "weiß irgendjemand, wo Ahmads Waffen abgeblieben sind?" Er lauschte einen Moment, verneinte eine Frage und nickte schließlich. "Ja, das wäre toll, danke. Bringst du sie hierher in die Klinik, wenn du sie hast?" Wieder lauschte er und steckte dann nach einem letzten, kurzen "Alles klar" das Handy zurück in die Hosentasche.

"Ich kann mich nicht erinnern, ob Ahmad Kampfmesser und Pistole bei sich hatte, als wir ihn fanden", erklärte er auf Yonas' fragenden Blick hin, "aber Tanyel will noch einmal zu der Hütte gehen, um dort nachzuschauen."

"Das Messer ist mit Sicherheit nicht dort. Sein Bruder hat es ihm doch aus der Hand geschlagen, kurz nachdem er ihn im Schloss angegriffen hat. Ich glaube nicht, dass Ahmad es später wieder aufgehoben hat. Also wenn es nicht einer von euch gefunden und mitgenommen hat, liegt es wohl noch dort."

"Er würde seine Waffen nie freiwillig zurücklassen", belehrte ihn der blaue Guardian und es klang fast, als habe er Mitleid mit seinem unwissenden Sitznachbarn. "'Wenn du ein Guardian bist, ist deine Waffe dein zweites Ich', sagt Gaz immer."

Yonas, der wusste, dass dieses Zitat jetzt folgen würde, hatte den letzten Teil lautlos mitgesprochen und grinste nun.

Trajan konnte seine Dozentenmiene nicht länger aufrecht­erhalten und boxte ihn leicht gegen die Schulter.

"Bei diesem La'ith bin ich mir hundertprozentig sicher, dass er Ahmad hasst wie die Pest und dass die Ruhe, die er zeigte, nur gespielt war." Yonas schüttelte ein wenig den Kopf, als könne er es immer noch nicht glauben, was er da gesehen hatte. "Er wirkte eiskalt. Dabei hat es wahrscheinlich richtig gebrodelt in ihm. Ich hätte ihn zu gern einmal berühren wollen, um es herauszufinden. Aber ich kam ja nicht aus diesem Energiefeld raus." Er sah Trajan nicht an, als er das sagte, und biss danach frustriert die Zähne zusammen.

Der blaue Guardian verstand ihn. Er hatte schon vor längerer Zeit erkannt, dass Yonas unter seiner Hilflosigkeit und Unerfahrenheit litt. Diese Stunden im Schloss in Rayans Gewalt hatten dem Jüngeren erneut schonungslos vor Augen geführt, dass er den Guardians nicht das Wasser reichen konnte.

"Und dann dieses ... dieses ...", fuhr dieser nun fort und ihm fehlte das Wort für das, was er beschreiben wollte. "Bei mir brannte anscheinend eine Sicherung durch. Ich merkte, dass mit mir irgendetwas passierte, doch ich konnte nichts dagegen tun. Und gleich darauf war ich genau in der Mitte von einem Tornado! Es rauschte und dröhnte so laut, dass ich glaubte, taub zu werden. Als ob du neben einem startenden Düsenjet stehen würdest ... Da zuckten echte Blitze und alles war plötzlich in seltsames gelbes Licht getaucht, fast wie Nebel ..."

Er stand auf. Sich an diese Szene zu erinnern machte es ihm unmöglich, länger ruhig auf dem Stuhl zu sitzen. Einmal tief durchatmend schob er die Hände in die Taschen seiner Jeans, ging zum Fenster hinüber und sah durch das spärliche Frühlingsgrün der Bäume hinüber zum alten Gesindehaus.

"Ich fühlte mich, als ob ich zerquetscht würde von dieser ungeheuren Kraft, obwohl sie von mir selbst ausging. Es wurde immer schlimmer. Ich ... ich wollte schreien, aber nach ein paar Augenblicken konnte ich nicht einmal mehr atmen. Dann knickten mir die Beine ein. Das … echt, ich dachte wirklich, ich sterbe." Er schluckte bei der Erinnerung daran. Das Ereignis hatte ihm panische Angst gemacht, weil er nicht verstand, was da passiert war mit ihm.

Trajan musste sofort wieder an Ahmads Worte denken. Er ist gefährlich, hatte der Freund gesagt. "Du musst nicht weitererzählen, wenn es dich zu sehr aufregt", meinte er leise, denn es war ihm lieber, wenn Yonas sich beruhigte.

Doch der schüttelte energisch den Kopf und setzte sich wieder hin. Seufzend rieb er sich mit der Handfläche über die gefurchte Stirn.

"Ich will aber darüber reden. Es ist das erste Mal, dass ich wirklich darüber nachdenke, was da passiert ist. Heute Vormittag war Schule, und gestern Abend bin ich so erledigt gewesen - ich weiß nicht mal genau, wie ich eigentlich heimgekommen bin. Ich habe geschlafen wie ein Toter und mich heute früh gefühlt, als sei eine Gerölllawine über mich hinweggegangen. Mir tat jeder einzelne Knochen weh. Welche Kraft habe ich da in mir, von der ich nichts weiß? Und warum kann ich sie nicht kontrollieren? Und - wohl die wichtigste Frage - zu was ist sie fähig?"

Yonas starrte auf den Boden zwischen seinen Füßen. Dankbar merkte er, dass Trajan ihn zwar anschaute, aber nicht aufforderte fortzufahren.

"Ich habe Ahmad gewarnt, als er zu mir kommen wollte", flüsterte er. "Er hat es ignoriert und kam trotzdem näher und ich hatte solche Angst, dass ich ihn verletzen würde, vielleicht sogar töten. Doch plötzlich war es vorbei. Wie ein Fingerschnipsen. Ich war wieder ich. Der Sturm flaute ab, Blitze weg, Licht weg. Nein, das Licht ... es war nicht weg, es ... kam zu mir zurück, wie als ob es von mir aufgesaugt würde."

Yonas' Blick streifte den reglos Liegenden und blieb am Verband an dessen Schulter hängen. Er seufzte. "Tja, was nun eigentlich diese Kraft gestoppt hat, weiß ich nicht. Ob es die Berührung von Ahmad war? Welche Energieart lässt sich durch eine bloße Berührung neutralisieren?"

"Eine Energieart, die sein Vater erschaffen hat."

Trajan schaute überrascht hinüber zum Bett, als er Ahmads Stimme in seinem Kopf vernahm.

"Was ist?", fragte Yonas neugierig, der es bemerkt hatte. "Ist er wach? Was sagt er?"

Trajan nickte. "Er sagt, dass dein Vater diese Energieart erschaffen hat."

"Mein ... Vater?" Das Staunen war aus der stockend hervorgebrachten Frage herauszuhören. "Also ich weiß ja, dass er ziemlich seltsame Dinge gemacht hat und stundenlang in seinem Zimmer unter dem Dach hockte oder im Keller in seinem Labor war, unzählige Papierseiten vollschrieb, vergessen hat zu essen und zeitweise sogar, dass es mich gab ... Aber eine Energieart erschaffen? Geht so etwas überhaupt?"

"Er weiß nicht viel über seinen Vater." Ahmad öffnete die Augen, wandte den Kopf zur Seite und schaute Yonas einen Moment sehr aufmerksam an.

"Dein Vater war ein beeindruckender Mann", meinte er dann. Seine Stimme war ein wenig gedämpft durch die Sauerstoffmaske und leise. So leise, dass sich Trajan fragte, ob es eine so gute Idee von ihm war, zu sprechen.

"Ich weiß nicht viel über ihn", seufzte Yonas nun, ganz so, als hätte er Ahmads telepathische Bemerkung von vorhin verstanden. "Er war eher ein Sonderling. Das, was man einen verschrobenen Wissenschaftler meint."

"Ich kann dir ... von ihm erzählen." Noch immer wandte Ahmad den Blick nicht von Yonas.

Jetzt krauste Trajan besorgt die Stirn. "Ahmad ...", begann er zögerlich, "also ich weiß nicht, ehrlich ... Und du", er boxte Yonas leicht an die Schulter, "ermuntere ihn nicht noch. Das könnt ihr ein andermal machen. Wenn Ahmad sich anstrengt, wird uns das Teil dort", er deutete mit dem Kinn zum Monitor hinüber, "sofort den Doc auf den Hals hetzen."

Der Jüngere nickte. "Und wenn der mich hier erwischt, bin ich geliefert. Gibt mindestens vier Wochen Küchendienst." Er blickte so kläglich drein, als wäre der Hammer nach diesem Urteilsspruch über ihn schon gefallen.

Trajan verzog belustigt die Mundwinkel. Doch mit der Vermutung konnte Yonas recht haben. Issam würde keine Gnade kennen, wenn er ihn hier vorfand.

"Ich zeige es ihm." Selbst in Gedanken zu sprechen schien Ahmad anzustrengen, seine Stimme klang matt, kaum hörbar in Trajans Kopf.

Doch der verstand den Sinn der Worte sofort. Stumm deutete er auf Yonas' Hand und dann auf Ahmads Schulter.

Verblüfft sah der Junge ihn an. Ich soll Ahmad berühren, schienen seine Augen zu fragen, nachdem dieser das immer vermieden hatte?

Zögernd folgte er der stummen Aufforderung und beugte sich ein wenig vor, während er die Augen schloss. Das half ihm immer, in Erinnerungen einzutauchen, auch in seine eigenen. Dann wartete er auf das, das Ahmad ihm zeigen wollte. Eine Weile herrschte Stille. Nur das Summen des Monitors und das leise Zischen vom Sauerstoff konnte man hören.

Yonas Miene war hochkonzentriert. Er schien intensiv in Ahmads Erinnerungen eingetaucht zu sein. Ein paar Minuten vergingen, ohne dass sich einer von ihnen rührte. Dann riss er plötzlich mit einem erschrockenen Laut seine Hand zurück und sprang auf. Der Stuhl kippte um, als er nun beinahe taumelnd einen Schritt zurückwich.

Trajan war erschrocken zusammengefahren und starrte ihn an.

Aber Yonas sagte nichts, sondern drehte sich um und verließ das Zimmer fast fluchtartig.

Der blaue Guardian sah ihm verdutzt nach und hörte gleich darauf die Tür der Klinik ins Schloss fallen. "Was ist denn in den gefahren?", murmelte er.

"Geh ihm nach!", flüsterte Ahmad drängend. "Er darf sich nicht aufregen!"

Gehorsam sprang Trajan auf, rannte durch den Behand­lungsraum und riss die Tür zum kleinen Foyer auf. Gerade noch sah er, wie links von ihm die Gartentür ins Schloss fiel. Als er durch das Fenster daneben spähte, konnte er erleich­tert feststellen, dass Yonas sich eben auf die Steinbank neben der niedrigen Gartenmauer plumpsen ließ.

Ein, zwei Minuten wartete er noch, doch als er sah, dass der Jüngere ruhig dort sitzenblieb, kehrte er zurück ins Kranken­zimmer.

Ahmad wartete schon ungeduldig. "Was macht er? Wo ist er hin?", fragte er besorgt.

"Alles gut." Trajan winkte beruhigend ab. "Er sitzt ganz still draußen auf der Bank. Mann …", flüsterte er, nachdem er sich wieder ans Bett gesetzt hatte, "was hast du ihm bloß gezeigt?"

Wirklich beruhigt schien Ahmad nicht zu sein. Doch jetzt richtete sich sein Blick wieder auf den blauen Guardian. Seine Linke griff nach der Sauerstoffmaske und zog sie herunter übers Kinn. "Ein paar Dinge aus seiner Kindheit, an die er sich selbst nicht mehr erinnern kann, weil er zu klein war." Für ein paar Sekunden schwieg er. "Und wie ich damals seinem Vater zum ersten Mal begegnet bin und der mich als Bodyguard eingestellt hat ... für seinen damals neun Monate alten Sohn."

Trajan riss verdutzt die Augen auf. Das hatte er nicht erwartet. Und Yonas hatte also nichts davon gewusst.

"Und das, was Yonas gestern Abend - also dieses … von was er überwältigt wurde, war also eine Energieart, die dessen Vater entwickelt hat?"

"Ja."

"Und du kennst sie?"

"Ja."

"Also weißt du, was sie anrichten kann?"

"Ja."

"Denkst du deshalb, Yonas sei gefährlich?"

"Ja."

Trajan lehnte sich zurück auf dem Stuhl und versuchte die vielen Informationen zu sortieren und zu verarbeiten.

Was für ein heilloses Chaos. Er hatte jetzt noch mehr Fragen und wusste nicht, wer sie ihm beantworten sollte. Nur Ahmad kam in Frage. Doch der brauchte Ruhe und keine aufregenden Diskussionen.

Unschlüssig sah er auf seine Uhr. Yonas kam nicht zurück. Ahmads Erinnerung war wohl ein Schock für ihn gewesen. Er hatte eben erkennen müssen, dass seit fast sechzehn Jahren auf Geheiß seines Vaters ständig jemand an seiner Seite gewesen war, um ihn zu beschützen.

Aber an der ganzen Geschichte stimmte etwas nicht. Ja, Ahmads wahres Alter kannte keiner von ihnen, aber er war mit Sicherheit nicht älter als fünfundzwanzig. Wie konnte er seit so langer Zeit bei Yonas sein? Damals war er ja selbst noch ein Kind!

Trajan beschloss, ihn bei nächster Gelegenheit zu fragen und seufzte. Ahmad hatte die Augen wieder geschlossen. Außer seinen flachen Atemzügen war nur das leise Zischen der Sauerstoffversorgung zu hören. Der Monitor summte ganz dezent und eine der Zahlen blinkte rot.

Leise stand Trajan auf, beugte sich vor und zog die Maske vorsichtig wieder über Ahmads Gesicht. Seine Gedanken kreisten um das, was er eben erfahren hatte.

Rayan schien auf jeden Fall etwas über diese seltsame Energie, die in Yonas schlummerte, zu wissen. Er hatte die Flucht ergriffen, als dieser sie - ja, was eigentlich? Aktivierte?

Ein neuer Gedanke tauchte auf und Trajan setzte sich vor Schreck kerzengerade hin. Hatte Rayan Yonas vielleicht nur deswegen entführt und die Vermutung, dass er Ahmad damit ködern wollte, war völlig verkehrt?

Wer um alles in der Welt konnte diesen Knoten entwirren?


Mittwoch, 17:00 Uhr


Yonas hatte sich auf die Bank neben der Gartenmauer fallen lassen. Fröstelnd zog er die Schultern hoch. Es war nicht wirklich kalt, aber man merkte doch, dass es erst Frühling war. Hier schien die Sonne nur von morgens bis mittags, dann verschwand sie hinter dem wuchtigen Bau des Haupt­hauses und überließ die Wiese dessen schnell wachsendem Schatten.

Fassungslos grübelte er noch immer, wie es sein konnte, dass ihm all die Jahre entgangen war, warum Ahmad wirklich bei ihnen gewohnt hatte.

Als er ein Kind war, hatte er es als selbstverständlich hinge­nommen. Ahmad war ein Familienmitglied für ihn gewesen, etwa so wie ein großer Bruder. 'Er ist mein Assistent, mein Mitarbeiter', hatte sein Vater ihm geantwortet, als er später einmal fragte, ob Ahmad sein Onkel sei. Und mit der Antwort hatte er sich zufriedengegeben.

Jetzt, wo er darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass dieser Mitarbeiter eigentlich immer nur bei ihm anstatt bei seinem Vater gewesen war. Ungewöhnlich für einen Assistenten. Aber er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht.

Umso unvorbereiteter traf es ihn jetzt, dass sein Vater Ahmad extra für ihn als Bodyguard angestellt hatte. Wie oft war er wohl in seiner Nähe gewesen, ohne dass er ihn bemerkt hatte …

An das Haus, das er in dessen Erinnerung gesehen hatte, konnte er sich nicht erinnern. In den sechzehn Jahren seines Lebens waren sie dreimal umgezogen und zweimal hatte er die Schule wechseln müssen. Da gab es nicht viele Gelegen­heiten, Freunde zu finden und die wenigen kostbaren Freundschaften zu erhalten. So war er meist für sich geblie­ben. Ahmad hatte ihm Geschwister und Freunde ersetzt. Sein Vater war ein verschlossener Mensch gewesen, seine Mutter tot und andere Familienmitglieder gab es nicht.

Seine Mutter ...

Er war neun gewesen, als sie starb. Ein kleiner Junge, dessen Welt plötzlich aus den Fugen geriet. Dessen Vater sich von einem Tag auf den anderen in einen Fremden verwandelte. Wenn er sich im Spiegel ansah und sein Äußeres und die blonden Haare betrachtete, dann schob sich ihr Bild davor. Keineswegs glich er seinem Erzeuger, dessen dunkle Haare und Augen sich bei ihm nicht wiederfinden ließen.

Sein Vater hatte alle Bilder von ihr verschwinden lassen. Wahrscheinlich sogar weggeworfen, denn als nach seiner Ermordung die Wohnung ausgeräumt wurde, hatte Yonas keins finden können.

Plötzlich überkam ihn eine unbändige Sehnsucht danach, sie noch einmal zu sehen. Und ihm wurde schlagartig klar, dass er nur warten musste, bis Ahmad schlief. Dann konnte er versuchen sie in seinen Erinnerungen zu finden. Und noch so vieles mehr, was er gern wieder einmal sehen würde.

Ich würde manches besser verstehen, rechtfertigte er diesen übermächtigen Wunsch trotzig vor sich selbst. Ich könnte erfahren, warum wir immer wieder umgezogen sind. Vielleicht sogar, warum Vater umgebracht wurde. Ahmad hat nie etwas darüber gesagt.

Ohnmächtig ballte er die Hände zu Fäusten. Er wusste, es würde bei dem Wunsch bleiben. Noch nie hatte er von Kameraden Erinnerungen 'gestohlen'. Und nichts anderes würde es sein. Außerdem war es ihm so gut wie unmöglich, bestimmte Sachen zu finden. Das, was er bei Ahmad gesehen hatte, war ihm von diesem gezeigt worden.

Er seufzte tief und öffnete die Fäuste wieder. Sei nicht kindisch, schalt er sich, lass das Vergangene ruhen.

Doch ein kleiner Stachel blieb. Ahmad hatte recht. Er wusste nicht nur nicht viel über seinen Vater. Sein ganzes bisheriges Leben war irgendwie ein einziges Mysterium.

Kurz schaute er auf die Uhr. Er musste Trajan erklären, warum er ihn so plötzlich allein sitzengelassen hatte. Und ihm danken, dass er nicht hinterhergekommen war.


Mit einem dicken Päckchen Brote in der Hand und einer Flasche Saft unter dem Arm öffnete er zehn Minuten später vorsichtig die Tür zur Klinik und spähte hinein. Als er sah, dass Issam nicht da war, huschte er quer durch den Behand­lungsraum ins gelbe Zimmer. Wortlos reichte er Trajan seine mitgebrachten Gaben und setzte sich wieder auf seinen Stuhl am Bett. Dabei grinste er verlegen, weil er das Besuchsverbot erneut ignoriert hatte. Aber auch weil er sich schämte. Jetzt kam ihm seine Reaktion vorhin reichlich kindisch vor.

"Schläft er wieder?", flüsterte er und deutete mit dem Kinn auf Ahmad.

Trajan nickte. Er war erleichtert, denn er merkte, dass Yonas sich beruhigt hatte. Neugierig musterte er das Verpflegungs­päckchen, dann schaute er hinein und inspizierte den Inhalt. Zuerst nahm er jedoch einen großen Schluck Saft aus der Flasche und seufzte genießerisch, als er sie absetzte. "Das Beste, was er machen kann", antwortete er dann leise.

Die Tür öffnete sich erneut und diesmal schob sich Tanyel herein, der einen umwickelten Gegenstand bei sich trug. Beim Anblick von Yonas hob er lediglich eine Augenbraue.

Der Guardian stellte die Saftflasche ab und legte das eben angebissene Brot wieder zurück.

"Du hast seine Waffen gefunden?", fragte er gespannt, aber leise, und erhob sich erwartungsvoll.

Der Steward schüttelte den Kopf und begann das Päckchen langsam auszuwickeln. "Nur die hier. Sie lag noch auf der Wiese, genau dort, wo wir ihn gefunden haben."

Yonas war ebenfalls aufgestanden und trat neugierig näher.

"Seine Pistole", meinte Trajan, als er sah, was zum Vorschein kam. Es klang enttäuscht.

"Das Messer war nicht auf der Lichtung", gab Tanyel bedauernd zurück.

"Sag ich doch", meinte Yonas achselzuckend. "Das liegt noch im Schloss, dort, wo es ihm von dem La'ith-Bruder aus der Hand geschlagen wurde."

"Ahmad ohne sein Messer? Unvorstellbar ...", murmelte Trajan. Er nahm die matt glänzende Waffe an sich und öffnete das Magazin. Sie war geladen und es fehlte keine einzige Patrone. Aufmerksam betrachtete er sie und bemerkte dabei eine Inschrift. "For my treasure's guardian" war auf dem Griff eingraviert und als er es las, wusste er sofort, wer die Waffe für Ahmad hatte anfertigen lassen.

"Wir könnten es zurückholen", schlug Yonas vor und seine Stimme bekam einen entschlossenen Unterton.

Trajan und Tanyel sahen ihn an, als hätte er vorgeschlagen den Mond zu stehlen.

"Bist du noch bei Trost?!" Nur ein kurzer Blick auf Ahmad bewahrte den blauen Guardian davor, laut zu werden. "Hat dir das von gestern Abend nicht gereicht? Willst du nochmal geschnappt werden?"

"Wenn Shujaa dabei ist, wäre es machbar. Er könnte uns immer Bescheid sagen, wenn sich jemand nähert."

"Vergiss das mal ganz schnell wieder", mischte sich nun Tanyel ein und richtete seinen ernsten Blick auf Yonas. "Das", er deutete auf Ahmad, "soll nicht umsonst gewesen sein, okay?"

Der blonde Teenager biss sich auf die Lippen. Daran hatte er nicht gedacht, dass Ahmad ja wegen seiner Entführung verletzt worden war. Er würde das wiedergutmachen, das beschloss er in diesem Moment. Und wenn er ganz allein ins Schloss gehen musste, aber Ahmad würde seinen Dolch wiederbekommen. Das wäre das beste Dankeschön, was er sich für den schwarzen Guardian vorstellen konnte. Er wusste, wo er zu suchen hatte und einer allein würde nicht so schnell entdeckt werden wie eine Gruppe. Ihm stand eine ganze Nacht zur Verfügung.

Diese Gedanken schossen ihm durch den Kopf, als er Tanyels Frage mit einem betretenen Nicken beantwortete.

Der Steward schien zufrieden damit. "Ich werde sie hierlassen, falls er danach fragt. Sein Holster hat Sadik mit ins Kutscherhaus rüber genommen. Es hat einen Riss und Gaz wird es reparieren, wenn er zurück ist." Er wickelte die Pistole wieder ein und legte sie auf den kleinen Tisch. "Ab mit euch zum Abendessen", meinte er dann mit einem vorwurfsvollen Blick auf Trajans angebissenes Brot, während er seine Jacke auszog. "Ich bleibe so lange hier, bis Issam kommt."

"Kann ich lieber bleiben?", bat Trajan. "Ich würde gern hier sein, wenn er aufwacht." Hilfesuchend schielte er zu Yonas und der beeilte sich zustimmend zu nicken.

"Trajan hat sein Abendessen bereits hier, weil ich mir sowas schon gedacht hab", unterstützte er die Bitte des Freundes. Dann griff er sich seinen Schulrucksack, der noch neben der Tür lag, und verließ das Krankenzimmer mit einem Nicken in Tanyels Richtung.

"Das klärst du besser mit Issam", antwortete der auf Trajans Frage und sah auf seine Uhr. "Er wird gleich kommen. Ich löse dich dann auf jeden Fall ab, ihr habt ja heute Abend noch Besprechung." Auch er wandte sich zum Gehen. Doch im Behandlungszimmer blieb er stehen und drehte sich noch einmal um.

"Jetzt zeigst du ein gutes Blau", meinte er leise, ohne Trajan dabei direkt anzuschauen. "Blau mit etwas Braun. Pass auf, dass es nicht wieder brauner wird."

Leise schloss sich die Tür hinter ihm.

Trajan sah ihm einen Moment mit gerunzelter Stirn nach. Er wusste genau, was Tanyel meinte.

Blaue Farbe stand bei der Wahrnehmung des Stewards für Ausgeglichenheit, Kühle, Berechnung und Entschlossenheit. Alles Eigenschaften, die innere Ruhe voraussetzten. Doch ein sehr dunkles Blau mit Tendenz zum lila stand auch für Rückzug, Frustration, Mutlosigkeit. Und Braun verriet Unsicherheit und Sorge bis hin zu nackter Angst bei dem Betreffenden. Je dunkler das Braun war, desto mehr Angst war im Spiel. Und genau das hatte Tanyel heute Nacht bei ihm gesehen.

Seufzend fuhr er sich mit der Hand durch das dichte Haar mit der widerspenstigen Stirnpartie. Er wusste, dass der Steward recht hatte mit seiner Bemerkung. Tief in sich spürte er Sorge. Ahmads Worte von vorhin, mit denen der Kamerad ihm aufgetragen hatte, Yonas nicht aus den Augen zu lassen konnte er einfach nicht vergessen. Es war ihm so wichtig gewesen ...


Mittwoch, 19:00 Uhr


Fast alle Guardians saßen bereits im Besprechungsraum. Als einer der wenigen Räume des Landsitzes, in denen nichts verändert worden war, atmete er noch den Charme und die Erhabenheit vergangener Tage. Die tiefen Fenster der Westseite ließen bei Tag viel Licht hereinfallen, während sich auf der gegenüberliegenden Seite ausschließlich die mehr als mannshohen Bücherregale aus poliertem Nussbaumholz aneinanderreihten. Der Kamin in der Mitte der dunklen Bücherschränke wirkte, als habe er sich dazwischengedrängt und den Platz darüber beanspruchte das große Ölgemälde, das Tariqs Eltern in liebevoller Umarmung zeigte. Sein arabischer Vater, mit Whiskyglas und Zigarre in der rechten Hand, hatte dabei schützend den linken Arm um seine zierliche, einen ganzen Kopf kleinere Frau gelegt, die sich vertrauensvoll an seine Schulter schmiegte und glücklich lächelte.

Ein verschnörkelter, bronzener Kronleuchter erhellte den vorderen Teil des Raumes. Der hintere, der durch zwei marmorne Säulen optisch abgetrennt wirkte und jetzt im Dunkeln lag, beherbergte den Billardtisch und einen storchenbeinigen Schreibsekretär.

Die Möbel waren so alt wie der Landsitz selbst. Besonders die Ledersitzgruppe, auf denen sich die Guardians schon niedergelassen hatten, zeigte bereits deutliche Abnutzungsspuren. Doch Tariq duldete keine Veränderung in dem Raum, der früher, in seiner Kindheit, als Salon gedient hatte. Und die anderen liebten die schweren Möbel ebenso wie den flauschigen Teppich darunter, obwohl der aufgrund seiner wilden Musterung ziemlich hässlich wirkte.

Das Schießtraining würde heute Abend ausfallen. Gaz, ihr Waffentrainer, war vor ein paar Minuten erst von einer dreitätigen Reise zurückgekommen. Tariq hatte ihn kurz über das Vorgefallene unterrichtet. Selbstverständlich saß er nun mit hier, denn der Chef hatte ja angekündigt, den gestrigen Einsatz heute auswerten zu wollen. Sein Bruder Sadik, Senad und Shujaa waren hingegen noch nicht wieder da. Das "Triple-S" genannte Observierungs-Team hatte am Nachmittag gleich nach dem Training den Landsitz verlassen, um das Schloss zu erkunden und Hinweise auf Rayan zu finden.

Yonas musste auch wieder an der Besprechung teilnehmen. Es war wie ein Spießrutenlauf für ihn. Niemand hatte ihm Vorwürfe gemacht, aber seine Entführung hatte diesen verhängnisvollen Einsatz überhaupt erst erfordert. Unbehaglich sah er zu Koll hinüber. Der grüne Guardian war so alt wie er selbst und gestern Abend beinahe erschossen worden. Weil er, Yonas, sich schlimmer verhalten hatte als ein Anfänger!

Scham und Neid hielten sich die Waage bei den Gefühlen, die ihn momentan beherrschten. Scham über seine eigene Unzulänglichkeit, Neid auf die Kampferfahrung und die Ausbildung seiner Kameraden. Er war nicht einmal sicher, ob er dieses Wort überhaupt verwenden durfte, wenn er von ihnen sprach. Schließlich gehörte er gar nicht zu ihnen.

Wütend ballte er die Hände zu Fäusten und nahm sich vor, beim Training in Selbstverteidigung künftig aufmerksamer zuzuschauen, um schneller zu lernen. Selbst wenn er keine Waffe trug und voraussichtlich auch nie eine tragen würde, denn Tariq hatte seine Bitte, ein Guardian werden zu dürfen, bereits zweimal abgelehnt. Ohne Begründung. Offensichtlich sah der Chef kein Potenzial bei ihm und das zu wissen tat weh. Einzig die Aussicht, Ahmads Dolch zu­rückzubringen, schaffte es, dass er sich ein wenig besser fühlte.

Trajan wollte ebenfalls nicht hier sitzen. Diese ganze Auswertung interessierte ihn nicht im Mindesten. Mühelos brachte er das leise Mahnen seines Gewissens zum Schweigen, dass diese Einstellung eines Guardians unwürdig sei. Viel lieber würde er hinten in der Klinik sein als hier, doch der Chef war unerbittlich gewesen. Tanyel hatte seinen Platz dort eingenommen und ihn einfach vor die Tür gesetzt.

Jetzt waren Schritte auf den Steinfliesen im Foyer zu hören, die sich näherten, und gleich darauf trat Tariq ein. Wie heute Morgen schon richteten sich die Blicke aller erwartungsvoll auf ihn. Verblüfft registrierten sie den geöffneten obersten Hemdsknopf und die aufgekrempelten Ärmel. Das war ungewöhnlich für den Chef.

"Wir fangen an", meinte er, während er die schwere Holztür mit den kunstvollen Schnitzereien hinter sich schloss. "Die anderen kommen später. Sie sind noch im Schloss, um sich da etwas genauer umzusehen. Sadik will sich selbst ein Bild machen, weil er ja gestern Abend mit Team Gelb bei einem Einsatz in der Stadt war. Euch beide bitte ich, besonders gut zuzuhören, wenn er dann wieder da ist und uns mitteilt, was er herausgefunden hat."

Er sah erst Rhea bei diesen Worten an und dann Nakoa, den ruhigen jungen Mann mit dem südländischen Aussehen. Die beiden gelben Guardians warfen einander einen kurzen Blick zu und nickten.

Tariq nahm wie immer in einem der beiden Sessel am Kamin Platz und fuhr sich mit den Händen durch die fast nacken­langen braunen Haare. Dann stützte er die Ellenbogen auf die Armlehnen und legte die Fingerspitzen aneinander. Das war seine Denkerpose.

"Ich habe lange über den Verlauf des gestrigen Abends nach­gedacht. Und ich denke, dass wir nichts hätten anders oder besser machen können. Das gleich am Anfang. Trotzdem", jetzt beugte er sich ein wenig nach vorn, weil er das verstoh­lene Aufatmen einiger Guardians bemerkt hatte, "ist es nur einigen glücklichen Umständen zu danken, dass das Ganze nicht noch schlimmer ausgegangen ist. Doch ich will über den Ablauf jetzt kein Wort weiter verlieren." Er ignorierte die verwunderten Blicke, die seine Zuhörer einander zuwarfen und lehnte sich wieder zurück. "Viel wichtiger ist, dass wir Mato Rayan dort vorgefunden haben und damit unserem Ziel, ihn endlich hinter Schloss und Riegel zu bringen, vielleicht einen großen Schritt nähergekommen sind."

Er sah, wie sich Aufregung in die Mienen der jungen Leute vor ihm schlich. Rayan war das Stichwort, das jeden aufmerken ließ.

"Deshalb soll es heute Abend nicht um das gehen, was ihr getan, sondern was ihr beobachtet habt", fuhr er fort. "Und ich meine diesmal nicht nur das, was Ahmad betrifft. Jedes Detail, was ihr dort bemerkt habt, könnte wichtig sein. Da während des gesamten Ablaufes jeder seine eigenen Beobachtungen gemacht hat, halte ich es für das Beste, wenn wir noch einmal kurz alles zusammentragen. Senad ist nicht hier, also schreibt Tiana."

Er machte eine Pause und wartete geduldig, bis Trajans Schwester den Laptop gestartet hatte, der auf dem Tisch stand. Erst als sie Tariq erwartungsvoll ansah, sprach er weiter.

"Zuerst zu dem Schloss im Wald. Ich habe nicht viel darüber herausfinden können. Es hat seit fast dreißig Jahren ein und denselben Eigentümer. Der Name, der im städtischen Grundbuchamt eingetragen ist, sagt mir jedoch nichts. Ich vermute, dass es eine Scheinidentität ist. Dieser Eigner hat außer dem Aufstellen der Betreten-Verboten-Schilder dort noch keinen Finger gerührt. Mit Sicherheit wohnt er auch nicht da. Seine Spur verliert sich im Nichts, doch ich habe den Verdacht, dass es Rayan ist. Warum, darauf komme ich noch zurück."

Aufmerksam verfolgte er Tianas über die Tastatur huschen­de Finger.

"Über das Gebäude selbst ist nicht viel bekannt. Verlassen seit achtzig Jahren, baufällig, einsturzgefährdet und teilweise bereits eingestürzt. Ihr habt die Trümmer selbst gesehen. Es wird von kaum jemandem betreten, obwohl es für jeden, der die Verbotsschilder ignoriert, frei zugänglich ist. Ein El Dorado für Liebhaber verfallener Gebäude. Gerüchte kursieren, dass es dort spukt, dass man Geräusche hört in den Gängen, Schritte, knarrende Dielen. Ich gebe nichts auf diese Dinge. Mich interessiert nur, Rayan hat Yonas dorthin entführen lassen." Hier sah er das zweitjüngste Mitglied der Hausgemeinschaft direkt an, allerdings ohne irgendeine Emotion dabei erkennen zu lassen. "Aber noch konnten wir nicht rausbekommen, warum er das tat."

Während er sich ein Glas Wasser einschenkte, wartete er wieder, bis Tiana fertig war mit Schreiben.

"Nun zu Rayan selbst. Der Mann ist gefährlich. Er kann Energiegeschosse und einen Schild erschaffen, ist also nicht nur Energienutzer, sondern ein starker Wandler."

"Also genau wie du", warf Yonas an der Stelle ein. "Nur dass du nicht gefährlich bist."

Das aufkommende Gelächter war verhalten, denn außer Trajan, der ja von Yonas erfahren hatte, zu was Tariq fähig war, wusste keiner, was der Blondschopf gemeint hatte.

Tariq warf einen raschen Blick in die Runde und sah in fragende Gesichter. Einen Augenblick zögerte er, dann stellte er sein Wasserglas ab und streckte die Hand aus.

Atemlose Stille stellte sich ein, als zwischen seinen Finger­spitzen knisternde, silbrige Funken und Blitze auftauchten. Sie sammelten sich in seiner Handfläche und wuchsen dort zu einem tennisballgroßen Energiegeschoss heran.

Er konnte förmlich spüren, dass sie ihn plötzlich mit anderen Augen betrachteten. Bisher hatte nur Ahmad so etwas zustande gebracht. Und gestern Abend waren ihnen die roten und grünen Energiegeschosse ihrer Gegner um die Ohren geflogen. Aber dass er auch so etwas konnte, das hatte wohl keiner von ihnen vermutet.

Doch er hatte nicht vor, jetzt näher darauf einzugehen. Mit einem leisen Puff löste sich der silbrige Ball auf und verschwand, als er jetzt die Hand schloss.

"Außerdem vermag er Personen in einem Energiekäfig einzuschließen", fuhr er fort, als hätte er ihnen nicht gerade eben eine unerhörte Neuigkeit offenbart. "Das hat er mit Yonas getan, der ihn jedoch irgendwie auflösen konnte. Aber dazu kommen wir später noch. Er hat absolut loyale Unter­gebene, Energienutzer wie er selbst, die mit ihrer Energie Geschosse bilden. Ob sie ebenfalls Wandler sind und diese auch noch für andere Fähigkeiten nutzen, wissen wir nicht."

Tariq runzelte nachdenklich die Stirn. Energienutzern begegnete man nicht an jeder Ecke. Diese Fähigkeit war selten und dass Rayans Leute sie so offen vor ihnen demonstriert hatten, zeigte, dass sie sich überlegen fühlten. Und Wandler, also Nutzer, die ihre Energie in mehrerlei Formen anwenden konnten, wurden nicht geboren, sondern geschaffen. Ihre Energieform musste von jemandem modifiziert werden, um sie dazu zu befähigen.

"Aber wahrscheinlich nicht alle", wandte Hennak jetzt ein, "denn unsere Gegner haben keine Energie genutzt. Doch sie sind sehr gut ausgebildet", fuhr er fort und nach einem kurzen Moment des Zögerns fügte er hinzu: "Und sie sind besser als wir."

Trajan sah überrascht auf. Er glaubte fast sich verhört zu haben. Dass Hennak so etwas zugab, war wirklich ungewöhnlich. Der Freund hielt sich doch stets für einen großartigen Kämpfer und glaubte sich jedem Gegner eben­bürtig. Ein unauffälliger Blick in die Runde zeigte ihm, dass er nicht der Einzige war, den dieser letzte Satz erstaunt hatte. Selbst Tariq zog eine Augenbraue hoch, als er den roten Guardian musterte.

"Da bist du dir sicher?", hakte er nach.

Hennak ballte die Fäuste. Zorn ließ seine Ohren rot werden, während er verlegen auf den Teppich starrte. "Bin ich", stieß er widerwillig hervor. "Diese beiden Zwerge hatten uns echt in die Enge getrieben. Shujaa war schon verletzt und ich weiß nicht, was noch passiert wäre, wenn sie nicht plötzlich davongerannt wären. Keine Ahnung, wie es euch erging, aber ich vermute mal, es war ähnlich, weil keiner von euch mit einem Sieg über den Gegner geprahlt hat."

Tiana wechselte einen schnellen Blick mit ihrem Bruder. Zumindest bei ihnen war es genauso gewesen, Hennak hatte recht. Sie hatten es zu zweit nicht geschafft, ihre Gegnerin zu besiegen, und erleichtert aufgeatmet, als sie plötzlich davonstürmte.

Die Tür öffnete sich, Sadik, Senad und Shujaa kamen herein.

Der Chef wartete, bis die Nachzügler einen Platz gefunden hatten und der Nahkampftrainer sich in seiner gewohnten Art rücklings auf einen Stuhl gesetzt hatte. Dann schaute er ihn auffordernd an.

"Du hattest richtig vermutet, Tariq." Auf dem Gesicht des Trainers erschien ein verbissener Ausdruck, während er am Ständer des Kaminbestecks neben sich die mitgebrachte Bierflasche öffnete, was der Schürhaken mit einem vorwurfsvollen Klappern kommentierte. Nach ein paar durstigen Schlucken wischte er sich mit dem Handrücken über die Lippen und begann seinen Bericht.


Er lehnte am Kotflügel seines SUV und wartete auf die beiden "S", die das Triple-S vervollständigen würden. Tariq wollte, dass sie das Schloss erkundeten. Einfach nur herausfanden, ob sich Rayan ständig dort aufhielt und ob in dem baufälligen Gebäude noch etwas anderes zu finden war. Wonach konkret sie suchen sollten, darüber hatte der Chef nichts gesagt.

Es war heller Nachmittag. Falls sich jemand dort aufhielt, würde er sie mit Sicherheit bemerken, wenn sie dort herumschlichen. Sie hatten deshalb zuerst erwogen, als Liebhaber sogenannter "abandoned places" aufzutreten. Fototouristen, die oft mithilfe lebensgefährlicher Kletter­touren verlassene Gebäude erkundeten. Das Schloss lud förmlich dazu ein.

Aber dann hatten sie sich doch für die Einsatzmontur entschieden. Bloß diesmal nicht schwarz, wie gewohnt, sondern Flecktarn.

Schritte wurden hörbar und er hob den Kopf. Sie kamen. Senad trug wie immer seinen Laptop im Rucksack. Ohne das Teil fühlte er sich fast nackt und es hatte ihnen schon wertvolle Dienste geleistet.

Er sah belustigt, wie Shujaa, der neben dem grünen Guardian lief, grinsend den Daumen hochreckte. Dass er trotz Trainingsverbot dabei sein konnte, verdankte er ihm. Er hatte das Vorhaben ganz klar als eine Observierung bezeichnet, was den Doc zähneknirschend nachgeben ließ. Dass der rote Guardian wie immer seinen Klappbogen samt Köcher in der Weste hatte, wusste er ja nicht.

Shujaas Aufgabe war es, nach Möglichkeit alle Räume zu scannen und eventuell anwesende Personen im Auge zu behalten. Es würde nicht leicht werden, denn der rote Guardian konnte seine Fähigkeit nicht permanent anwenden. Sie verursachte starke Kopfschmerzen bis hin zu Sehstörungen, wenn er sie zu oft oder zu lange nutzte. Zwar besserte sich das nach ein paar Stunden wieder, aber gerade heute konnten sie sich das nicht leisten.

Als sie nach zehnminütiger Fahrt die löchrige Zufahrtsstraße hinter sich gelassen hatten und das Schloss vor ihnen zwischen den Bäumen auftauchte, suchte Sadik einen Platz, um den Wagen zu parken. Den Rest der Strecke würden sie zu Fuß gehen. Der Plan war die Mauer zu überwinden und sich dann auf dem verwilderten Grundstück durch die Büsche zu schlagen. Am Tor gab es mit Sicherheit eine Kamera oder einen Bewegungsmelder, der sie nicht erfassen durfte.

Die Mauer war schnell überklettert, wobei Shujaa wegen seiner Verletzung ein bisschen Hilfe brauchte. Rasch duckten sie sich danach zwischen das mannshoch wuchernde Unkraut. Shujaa bekam Zeit, das Gelände zu scannen. Währenddessen ließ Sadik den Blick ruhig und konzentriert durch das hohe Gras schweifen. Jedes Detail in der gesamten Umgebung musterte er kritisch.

Ein paar Meter links von ihnen konnte er den Eingang sehen. Das große, schmiedeeiserne Tor hing verrostet und schief in den Angeln. Es war mit einer Kette gesichert und halb geschlossen. Efeu hatte sich um die geschmiedeten Stäbe gewunden, als wollte er das Tor in dieser Position unverrückbar fesseln. Brennnesseln und Brombeeren eroberten sich den breiten, geschwungenen Weg zurück, der zu dem wuchtigen Hauptgebäude hinaufführte, und kletterten an der steinernen Brüstung der großen Terrasse hinauf.

Das Tor war definitiv kein von Fahrzeugen genutzter Eingang. Alles schien verlassen und wirkte, als hätte seit Jahrzehnten kein Mensch das Areal betreten.

Shujaa war fertig mit dem Scan. Auf den besorgten Blick von Sadik konnte er beruhigend nicken. "Niemand da", flüsterte er, "keine Menschenseele im Gebäude."

Zweifelnd sah der Trainer ihn an. "Keiner drin?", vergewisserte er sich. "Das kann doch nicht sein."

"Ich kann niemand wahrnehmen." Shujaa hob lediglich die Schultern.

Sadik beschloss, das erstmal zu ignorieren und trotzdem unsichtbar zu bleiben. Wo würde ich die nächste Kamera installieren, überlegte er. Welchen Bereich müsste sie erfassen? Die lange, sanft geschwungene Auffahrt selbstverständlich und die war ideal einsehbar von dem trockenen Springbrunnen aus, der sich auf dem Platz vor der Freitreppe befand.

"In Ordnung. So schnell wie möglich zum Gebäude hinüber. Nutzt jede Deckung. Und haltet euch von dem Brunnen fern."

Zwei hochgereckte Daumen, dann verriet kaum hörbares Rascheln, dass sich die beiden Guardians entfernten. Nur Sekunden später standen alle drei leicht außer Atem mit dem Rücken an die Wand des großen Gebäudes gepresst.

Sadik musterte die steinerne Brunnenfigur. Es war eine Frau, die einen großen, steinernen Krug unter dem Arm hatte, aus dem in früheren Zeiten unentwegt Wasser in das Becken geplätschert sein musste. Heute war es lediglich mit trockenen Blättern und Moos gefüllt. Eine Kamera konnte er nicht entdecken.

"Wartet noch." Sadik hielt Senad am Arm zurück, spähte um den Mauervorsprung und ließ seinen Blick prüfend über die Nische mit dem großen, eichenen Eingangsportal wandern. Wenn dort auch eine Kamera angebracht war, dann konnte sie den Platz vor der Freitreppe samt dem Brunnen perfekt einsehen. Er zögerte, durch diese Tür zu gehen.

"Wir umrunden das Schloss einmal", verkündete er entschlossen. "Vielleicht finden wir einen zweiten Eingang. Auf geht's!"

Zehn Minuten später waren sie auf der anderen Seite der breiten Portal-Nische wieder angekommen. Sie hatten eine Runde um das Gebäude gemacht und zwei weitere Eingänge gefunden. Vor der doppelflügeligen Terassentür, deren kleine Scheiben als Glassplitter überall auf dem Boden verteilt waren, hatte jedoch jemand ein massives Gitter angebracht. Und der Wirtschaftseingang auf der Rückseite des Schlosses war gesichert wie Fort Knox und definitiv nur von innen zu öffnen. Allerdings konnten sie da Reifenspuren entdecken, die hineinführten und so verrieten, dass das Gebäude doch nicht so verlassen war, wie es den Anschein erweckte.

"Shujaa, was liegt hinter dem Portal?", fragte Sadik leise.

"Ein ziemlich großer Raum, eine Art Foyer. Gegenüber dem Eingang eine Treppe und dann noch zwei, drei ... nein, vier angrenzende Räume. Zwei links von ihr, zwei rechts. Immer noch niemand zu sehen."

Sadik nickte zufrieden. Noch einmal flog sein prüfender Blick über den Türbereich. Es war tatsächlich keine Kamera zu entdecken. Alles wirkte komplett verlassen.

Hintereinander schoben sich die beiden Guardians auf Sadiks Wink hin durch das leise knarrende Eichenportal und blieben drinnen mit dem Rücken zur Wand stehen. Sadik, der zuletzt eintrat, schloss die Tür, obwohl ihre Augen sich nun an die vorherrschende Düsternis zu gewöhnen hatten.

Aufmerksam musterten alle drei das große Foyer und lauschten angestrengt. Das wenige vorherrschende Licht kam von einem kleinen runden Bleiglasfenster über dem Portal. Von dort oben ließ die tiefstehende Sonne ihre letzten Strahlen als einen leuchtenden Balken schräg auf die breite Treppe fallen, die sich gegenüber vom Eingang zwischen zwei mächtigen Säulen erhob.

Eingefasst von einem steinernen Geländer führte sie hinauf auf eine Galerie, die in Höhe der ersten Etage das Foyer umlief. Umlaufen hatte, denn sie war fast vollständig herabgestürzt und hatte die Stufen und den Boden der Eingangshalle mit großen Trümmerbrocken übersät. Die beiden dicken Säulen und die Treppe selbst waren jedoch gut erhalten.

Was sich da oben befand, würden sie später erkunden. Zuerst mussten sie sich hier unten genau umsehen, um keine unangenehmen Überraschungen zu erleben. Bis auf die Treppe und die herabgestürzten Reste der Galerie war das Foyer völlig leer.

Sadiks geübter Blick suchte erneut nach Kameras und wieder entdeckte er keine. Mit einem Wink signalisierte er den beiden Guardians ihm zu folgen und schlich zu der ersten Tür auf der linken Seite der Treppe. Es war eine Holztür mit abblätternder Farbe und verrosteter Klinke. Vorsichtig drückte er sie nieder in der Erwartung, dass sie knarren oder quietschen würde.

Es blieb still. Doch bevor er sie öffnete, stutzte er.

"Sagtest du nicht, es seien zwei Räume links?", flüsterte er zu Shujaa, der neben ihm war. Als keine Antwort kam, wandte er den Kopf und sah, dass der Gefragte mit gerunzelter Stirn und geschlossenen Augen dastand. Dann öffnete er sie und fixierte die Wand neben der Holztür. Tastend ließ er seine Hände darüber gleiten.

"Was ist?", fragte Sadik alarmiert.

"Das muss eine fake-Wand sein", war die ebenso leise Antwort. "Dahinter beginnt ein Gang."

"Eine Geheimtür!", flüsterte Senad. "Und sie ist außerordentlich gut gemacht." Auch seine Finger wanderten prüfend über die raue Mauer und klopften probehalber an verschiedenen Stellen. "Man sieht tatsächlich nichts! Genial ..." Mit der Schulter dagegen zu rammen brachte nichts. Es war eine massive Mauer.

"Dann lasst uns mal nach dem Öffnungs-Mechanismus suchen", meinte Sadik, zog seine kleine Taschenlampe heraus und ließ den Lichtstrahl langsam über die Wand gleiten. Doch auch er konnte nichts finden. Kurz überlegte er, dann ging er in den benachbarten Raum, den er vorhin gerade hatte betreten wollen.

Die Tür öffnete sich wider Erwarten lautlos, als Sadik jetzt erneut vorsichtig die Klinke herunterdrückte. Langsam schob er den Kopf hindurch und blieb lauschend stehen. Als er nichts hörte, trat er ein und die beiden Guardians folgten.

Außer Spinnweben, uralten, wurmstichigen Schränken und Bergen von leeren Kisten fanden sie nichts Interessantes. Auf den ersten Blick.

Aber Sadik wusste, wo er suchen musste und er brauchte nicht lange. Hinter einem Stapel aus Kisten und einem losen Brett an der Wand war das Tastaturfeld versteckt. Er winkte Senad näher und deutete auf die Ecke, wobei er gleichzeitig zurücktrat, um dem grünen Guardian Platz zu machen.

Der zerrte schon beim Laufen seinen Laptop aus dem Rucksack, kniete sich in die Ecke hinter den Kistenstapel und warf ihn an.

"Schau vorher mal auf der Karte nach, wo die Zufahrt zum Wirt­schaftseingang beginnt", verlangte Sadik.

Senad nickte. "An der kleinen Straße, die weiter nördlich in die B nach Penrith mündet."

Das war also der Zugang für Fahrzeuge. Die Reifenspuren bewiesen es. Sadik nickte zufrieden und der grüne Guardian begann mit der Entschlüsselung.

Den Verriegelungscode aus acht Ziffern zu knacken dauerte eine Weile. Senad legte die Stirn in Falten und presste konzentriert die Lippen zusammen. Während sein Blick ungeduldig den Bildschirm fixierte, rasten in für das Auge nicht nachvollziehbarem, wahnwitzigem Tempo Millionen und Abermillionen Zahlenkombinationen über den Bildschirm. Nach sieben endlos langen Minuten war es geschafft. Er vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter beim Chef, dass er den ermittelten Code eintippen sollte.

Ein leises Schaben aus dem Foyer und ein anerkennendes Pfeifen von Shujaa, der noch dort stand, zeigten ihm, dass der geheime Zugang sich öffnete. Zufrieden grinsend verstaute er den Laptop wieder in seinem Rucksack und verließ hinter Sadik den Raum.

Wieder im Foyer stehend, konnten sie in einen Gang sehen, den der verborgene Eingang freigegeben hatte. Ein paar Stufen führten hinab ins Dunkle.

"Kannst du nochmal scannen?", fragte Sadik leise.

Shujaa, dem die Frage gegolten hatte, wiegte den Kopf. "Ich brauche eine Weile zwischen zwei Scans, das weißt du. Und wir haben noch keine Ahnung, was da unten auf uns wartet."

Sadik nickte. Der Guardian hatte recht. Er musste vorsichtig sein. Seine Energiemenge war begrenzt und außerdem schadete ihm das zu häufige Anwenden seiner Gabe.

Lauschend schob er den Kopf in die Öffnung. Es war nichts zu hören. Kein Geräusch.

Vorsichtig stieg er die Stufen hinab und die beiden jungen Männer folgten ihm. Mit jeder Stufe, die er hinter sich brachte, verstärkte sich das mulmige Gefühl in seinem Bauch. Er konnte nicht sagen, was es war, und er vertraute Shujaas Gabe. Trotzdem holte er seine Glock hervor. Die Geräusche hinter ihm zeigten, dass auch die beiden Guardians sofort ihre Waffen zogen. Er hörte das metallische Knirschen des Sicherungshahnes von Senads Glock und das Knacken, das Shujaas Bogen verursachte, wenn der dunkelhäutige Guardian ihn mit wenigen Handgriffen ausklappte und einsatzbereit machte.

Vor ihnen lag ein langer Gang, an dessen Decke in größeren Abständen kleine Lampen gegen die Dunkelheit ankämpften. Sie spendeten nur trübes Licht, aber es war gut, zu sehen, dass es hier unten Strom gab. Strom, der ja auch die elektronische Verriegelung der Geheimtür erst ermöglicht hatte.

Irgendetwas Interessantes musste in dem Keller sein, denn umsonst würde sich keiner die Mühe machen, den Zugang so perfekt zu sichern.

Ein muffiger Geruch drang ihnen in die Nase, aber sowohl der Boden als auch die Wände und die Decke waren sauber und trocken.

Vorsichtig folgten sie dem Gang und kamen an eine Kreuzung. Hier teilten sie sich auf und schalteten die Headsets ein, um in Verbindung bleiben zu können. Senad ging nach links, Shujaa nach rechts und Sadik lief weiter geradeaus. Vorher scannte Shujaa noch einmal kurz, fand aber keine Personen.

Eine halbe Stunde später hatten sie fast den gesamten Keller durchforstet und nichts Verdächtiges oder Interessantes gefunden. Ein großes, unübersichtliches Areal aus Gängen und Räumen. Von Letzteren gab es unzählige, teils leer, teils als Lager genutzt. Drei von ihnen waren so groß, dass ihr Gewölbe auf runden Säulen ruhte.

Eine Metalltür ganz im Süden des Kellers setzte ihrer Erkundungstour ein Ende. Sadik hatte sie vorsichtig geöffnet und nach dem Hineinspähen geistesgegenwärtig den Kopf zurückgerissen. Er hoffte, dass es noch rechtzeitig geschehen war. In dem kurzen Augenblick konnte er nur in der Mitte des weiß getünchten und hell ausgeleuchteten Quer-Korridors eine ebenfalls schneeweiße Tür erkennen und ganz am anderen Ende eine Kamera. Zu mehr war keine Zeit gewesen. Es stand zu befürchten, dass ihn die Kamera erfasst hatte. Schließlich war ihr schwarzes Auge direkt auf die Tür gerichtet.

"Shujaa, kannst noch einmal scannen oder brauchst du noch etwas Zeit zum Erholen?", flüsterte er.

"Geht schon."

"Na dann - was ist hinter diesem Korridor", sein Daumen deutete über die Schulter, "und der Tür, die da drin ist?"

Der rote Guardian nickte und schloss, ohne zu zögern, die Augen. "Kann ich nicht sehen", verkündete er gleich darauf verblüfft.

Das ließ Sadiks Alarmglocken schrillen. "Aber dahinter ist etwas, oder?", vergewisserte er sich.

"Definitiv", gab der rote Guardian zurück. "Das heißt, da ist sicher etwas, aber ich kann es eben nicht sehen."

"Woher weißt du dann, dass etwas da ist?", fragte Senad.

"Weil mein Sichtfeld in dem Bereich rabenschwarz ist. Keine Linien, keine Schattierungen und schon gar keine leuchtenden Punkte für Personen. Einfach nichts. Selbst Erdreich und Felsmasse haben irgendwelche Strukturen, die ich wahrnehmen kann. Aber hinter dieser Wand ist einfach nur - Schwärze. Mein Scan dringt nicht durch. " Er hob bedauernd die Schultern.

"Lasst mich mal einen groben Grundriss erstellen", schlug Senad vor. "Ich finde mich in diesem Labyrinth hier fast nicht mehr zurecht."

Als Sadik nickte, zog er den Laptop hervor und begann. Es dauerte nicht lange und sie hatten eine grobe Übersicht auf dem Bildschirm. Der weiße Korridor war die südliche Begrenzung. Wahrscheinlich reichte er von West nach Ost über die gesamte Breite des Kellers.

Seit dieser verborgenen Tür war die Kamera die einzige Sicherungsvorrichtung, die sie entdeckt hatten. Sadik realisierte, dass über diesen Korridor der Zugang erfolgen musste zu etwas, was hier unten verborgen war. Hatte Tariq so etwas vermutet und sie deshalb hergeschickt? Wusste er vielleicht längst, dass es hier etwas gab?

"Dieser Eingang, den wir vorhin bei der Umrundung gefunden haben und der sich nur von innen öffnen lässt, führt dort hinein." Shujaas Finger tippte auf den Bereich, den Senad schwarz schraffiert hatte. "Und hier", sein Finger malte ein Karree auf den Bildschirm", ist der schwarze Bereich. Genau zwischen den beiden Türen."

Grübelnd kratzte sich Sadik am Kinn. "Gut", meinte er, doch es klang nicht zufrieden. "Dann machen wir hier erstmal Schluss. Soll Tariq entscheiden, was er mit den Infos anfängt. Wir fassen nichts weiter an. Es reicht, dass die Kamera hier mich wahrscheinlich gesehen hat. Wer auch immer sie installierte, müsste nun alarmiert sein, denn er weiß, dass jemand hier unten war und damit das Codeschloss an der versteckten Tür geknackt hat. Hast du dir den Zahlencode gemerkt?"

Senad, dem die Frage galt, nickte zwar, winkte aber ab. "Der wird hundertprozentig geändert sein, falls wir nochmal hierherkommen sollten. Das würde ich jedenfalls tun, wenn es mein Codeschloss wäre."

"Gut. Dann verschwinden wir jetzt von hier." Sadik erhob sich aus seiner kauernden Position und sah zu, wie Senad den Laptop verstaute. "Schade, dass Imara uns bei solchen Erkundungen nicht begleiten kann. Sie wäre eine unschätzbare Hilfe."

Shujaa, der vorausging, sah über die Schulter. "Sie ist kein Guardian", gab er zu bedenken. "Und wenn ihr was passieren würde, reißt Tariq dir den Kopf ab, da kannst du sicher sein."

Sadik winkte ab. "Wenn ich mal ganz viel Mut habe, frage ich ihn, was er davon hält."

Bevor sie ins Freie traten, vergewisserte sich Shujaa auf sein Geheiß hin noch einmal, ob die Luft rein war. Ein beruhigendes Nicken ließ ihn erleichtert aufatmen. "Den gleichen Weg zurück. Treffpunkt am Auto. Auf geht's!"


"Im Keller des Schlosses ist also irgendetwas versteckt", schloss Sadik seinen Bericht. "Und es scheint jemandem sehr wichtig zu sein, dass das auch so bleibt. Den verborgenen Eingang hätten wir ohne Shujaas Gabe gar nicht gefunden und Senad hat geschlagene sieben Minuten benötigt, um den Code der Geheimtür zu knacken. Aber ihm und seinem Laptop hat ja bisher noch kein elektronisches Schloss widerstehen können." Hier nickte er dem grünen Guardian anerkennend zu. "Wir haben uns dann jedoch nicht mehr getraut, uns noch ein wenig im Rest des Schlosses umzusehen. Die Gefahr, dass jemand auftauchen würde, war mir einfach zu groß." Er setzte sein Bier an und ließ den letzten Rest des gekühlten Getränks seine Kehle hinab gluckern.

Eine Weile war nur das leise Klappern der Laptoptasten zu hören. Tiana, die sich bemühte alles mitzuschreiben, pustete sich ungeduldig eine Strähne ihres langen, kastanienbraunen Haares aus der Stirn, die ihr immer wieder in die Augen fiel. Schließlich schob sie sie mit einer unwirschen Handbewe­gung hinter das Ohr.

"Und es war wirklich niemand dort?", vergewisserte sich Tariq noch einmal.

Sadik schüttelte den Kopf. "Shujaa hat mehrere Male gescannt", meinte er entschieden. "Wenn sich tatsächlich Leute da aufhalten sollten, dann müssen sie sich in dem schwarzen Bereich befinden, weil diese Wand für seine Fähigkeit ein undurchdringliches Hindernis bietet." Er musterte den neben ihm sitzenden roten Guardian kurz. Der schien wegen dieser Sache ziemlich frustriert zu sein, denn sein finsteres Gesicht sprach Bände.

"Ich hätte den zweiten Ausgang an der Rückseite des Schlosses noch einmal überprüfen sollen, bevor wir wieder abgehauen sind", knurrte Shujaa ärgerlich und rieb sich verstohlen die Schläfen. "Nur um zu erfahren, ob auch diese Wand undurchdringlich für mich ist."

"Du hast deine Gabe oft genug eingesetzt", mahnte Sadik und musterte ihn prüfend. "Ich wette, du merkst es jetzt selbst". Dann sah er den Chef an. "Was vermutest du in diesem Schloss, Tariq, oder besser gesagt - wen?"

"Wir müssen davon ausgehen, dass Rayan nicht nur dieses eine Mal dort gewesen ist", meinte der und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

"Rayan? Was sollte er dort wollen?" Senad schüttelte den Kopf.

"Ich habe da so eine Ahnung", konterte Tariq und die Ruhe, mit der er das verkündete, ließ die anderen vermuten, dass er mehr wusste, als er preisgab. "Doch dazu später. Zuerst müssen wir zusammentragen, was wir über die Leute wissen, mit denen er sich umgibt."

"Na da war zuerst mal dieser große rothaarige Kerl", erklärte Senad mit einem unbehaglichen Seitenblick auf Koll. "Mit dem hatten wir gestern zu tun."

Tariq nickte. Er erinnerte sich an den Mann auf der Treppe im Foyer. Grüne Energiegeschosse, riesenhafte Statur.

"Und eine Kampfamazone mit der Ananasfrisur, den Springerstiefeln und der Tarnhose", fuhr Trajan fort.

Hennak feixte. Er hatte sie nicht gesehen, aber der trockene Kommentar des Freundes ließ ein Bild dieses Mädchens in seinem Kopf entstehen. Man konnte dem roten Guardian ansehen, dass er es bedauerte, besagter Amazone nicht selbst begegnet zu sein.

"Richtig, das Mädchen mit den Dreadlocks", bestätigte Tariq und nickte zu der Beschreibung, "eher ein zierliches Persön­chen, das eine Bullenpeitsche dabeihatte. Ungewöhnliche Waffe für eine Frau ... "

"Sie war unsere Gegnerin", seufzte Tiana.

"Du kannst dir dein Grinsen sparen, Hennak", knurrte Trajan mit einem Seitenblick auf den blonden Gefährten. "Ich weiß genau, was du denkst, aber glaub mir, sie hätte dich zum Frühstück verspeist."

"Ach? Aber ihr zwei habt sie kleingekriegt, ja?", war die fast höhnische Antwort.

"Nein und das hättet ihr auch nicht", giftete Tiana, die sich durch diese offensichtliche Provokation genötigt fühlte ihren Bruder zu verteidigen.

"Das käme auf den Versuch an", konnte Hennak noch kontern, bevor ihn Sadiks mahnender Blick verstummen ließ.

"Vielleicht können wir beim Thema bleiben", ließ sich der Chef nun vernehmen. Er musste seine Stimme nicht erheben, ja nicht einmal aufblicken, um zu erreichen, dass die beiden Kampfhähne von ihrem Imponiergehabe abließen.

Der rote Guardian schoss noch einen wütenden Blick in Richtung des Geschwisterpaares, dann bemerkte er Shujaas beschwichtigende Geste und schwieg.

"Dann noch Ahmads Bruder", erinnerte sich Senad. "Und eure Gegner." Bei diesen Worten sah er Hennak vielsagend an, der ja schon bestätigt hatte, dass die beiden gut gewesen waren.

"Der Riese und die Amazone sind Energienutzer, hat Tariq heute Morgen erzählt", warf Sadik ein und sah den Chef an.

Der runzelte die Stirn. "Richtig", bestätigte er, "und ich fürchte, wir müssen bei Ahmads Bruder ebenfalls davon ausgehen."

"Der Riese hat auch eine beeindruckende Schusswaffe. Hab sie nicht erkennen können, aber es ist ein ziemlich großes Kaliber", ergänzte Koll, denn das hatte er schließlich schmerzvoll erfahren müssen.

"Die Waffen der beiden anderen kennen wir ebenfalls", ließ sich Shujaa nun vernehmen. "Der eine hat einen Doppelspeer, den er auch sehr effektiv als Kampfstab einsetzt, und der zweite hat ein rundes Wurfmesser. Durchmesser etwa vierzig bis fünfzig Zentimeter, irgendwie eine Kombination aus Riesen-Frisbee, Schild und Bumerang. Ist schwer beizukommen, dem Ding." Unbewusst wanderte seine Hand an den Oberarm, wo die durch die Luft schwirrende Waffe ihn erwischt und dabei eine ziemlich schmerzhafte und hässliche Schramme hinterlassen hatte. Nur Hennaks Warnruf war es zu verdanken gewesen, dass er sich rechtzeitig weggedreht und so verhindert hatte, dass sie sich in seine Brust grub.

"Klingt nach einem Chakram", murmelte Gazanfer vor sich hin. Sadiks älterer Bruder ließ sich selten hören in den Besprechungen, obwohl er als Lehrer und Ausbilder immer mit dabei war. Der verschlossen wirkende Mann mit den langen Haaren und der großen Narbe im Gesicht schien stets nur zu lauschen und sich seinen Teil zu den Ausführungen zu denken. Trotz seiner finsteren Miene und seiner Sparsamkeit beim Lächeln mochten ihn die Guardians ausnahmslos.

"Tiana, hast du das alles?", fragte der Chef.

Sie nickte. "Ein großer rothaariger Energienutzer mit Schusswaffe, eine Energienutzerin mit einer Peitsche. Ahmads Bruder und zwei Mann mit ungewöhnlichen Waffen."

"Also gehen wir von fünf Leuten aus, mit denen Rayan sich umgibt. Was haben wir noch?"

"Eigentlich nichts", meinte Sadik und es klang unzufrieden. "Wir waren nur im Keller und dort haben wir keine benutzten Räume finden können. Ein bisschen Müll in den Ecken von irgendwelchen Besuchern, ja, aber außer diesem schwarzen Areal nichts, was darauf hindeutet, dass sich Menschen dauerhaft dort aufhalten. Alles wirkt komplett verlassen."

"Das ist nicht wirklich berauschend", seufzte Tariq. "Ich hatte mir mehr erhofft. Irgendetwas geht da unten vor sich und wenn es so gut versteckt und gesichert ist, scheint es nichts Gutes zu sein. Deshalb werde ich einen Plan erarbeiten. Keine Ahnung, wie lange ich dazu brauche, aber wir werden da reingehen. Ich will wissen, was in dem Keller verborgen ist. Durchaus möglich, dass es eine Nummer zu groß für uns wird. Momentan jedenfalls, doch das kann man ändern."

Eine Weile schwiegen alle. Das Schloss mit seinem selbst für Shujaa nicht einsehbaren Keller beschäftigte die Gedanken der Guardians und ihre Fantasie trieb teils recht bunte Blüten.

"Wie geht es denn Ahmad?" fragte Tiana jetzt etwas zaghaft in die Stille hinein. Schnell senkte sie den Kopf, als sie merkte, wie sie rot wurde.

"Keine Veränderung", antwortete Tariq kopfschüttelnd. "Und Issam hat noch nicht herausfinden können, woran das liegt."

Einen kleinen Stich versetzte es ihm, dass er den jungen Leuten nicht die Wahrheit sagte. Aber da sogar sein Freund selbst noch nicht aufgegeben hatte, erschien es ihm einfach zu früh, ihnen alle Hoffnung zu nehmen. Vielleicht geschah ja doch ein Wunder ...

Völlig unvermittelt wandte er sich an Yonas. "Hast du dein Handy dabei?", fragte er übergangslos.

Yonas nickte, verwundert über die Frage.

"Gut." Tariq lehnte sich zurück. "Dann geh bitte in die Klinik und löse Tanyel ab. Er soll mit den anderen jetzt kommen, er weiß schon Bescheid. Wenn irgendetwas ist, rufst du einfach an."

Zögernd und mit einem raschen Seitenblick auf Trajan erhob sich Yonas und verschwand.

Der blaue Guardian war enttäuscht. Lieber wäre er an Yonas' Stelle gegangen. Doch Tariq hatte so entschieden und er musste sich fügen, wenn auch widerwillig.

Nachdem Tanyel gekommen war und auch den Doc, Imara und ihre Schwester Tamira mitgebracht hatte, stand der Hausherr auf. Kurz wartete er noch, bis alle einen Platz gefunden hatten, dann gab er Tiana mit einer Geste zu verstehen, dass sie nicht mitzuschreiben brauchte.

"Ich habe euch nicht nur wegen der Besprechung des gestrigen Einsatzes hergebeten, sondern auch, weil es ein paar Dinge gibt, von denen ich denke, dass ihr sie nun erfahren solltet", begann er. Es schien, als suche er nach den richtigen Worten, als fiele es ihm schwer, über das nun Folgende zu reden.

"Ich kenne Mato Rayan seit meiner Jugend."

Er sah erschrockene, fassungslose Mienen vor sich und hörte unterdrücktes Flüstern, halblautes Murmeln, Füßescharren. Dass seine Zuhörer überrascht sein würden, wenn er dies verkündete, war ihm vorher klar gewesen. Ohne Gelegenheit für etwaige Zwischenfragen zu geben, sprach er weiter. "Und wir haben eine gemeinsame Vergangenheit. Eine Zeit, auf die ich nicht stolz bin." An der Stelle tauschte er kurz einen Blick mit Tanyel.

"Wir hatten ein gemeinsames Labor", fuhr er fort, als es wieder ruhig geworden war. "Wir - das waren drei Männer. Mato Rayan, ich und ein Dritter namens Aharon."

Wieder wartete er, bis das neue Flüstern unter seinen Zuhörern verstummte. Nach wenigen Augenblicken kehrte Stille ein und er sprach weiter.

"Damals studierten wir gemeinsam an der medizinischen Fakultät. Kennengelernt hatten wir uns, weil wir nach den Vorlesungen nicht sofort nach Hause, sondern meist direkt vom Hörsaal ins Labor gingen. Wir teilten nicht nur die unstillbare Neugier und den immensen Wissensdurst, sondern auch unsere ehrgeizigen Pläne in Bezug auf unsere Zukunft ähnelten sich. Alle drei absolvierten wir nach dem Medizinstudium noch andere Studiengänge. Bei mir waren es Chemie und Biologie, hier mit dem Schwerpunkt Pharmazie. Aharon richtete sein Interesse auf die Physik mit Schwerpunkt Energie und Mato intensivierte seine Forschungen auf medizinischem Gebiet, besonders bei der Genetik. Wir hatten schließlich viel vor, denn unser Ziel war es, diese besonderen Fähigkeiten zu erforschen, die zu dieser Zeit plötzlich überall auf der Erde auftauchten. Wie es der Zufall wollte, war jeder von uns ein Energienutzer. Wandler gab es damals noch nicht."

Erneut musste er sich unterbrechen, weil Getuschel aufkam. Doch er wirkte nicht verärgert, im Gegenteil, er schien es eingeplant zu haben.

"Du bist Arzt, Tariq?"

Tiana hatte die Frage ausgesprochen, die sich nach dieser unerwarteten Eröffnung wohl alle gestellt hatten.

"Ich habe das Studium abgeschlossen und auch promoviert, aber niemals praktiziert. Den Abschluss brauchte ich für meine Forschungen. Außerdem hatte ich eine interessante Stelle im Familienunternehmen in Aussicht. Darum machte ich meinen Doktor in Naturwissenschaften und begann bei GenMed in der Forschungsabteilung zu arbeiten."

Seine Zuhörer schwiegen beeindruckt. GenMed war die gängige Abkürzung für Genera Medical Developments, den riesigen Pharma-Konzern, den Tariqs Familie aufgebaut hatte und den er inzwischen leitete.

"Da wir alle drei aus sehr wohlhabenden Familien stammten, war es uns möglich, einen alten und leerstehenden unterirdi­schen Militärkomplex zu erwerben und ein hochmodernes Labor darin einzurichten", fuhr er jetzt fort. "Neben dem eigentlichen Ziel spezialisierte sich jeder von uns auf ein bestimmtes Forschungsgebiet beim menschlichen Körper. Ich wollte herausfinden, wie man den Alterungsprozess bremsen und so das Leben verlängern könnte. Aharon forschte im Gebiet der Reizleitung und Energieströme, um den Verlust von Nervenzellen zu kompensieren, und Mato, der Intelligenteste von uns, konzentrierte seine Arbeit auf die Regenerationsfähigkeit von Zellen.

Ich verließ GenMed bald darauf, obwohl mein Vater damit drohte mich zu enterben. Lange Zeit arbeiteten wir drei einträchtig zusammen. Wir teilten unsere Erkenntnisse und freuten uns über die Erfolge der anderen. Meistens führten wir unsere Versuche aneinander durch, um die Ergebnisse gemeinsam auswerten zu können. Das war zwar verboten, aber unsere Mitarbeiter waren handverlesen und absolut vertrauenswürdig. Außer ihnen und uns selbst erfuhr es keiner. Jeder noch so kleine Fortschritt wurde miteinander besprochen. Es gab keine Geheimnisse unter uns. Wir veröffentlichten in regelmäßigen Abständen Publikationen und hielten Vorträge.

Doch uns fehlten oft die Beweise, die wir ja nur mittels Selbstversuch hätten vorlegen können. Mit den Jahren wurden deshalb die Auftritte in der Öffentlichkeit immer seltener. Keiner von uns hatte bis dahin geheiratet und unser Leben spielte sich fast ausschließlich unter der Erde ab. Wir begruben uns selbst und wir waren zufrieden damit. Mein Vater war nicht glücklich über die Situation. Er wollte die Leitung des Unternehmens an ..." Tariq unterbrach sich und holte tief Luft. "Er wollte sie abgeben. Doch ich war nicht der, der dafür in Frage kam. Mein älterer Bruder war der Erbe und damit der nächste Firmeneigner, da mein Vater nicht plante, sein Lebenswerk aufzuteilen. Mir war das nur recht. So konnte ich mich ganz auf meine Forschungen konzentrieren."

Tariq nahm einen Schluck Wasser aus seinem Glas und musterte dabei verstohlen seine Zuhörer. Sie lauschten alle, teils mit offenem Mund sogar. Keiner hatte gewusst, dass der Hausherr einen älteren Bruder hatte.

"Doch nach ein paar Jahren begannen die Ansichten von uns dreien auseinanderzugehen. Unser Verhältnis zueinander veränderte sich", fuhr er fort und ein bitterer Unterton schlich sich in seine Stimme. "Ich wollte weiter am lebenden Organismus forschen und verwendete Ratten und andere Kleinsäuger, peinlich darauf bedacht, im legalen Bereich zu bleiben. Mato aber begann sich plötzlich von uns zu separie­ren und seinen Laborkomplex abzuschotten. Er ließ unsere gemeinsamen Mitarbeiter nicht mehr bei sich arbeiten, meinte, sie würden seinen Anforderungen nicht entsprechen. Dafür stellte er eigene Helfer ein. Einige, die ihm wirklich nur bei seiner Arbeit assistierten. Das war nicht ungewöhnlich, wir hatten ja auch unsere Assistenten. Aber er engagierte auch einige, deren Aufgabe es lediglich war, uns und unsere Mitarbeiter am Betreten seines Bereiches zu hindern. Sicher sehr gut bezahlte und deshalb verschwie­gene, loyale Männer. Wir begegneten ihnen nur selten, denn Mato arbeitete vornehmlich nachts. Und sie redeten nicht mit unseren Mitarbeitern. So kamen immer mehr seltsame Dinge zusammen. Aharon und ich versuchten uns einzureden, dass er bestimmt nichts Illegales tun würde. Lange Wochen lebten und arbeiteten wir so nebeneinander, ohne zu wissen, was er tat hinter seinen verschlossenen Türen. Nach seinen Forschungsergebnissen gefragt, hatte er uns immer nur mit nichtssagenden Floskeln abgespeist.

Schließlich konnte ich mein Misstrauen nicht mehr länger ignorieren und ich begann ihn zu beobachten. Mehrmals hatte ich schon versucht, in seinen Bereich hineinzukom­men, doch die Sicherungsanlagen, die er hatte einbauen lassen, waren einfach nicht zu überwinden, ohne Aufsehen zu erregen. Es gab für mich keinen Zutritt. Mir war unbe­greiflich, wie er das alles unbemerkt von Aharon und mir installieren konnte. Jeder Versuch, vernünftig mit Mato zu sprechen, endete immer mit derselben Antwort: Es gäbe für jeden von uns einen Bereich im Labor. Und in seinem Bereich hätten wir beide ab sofort keinen Zutritt mehr."

Tariq war wieder ans Fenster getreten und sah hinaus. Die Fingerknöchel seiner Hand, die das Wasserglas hielt, traten weiß hervor, so fest umklammerte er es. Die Umsitzenden lauschten atemlos.

"Der Zufall kam mir schließlich zu Hilfe. Eines Tages war ich auf dem Weg in einen meiner Lagerräume, als mir plötzlich ein Junge in die Arme stolperte. Er schien nicht älter als dreizehn oder vierzehn Jahre zu sein, hatte Panik im Blick, Klebeband über dem Mund und auf dem Rücken gefesselte Hände. Nachdem ich ihn davon befreit hatte, schlug er sofort auf mich ein und schaute sich dabei immer wieder gehetzt um. Ich packte ihn am Kragen, herrschte ihn an sich zu beruhigen und schob den heftig Widerstrebenden vor mir her. Erst nach ein paar Schritten hörte der Junge auf sich zu wehren und ließ es schluchzend geschehen. Ich bugsierte ihn in einen meiner eigenen Lagerräume und fragte ihn leise, wie er hierherkam.

Er erzählte stockend und mit vielen Pausen, dass er auf seinem Schulweg in ein Lieferauto gezerrt worden war, in dem sich schon zwei andere, jüngere Kinder befanden. Sie waren gefesselt gewesen und den Mund hatte man ihnen mit Klebeband verschlossen. Er war sich sicher, dass es ihnen genauso ergangen war wie ihm, denn auch er war sofort geknebelt und mit Handfesseln versehen worden. Dann hatte man die Tür des Lieferwagens zugeknallt und der Wagen war losgefahren. Als die Kinder am Ende der Fahrt dann aussteigen sollten, war der Junge herausgesprungen und wahllos in einen der Gänge hineingerannt, die vor ihm lagen. So lange, bis er mir in die Arme lief."

Tariq starrte in die schwarze Nacht. Seine Gedanken wan­derten zurück zu dem Tag, an dem alles anders geworden war.


Er hatte dem Jungen aufmerksam zugehört und sein Schrecken war mit jeder Minute gewachsen. Entsetzt realisierte er, was da faktisch vor ihrer Nase passierte, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hatten.

"Hier kannst du nicht bleiben", sagte er nun zu ihm, als dieser fertig war mit seinem Bericht, und mied dabei dessen Blick. In die angstvollen Augen des Kindes zu sehen schnitt ihm ins Herz.

Er öffnete die Tür des Lagerraumes und sah aus dem Augenwinkel, wie der Junge zurückwich und sich erschrocken an eines der Regale klammerte. Wahrscheinlich erwartete er zu seinen Häschern zurückge­bracht zu werden. Tariq legte deshalb mit einer verschwörerischen Miene den Finger auf die Lippen. Erst als er ein hastiges Nicken als Antwort erhalten hatte, öffnete er die Tür ganz und spähte hinaus in den Korri­dor. Draußen war niemand zu sehen.

"Du wartest hier auf mich", wies er nun den Jungen ernst an. "Egal was du auf dem Gang hörst, du bleibst hier drin! Verstanden?"

Erneut nickte der Junge, ohne zu zögern.

Während er den Korridor entlang zurück zu seinen Laborräumen eilte, überlegte Tariq fieberhaft. Was sollte er tun?

Aharon fiel ihm zuerst ein. Er musste sich sofort mit ihm besprechen. Und dann vielleicht noch Matthew dazu holen, einen seiner loyalsten Mitarbeiter vom ersten Tag an. Weil der Kerl ein technisches Genie war und sich im gesamten Labor, also auch in Matos Bereich, bestens auskannte.

Zehn Minuten später saßen sie zu dritt in Tariqs Privaträumen. In wenigen, hastigen Worten hatte er den beiden erklärt, was er gerade erlebt und gehört hatte.

Man musste kein Hellseher sein, um zu erkennen, was da passierte. Mato entführte Kinder für seine Forschungszwecke. Das erklärte seine Heimlichtuerei, seinen abgeriegelten Bereich, seine Nachtarbeit.

Überrascht lauschten die Männer, als Matthew nun preisgab, dass es unter Matos alten Mitarbeitern ebenfalls welche gab, die dessen Tun misstrauisch beobachteten. Sie waren von diesem nach und nach aus früher für sie zugänglichen Bereichen entfernt und durch neue Männer ersetzt worden. Männer, die eher in die Kategorie Schlägertrupp als Wissenschaftler eingeordnet werden konnten. Besonders ein Mitarbeiter - ein Freund von Matthew - hatte schon versucht herauszufinden, was in den speziell gesicherten Arealen passierte.

"Was meinst du, würde er uns helfen, wenn wir versuchen würden, in Rayans Komplex mal einen prüfenden Blick zu werfen?", wollte Tariq nun von Matthew wissen.

"Da bin ich ganz sicher", kam es ohne Überlegen zurück. "Er hat schon lange ein ungutes Gefühl. Und wenn er erfährt, dass hier Kinder im Spiel sind, dann hundertprozentig. Er ist selbst Vater."

"Ist er heute da?"

Matthew nickte. "Ich hole ihn", erklärte er und stand auf.

Aharon hatte keine Einwände und Tariqs Mitarbeiter verschwand.

"Ich bringe inzwischen den Jungen her." Tariq war ebenfalls aufgestanden. "Er hat sicher Angst dort so allein. Und im Lager ist es kalt. Ich brauche dich, du musst vor uns gehen und schauen, ob die Luft rein ist."

Aharon nickte bereitwillig und wenige Augenblicke später standen die beiden vor dem Lager.

Tariq öffnete die Tür und ging allein hinein, um den Jungen nicht zu erschrecken. Im ersten Moment erschrak aber er selbst. Sein Gast schien verschwunden zu sein. Leise rief er nach ihm und sofort tauchte ein blonder Kopf über einem Stapel Kartons in der rechten Ecke auf. Doch erst, als er Tariq erkannt hatte, schob sich der Junge vorsichtig aus seinem Versteck hervor und folgte ihm aus dem Lager hinaus auf den Gang.

Sie schafften es ohne Zwischenfälle zurück zu Tariqs Privaträumen. Niemand begegnete ihnen. Gleich darauf saß der kleine Gast in der winzigen Küche und ließ sich Brot und Würstchen schmecken. Auf seine Frage, ob er wieder nach Hause dürfe, musste er jedoch erst einmal vertröstet werden. Was sie vorhatten, erforderte sorgfältige Planung und Zeit. Tariq wuschelte ihm durch das dichte Blondhaar und lächelte. "Bald", meinte er beruhigend. "Erst wartet ein großes Abenteuer auf uns. Wir müssen einen Plan schmieden."

Interesse glomm im Blick des Jungen auf.

"Darf ich mitmachen?", fragte er aufgeregt. "Ich bin gut in sowas."

Jetzt musste Tariq lachen. "Ich denke, wir schaffen das ohne dich. Aber du musst fit sein, wenn es so weit ist, deshalb iss ordentlich und schlaf dann ein bisschen. Hier drüben ist eine Liege, und eine Decke findest du in der Kiste dort."

Aufregung und Interesse in den Augen des Jungen erloschen, denn aus diesem Angebot entnahm er, dass er bei dem Abenteuer nicht dabei sein würde. Doch er fügte sich.

Kurz darauf erschien auch Matthew wieder und brachte einen Mann mit. Tariq holte vier Bier aus dem Kühlschrank und öffnete sie: Dann nickte er dem Jungen noch einmal aufmunternd zu und kehrte zu den anderen zurück.

Aharon hatte die Karten des alten Militärkomplexes, die Matthew gleich mitgebracht hatte, bereits auf dem Tisch ausgerollt und beugte sich mit aufgestützten Armen darüber. "Was für Möglichkeiten haben wir?"

Er stellte die Frage in den Raum, doch sie galt in erster Linie Jeff, Matthews Freund. Aber auch Matt selbst schien intensiv nachzudenken.

"Wenn wir Rayan anzeigen und eine Durchsuchung seiner Räume durch die Polizei erwirken wollen, brauchen wir irgendetwas Handfestes als Beweis", meinte Tariq zögernd. "Eines der Kinder vielleicht?"

"Was ist mit dem Jungen?" Jeffs Kopf deutete hinüber zu der geschlossenen Küchentür.

"Was sollte der bezeugen?" Aharon schüttelte den Kopf. "Höchstens dass er entführt wurde. Er hat das Labor nie von innen gesehen."

"Dann müssen wir eines der anderen Kinder mitnehmen. Ich bin sicher, da sind noch mehr. Der Transport, bei dem der blonde Bursche ausgebüxt ist, war keinesfalls der erste." Tariqs Stimme klang entschlossen. "Wo würde Rayan sie unterbringen?"

"Wahrscheinlich hier." Jeff wies auf einen Bereich, der ziemlich weit vom Eingang entfernt war. "Dort gab es vorher schon Ruheräume, Toiletten, eine Küche. Ich nehme mal an, dass er sie in einem oder zwei größeren Räumen hat, vermutlich diese beiden hier. Das Kind würde ich holen. Ich finde den Weg am schnellsten und auch bei spärlicher Beleuchtung." Jeff wirkte absolut sicher, als er das sagte.

"Angenommen, es gelingt Ihnen, ein Kind oder auch zwei zu befreien. Wie weiter?"

"Der Rückzug muss natürlich gesichert sein." Rayans Mitarbeiter verschränkte die Arme vor der Brust und kaute auf seiner Unterlippe.

Sie diskutierten noch lange über das Wie und Wann. Alles musste bedacht werden. Wer sollte reingehen? Und wie konnten sie überhaupt Zugang zu diesem abgeriegelten Bereich erlangen? Wo würden die Kinder untergebracht sein und wie konnte man zu ihnen kommen?

Die größte Herausforderung bildete das Sicherungssystem, das Rayans Areal abschirmte. Hier hatten weder Matt noch Jeff eine Idee.

"Oh, da wüsste ich schon was", meinte Tariq nun. "Ein wohlplatziertes Energiegeschoss dürfte dieses Problem doch lösen, oder?" Er schaute Aharon fragend an.

"Energiegeschoss?", fragten die beiden anderen Männer wie aus einem Mund.

Aharon hob seine rechte Hand. Staunend beobachteten sie, wie zwischen seinen Fingern knisternd winzige blaue Blitze auftauchten. Jetzt krümmte er die Finger ein wenig und die Blitze wurde stärker, trafen sich in der Mitte der Handfläche, um dann - wild umeinander rotierend - eine kleine, grell leuchtende blaue Kugel entstehen zu lassen. Sie wuchs, knisterte lauter und die Blitze umzuckten sie flackernd. Als sie die Größe eines Tennisballes erreicht hatte, war ihr Leuchten so grell geworden, dass man sie nicht mehr ansehen konnte, und den Männern richteten sich die Armhaare auf, so deutlich war die Energie in der Luft zu spüren.

"Aber hallo ...", flüsterte Matt beeindruckt. Auch Jeff begann mit "Was um alles in der Welt ..." einen Satz, den er nicht vollendete, weil sein Blick von Aharon zu Tariq gewandert war, in dessen Hand ein ähnlicher, aber silberfarbener Tennisball rotierte.

"Wenn wir eines davon in die Sicherungsanlage jagen, dann dürften sich doch alle anderen Probleme in Funken und geschmolzenen Kunststoff auflösen, oder?" Tariq war sich sicher.

Aber Matt, der sich bei dieser Frage angesprochen fühlte, wiegte bedenklich den Kopf.

"Ich habe keine Ahnung, wie das Ganze aufgebaut ist. Welchen Schaden kann so ein ... Geschoss anrichten?"

"Genug", brummte Aharon, der kein Mann vieler Worte war.

"Elektrische Anlagen haben zumindest schon mal keine Chance dagegen", erklärte Tariq. "Ich denke, ein wohlplatzierter Treffer oder auch zwei schaffen uns den nötigen Freiraum."

"Wie viel Zeit würde zwischen zwei Treffern vergehen?" Matthew war immer noch skeptisch. Er hatte gesehen, dass dieses Energiegeschoss einige Sekunden brauchte, um ... ja was? Voll aufgeladen und einsatzbereit zu sein?

"Eine Sekunde", gab Aharon zurück, "Zwei Hände - zwei Geschosse."

Matthew schluckte. "In Ordnung, das wäre natürlich gut", beeilte er sich zu versichern, nicht ohne noch einen irritierten Blick auf Aharon zu werfen. "Wenn man zusätzlich dazu die gesamte Stromversorgung kappt, dann dürfte in der Dunkelheit nicht erkennbar sein, dass Unbefugte in den Laborkomplex eingedrungen sind."

"Also machen wir es so." Matt fasste alles noch einmal zusammen. Eine Weile blieb es still. Jeder überlegte, ob irgendetwas übersehen oder vergessen worden war.

"Zwei Fluchtautos brauchen wir auch, abfahrbereit am Eingang. Wir sind sechs Personen, die schnellstens hier verschwinden müssen. Matthew und ich können nach der ganzen Aktion nicht hierbleiben und Sie wahrscheinlich auch nicht", fügte Jeff hinzu, indem er die beiden Wissenschaftler ernst ansah.

Aharon nickte. "Aber wenn wir bei der Polizei waren und Mato verhaftet wurde, können wir danach alle hierher zurückkehren."

"Genau", pflichtete Tariq ihm bei, "denn dann wird er hoffentlich gesiebte Luft atmen."

Sie richteten sich auf und sahen einander an. Der Plan stand im Grundgerüst.

"Wann geht es los?"

"Also einen Karton, der groß genug ist für einen Mann, habe ich sofort parat", meinte Jeff. "Aber ich würde gern ein paar Dinge packen, falls irgendwas schiefgeht und wir doch nicht zurückkommen können."

"Ja, davon sollten wir zumindest ausgehen. Wir packen auch etwas zusammen. Aharons und mein Auto parken schon direkt neben dem Eingang", fügte Tariq nun an. "Der Junge kann auch schon im Wagen warten, ich werde ihn hinbringen."

"Ich denke, heute Abend nach dem Schichtwechsel wäre eine günstige Zeit. Nachts sind nicht so viele Mitarbeiter im Komplex." Matthew schaute sie der Reihe nach an und alle nickten zustimmend.

"Also um kurz nach zehn", legte er fest. "Und wo?"

"Wir treffen uns am Materiallager C." Mit diesen Worten schloss Aharon ihre kleine Verschwörungsrunde.


Die Guardians und seine anderen Zuhörer starrten ihn an und hatten seiner Erzählung mit offenem Mund gelauscht. Ihr Chef stand mit den Händen in den Hosentaschen an das Bücherregal gelehnt und schien gedanklich überhaupt nicht anwesend zu sein.

Langsam nur, als müsse er sich mühsam von dieser Erinne­rung wieder in die Wirklichkeit kämpfen, kehrte er ins Hier und Jetzt zurück.

"Und?" Hennak war der Erste, der seine Neugier nicht länger bezähmen konnte und das Schweigen brach. "Wie ging es weiter?"

Tariq hob den Kopf und sah den roten Guardian ausdrucks­los an.

"Wir trafen uns wie vorgesehen. Alles war gepackt und in den beiden Autos verstaut. Auch der Junge wartete bereits auf dem Rücksitz, gut verborgen unter einer Decke. Für ihn war das Ganze ein Abenteuer. Jeff hatte den großen Karton besorgt und Aharon kletterte hinein, nachdem wir alles nochmal kurz durchgesprochen hatten. Der angeblichen Lieferung wurde ohne Probleme Einlass gewährt. Jeffs Gesicht war dem Kerl, der hinter der Tür stand, bekannt und er winkte ihn wie erwartet durch.

Als der Eingang sich wieder schloss, platzierte ich mich rechts davon und wartete. Nervös sah ich auf die Uhr. Es fehlten noch zwei Minuten. Aharon würde um Punkt zehn sein Energiegeschoss in die Sicherungszentrale jagen und Matthew die Stromversorgung abschalten.

Als der große Zeiger meiner Uhr auf die Zwölf sprang, hörte ich ein dumpfes Krachen aus einem der hinteren Bereiche. Kurz flackerte das Licht. Aharon hatte die Sicherungsanlage zerstört.

Im selben Moment wurde es stockdunkel. Neben mir ging die Tür wieder auf, ich hörte Jeff meinen Namen flüstern und folgte ihm hinein. Ein kleiner Teil der Anspannung fiel von mir ab, obwohl wir eigentlich noch gar nichts erreicht hatten. Aber wir waren drin. Das Notstromaggregat sprang an, während wir schon durch die schwach beleuchteten Gänge hasteten, um in den Bereich zu gelangen, in dem Jeff die Kinder vermutete. Nur Sekunden später wurde es erneut finster und diesmal blieb es das auch.

Jeff empfahl, mit den Taschenlampen noch zu warten. Wir fanden Aharon, doch auch drei von Rayans Mitarbeitern begegneten uns, die alle aufgeregt durcheinander riefen und planlos umherirrten.

Nachdem wir trotz des Durcheinanders unbehelligt am Quartier der Kinder angekommen waren, teilten wir uns auf. Aharon und ich öffneten eine Tür auf der linken Seite, die Jeff uns gezeigt hatte, bevor dieser selbst sich einer Tür auf der rechten Seite zuwandte. Im Lichtkegel unserer Taschen­lampen entdeckten wir zwei völlig verschreckte kleine Mädchen, die auf einem Bett saßen und sich angstvoll aneinanderklammerten, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben. Ich werde nie den Blick dieser Augen vergessen, die uns entgegenstarrten.

Uns war klar, dass wir nicht nur eines von ihnen mitnehmen konnten. Um sie nicht noch mehr zu erschrecken, gingen wir leise und beruhigende Worte flüsternd auf sie zu. Sie schienen wie taub für unsere Erklärungen und pressten sich aneinander, als ginge es um ihr Leben. Erst als die Worte 'nach Hause' fielen, erwachten sie aus der Starre. Jeder von uns beiden fand sich plötzlich mit einem kleinen Mädchen an der Brust wieder, das sich festklammerte und das tränen­nasse Gesicht an den Laborkittel presste. Sie vertrauten uns, nur weil wir 'nach Hause' gesagt hatten."

Tariqs Stimme erstarb. Er war sichtlich bewegt. Diesmal ließ man ihm die Zeit, die er brauchte, um sich wieder zu fangen. Aber nicht nur er rang um Fassung. Imara und Tamira, die genauso atemlos zugehört hatten, rannen bei der Schilderung dieser Szene Tränen übers Gesicht.

Schließlich räusperte sich der Chef.

"Im Licht der Taschenlampe rannten wir die Gänge entlang, jeder ein Mädchen auf dem Arm, das wie ein kleiner Klammeraffe an uns hing. Aharon prallte gegen zwei Fremde. Sie brüllten überrascht auf. Ich sah den Lichtkegel seiner Lampe wild hin und her tanzen. Kampfgeräusche, angstvolles Schreien des Mädchens, ein kurzes, blaues Knistern in Aharons Hand. Plötzlich war Matt da. 'Gehen Sie!', schrie er uns an, 'verschwinden Sie hier! Warten Sie nicht auf uns!'

Auch Jeffs Stimme konnte ich in dem Durcheinander hören und dann Schüsse. Matt fluchte und gab mir einen heftigen Schubs. Es war wie ein Wunder, aber Aharon und ich kamen tatsächlich mit unserer kostbaren Last aus Rayans Bereich heraus. Außerhalb davon begegneten wir niemandem mehr. Bei den Autos angekommen setzten wir die Mädchen ab und verschnauften kurz. Dann verfrachteten wir die beiden schnellstens in Aharons Auto, während wir besorgt zurück­blickten und auf unsere Mitstreiter warteten."

Wieder verstummte Tariq und ließ seine Zuhörer warten. Und je länger er schwieg, umso mehr verdichtete sich die Ahnung bei ihnen, dass der Ausgang des Ganzen nicht wie geplant verlaufen war.

"Sie kamen nicht. Weder Matthew noch Jeff. Wir hörten erneut Schüsse knallen. Hin und her gerissen zwischen dem Drang, ihnen zu Hilfe zu eilen, und der Pflicht, die Mädchen und den Jungen in Sicherheit zu bringen, standen wir da, lauschten und wussten nicht, was wir tun sollten. Schließlich beschlossen wir, dass mein Wagen hier stehenbleiben sollte, falls sie doch noch kommen sollten. Den Schlüssel ließ ich stecken. Aber falls man sie tatsächlich überwältigt hatte - und davon gingen wir aus nach der Wartezeit - dann war damit zu rechnen, dass man gleich darauf auch nach uns und den beiden Mädchen suchen würde.

Deshalb holten wir in Windeseile meine Sachen und den Jungen aus meinem Auto, stiegen mit furchtbar schlechtem Gewissen in Aharons Wagen und fuhren zur Polizei. Dort ging alles ziemlich schnell. Dass die Mädchen in kürzester Zeit als zwei schon lange vermisste Schwestern identifiziert wurden, setzte ein Aufgebot in Bewegung, das binnen Minuten einsatzfähig war und in einem sechs Fahrzeuge starken Konvoi hinter uns her hinaus zum alten Militärbunker raste. Die drei Kinder ließen wir in der Obhut einer Polizistin zurück. Endlos erschien uns der Rückweg. Die Sorge um Matt und Jeff trieb uns gnadenlos an."

Noch einmal atmete Tariq tief durch. Er goss sich ein neues Glas Wasser ein und nahm einen Schluck.

"Als wir ankamen, bot sich unseren Augen ein Schreckens­szenario. Die Lichtkegel der hellen Suchschweinwerfer, die die Polizisten vor sich hertrugen, enthüllten unbarmherzig, was sich hier abgespielt hatte. Alles war totenstill.

Matthew lag mit einem Kopfschuss in einer riesigen Blutlache direkt vor der Tür mit der Kamera. Sein Gesicht war dem Ausgang zugewandt und seine gebrochenen Augen starrten in die Richtung, in die wir geflohen waren. Jeff fanden wir im Gang vor dem Raum mit der zerstörten Sicherungsanlage. Er lag halb über einem kleinen Jungen und der Schuss, der ihn in den Rücken getroffen hatte, war auch durch dessen kleinen Körper gegangen. Alle drei waren tot, wir konnten nichts mehr für sie tun."

Die Stille war fast vollkommen, nur das Ticken der kleinen Uhr im Bücherregal und das leise Knistern des Kaminfeuers störten sie. Betroffenheit malte sich auf den Gesichtern, die ausnahmslos auf Tariq gerichtet waren. Dass es nicht ganz glatt gelaufen war, damit hatten alle gerechnet, aber die Schilderung dieses furchtbaren Endes der Aktion verschlug jedem die Sprache.

Die Sekunden dehnten sich schier endlos, bis Tariq endlich weitersprach.

"Keine Menschenseele trafen wir mehr an. Rayan war verschwunden und alle seine Leute mit ihm. Falls er noch weitere Kinder irgendwo versteckt hatte, dann hatte er sie mitgenommen. Auch seine gesamten Aufzeichnungen. Alles war weg. Nur lose herumliegende Zettel, die nichts als belanglose Dinge enthielten.

Die Spurensicherung vertrieb uns schließlich aus den Räumen, um alles genau zu untersuchen, und die Gerichts­medizin transportierte die drei Leichen ab. Es gab nichts mehr für uns an diesem Ort. Alle privaten Sachen hatten wir schon mitgenommen, auch alle unsere Aufzeichnungen.

Im Polizeirevier unterzog man uns einer endlos langen Befragung, selbstverständlich getrennt voneinander. Und die, denen wir da gegenübersaßen, verstanden ihren Job. Wir hatten den Eindruck, dass man uns einen gewissen Teil Mitschuld an den Morden gab, weil wir nicht schon längst die Behörden informiert hatten. Während des Verhörs erhielten die Polizisten den Arztbericht von der Untersuchung der Mädchen. Man legte uns Fotos vor, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen. Ein akkurates Muster aus Narben auf ihren kleinen Körpern ... "

"Narben? Auf der Brust? Die hat Ahmad auch!", platzte Trajan aufgeregt dazwischen.

Tariq hob die Hand, um ihn zu unterbrechen. "Dazu kommen wir gleich. Jedenfalls war für uns unvorstellbar, wie ein Mensch ihnen das hatte antun können. Und dass es Leute gab, die das gleichgültig mitangesehen oder einfach weggesehen hatten.

Aharon fragte, was nun mit den drei Kindern geschehen würde. Man antwortete ihm, dass sie in medizinische Behandlung kämen. Selbstverständlich gäbe es auch eine intensive psychische Betreuung für sie. Das beruhigte uns einigermaßen. Man würde sich gut um sie kümmern. Trotzdem fühlten wir uns unsagbar schlecht und außerdem schuldig, denn wir hatten versagt. Zwei unschuldige Männer hatten wir in die Sache hineingezogen, ebenso ein Kind. Alle drei waren jetzt tot. Jeff war selbst Vater gewesen, hatte Matt erzählt. Und Mato Rayan, der Mörder, konnte entkommen. Das war wohl das Schlimmste. Wir befürchteten, er würde ganz bestimmt in absehbarer Zeit irgendwo anders seine unfassbaren Experimente fortsetzen."

Mit versteinertem Gesicht starrte Tariq ins Kaminfeuer. Seine Finger umklammerten gedankenverloren das Wasserglas in seiner Hand.

"Doch das sollte nicht die letzte Schreckensbotschaft sein", fuhr er leise fort. "Die Eltern der Kinder waren spurlos verschwunden. Auch die des Jungen, der mir in die Arme gelaufen war. Sie galten ab dem Tag, an dem ihre Kinder entführt wurden, als vermisst. Zwar wurde mit Hochdruck nach ihnen gefahndet, aber sie blieben unauffindbar. Und je mehr Zeit verging, desto mehr erhärtete sich der Verdacht, dass sie ermordet wurden.

Die Kinder waren also potentielle Waisen. Ich fasste einen Entschluss. Nach ihrer langen psychischen Rehabilitations­phase stellte ich einen Antrag auf Pflegschaft für alle drei. Und obwohl ich keine Frau hatte, wurde er bewilligt, weil die Mädchen sich während meiner zahllosen Besuche bei ihnen schon an mich gewöhnt hatten. Ein halbes Jahr nach diesen Ereignissen holte ich sie und auch den Jungen nach Darach Manor."

Tariq war ans Fenster getreten. Eine Hand in die Hosentasche geschoben und mit der anderen das Wasserglas zwischen den Fingern drehend, stand er einfach nur da und starrte hinaus in den Garten. Am heftigen Heben und Senken seiner Schultern konnte man sehen, wie sehr ihn diese Geschichte mitnahm.

Keiner wagte es, das Schweigen zu brechen. Jeder ließ das Gesagte auf sich wirken.

Schließlich drehte sich Tariq um und sah jeden einzelnen der Reihe nach an.

"Das Ganze ist jetzt fast dreißig Jahre her. Inzwischen wurden die Eltern für tot erklärt und ich habe die Kinder adoptiert. Sie leben heute noch hier. Imara und Tamira, die beiden Schwestern, die damals sechs und acht Jahre alt waren, und Tanyel, der Junge, der damals zehn Jahre alt war."

GUARDIANS - Das Vermächtnis

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